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Dan Simmons

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Beschreibung

Fly me to the Moon ...

Als Teilnehmer einer Mondexpedition erlebt der Astronaut Richard Baedecker einen unvergesslichen Spaziergang auf dem Erdtrabanten. Doch Jahre später, nach der Rückkehr zur Erde, gerät sein Leben völlig aus den Fugen, ja scheint die Wirklichkeit plötzlich ihre Substanz zu verlieren. Und all das hängt offenbar auf geheimnisvolle Weise mit dem Flug zum Mond zusammen. Was ist damals tatsächlich dort geschehen? Ist der Mond wirklich nur ein leerer, verlassener Ort? Auf der Suche nach einer Antwort macht sich Richard auf eine fantastische Reise …

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Inhaltsverzeichnis
 
HEYNE<
Das Buch
Der Autor
Widmung
 
ERSTER TEIL - POONA
 
Copyright
HEYNE<
Das Buch
Kein Abenteuer gleicht dem unvergesslichen Mondspaziergang, den Richard Baedecker als Teilnehmer einer Apollo-Mission vor vielen Jahren erlebt hat. Aber wieder zurück auf der Erde gerät sein Leben aus unerklärlichen Gründen völlig aus den Fugen - bis er eine geheimnisvolle junge Frau kennenlernt, die ihn auf eine phantastische Reise mitnimmt: zu Orten, die so nahe scheinen und doch so viel weiter entfernt sind als der Mond …
 
Mit seinen Bestsellern »Terror« und »Die Hyperion-Gesänge« hat Dan Simmons eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass es ihm wie kaum einem anderen Schriftsteller gelingt, historische und phantastische Stoffe zu gewaltigen Epen zu formen. Auch in »Monde« wird diese Kunst mehr als deutlich.
Der Autor
Dan Simmons wurde 1948 in Illinois geboren. Er schrieb bereits als Kind Erzählungen, die er seinen Mitschülern vorlas. Nach einigen Jahren als Englischlehrer machte er sich 1987 als freier Schriftsteller selbstständig. Sein Roman »Terror« über die legendäre Polarexpedition John Franklins stand monatelang auf den internationalen Bestseller-Listen. Simmons lebt mit seiner Familie in Colorado, am Rande der Rocky Mountains.
 
Im Wilhelm Heyne Verlag sind von Dan Simmons außerdem erschienen: Sommer der Nacht, Im Auge des Winters, Die Hyperion-Gesänge, Ilium, Olympos, Kinder der Nacht, Terror, Drood.
Titel der amerikanischen Originalausgabe PHASES OF GRAVITY Deutsche Übersetzung von Joachim Körber
Für Robert und Kathryn Simmons
ERSTER TEIL
POONA
PanAm-Flug 001 ließ das Mondlicht hinter sich und versank in Wolken und Dunkelheit, als die Maschine behutsam zur Landung in Neu-Delhi ansetzte. Baedecker, mit Blick auf die Backbordtragfläche, konnte fühlen, wie das Gewicht an ihm zog, und verspürte das Unbehagen des ehemaligen Piloten, der gezwungen ist, einen Flug als Passagier zu erdulden. Die Reifen berührten den Asphalt in einer beinahe perfekten Landung, und Baedecker sah auf die Uhr. Es war 3 Uhr 47 Ortszeit. Winzige Schmerzsplitter tanzten hinter seinen Augen, als er am blinkenden Tragflächenlicht vorbei zu den dunklen Umrissen von Wassertürmen und Wartungshallen hinüberspähte, die in einigem Abstand vorbeirollten. Jetzt drehte die gewaltige 747 scharf nach rechts und glitt zum Ende der Rollbahn. Der Lärm der Maschinen schwoll ein letztes Mal an, dann verstummten sie, und Baedecker blieb mit dem müden Pochen seines eigenen Pulses in den Ohren zurück. Er hatte seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen.
Noch ehe die sich mühsam vorwärtsbewegende Schlange den Ausgang erreicht hatte, begannen Hitze und Luftfeuchtigkeit auf Baedecker einzustürmen. Als er von der Rampe auf den klebrigen Asphalt trat, wurde er sich der gewaltigen Masse des Planeten unter sich bewusst, zu der noch die Last der Hunderte Millionen jämmerlicher Seelen hinzukam, die den Subkontinent bevölkerten, und er zog die Schultern gegen den unerbittlichen Sog der Depression nach oben.
Ich hätte den Werbespot für die Kreditkarte machen sollen, dachte Baedecker. Er stand mit den anderen Passagieren im Halbdunkel und wartete auf den blauweißen Flughafenbus, der über die dunkle Fläche des Asphalts auf sie zudröhnte. Die Schalterhalle war ein fernes Flimmern am Horizont. Wolken reflektierten die Reihen der Blinklichter jenseits der Startbahn.
Es wäre nicht besonders schwierig gewesen. Sie hatten nur von ihm verlangt, dass er sich vor die Kameras und Scheinwerfer setzte, lächelte und sagte: »Kennen Sie mich? Vor sechzehn Jahren bin ich auf dem Mond spazieren gegangen. Aber das nützt mir nichts, wenn ich einen Flug reservieren oder mein Essen in einem französischen Café bezahlen möchte.« Noch zwei Zeilen ähnlicher Floskeln, dann der Standardschluss, bei dem sein Name in die Plastikkarte gestanzt wurde - RICHARD E. BAEDECKER.
Das Zollgebäude glich einer riesigen Lagerhalle. Gelbe Natriumdampflampen hingen von den Deckenbalken und ließen die Haut fettig und wächsern wirken. Baedeckers Hemd klebte schon an einem Dutzend Stellen am Körper. Die Schlange bewegte sich nur langsam voran. Baedecker war an die Arroganz von Zollbeamten gewöhnt, aber diese kleinen schwarzhaarigen Männer in ihren braunen Hemden schienen neue Höhen behördlicher Unfreundlichkeit anzustreben. Drei Plätze vor Baedecker wartete eine Frau mit ihren zwei Töchtern, alle drei in bescheidene Baumwollsaris gekleidet. Der Beamte hinter dem zerkratzten Tresen verlor angesichts ihrer Antworten offenbar die Geduld und warf ihre beiden billigen Koffer auf den Boden des Schuppens. Bunte Kleider, BHs und zerrissene Unterwäsche quollen in unordentlichen Haufen heraus. Der Zollbeamte drehte sich zu seinem Kollegen um und bedachte ihn mit einem Wortschwall auf Hindi, worauf beide grinsten.
Baedecker war fast eingedöst, als er merkte, dass einer der Zollbeamten ihn ansprach.
»Pardon?«
»Ich sagte: Mehr haben Sie nicht zu verzollen? Sonst bringen Sie nichts mit?« Der Singsang des indischen Englisch kam Baedecker seltsam vertraut vor. Er kannte ihn von indischen Hotelangestellten auf der ganzen Welt. Nur hatten deren Stimmen nichts von diesem seltsamen Argwohn und Zorn.
»Ja. Das ist alles.« Baedecker nickte zu dem rosa Formular, das sie vor der Landung hatten ausfüllen müssen.
»Mehr haben Sie nicht? Nur eine Tasche?« Der Beamte hielt Baedeckers alte, schwarze Reisetasche hoch, als wäre Schmuggelware oder Sprengstoff darin.
»Das ist alles.«
Der Mann betrachtete das Gepäckstück verdrossen, dann reichte er es einem anderen Mann im braunen Hemd weiter. Dieser kritzelte mit einer heftigen Bewegung ein X auf die Tasche, als könnte er damit das Böse austreiben, das darin lauerte.
»Weitergehen. Weitergehen.« Der erste Zollbeamte winkte ungeduldig.
»Danke«, sagte Baedecker. Er nahm die Reisetasche und wanderte in die Dunkelheit jenseits des Zollgebäudes hinaus.
Nichts als tiefe Schwärze hatte sich ihnen geboten. Zwei schwarze Dreiecke. Nicht einmal die Sterne waren in der letzten Phase des Landeanflugs sichtbar gewesen. Sie standen steif in ihren unförmigen Druckanzügen, festgezurrt von einer ganzen Reihe von Gurten und Bügeln und nichts als den konturlosen schwarzen Himmel vor Augen. Während der letzten Zündung und der Abstiegsphase war die Landefähre nach hinten geneigt gewesen, so dass die Mondoberfläche nicht unter ihnen zu sehen gewesen war. Erst in den letzten Minuten hatte Baedecker einen Blick auf das gleißende Geröll der Mondoberfläche.
Genau wie in den Simulationen, hatte er gedacht. Schon damals, während der Landung, hatte er gewusst, dass es mehr sein müsste. Dass er mehr empfinden, mehr spüren sollte. Doch während er automatisch auf die Korrekturen und Anfragen von Houston reagierte, gehorsam die entsprechenden Zahlen in den Computer eingab und Dave die Ergebnisse vorlas, ging ihm immer wieder derselbe unpassende Gedanke durch den Kopf: Genau wie in den Simulationen.
 
