Kindesmord im Dorf - Thea Koss - E-Book

Kindesmord im Dorf E-Book

Thea Koss

0,0

Beschreibung

Uhlbach bei Stuttgart im Jahr 1784: Die 25jährige Anna Maria Ohnmaiß, ledig, Tochter des Schultheißen, bringt in einem Holzstall ein Kind zur Welt, dessen Vater ihr verheirateter Cousin ist. Die Konstellation ist unmöglich. So heimlich, wie die Geburt geschah, erwürgt die Mutter ihr Kind und versteckt seine Leiche. Doch ihr Vater entdeckt die Tat, der Pfarrer meldet sie den Behörden, es kommt zur Gerichtsverhandlung. Aufgrund der Prozessakten, die bis heute erhalten sind, rekonstruiert die Tübinger Kulturwissenschaftlerin Thea Koss den Fall. Die soziale Kontrolle funktioniert zur damaligen Zeit unbarmherzig. Kehrseite der dörflichen Geborgenheit ist ein ungeheures Überwachsungssystem. Koss beleuchtet die seltsame Verschränkung von dörflichem Wissen und Unwissen über die Schwangerschaft der Bürgermeisterstochter und sie macht deutlich, wie sehr die männlichen Hauptfiguren von Ehre und Unschuld eingeschnürt sind. Am eindrücklichsten ins Blickfeld gerückt werden Verhalten und Verhaltenserklärungen der Kindsmutter selbst. Die Rechte der Männer, die den weiblichen Körper nicht nur begehren, sondern schon im Verdachtsfall ungeniert inspizieren und mit Fragen und Blicken penetrieren, wird ohne Beschönigung entwickelt und präsentiert. "Natürlich" sind auch die juristische Untersuchung und das Urteil reine Männersache. Allerdings gibt es zum Schluss eine überraschende Wende.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 149

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thea Koss

Kindesmord im Dorf

Ein Kriminalfall des 18. Jahrhunderts

 

 

 

Dieses eBook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Von der Suche nach Bedeutung

Uhlbach im 18. Jahrhundert: Topographie und Sozialstruktur

»Mein Verdacht übrigens wegen einer Schwangerschafft verlohr sich zimmlich« Der Pfarrer M. Ludwig

Kirchenzucht und Kirchenbuße

»Deine Tochter wird doch kein Kind geboren, und dir verborgen haben« Der Vater Johann Michael Ohnmaiß

Furcht und Schrecken eine Frage patriarchaler Familienstruktur?

»Nicht die geringste Schuld hieran« Der Schwängerer Jonathan Silberberger

Schwängerer im Blick von Staat und Zeitgenossen

»In solche Angst geraten« - Die Geschwängerte

Inspektion des weiblichen Körpers

»Es werde freylich gelebt haben« Anna Maria Ohnmaiß

Furcht und Schrecken eine Frage der Ehre?

»Alles Geschwäzwerck auffangen, und wieder erzälen« Die Dorfbewohner

»Dem Scharf Richter an seine Hand und Land geliefert« Das Tübinger Urteil

Einblick in die Rechtsgeschichte

»So ergreiffen Seine Herzogliche Durchlaucht diese Gelegenheit mit offenen Armen« Serenissimus Carl Eugen

Offenes Ende

Literaturverzeichnis

Literatur

Anmerkungen

Impressum

Von der Suche nach Bedeutung

Im Sommer 1784 verbreitet sich in dem kleinen schwäbischen Dorf Uhlbach ein sensationelles Gerücht: Anna Maria Ohnmaiß, die ledige Tochter des Schultheißen, soll schwanger sein. Die Betroffene weist alle Verdächtigungen entschieden von sich, beteuert immer wieder ihre Unschuld. Und eine Zeitlang sind die Erklärungen, die sie für ihren Zustand bietet, plausibel und überzeugend. Doch die Monate vergehen, und mit dem Leibesumfang der Schwangeren wachsen die Spekulationen. Dennoch wird es Oktober, bis sich der Pfarrer des Ortes schließlich gezwungen sieht, seinen Verdacht der Obrigkeit anzuzeigen. Aber seine Initiative greift zu spät. Anna Maria Ohnmaiß tötet ihre neugeborene Tochter. Das Verbrechen wird entdeckt, die Täterin wegen Kindesmord zum Tode verurteilt. Der Schwängerer, ihr Vetter Jonathan Silberberger, kommt ungeschoren davon.