»Mr. Baedecker!« Er brauchte eine Minute, bis der Ruf zu ihm durchdrang. Jemand rief seinen Namen, und zwar schon eine ganze Zeit. Baedecker wandte sich in der Gasse zwischen dem Zollgebäude und der Schalterhalle hin und her und schaute sich um. Tausende Insekten tanzten im Schein der Lampen. Weißgekleidete Menschen schliefen auf den Gehwegen oder kauerten an den düsteren Gebäuden. Dunkelhäutige Männer in weißen Hemden lehnten an schwarz-gelben Taxen. Er drehte sich gerade in die andere Richtung, als ihn das Mädchen einholte.
»Mr. Baedecker! Hallo.« Sie blieb mit einem anmutigen Halbschritt stehen, warf den Kopf zurück und holte tief Luft.
»Hallo«, erwiderte Baedecker. Er hatte keine Ahnung, wer die junge Frau war, wurde aber von einem starken Gefühl von Déjà-vu heimgesucht. Wer, um alles in der Welt, sollte ihn um halb fünf Uhr morgens in Neu-Delhi begrüßen? Jemand von der Botschaft? Nein, die wussten nicht, dass er hier war, und wenn, wäre es ihnen egal. Jedenfalls inzwischen. Bombay Electronics? Kaum. Nicht in Neu-Delhi. Und bei dieser jungen Blondine handelte es sich eindeutig um eine Amerikanerin. Baedecker, der sich Namen und Gesichter nie merken konnte, verspürte die altbekannte Aufwallung von Schuldgefühl und Verlegenheit. Er zermarterte sich das Gedächtnis. Nichts.
»Ich bin Maggie Brown«, sagte das Mädchen und streckte die Hand aus. Er schüttelte sie und stellte überrascht fest, wie kühl sie war. Seine eigene Haut kam ihm dagegen geradezu fiebrig vor. Maggie Brown? Sie strich eine Strähne ihres schulterlangen Haars zurück, und wieder beschlich Baedecker das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben. Er überlegte sich, dass sie möglicherweise für die NASA arbeitete, auch wenn sie zu jung schien, um …
»Ich bin Scotts Freundin«, erklärte sie und lächelte. Sie hatte einen breiten Mund und eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Das war irgendwie niedlich.
»Scotts Freundin. Natürlich. Hallo.« Baedecker schüttelte ihr noch einmal die Hand. Schaute sich wieder um. Mehrere Taxifahrer waren auf sie zugetreten und boten ihre Dienste an. Er schüttelte den Kopf, aber prompt wurde das Plappern noch lauter. Baedecker ergriff den Ellbogen des Mädchens und führte sie weg von dem keifenden Mob. »Was tun Sie hier? In Indien, meine ich. Und noch dazu hier.« Baedecker wies unbestimmt auf die schmale Gasse und den Schatten der Schalterhalle. Jetzt konnte er sich an sie erinnern. Joan hatte ihm ein Bild von ihr gezeigt, als er zum letzten Mal in Boston gewesen war. Die grünen Augen waren ihm im Gedächtnis geblieben.
»Ich bin seit drei Monaten hier«, sagte sie. »Scott hat selten Zeit, mich zu treffen, aber wenn, dann bin ich da. In Poona, meine ich. Ich habe einen Job als Gouvernante gefunden … na ja, eigentlich nicht wirklich als Gouvernante, mehr als Hauslehrerin … bei einer netten Arztfamilie. Im alten britischen Viertel. Wie auch immer, ich war letzte Woche bei Scott, als er Ihr Telegramm gekriegt hat.«
»Oh«, sagte Baedecker. Sonst fiel ihm mehrere Sekunden lang nichts ein. Über ihnen gewann ein kleiner Jet an Höhe. »Ist Scott hier? Ich dachte mir, ich könnte ihn in … wo war das? … in Poona besuchen.«
»Scott ist auf der Farm des Meisters in Klausur. Er kommt erst am Dienstag zurück. Er hat mich gebeten, Ihnen das zu sagen. Ich selbst besuche eine alte Freundin der Education Foundation hier in Alt-Delhi.«
»Des Meisters? Sie meinen Scotts Guru?«
»Dort nennen sie ihn so. Jedenfalls hat Scott mich gebeten, Ihnen das auszurichten, und ich dachte mir, dass ich mich besser beeile, weil Sie vielleicht nicht lange in Neu-Delhi bleiben werden.«
»Sie sind vor Einbruch der Dämmerung aufgestanden, um mir das auszurichten?« Baedecker betrachtete die junge Frau neben sich eingehend. Jetzt, da sie sich weiter von den grellen Lampen entfernten, schien ihre Haut von sich aus zu leuchten. Im Osten färbte den Himmel schwaches Licht.
»Kein Problem«, sagte sie und hakte sich bei ihm unter. »Mein Zug ist erst vor ein paar Stunden eingetroffen. Ich hatte nichts zu tun, bis das Büro der USEFI geöffnet hat.«
Sie hatten die Vorderseite der Schalterhalle erreicht. Baedecker stellte fest, dass sie sich auf dem Land befanden, eine gute Strecke von der Stadt entfernt. In der Ferne ragten Hochhäuser auf, aber die Geräusche und Gerüche rings um sie herum waren ländlicher Natur. So führte die halbkreisförmige Flughafenzufahrt zwar zu einer breiten Autobahn, doch in der Nähe konnte er gestampfte Feldwege unter Banyanbäumen erkennen.
»Wann geht Ihr Flug, Mr. Baedecker?«
»Nach Bombay? Nicht vor halb neun. Nennen Sie mich Richard.«
»Okay, Richard. Hätten Sie Lust, einen Spaziergang zu machen und dann zu frühstücken?«
»Prima«, sagte Baedecker. In diesem Augenblick hätte er alles für ein freies Zimmer gegeben, für ein Bett, etwas Zeit zum Schlafen. Wie spät war es jetzt in St. Louis? Sein übermüdeter Verstand scheiterte an dieser einfachen Rechenaufgabe. Er folgte dem Mädchen, als sie über die regennasse Zufahrt schritt. Vor ihnen ging die Sonne auf.
 