Anna Maria Ohnmaiß ist eine der Frauen, die während des 18. Jahrhunderts ihre ungewollten Kinder ermordeten. In der Statistik ist sie eine von Hunderten. Als Mensch war sie, wie jede und jeder von uns, einzigartig. Sie hat - wie all die anderen, die viel zu oft nur als Ziffer registriert werden - verdient, als historisches Subjekt wahrgenommen zu werden, als eine Frau, die gelebt, gedacht, gefühlt und gehandelt hat. Erst die Rekonstruktion ihrer Lebenswirklichkeit, ihrer Sozialbeziehungen, ihrer Verhaltensspielräume im Regelwerk des dörflichen Lebens vor zweihundert Jahren eröffnet den Einblick in ihre Beweggründe und Denkweise.

Das 18. Jahrhundert, definiert als Zeitalter der Aufklärung, zeichnet sich aus durch die Neuinterpretierung der Welt, durch einen grundlegenden Wandel des Denkens, durch Kritik am Bestehenden. Die Entwicklung eines politisch-sozialen Bewußtseins, die den Beginn der »modernen« Welt charakterisierte, läßt sich ablesen an der Literaturlandschaft. Hier werden populärwissenschaftlich, moralisch-politisch, belletristisch und philosophisch die Reformen eingefordert: Pressefreiheit, Erziehung, humanitäre Gesetzgebung und Entwicklung der öffentlichen Meinung. »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, hatte Kant formuliert.

Bürgerliche Vernunft, ergänzt durch kontrollierte Gefühlskultur und Anerkennung der Obrigkeit, hatten bislang das Handeln der Menschen bestimmt. Um 1770 trat jedoch plötzlich eine Gruppe junger Autoren ans Licht der Öffentlichkeit, die die gesetzten Grenzen durchbrach, die »Stürmer und Dränger«. Das Zerbrechen des Individuums an den Normen der Gesellschaft und der bürgerlichen Moral war Thema ihrer sozialkritischen Stücke. Dabei erfuhr ein zeitgenössisches Problem ihr besonderes Interesse: das Verbrechen des Kindesmordes (1). Die literarische Bearbeitung stand im Dialog mit den strafrechtsreformerischen Bestrebungen, die die Abschaffung der Todesstrafe postulierten. Gemeinsam war ihnen die Ausbildung aufgeklärter Meinungen und eigenständiger Urteile, und gemeinsam war ihnen die Zugehörigkeit zu der Schicht der Lesenden und Schreibenden, die Adel und Bürgertum umfaßte. Ausgeschlossen von der Diskussion waren jedoch die Ungebildeten, die sozialen Unterschichten.

Dies hatte Konsequenzen für beide Seiten. An den einen ging die »Aufklärung«, wie das Bürgertum sie sich aneignen konnte, noch jahrzehntelang vorbei:

Aufklärung im Alltag der kleinen Leute war weniger die Sache von Philosophen als die von Schulmeistern und Predigern, die durch ihre praktische Tätigkeit in der Lage waren, sich und anderen ein Licht aufzustecken und alternative Erfahrungen zu sammeln (2).

Ob und wie sich die geistigen Errungenschaften der Aufklärung bei den »kleinen Leuten« durchsetzten, ist ein Erkenntnisinteresse der vorliegenden Untersuchung. Es stellt sich die Frage, inwieweit etwa einem Pfarrer überhaupt daran gelegen war, seinen Schafen ein Licht aufzustecken, und ob der Dorfschulmeister tatsächlich in der Lage war, über den geistigen Tellerrand tradierten Wissens hinauszusehen. Vermittelt wurden Neuerungen in der Landwirtschaft. An einer Änderung der Moralvorstellung, an einem Aufbegehren gegen die Obrigkeit war niemandem gelegen, dem Pfarrer schon gar nicht.

Währenddessen schrieben und diskutierten die anderen »abgehoben« an den Realitäten der Unterschicht vorbei, prägten das Gesicht des Jahrhunderts und gaben nachfolgenden Wissenschaftlern den Rahmen ihrer Studien, die - selbst wiederum Gebildete - ausschließlich nur die Geschichte der Gebildeten untersuchten, ja sie als die Geschichte begriffen und interpretierten. Diese Geschichtsschreibung (und ihre Vermittler) war männlich, historiographisch allenfalls geschmückt durch die Privilegierung weniger, »bedeutender« Frauen. Der »Paradigmawechsel« vollzog sich erst ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als die Unterschichten für geschichtswürdig befunden wurden. Doch die Entdeckung der »Alltagswirklichkeit«, der »Volkskultur« schloß Frauen noch immer weitgehend aus. Erst die Diskussionen um Frauenforschung seit der Mitte der siebziger Jahre haben klargemacht, daß Geschichte »auch als Geschichte der Geschlechter« verstanden werden muß, »die Geschichte von Frauen und Männern aufeinander bezogen werden« (3) kann.