Der Sonnenaufgang dauerte schon den dritten Tag an, als sie landeten. Alle Einzelheiten zeichneten sich als schroffes Relief ab. Das entsprach dem Plan.
Später erinnerte sich Baedecker kaum noch, wie er tatsächlich die Leiter hinuntergestiegen und vom Trittbrett der Landefähre gesprungen war. All diese Jahre der Vorbereitung, der Simulation und Erwartung hatten ihn zu diesem einen Punkt geführt, dieser jähen Schnittstelle von Raum und Zeit - und dennoch erinnerte sich Baedecker später nur noch an ein vages Gefühl von Frustration und Dringlichkeit. Sie lagen dreiundzwanzig Minuten hinter dem Zeitplan zurück, als Dave schließlich als Erster die Leiter hinabkletterte. Sich in die Anzüge zu quälen, die einundfünfzig Punkte der Checkliste abzuhaken und den Druckausgleich durchzuführen, hatte mehr Zeit erfordert als bei den Simulationen.
Dann bewegten sie sich über die Oberfläche, testeten ihr Gleichgewicht, sammelten Proben ein und versuchten, den Zeitverlust wieder wettzumachen. Baedecker hatte viele Stunden damit verbracht, sich einen kurzen Satz zurechtzulegen, den er rezitieren wollte, wenn er erstmals einen Fuß auf die Mondoberfläche setzte - eine »Fußnote der Geschichte«, wie Joan sich ausgedrückt hatte -, aber Dave riss einen Witz, kaum dass er von der letzten Stufe gesprungen war, Houston hatte einen Funkcheck verlangt, und der Augenblick war vorbei.
Baedecker besaß nur zwei ausgeprägte Erinnerungen an den Rest dieses ersten Ausflugs. Zum einen die verdammte Checkliste, die an seinem Handgelenk festgebunden war. Sie hatten es nicht geschafft, die verlorene Zeit wieder aufzuholen, nicht einmal als sie die dritte Erzsammlung und die zweite Überprüfung der Leitspeicher des Rovers, ihres kleinen Geländefahrzeugs, ausließen. Wie hatte er diese Checkliste gehasst.
Die andere Erinnerung besuchte ihn ab und zu noch in seinen Träumen. Die Schwerkraft. Ein Sechstel G. Das schiere Vergnügen, über die gleißende, felsübersäte Oberfläche zu hüpfen, wo die geringste Berührung ihrer Stiefel als Abstoß genügte. Das weckte eine noch frühere Erinnerung in Baedecker; er war ein Kind und lernte im Michigan-See schwimmen. Sein Vater hielt ihn unter den Armen, während er sich strampelnd seinen Weg über den Sand am Grund des Sees bahnte. Die wunderbare Leichtigkeit, die kräftigen Arme seines Vaters, das sanfte Auf und Ab der grünen Wellen, und das Gefühl von perfekt ausbalanciertem Gewicht und Auftrieb, das sich von seinen Fußsohlen emporwand.
Davon träumte er immer noch.
 