Dabei verlangt die Erforschung dieser Lebenswelten besondere Fragestellungen und Methoden, weil die hinterlassenen Zeugnisse meist nur indirekt sind. In mehrfacher Weise gilt deshalb auch für die vorliegende Arbeit:

Die Untersuchung von Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig. Und mehr noch, je tiefer sie geht, desto unvollständiger wird sie (4).

Der Versuch, den »Fall« der Kindesmörderin Anna Maria Ohnmaiß zu ihrer Lebenswirklichkeit zu verdichten, daraus Sozialbeziehungen und Handlungsweisen zu rekonstruieren, stößt zwangsweise an Grenzen. Einer Mikrostudie, die sich die Erforschung dörflicher Kultur zum Ziel macht und sich dabei maßgeblich auf eine Kriminalakte des ausgehenden 18. Jahrhunderts stützt, sind zahlreiche Probleme immanent. Sie beruhen zum großen Teil auf der Quellenlage: Zum ersten beschreibt die Akte nur den Prozeß, sagt nichts aus über das Leben der beteiligten Personen vor oder nach dem Geschehen. Das Bild muß ergänzt werden durch Kirchenbücher, Gerichtsprotokolle, Güterbücher: mühsame Spurensuche nach kargen Beschreibungen, die manchmal im Sande verläuft, weil Inventuren nicht mehr existieren oder Register unvollständig sind. Zum zweiten sind die Vernehmungsprotokolle vom »Stattschreiber« Hellwag erstellt und somit Zeugnisse, deren Authentizität gefärbt ist durch den »Blick von oben«, was an der indirekten Rede überdeutlich wird. Sie zeichnen die »Geschichte von Objekten« (5) der Disziplinierung und Bestrafung und eröffnen den »›Binnenraum‹ schichtspezifischer und historischer Lebenswirklichkeiten«, die »materiellen Probleme und sozialen Situationen, die den täglichen Lebensrhythmus ›der vielen‹ [...] prägen« und die »sich darin konstituierenden kulturellen Formen der Erfahrung und Bewältigung« (6) nur zwischen und hinter den Zeilen. Notwendig ist deshalb die Suche nach Bedeutungen (7), die erschwert wird durch die Funktion der schon gefilterten Aussagen: denn selbst das »Authentische« ist intentiös, vorsichtig, hintergründig. Doch die sich daraus ergebende Gefahr intuitiver Erläuterungen läßt sich vermeiden, denn allein dadurch, daß eine Quelle nicht »objektiv« ist, ist sie nicht unbrauchbar (8). Die Möglichkeit der Interpretation ergibt sich, wenn die Mikroebene in Beziehung zur Makroebene gesetzt wird. Zwischen beiden gibt es Homologien und Distanz. Das »Makro«

bemüht sich [...], das ›Mikro‹ in sich einzuschließen, es zu absorbieren und aufzulösen. Dabei hat es Erfolg, aber niemals ganz. Dabei scheitert es, doch nie völlig (9).

Hier zeigt sich das Verhältnis von »Normenaneignung und Normendruck« (10), von Fremd- und Selbstbestimmung, Außensteuerung und »Eigen-Sinn« (11). Nur so läßt der Alltag sich deuten

als eine dichte Folge von Entscheidungs- und Orientierungsfragen, von Interaktions- und Kommunikationsakten, in denen sich soziales Verhalten zugleich Regeln schafft und von Regeln geprägt wird (12).

Uhlbach im 18. Jahrhundert: Topographie und Sozialstruktur

Das evangelische Pfarrdorf Uhlbach, zwei Wegstunden von Cannstatt gelegen, »hat eine stille und romantische Lage am Fuße von Rotenberg, in einem abgeschiedenen Bergkessel, der nur gegen Ober-Türkheim offen, und theils mit Weinbergen, theils mit Baumgütern besetzt ist, die bis Rotenberg hinaufreichen« (13). Im Jahr 1822 hat das Dorf 986 Bewohner. Uhlbach besitzt eine spätgotische Kirche, ein 1612 erbautes Rathaus, eine Kelter, die schon 1366 urkundlich erwähnt wird; schon seit 1615 hat Uhlbach eine eigene Schule (14). Lebensgrundlage des Ortes ist der Wein- und Obstanbau, auch besitzt Uhlbach ein »nicht unbedeutendes Waldeigenthum« (15). Die Bewohner schildert der Verfasser der Cannstatter Oberamtsbeschreibung, J. D. G. Memminger, als »fleißig« und »zum Theil sehr wohlhabend« (16), »aber von etwas reizbarer Natur« (17). Anhand der Güterbücher und der Unterpfandsbücher (18) läßt sich feststellen, daß dieser wohlhabende Teil der Bevölkerung von acht bis zehn Familien des Dorfes gestellt wurde, die über zwei Jahrhunderte die Geschicke Uhlbachs als Schultheißen, Bürgermeister und Magistratspersonen lenkten und ihren Besitz durch Heiraten innerhalb ihrer Schicht wie auch durch Pfandleihen an die ärmeren und armen Leute des Dorfes zu vermehren wußten.

Anna Maria Ohnmaiß wird am 17. Februar 1749 in eine dieser wohlhabenden Familien hineingeboren. Ihr Vater, Johann Michael Ohnmaiß, heiratete als Sohn des Wangener Bürgermeisters am 19. November 1743 standesgemäß Agnes Catharina Silberberger, die Tochter des Uhlbacher Bürgermeisters Jacob Silberberger. Die beiden haben vermutlich acht Kinder, von denen eines nach einem halben Jahr stirbt. Von ihrem ältesten Bruder, Johann Michael, trennen Anna Maria 14 Jahre, das jüngste Kind, Christine Catharina, ist elf Jahre jünger. Sowohl die Eintragungen in den Kirchenbüchern Uhlbachs als auch die Vermerke in den Ehebüchern sind unvollständig, Tot- und Fehlgeburten sind nicht verzeichnet. Durch die Gerichtsakten ist bekannt, daß es neben den aufgeführten Kindern ein weiteres gab, die »älteste« Tochter, wie Pfarrer Ludwig anmerkte. Sie war 1784 mit dem Schuhmacher Kinzelbach in Stuttgart verheiratet. Von den acht bekannten Kindern der Ohnmaißschen Familie wohnen 1784 außer Anna Maria vermutlich noch Christina Catharina und Christian Fridrich zu Hause. Die anderen Geschwister haben inzwischen geheiratet und einen eigenen Hausstand gegründet.

Mit 50 Jahren hat Agnes Catharina ihr letztes Kind geboren. Anna Maria hat ihre Mutter am 17. April 1782 verloren. Anna Maria war zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt. Johann Michael Ohnmaiß hat vier Jahre später, am 22. April 1786, Johanna Elisabetha Schäfer, Tochter eines Cannstatter Gerichtsverwandten, geheiratet. Am 28. August 1798 verzeichnet der Uhlbacher Pfarrer in seinem Kirchenbuch:

Johann Michael Ohnmaiß, vieljähriger Schultheiß von hier, wurde, da er Morgens noch gesund ausging, von einem Schlag getroffen und starb nachts zwischen 9 und 10 Uhr. Er erreichte ein Alter von 78 Jahr u 20 tag u: wurde d: 31. vormittags um 10 uhr begraben (19).

Während wir also über die Kindesmörderin einiges wissen, ist über den Vater des getöteten Kindes nicht viel bekannt. Jonathan Silberberger ist der Sohn von Fridrich Silberberger, einem Bruder Agnes Catharinas, also der Vetter von Anna Maria. In den Ehebüchern findet sich sein Name ohne eine Angabe des Geburtsdatums. Aus den Akten ist aber bekannt, daß er 1784 37 Jahre alt war. In den Kirchenbüchern findet sich weder ein Eintrag über seine Geburt noch über seine Eheschließung oder Hinweise auf seine Kinder. In den Ehebüchern ist allein Christina Barbara als seine Tochter verzeichnet. Sie wurde erst im Jahr 1802 geboren. »Jonathan Silberbergers ehweib« (20) wird im Gerichtsprotokoll von 1784 einmal als Zeugin einer Beleidigungsklage erwähnt. Eine Zeitlang, mit großer Wahrscheinlichkeit vor seiner Hochzeit, lebte Jonathan Silberberger im Ohnmaißschen Haus bei seiner Tante Agnes Catharina. Eine Beschreibung dieses Hauses findet sich im Alten Güterbuch:

eine Behausung und Keller darunter, samt 14. Ruthen Baum, Graß und KüchenGartens dabey mitten im dorf, hinder der Kelter (21).