Die Sonne ging auf wie ein großer, orangefarbener und - das Licht von der erwärmten Luft gebrochen - in die Breite gezogener Ballon. Baedecker musste an Ektachrome-Fotos im National Geographic denken. Indien! Insekten, Vögel, Ziegen, Hühner und Vieh stimmten in den zunehmenden Verkehrslärm von der unsichtbaren Autobahn ein. Selbst diese gewundene staubige Landstraße, der sie folgten, wimmelte bereits von Menschen auf Fahrrädern, Ochsenkarren, schweren Lastwagen mit der Aufschrift »Öffentliches Transportmittel« und vereinzelten schwarz-gelben Taxis, die wie wütende Bienen durch das ganze Durcheinander schossen.
Baedecker und das Mädchen blieben vor einem kleinen grauen Gebäude stehen, einem Farmhaus oder einem Hindutempel. Möglicherweise war es sogar beides. Drinnen läuteten Glocken. Der Geruch von Weihrauch und Kuhmist wehte aus einem Innenhof. Hähne krähten, und irgendwo sang ein Mann in brüchigem Falsett. Ein anderer Mann - in einem blauen Polyesteranzug - stieg vom Fahrrad, trat an den Straßenrand und urinierte in den Garten des Gebäudes.
Ein Ochsenkarren holperte mit knirschender Achse und ächzendem Joch vorbei; Baedecker drehte sich um und schaute ihm nach. Eine Frau, die hinten saß, hob den Sari vor das Gesicht, aber die drei Kinder neben ihr erwiderten Baedeckers Blick. Der Mann vorne schrie den sich abmühenden Ochsen an und schlug ihm mit einem Stock gegen die Flanken, die bereits von schorfigen Wunden bedeckt waren. Plötzlich gingen alle anderen Geräusche im Getöse einer 747 der Air India unter, die über sie hinweglärmte und auf deren Metallrumpf sich das Gold der aufsteigenden Sonne spiegelte.
»Was ist das für ein Geruch?«, fragte Baedecker. Über diesem allgemeinen Ansturm von Gerüchen - nasse Erde, offene Rinnsteine, Autoabgase, Komposthaufen, der Smog der unsichtbaren Stadt - erhob sich ein süßlicher, überwältigender Duft, der sich schon in seiner Haut und der Kleidung festgesetzt zu haben schien.
»Sie machen Frühstück«, sagte Maggie. »Im ganzen Land kochen sie ihre Morgenmahlzeit, auf offenen Feuern. Die meisten benützen Kuhmist als Brennmaterial. Achthundert Millionen Menschen, die sich ihr Frühstück kochen; Gandhi hat mal geschrieben, dass das der ewige Geruch Indiens sei.«
Baedecker nickte. Der Sonnenaufgang wurde allmählich von den tiefhängenden Monsunwolken verschluckt. Für einen Augenblick nahmen die Bäume und das Gras einen grellen, falschen Grünton an, der dank Baedeckers Müdigkeit noch intensiver wirkte. Die Kopfschmerzen, seit Frankfurt seine Begleiter, waren von der Nasenwurzel zu einem Punkt am Nackenansatz gewandert. Bei jedem Schritt hallte ein schmerzendes Echo durch seinen Kopf. Doch die Schmerzen, wie er sie durch den Nebel von Erschöpfung und Desorientierung aufgrund des Zeitunterschieds wahrnahm, schienen ihm fern und unbedeutend. Sie waren einfach Teil des Fremden - die neuen Gerüche, die seltsame Kakophonie ländlicher und großstädtischer Laute, diese attraktive junge Frau an seiner Seite, deren Wangenknochen von dem Sonnenlicht, das auch in ihren grünen Augen ein Feuer entfachte, scharf hervorgehoben wurden. Was bedeutete sie seinem Sohn? Wie ernst war ihre Beziehung? Baedecker wünschte sich, er hätte Joan mehr Fragen nach dem Mädchen gestellt, aber der Besuch war ungemütlich gewesen, und er hatte es kaum erwarten können, sich wieder zu verabschieden.
Baedecker betrachtete Maggie Brown, und ihm wurde bewusst, was für ein Sexist er war, wenn er in ihr nur das Mädchen sah. Diese junge Frau besaß eine Aura von Selbstbewusstsein, von Wissen, die Baedecker stets mit wirklich Erwachsenen in Verbindung brachte - im Gegensatz zu Leuten, die einfach nur älter geworden waren. Jetzt überlegte er, dass Maggie Brown mindestens Mitte zwanzig sein musste, also mehrere Jahre älter als Scott. Hatte Joan nicht was davon gesagt, dass die Freundin ihres Sohns schon das Staatsexamen gemacht hatte und Assistentin des Professors war?
»Sind Sie nur nach Indien gekommen, um Scott zu besuchen?«, fragte Maggie Brown. Sie befanden sich wieder auf der halbkreisförmigen Zufahrt und wanderten auf den Flughafen zu.
»Ja. Nein«, sagte Baedecker. »Das heißt, ich bin hier, um Scott zu besuchen, habe das aber mit einer Geschäftsreise zusammengelegt.«
»Arbeiten Sie nicht für die Regierung?«, fragte Maggie. »Für die Weltraumleute?«
Baedecker lächelte über das Bild, das ihm der Ausdruck »die Weltraumleute« ins Gedächtnis zauberte. »Seit zwölf Jahren nicht mehr«, sagte er und erzählte ihr von der Flugzeugfirma in St. Louis, für die er arbeitete.
»Also haben Sie gar nichts mit dem Space Shuttle zu tun?«, fragte Maggie.
»Eigentlich nicht. Wir hatten einige Subsysteme an Bord und haben hin und wieder Frachtraum gemietet.« Baedecker stellte fest, dass er in der Vergangenheitsform sprach wie von jemandem, der gestorben war.
Maggie blieb stehen und beobachtete, wie das strahlende Sonnenlicht den Kontrollturm und die Schalterhalle des Flughafens von Neu-Delhi mit Gold überzog. Sie schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und verschränkte die Arme. »Kaum zu glauben, dass seit der Challenger-Explosion schon wieder achtzehn Monate vergangen sind«, sagte sie. »Das war so schrecklich.«
»Ja«, sagte Baedecker.
Es war ironisch, dass er ausgerechnet wegen dieses Fluges am Cape gewesen war. Bis dahin war er nur bei einem einzigen Shuttleflug dabei gewesen, einem der ersten Testflüge der Columbia fast fünf Jahre zuvor. Im Januar 1986 wurde er bloß deshalb Zeuge des Challenger-Desasters, weil Cole Prescott, der Vizepräsident von Baedeckers Firma, ihn gebeten hatte, einen Kunden zu begleiten; der hatte eine Subkomponente der Spartan-Halley-Forschungsanlage finanziert, die sich im Frachtraum der Challenger befand.
Der Start von 51-L war durchaus normal verlaufen; Baedecker und der Kunde standen in VIP-Bunkern fast fünf Kilometer vom Startplatz 39-B entfernt und schirmten die Augen gegen die Morgensonne ab, als es passierte. Baedecker konnte sich noch erinnern, dass er sich gewundert hatte, wie kalt es war; er hatte nur ein leichtes Baumwolljackett dabeigehabt, und der Morgen war der kälteste, den er jemals am Cape erlebt hatte. Durch das Fernglas konnte er Eis auf den Startrampen um das Shuttle herum erkennen.
Baedecker hatte sich überlegt, ob sie möglicherweise früher aufbrechen sollten, um den Menschenmassen am Ende der Veranstaltung zu entrinnen, als die Stimme des Pressesprechers der NASA aus den Lautsprechern schallte. »Flughöhe vier Komma drei Seemeilen, Entfernung drei Seemeilen, Maschinen volle Kraft voraus. Drei Schubdüsen jetzt bei einhundertundvier Prozent.«
Er hatte flüchtig an seinen eigenen Start vor fünfzehn Jahren gedacht, als es sein Job gewesen war, die Daten zu übermitteln, während Dave Muldorff wachsam die Steuerung der monströsen Saturn V im Auge behielt. Plötzlich holte ihn Commander Dick Scobees Stimme in die Gegenwart zurück. »Roger, gib mehr Schub!« Baedecker spähte zu den Parkplätzen hinüber und überlegte sich, wie verstopft die Straßen sein würden, und einen Augenblick später sagte sein Kunde: »Mann, diese SRBs erzeugen aber eine irre Wolke, wenn sie abkoppeln, was?«
Da hatte Baedecker nach oben geblickt, die expandierende, pilzförmige Kondensspur entdeckt, die nichts mit der Abkopplung der SRBs zu tun hatte, und hatte sofort das widerliche orangerote Leuchten, welches das Innere der Wolke erhellte, als hypergolische Treibstoffe identifiziert, die sich entzündeten, während sie aus dem zerstörten Kontrollsystem und den Steuerdüsen entwichen. Ein paar Sekunden später wurden die gigantischen Schubdüsen sichtbar, die unkontrolliert aus der immer noch expandierenden Kumuluswolke der Explosion heraustrudelten. Baedecker, der sich sterbenselend fühlte, hatte sich zu Tucker Wilson umgedreht, einem Kollegen aus der Apollo-Ära, der immer noch im aktiven Dienst bei der NASA war, und hatte ohne echte Hoffnung gefragt: »RTLS?«
Tucker hatte den Kopf geschüttelt; nein, das hier war keine Notlandung mit Rückkehr zum Startplatz. Es war vielmehr genau das, wovor sie sich alle während ihrer eigenen Startphase insgeheim gefürchtet hatten. Als Baedecker wieder nach oben schaute, hatten die ersten Trümmer der zerstörten Orbitalfähre bereits ihren langen, traurigen Sturz ins wartende Grab des Meeres begonnen.
In den Monaten nach Challenger fiel es Baedecker schwer zu glauben, dass das Land jemals oft und problemlos ins All geflogen war. Die lange Pause erdgebundener Zweifel, während der absolut nichts abhob, wurde für Baedecker zum Normalzustand und verschmolz in seinem Denken mit einem grässlichen Gefühl von Schwere, Entropie und triumphierender Schwerkraft, das auf ihm lastete, seit seine eigene Welt und seine Familie wenige Monate zuvor auseinandergebrochen waren.
 