Im Jahr 1754 erweitert Michael Ohnmaiß seinen Besitz, indem er von einem Dorfbewohner eine »Kammer und Holzhütte« (22) erwirbt. In dieser Holzhütte wird Anna Maria Ohnmaiß 30 Jahre später ihr Kind gebären und töten. 1777 ist »das Hauß ganz neu erbaut worden« (23). Es hatte mindestens zwei Wohnstuben. In der hinteren schlief Anna Maria, während die vordere Aufenthalt für die ganze Familie war.

Drei Seiten nimmt die Erfassung von Michael Ohnmaiß' Weingärten im Güterbuch ein. Mehrere davon stießen direkt an die Weinberge von Jonathans Vater, Fridrich Silberberger (24). Seitenlang erstrecken sich auch die Beschreibungen der »Wiesen und Gärten«, »Äcker und Länder« und »Randhecken und Vorlehen« (25) des Uhlbacher Schultheiß.

Johann Michael Ohnmaiß bildet mit den Currles, Silberbergers, Luzens und Ortliebs und den wenigen anderen, die alle auch als Gerichtspersonen des Ortes aufgeführt werden, die dörfliche Oberschicht. Daß es daneben aber viele ärmere und arme Gütler und Häusler gab, davon zeugen nicht nur die Güterbücher, sondern auch die Gerichtsprotokolle. Die Kluft zwischen armen und reichen Dorfbewohnern manifestiert sich in den Protokollen der Gerichtstage zum einen in den massenhaft angezeigten nächtlichen Diebstählen von Heu, Gras und Holz aus Uhlbachs Wäldern. Bei den Klagen wird auch klar, daß diese Unterschicht sich keineswegs solidarisch verhält. Vielmehr ist die Mißgunst untereinander manchmal so groß, daß der Tat überführte Missetäter aus Trotz und Wut auch die Mittäter verraten. Zum anderen finden sich zahlreiche Schuldeintreibungen. Dabei herrschen relativ geringe Geldbeträge von wenigen Gulden vor. Neben diesen »Flecken-Straffen«, die das Mißverhältnis von Besitzenden und fast Besitzlosen dokumentieren, fallen die häufigen »HeuschaftsStraffen« auf. Hierbei handelt es sich überwiegend um Beleidigungsklagen, die meist geschlechtsspezifisch sind und in allen dörflichen Schichten auftreten. Es sind hauptsächlich Frauen, die sich gegen die »Schmähworte« männlicher Dorfbewohner wehren. Als ein Beispiel, das zudem auch die im Dorf herrschende Sozialkontrolle illustriert, sei die Klage zitiert, bei der Jonathan Silberbergers Frau als Zeugin fungieren sollte: »Jüngst Christoph Brenners Ehweib« hatte Anzeige gegen Joseph Bodenhöffers Eheweib erhoben und gibt an, jene hätte sie als »faule Votz, die morgens erst um 7. oder 8 Uhr aufstehe« (26) bezeichnet.

Die Vergehen sind meist geringfügig und mit zwei oder vier Gulden Geldstrafe abgetan. Delikte, die von größerer krimineller Energie zeugen und nicht auf Existenznot oder persönliche Antipathien zurückzuführen sind sie müßten dem Oberamt übergeben werden , hat es seit Jahren nicht gegeben. Selten macht der Magistrat von seinem Recht Gebrauch, die Missetäter für einen oder zwei Tage ins Zuchthäusle zu stecken. Im Jahr 1784 geschieht das zwei Mal: bei zwei keifenden Frauen, die ihre Beleidigungen vor dem Magistrat unentwegt fortsetzen, und im Falle des Christoph Schriftdoller, der dem Alkohol zugetan ist. Der Wein versetzt ihn ab und zu in außerordentlich fröhliche Stimmung, so daß die Ratsperson Schmidt ihn schließlich anzeigt, denn der Schriftdoller »tut nachts zwischen 12 und 1 Uhr einen JuhSchrei an den andern« (27) und reagiert auf Schmidts Beschwerden nicht nur mit Beschimpfungen, sondern verprügelt aus Rache auch gleich noch dessen Sohn, der sich kurz nach der Auseinandersetzung mit Kirschen auf den Weg zum Markt macht. Wenn es einer so bunt treibt, dann ist auch für Schultheiß Ohnmaiß und seine Gerichtspersonen das Maß voll, und der Christoph Schriftdoller wird nicht nur zu einer Geldstrafe und öffentlichen Abbitte verdonnert, sondern