»Mein Freund Bruce hat erzählt, dass Scott nach der Explosion der Challenger zwei Tage nicht aus seinem Zimmer kam«, sagte Maggie Brown, als sie wieder vor der Schalterhalle des Flughafens von Neu-Delhi standen.
»Wirklich?«, sagte Baedecker. »Ich hätte nicht gedacht, dass sich Scott damals noch für das Raumfahrtprogramm interessiert hat.« Er sah hoch, als die Sonne plötzlich wieder von Wolken verdeckt wurde. Die Farben flossen aus der Welt ab wie Wasser in einen Abfluss.
»Er meinte, es wäre ihm egal«, sagte Maggie. »Und dass Tschernobyl und Challenger nur die ersten Anzeichen für das Ende der technologischen Ära sind. Ein paar Wochen später hat er dann die Vorbereitungen für seine Reise hierher getroffen. Haben Sie Hunger, Richard?«
Es war noch nicht einmal halb sieben Uhr morgens, aber die Schalterhalle füllte sich schon mit Menschen. Andere lagen schlafend auf dem rissigen und schmutzigen Linoleumboden. Baedecker fragte sich, ob es sich bei ihnen um potenzielle Passagiere oder nur um Obdachlose handelte, die eine Unterkunft für die Nacht gebraucht hatten. Ein Baby lag allein auf einem schwarzen Kunststoffsitz und schrie aus Leibeskräften. Eidechsen huschten über die Wände.
Maggie führte ihn zu einer kleinen Cafeteria im ersten Stock, wo verschlafene Kellner mit schmutzigen Handtüchern über den Armen warteten. Sie warnte ihn davor, den Speck zu versuchen, dann bestellte sie ein Omelette, Toast, Gelee und Tee. Baedecker fragte sich, ob er frühstücken sollte, entschied sich dann aber dagegen. Eigentlich wollte er einen Scotch. Er bestellte schwarzen Kaffee.
Der große Saal war menschenleer, bis auf die lärmende russische Besatzung einer Aeroflot-Maschine, die Baedecker durch das Fenster sehen konnte. Die Russen schnippten mit den Fingern, um die müden indischen Kellner herbeizurufen. Baedeckers Blick glitt über den Kapitän, dann schaute er noch einmal hin. Der große Mann kam ihm bekannt vor - auch wenn es bestimmt eine Menge russischer Piloten mit markantem Kiefer und buschigen Augenbrauen gab. Dennoch fragte er sich, ob er ihn nicht vielleicht während der drei Tage kennengelernt hatte, die er mit der Besatzung des Apollo-Sojus-Testprojekts in Moskau und dem sowjetischen »Sternenstädtchen« verbracht hatte. Er zuckte die Achseln. War nicht wichtig.
»Wie geht es Scott?«, fragte er.
Maggie Brown blickte auf, und ein leicht verschlossener Ausdruck schien sich wie ein feiner Schleier über ihr Gesicht zu legen. »Prima. Er sagt, er hat sich in seinem Leben noch nie so gut gefühlt, aber ich glaube, er hat etwas abgenommen.«
Baedecker sah seinen untersetzten Sohn mit Bürstenschnitt und T-Shirt vor sich, der damals Shortstop in der Jugendliga von Houston spielen wollte, aber zu langsam und nur für das rechte Feld geeignet war. »Was macht sein Asthma? Hat es in der hohen Luftfeuchtigkeit wieder angefangen?«
»Nein, das Asthma ist weg«, erklärte Maggie gelassen. »Laut Scott hat es der Meister geheilt.«
Baedecker blinzelte. Selbst in den letzten Jahren in seinem einsamen Apartment hatte er nachts unwillkürlich auf Husten oder keuchendes Atmen gewartet. Genau wie damals in den Zeiten, da er den Jungen die ganze Nacht hindurch wie einen Säugling gehalten und gewiegt hatte, während sie beide ängstlich dem Röcheln in seiner Lunge lauschten. »Sind Sie auch eine Anhängerin dieses … des Meisters?«
Maggie lachte, und der Schleier schien sich von ihren grünen Augen zu heben. »Nein. In diesem Fall wäre ich nicht hier. Sie erlauben einem nicht, den Ashram für mehr als ein paar Stunden zu verlassen.«
»Hmmm«, sagte Baedecker und spähte auf die Uhr. Neunzig Minuten, bis sein Flug nach Bombay startete.
»Er wird Verspätung haben«, sagte Maggie.
»Wie?« Baedecker war nicht sicher, wovon sie sprach.
»Ihr Flug. Er wird Verspätung haben. Was haben Sie bis Dienstag vor?«
Darüber hatte Baedecker noch nicht nachgedacht. Es war erst Donnerstagmorgen. Er hatte sich vorgestellt, noch am Nachmittag in Bombay zu sein, am Freitag die Leute von der Elektronikfirma und deren Bodenstation zu besuchen, mit dem Zug nach Poona zu fahren, Scott übers Wochenende zu besuchen und am Montagnachmittag von Bombay aus nach Hause zu fliegen.
»Ich bin nicht sicher«, sagte er. »Ich schätze, ich werde ein paar Tage in Bombay bleiben. Was ist so wichtig an dieser Klausur, dass Scott sich nicht freinehmen konnte?«
»Nichts«, sagte Maggie Brown. Sie trank den Rest von ihrem Tee und stellte die Tasse mit einer brüsken Bewegung ab, in der ein Anflug von Zorn lag. »Dasselbe wie immer. Vorträge des Meisters. Meditationssitzungen. Tänze.«
»Tänze?«
»Na ja, keine richtigen. Sie spielen Musik. Der Rhythmus wird schneller. Immer schneller. Sie bewegen sich dazu. Immer schneller. Schließlich brechen sie vor Erschöpfung zusammen. Reinigt die Seele. Das ist Teil des Tantra-Yoga.«
Baedecker konnte hören, was sie nicht sagte. Er hatte einiges über diesen ehemaligen Philosophieprofessor gelesen, der zum neuesten Guru so vieler reicher Kinder aus allen möglichen wohlhabenden Nationen geworden war. Laut Time waren die indischen Behörden schockiert gewesen, als ihnen Berichte über Gruppensex in seinen Ashrams zu Ohren kamen. Baedecker selbst war schockiert gewesen, als Joan ihn davon in Kenntnis setzte, dass Scott die Universität in Boston verlassen hatte und dann um die halbe Welt gereist war. Auf der Suche wonach denn?
»Sie scheinen das nicht zu billigen«, sagte er zu Maggie Brown.
Das Mädchen zuckte die Achseln. Dann leuchteten ihre Augen auf. »Hey, ich hab eine Idee! Warum schauen wir uns nicht zusammen die Sehenswürdigkeiten an? Seit ich im März hergekommen bin, versuche ich Scott dazu zu überreden, sich auch mal was anderes als den Ashram in Poona anzusehen. Begleiten Sie mich einfach! Wird bestimmt lustig. Das Visum von Air India kriegen Sie praktisch umsonst.«
Baedecker, dem immer noch die Gerüchte über Gruppensex im Kopf herumspukten, war einen Moment fassungslos. Dann bemerkte er den kindlichen Eifer in Maggies Gesicht und tadelte sich selbst. Er war ein lüsterner alter Idiot. Das Mädchen war schlichtweg einsam.
»Was genau haben Sie denn vor?«, fragte er. Er brauchte einen Augenblick, um sich eine höfliche Ablehnung zurechtzulegen.
»Ich fliege morgen«, erklärte sie strahlend. »Zuerst nach Varanasi, dann nach Khajuraho; ein kurzer Stopp in Kalkutta, dann Agra und Ende der Woche zurück nach Poona.«
»Was ist in Agra?«
»Nur das Taj Mahal«, sagte Maggie und beugte sich mit einem schalkhaften Ausdruck in den Augen zu ihm. »Sie können Indien nicht besuchen und das Taj Mahal auslassen. Das ist verboten.«
»Tut mir leid, aber ich muss wohl«, sagte Baedecker. »Ich habe morgen eine Verabredung in Bombay, und Sie haben gesagt, dass Scott am Dienstag wieder hier ist. Spätestens Freitag in einer Woche muss ich wieder nach Hause fliegen. Ich ziehe diese Reise auch so schon zu sehr in die Länge.« Sie nickte, aber er konnte sehen, wie enttäuscht sie war.
»Außerdem«, sagte er, »bin ich kein großer Tourist.«
 
Baedecker hatte die amerikanische Flagge als absurd empfunden. Er hatte damit gerechnet, dass ihr Anblick ihm zu Herzen gehen würde. Einmal war er in Jakarta gewesen, nur neun Monate fern von den Staaten, und da hatte ihn die amerikanische Flagge, die am Heck eines Frachters im Hafen flatterte, zu Tränen gerührt. Aber auf dem Mond - über eine Viertelmillion Kilometer von zu Hause entfernt - konnte er nur daran denken, wie albern sie an ihrem starren Drahtgestell wirkte, das mitten im Vakuum eine Brise simulieren sollte.
Er und Dave hatten salutiert. Sie standen zur Sonne gewandt vor ihrer Fernsehkamera und salutierten. Unbewusst hatten sie schon die Gewohnheit angenommen, sich in der geringen Schwerkraft in der »Schlaffer-Affe-Haltung« nach vorne zu beugen, vor der Aldrin sie in Kommuniqués gewarnt hatte. Die war zwar bequem und fühlte sich natürlich an, fotografierte sich aber schlecht.
Sie hatten den Salut beendet und wollten sich gerade anderen Dingen zuwenden, als Präsident Nixon zu ihnen sprach. Für Baedecker war dieser Stegreiffunkspruch gewesen, der ein ohnehin unwirkliches Erlebnis ins Surreale gekippt hatte. Der Präsident hatte offenbar nicht festgelegt, was er im Verlauf des Anrufs sagen wollte, und so schweifte sein Monolog ab. Mehrmals schien es, als hätte er seinen Satz beendet, und sie setzten schon zu einer Antwort an, doch dann ertönte Nixons Stimme erneut. Die entfernungsbedingte Funkverzögerung trug zusätzlich zu dem Problem bei. Dave übernahm das Reden fast vollständig. Baedecker sagte mehrmals: »Danke, Mr. Präsident.« Aus unerfindlichen Gründen hatte Nixon gedacht, dass sie sich für die Footballergebnisse der Spiele vom Vortag interessieren würden. Baedecker verabscheute Football. Er fragte sich, ob dieses Geschwätz über Football Nixons Vorstellung von einem echten Gespräch unter Männern entsprach.
»Danke, Mr. Präsident«, hatte Baedecker gesagt. Und die ganze Zeit, während er vor dem Auge der Kamera stand, eine starre Flagge vor schwarzem Hintergrund betrachtete und dem von Rauschen überlagerten Geschwafel seines Staatsoberhaupts lauschte, musste Baedecker an den unerlaubten Gegenstand denken, der sich in der Probentasche über dem rechten Knie verbarg.
 
Der Flug von Delhi nach Bombay startete mit dreistündiger Verspätung. Der Vertreter einer britischen Helikopterfirma, der neben Baedecker in der Schalterhalle saß, erklärte ihm, dass der Pilot der Air India und der Flugingenieur jetzt schon seit Wochen einen Streit miteinander ausfochten. Entweder der eine oder der andere behinderte den Start jeden Tag.
Als sie sich endlich in der Luft befanden, versuchte Baedecker zu dösen, aber das unablässige Läuten der Rufknöpfe hielt ihn wach. Kaum hatten sie abgehoben, schien jeder Passagier der Maschine nach einer der saribekleideten Stewardessen zu läuten. Die drei Männer in der Reihe vor Baedecker verlangten lautstark nach Kissen und Drinks und schnippten dabei herrisch mit den Fingern, was ihm, Baedecker, völlig gegen den egalitären Strich ging.
Maggie Brown hatte ihn kurz nach dem Frühstück verlassen. Sie hatte ihm den Plan ihrer »Großen Rundreise« auf eine Serviette gekritzelt und in eine Tasche seines Anzugs gesteckt. »Man kann nie wissen«, sagte sie. »Möglicherweise überlegen Sie es sich nochmal.« Baedecker hatte ein paar letzte Fragen nach Scott gestellt, bevor sie mit einem schwarz-gelben Taxi davongefahren war. Insgesamt blieb ihm der Eindruck einer jungen Frau, die ihrem Geliebten irrtümlich in ein seltsames, fremdes Land gefolgt war und nun nicht mehr wusste, was sie fühlte oder dachte.
Sie flogen in einem französischen Airbus. Baedecker stellte mit geübtem Auge fest, dass sich die Tragflächen weiter spannten als bei den Boeings, und registrierte verblüfft den steilen Flugwinkel, den der Pilot wählte. Amerikanische Fluggesellschaften erlaubten ihren Piloten nicht, die Maschinen derart hinunterzuziehen; man wollte die Passagiere nicht beunruhigen. Den indischen Passagieren schien es jedoch nicht weiter aufzufallen. Der Landeanflug auf Bombay lief so rasend schnell ab, dass Baedecker an einen Flug mit einer C-130 nach Pleiku denken musste, wo der Pilot aus Angst vor Infanteriebeschuss gezwungen gewesen war, fast vertikal runterzugehen.
Von oben gesehen schien Bombay nahezu komplett aus Hütten mit Blechdächern und alten, verfallenen Fabriken zu bestehen. Dann erhaschte Baedecker einen Blick auf Hochhäuser und das Arabische Meer, das Flugzeug kippte in einem Winkel von fünfzig Grad, ein Plateau erhob sich zur Begrüßung über die Hütten, und im nächsten Moment setzten sie auf. Baedecker zollte dem Piloten stumm Bewunderung.
Die Taxifahrt vom Flughafen zum Hotel war fast zu viel für Baedeckers erschöpfte Sinne. Die Elendsviertel begannen fast unmittelbar vor den Toren des Santa Cruz Airport von Bombay. Dutzende Quadratkilometer von Hütten mit Blechdächern, durchhängenden Segeltuchunterständen und schmalen, schlammigen Wegen erstreckten sich auf beiden Seiten der Straße. An einer Stelle durchschnitt eine sechs Meter hohe Wasserpipeline das Dickicht der Hütten wie ein Gartenschlauch einen Ameisenhaufen. Kinder mit brauner Haut liefen darauf entlang oder ruhten sich auf den rostigen Seiten aus. Die Bewegungen unzähliger Körper überall um ihn herum machten ihn schwindlig.
Es war sehr heiß. Die schwüle Luft, die zu den offenen Fenstern des Taxis hereinwehte, strich wie erhitzte, dampfende Abgase über Baedecker hinweg. Gelegentlich blitzte rechts von ihm flüchtig das Arabische Meer auf. Eine riesige Werbefläche in den Vororten verkündete: 0 TAGE BIS ZUM MONSUN, aber von der tiefhängenden Wolkendecke kam kein kühlender Regen, sie reflektierten lediglich die schreckliche Hitze und sorgten dafür, dass sich ein bedrückendes Gefühl von Schwere wie ein Joch auf seine Schultern legte.
Die Stadt selbst war noch chaotischer. Jede Seitenstraße wurde zu einem Nebenfluss weiß gekleideter Menschen, die sich in die größeren Ströme und Bäche einer amoklaufenden Masse ergossen. Tausende winziger Geschäftsfassaden boten ihre bunten Waren den Millionen dicht gedrängter Passanten feil. Die Kakophonie von Autohupen, Motoren und Fahrradglocken hüllte Baedecker in eine dichte, undurchdringliche Decke. Gigantische, grelle Plakatwände warben für Filme mit rosig geschminkten Schauspielern und schwarzhaarigen Schauspielerinnen mit Schmollmündern und purpurn getöntem Teint.
Dann befanden sie sich auf dem Marine Drive, dem Queen’s Necklace, und das Meer wogte schwer und grau zu ihrer Rechten. Links konnte Baedecker Cricketfelder, Freiluftkrematorien, Tempel und Bürohochhäuser erkennen. Über dem Turm der Stille glaubte er eine kleine Schar Geier kreisen zu sehen, die auf Leichen gläubiger Parsi warteten, aber als er sich abwandte, merkte er, dass die Pünktchen weiter an der Peripherie seiner Wahrnehmung tanzten.
Der Orkan aus der Klimaanlage des Oberoi Sheraton ließ seine schweißnasse Haut erschauern. Baedecker konnte sich kaum daran erinnern, wie er sich eingetragen hatte und dem rot gekleideten Pagen zu seinem Zimmer im dreißigsten Stock gefolgt war. Die Teppiche rochen nach Desinfektionsmittel, eine Gruppe lauter Araber im Fahrstuhl verströmte Moschusgeruch, und einen Augenblick lang glaubte Baedecker sich übergeben zu müssen. Dann drückte er dem Pagen einen Fünfrupienschein in die Hand, die Vorhänge wurden vor das breite Fenster gezogen, Türen geschlossen, alle Geräusche wurden gedämpft, und Baedecker warf seinen Leinenmantel über einen Sessel und ließ sich auf das Bett fallen. Innerhalb von zehn Sekunden war er eingeschlafen.
 