wegen seines Johlens und vohl sauffens solle er 2. Mahl 24. Stundt in das Zuchthäusle (28).

»Mein Verdacht übrigens wegen einer Schwangerschafft verlohr sich zimmlich« Der Pfarrer M. Ludwig

In den frühen Abendstunden des 31. Oktobers 1784 erhält das Cannstatter Oberamt diesen Brief:

Hochlöbl. gemeinschaftliches Oberamt! Schrökliche Geschichte! Meines Schultheißen Tochter hat ein Kind geboren und erwürgt, ich zeige dieses in gröster Eil an, damit ein hochlöbl. Oberamt die nöthige Verfügung treffen kann, ich bin außer Stand noch etwas ganzes zu berichten, biß Morgen das nähere (29).

Unterzeichnet hat diese kurze Meldung M. Ludwig, der im Dorf Uhlbach die Pfarrstelle innehat. Was war geschehen?

Seit einiger Zeit hält sich im Dorf hartnäckig das Gerücht, die ledige Anna Maria, Tochter des Schultheißen Johann Michael Ohnmaiß, erwarte ein Kind. Ganz sicher ist sich niemand, aber seit der Verdacht aufgekommen ist, steht die junge Frau unter der verschärften Kontrolle der Dorfbewohner, und ihr Körper ist in den Mittelpunkt des dörflichen Interesses gerückt. Es wird gemunkelt, spekuliert, aber auch genau beobachtet. Anfang Oktober platzt die Magd des Pfarrers in seiner Wohnstube heraus, »daß die Sage wegen einer Schwangerschafft der Anna Maria Ohnmeißen eben doch richtig seyn solle, und daß sie immer diker werde« (30).

Es soll »eben doch« wahr sein nicht nur unverhohlene Neugierde und Sensationsgier beinhaltet diese Formulierung: Zum einen dokumentiert sie ein individuelles Rechthaben der Magd, die als Angehörige der Unterschicht intellektuell zwar nicht mit dem Pfarrer (oder anderen Mitgliedern der Oberschicht) konkurrieren kann, die aber durch ihre Geschlechtszugehörigkeit die Zeichen einer Schwangerschaft deuten kann. Zum anderen sie ist auch Indiz für die Front, die sich zwischen der SchultheißenFamilie und ihren loyalen Anhängern auf der einen und den schadenfrohen, vielleicht gar feindseligen Dorfbewohnern auf der anderen Seite gebildet hat und die in dem »eben doch« an eine Wette gemahnt.

Pfarrer Ludwig gehört zu den Loyalen. Er spricht von »meinem« Schultheiß, ein PossesivPronomen, das in diesem Fall wohl nicht nur Wortschatz des kirchlichen Hirten ist, der von einem Schaf seiner Herde spricht, sondern auch auf seine enge Verbundenheit zur Familie Ohnmaiß verweist. Sie wisse, sagt er später zu Anna Maria, daß er »ein guter Freund zu ihrem Vater und Hauß« sei. Diese freundschaftliche Beziehung findet ihren Ausdruck nicht nur in der Bestürzung, die den Pastor nach der Tat ergreift, sondern auch in seinem Verhalten Anna Maria gegenüber.

Auf die Erzählung der Magd hin begibt sich Pfarrer Ludwig am Sonntag in das Ohnmaißsche Haus. Seit die Mutter Agnes Catharina im April 1782 verstarb, kümmert sich die fünfundzwanzigjährige Anna Maria um den Vater, den fünf Jahre jüngeren Bruder Christian Fridrich und die vierzehnjährige Schwester Christina Catharina. Die ältesten Brüder, der 1745 geborene Johann Michael und der 1753 geborene Georg Gottlieb, haben im Dorf eine eigene Familie gegründet. Die ältere Schwester lebt mit ihrem Ehemann, dem Schuhmacher Kinzelbach, in Stuttgart.