Sie waren fast viereinhalb Kilometer mit dem Rover gefahren, ein Rekord. Es war eine unruhige Fahrt. Der feine, von den Rädern aufgewirbelte Mondstaub beschrieb seltsame, flache Flugbahnen, die Baedecker faszinierten. Die Welt war grell und einsam. Ihre Schatten eilten ihnen voraus. Jenseits des Funkrauschens und der internen Anzuggeräusche spürte Baedecker eine kalte und absolute Stille.
Das Gebiet für ihre Experimente lag ein gutes Stück vom Landeplatz entfernt in einem Krater, der laut ihren Karten »Kate« hieß. Ganz allmählich hatten sie seine Seite erklommen, und der winzige Computer im Rover hatte jede Biegung und Kurve gespeichert. Die Landefähre war als goldensilbernes Funkeln hinter ihnen im Tal zu erkennen.
Baedecker entlud die klobige seismische Einheit, während Dave damit beschäftigt war, mit der auf die Anzugsfront montierten Hasselblad eine 360-Grad-Panoramaaufnahme zu machen. Während Baedecker das Ausrollen der zehn Meter langen Golddrähte besorgte, beobachtete er Dave, der nach jeder Aufnahme leicht hüpfte, ein menschlicher, an einem hellen Strand festgebundener Ballon. Dave meldete etwas an Houston und hüpfte nach Süden, um eine große Gesteinsformation zu fotografieren. Die Erde war ein kleines blauweißes Schild an einem schwarzen Himmel.
Jetzt, dachte Baedecker. Er ließ sich auf ein Knie sinken, wobei er feststellen musste, dass das im Druckanzug gar nicht so einfach war, und kniete sich dann ganz in den Staub, um das Ende der letzten seismischen Sensorfasern zu befestigen. Dave entfernte sich inzwischen immer weiter. Baedecker öffnete hastig den Reißverschluss der rechten Probentasche und nahm die beiden Gegenstände heraus. Mit den dicken Handschuhen hatte er Schwierigkeiten, die Plastiktüte zu öffnen, aber schließlich gelang es ihm, den Inhalt auf die staubige Handfläche zu schütteln. Die kleine Farbfotografie lehnte er etwa einen Meter von der Sensorfaser entfernt an einen Stein. Sie lag halb im Schatten, und Dave würde sie nur bemerken, wenn er direkt darüber stand. Den anderen Gegenstand - ein Christophorusmedaillon - hielt er einen Moment unentschlossen in der Hand. Dann neigte er sich vor, drückte das Metall fest auf den grauen Boden, ließ es zurück in die Tüte sinken und verstaute diese rasch wieder in der Probentasche. Baedecker fühlte sich seltsam, wie er so nach vorn gebeugt im Mondstaub kniete und sein unförmiger Schatten wie ein schwarzes Tuch vor ihn fiel. Die kleine Fotografie schaute ihn an. Joan trug eine rote Bluse und blaue Hosen. Sie hatte den Kopf leicht zu Baedecker gewandt, der direkt in die Kamera lächelte. Beide hatten eine Hand auf Scotts Schultern liegen. Der Siebenjährige grinste breit. Er trug für das Foto ein weißes Hemd, aber in dem offenen Kragen konnte Baedecker das blaue T-Shirt mit dem Schriftzug »Kennedy Space Center« erkennen, das der Junge fast jeden Tag im letzten Sommer getragen hatte. Baedecker schaute nach links zu der fernen Gestalt von Dave und wollte sich gerade erheben, als er etwas hinter sich spürte. Schlagartig wurde seine Haut klamm im Anzug. Er rappelte sich auf und drehte sich langsam um.
Der Rover parkte fünf Meter hinter ihm. Die Fernsehkamera, die von einer Konsole in Houston aus bedient wurde, war auf eine Verstrebung beim rechten Vorderrad montiert. Die Kamera zeigte direkt auf ihn. Sie neigte sich ein wenig zurück, damit sie ihm folgen konnte, als er sich zu voller Größe aufrichtete.
Baedecker starrte durch das gleißende Licht auf die kleine Box mit ihren Kabeln. Der schwarze Kreis der Linse erwiderte seinen Blick schweigend.
Die große Antenne schnitt eine scharf umrissene Parabel aus dem Monsunhimmel.
»Beeindruckend, nicht wahr?«, fragte Sirsikar. Baedecker nickte und sah sich von dem Hügel herab um. Kleine Flecken Farmland, nicht größer als zwei Morgen, verliefen längs der schmalen Straße. Die Häuser bestanden aus unordentlichen Bretterverschlägen auf derben Pfählen. Den ganzen Weg von Bombay bis zur Empfangsstation hatten Sirsikar und Shah ihm interessante Örtlichkeiten gezeigt.
»Sehr hübsches Farmhaus«, hatte Shah gesagt und auf ein Gebäude aus Stein gedeutet, das nicht größer als die Garage von Baedeckers altem Haus in Houston war. »Es besitzt einen Methankonverter, müssen Sie wissen.«
Baedecker fielen die Männer auf, die auf ihren flachen Holzpflügen hinter erschöpft aussehenden Ochsen standen. Zinken rissen die trockene Erde auf. Ein Mann hatte seine beiden Söhne neben sich auf dem Pflug, damit sich die Zinken noch tiefer in den Boden bohrten.
»Wir haben jetzt drei«, fuhr Sirsikar fort. »Nur der Nataraja ist synchron. Sarasvati und Lakshmi befinden sich während eines Drittels ihrer neunzig Minuten dauernden Umkreisung hinter dem Horizont, und die Station hier in Bombay dient als Relais für Echtzeitübertragungen.«
Baedecker musterte den kleinen Wissenschaftler. »Sie benennen die Satelliten nach Göttern?«, fragte er.
Shah scharrte unbehaglich mit dem Fuß, aber Sirsikar sah Baedecker strahlend an. »Gewiss!«
Baedecker, der sich zu Zeiten von Mercury hatte anwerben lassen, seine Ausbildung unter Gemini erhalten und seine Taufe in einer Apollo bestanden hatte, wandte den Blick wieder der stählernen Symmetrie der gigantischen Antenne zu.
»Wir auch«, sagte er.
 
DAD, WIR SIND BIS SAMST. 27. JUNI IN KLAUSUR. BALD WIEDER IN POONA. WENN DU DA BIST, SEHEN WIR UNS. SCOTT.
Baedecker las das Telegramm noch einmal, knüllte es zusammen und schnippte es in den Abfalleimer in der Zimmerecke. Er schlenderte zu dem breiten Fenster und starrte auf die gespiegelten Lichter vom Queen’s Necklace im unruhigen Wasser der Bucht hinunter. Nach einer Weile drehte er sich um, ging zur Rezeption hinunter und setzte ein Telegramm nach St. Louis auf, in dem er seine Firma darüber informierte, dass er nun doch beschlossen hatte, seinen Urlaub zu nehmen.
 
»Ich wusste, dass Sie kommen würden«, sagte Maggie Brown. Sie verließen das Touristenboot, und Baedecker wich etwas vor dem Ansturm von Bettlern und Obdachlosen zurück. Er fragte sich wieder, ob er einen Fehler gemacht hatte, als er den Werbespot für die Kreditkarte ablehnte. Das Geld hätte er gut gebrauchen können.
»Haben Sie geahnt, dass Scott in Klausur bleiben würde?«, fragte Baedecker.
»Nein. Auch wenn es mich nicht überrascht. Ich hatte nur so eine Ahnung, dass ich Sie wiedersehen würde.«
Sie standen am Ufer des Ganges und bewunderten einen neuen Sonnenaufgang. Eine Menschenmenge drängte sich bereits auf der gewaltigen Treppe, die zum Fluss hinunterführte. Frauen, deren nasse Baumwollkleidung an ihren schlanken Gestalten klebte, entstiegen dem kaffeefarbenen Wasser. Irdene braune Krüge spiegelten die Farbe ihrer Haut. Swastikas schmückten einen Tempel mit Marmorfassade. Baedecker konnte das Klatsch-klatsch-klatsch von Frauen der Wäscherkaste hören, die stromaufwärts Wäsche gegen die flachen Steine schlugen. Der Qualm von Weihrauch und Scheiterhaufen schwängerte die Morgenluft.
»Auf den Schildern steht Benares«, sagte Baedecker, als sie sich der kleinen Gruppe anschlossen. »Die Fahrkarte ging aber nach Varanasi. Wo sind wir denn nun?«
»Varanasi lautete der offizielle Name. Aber alle nennen es noch wie früher Benares. Allerdings wollten sie das abschaffen, weil die Briten es so nannten. Sie wissen schon, ein Sklavenname. Malcolm X. Muhammad Ali.« Maggie verstummte und fiel in einen leichten Laufschritt, als der Führer sie ermahnte, in den schmalen Gassen den Anschluss nicht zu verlieren. An einer Stelle wurde die Straße so schmal, dass Baedecker die Hände ausstrecken und die Hauswände zu beiden Seiten mit den Fingerspitzen berühren konnte. Die Leute drängten, brüllten, schubsten, spuckten und wichen den allgegenwärtigen Rindern aus, die frei herumliefen. Ein ungewöhnlich hartnäckiger junger Bettler folgte ihnen mehrere Blocks lang und blies dabei ohrenbetäubend in seine handgeschnitzte Flöte. Schließlich zwinkerte Baedecker Maggie zu, gab dem Jungen zehn Rupien und steckte die Flöte in die Hüfttasche.
Sie betraten ein leerstehendes Gebäude. Im Innern hielten gelangweilte Männer Kerzen hoch und wiesen ihnen den Weg eine ausgetretene Treppe hinauf. Als Baedecker vorüberging, streckten sie die Hände aus. Im zweiten Stock konnte man von einem kleinen Balkon über die Tempelmauer spähen. Ein goldverkleidetes Minarett war gerade noch zu erkennen.
»Dies ist die heiligste Stätte der Welt«, sagte der Führer. Seine Haut besaß die Farbe und Beschaffenheit eines gut geölten Baseballhandschuhs. »Heiliger als Mekka. Heiliger als Jerusalem. Heiliger als Bethlehem oder Samath. Es ist der allerheiligste Tempel, den alle Hindus - nach einem Bad im Ganges - besuchen wollen, bevor sie sterben.«
Allgemeines Nicken und Murmeln folgte. Stechmückenschwärme tanzten vor verschwitzten Gesichtern. Auf dem Weg nach unten versperrten die Männer mit den Kerzen ihnen endgültig den Weg und beharrten mit fordernden Handflächen und schneidenden Stimmen auf ihren Lohn.
Als sie später gemeinsam mit einer Autorikscha zum Hotel zurückfuhren, drehte sich Maggie mit ernster Miene zu ihm um. »Glauben Sie daran? An Orte der Kraft?«
»Wie meinen Sie das?«
»Orte, die nicht nur für einen selber was Besonderes sind. Orte, die ihre eigene Kraft besitzen.«
»Nicht hier«, sagte Baedecker und deutete auf das traurige Schauspiel von Armut und Verfall um sie herum.
»Nein, nicht hier«, stimmte Maggie Brown zu. »Aber ich habe ein paar gefunden.«
»Erzählen Sie mir davon«, sagte Baedecker. Wegen des Lärms von Verkehr und Fahrradklingeln musste er laut sprechen. Maggie senkte den Blick und strich sich das Haar hinter das Ohr, eine Geste, die Baedecker allmählich schon vertraut vorkam. »Es gibt da eine Stelle in der Nähe des Wohnorts meiner Großeltern im westlichen South Dakota«, begann sie. »Einen Vulkankegel in der Nähe der Black Hills am Rande der Prärie. Er heißt Bear Butte. Als Kind bin ich da immer hochgeklettert, während Großvater und Großmutter unten auf mich gewartet haben. Jahre später erfuhr ich, dass es eine heilige Stätte der Sioux war. Aber schon vorher - wenn ich allein dort oben stand und über die Prärie schaute - wusste ich einfach, dass dieser Platz was ganz Besonderes war.«
Baedecker nickte. »Das ist bei höhergelegenen Stellen oft so«, sagte er. »Es gibt da einen Ort, den ich gern besuche, ein kleines Christian Science College - weit draußen in den Boonies auf der Illinoisseite des Mississippi, nicht weit von St. Louis entfernt. Der Campus befindet sich genau auf den Klippen über dem Fluss. Direkt am Rand steht eine kleine Kapelle, und man kann auf einige Felsvorsprünge hinaustreten und hat den Blick über halb Missouri.«
»Sind Sie Christian Scientist?«
Ihr Gesichtsausdruck war so ernst, dass Baedecker lachen musste. »Nein«, sagte er. »Ich bin nicht religiös. Ich bin nicht … gar nichts.« Plötzlich sah er sich im Mondstaub knien, das grelle Licht der Sonne umfloss ihn wie ein Segen.
Die Autorikscha war hinter mehreren Lastwagen im Verkehr stecken geblieben. Jetzt scherte der Fahrer brüllend aus und überholte sie rechts, und Maggie musste ihre nächste Bemerkung beinahe brüllen. »Nun, ich finde, es ist mehr als die Aussicht. Ich finde, manche Stätten besitzen eine eigene Kraft.«
Baedecker lächelte. »Da könnten Sie Recht haben.«
Sie drehte sich zu ihm um, ihre grünen Augen lächelten ebenfalls. »Und ich könnte mich irren«, sagte sie. »Könnte alles großer Quatsch sein. Dieses Land macht aus jedem
 
 
 
 
Überarbeitete Neuausgabe 5/09 Redaktion: Tamara Rapp
Copyright © 1989 by Dan Simmons Copyright © 2009 der deutschen Ausgabe und der
Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH http://www.heyne.de
 
eISBN : 978-3-641-03310-1
 
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