Kindheit - Tove Ditlevsen - E-Book
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Тове Дитлевсен

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Beschreibung

"Von atemberaubender Intensität und Schönheit. Aus dem Staub ihres Lebens leuchtet dieses Werk.“ Elke Heidenreich, Spiegel Online. In „Kindheit“ erzählt Tove Ditlevsen vom Aufwachsen im Kopenhagen der 1920er Jahre in einfachen Verhältnissen. Tove passt dort nicht hinein, ihre Kindheit scheint wie für ein anderes Mädchen gemacht. Die Mutter ist unnahbar, der Vater verliert seine Arbeit als Heizer. Sonntags muss Tove für die Familie Gebäck holen gehen, so viel, wie in ihre Tasche hineinpasst, und das ist alles, was es zu essen gibt. Zusammen mit ihrer Freundin, der wilden, rothaarigen Ruth, entdeckt Tove die Stadt. Sie zeigt ihr, wo die Prostituierten stehen, und geht mit ihr stehlen. Aber eigentlich interessiert sich Tove für die Welt der Bücher und hat den brennenden Wunsch, Schriftstellerin zu werden – und dafür ist sie bereit, das Leben, wie es für sie vorgezeichnet scheint, hinter sich zu lassen. "Eine monumentale Autorin." Patti Smith. „Das Porträt einer Frau, die ihr Leben entschieden zu ihrem eigenen macht. Ein Leben, so frei und ungestüm, ich bin versunken in Tove Ditlevsens Büchern.“ Nina Hoss. „Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie, so viel steht jetzt schon fest, ist eines der großen literarischen Ereignisse des Jahres." Süddeutsche Zeitung. „Großartig, von hypnotischer Qualität.“ The New York Times. "Ein Meisterwerk." The Guardian.

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Seitenzahl: 147

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Über das Buch

In »Kindheit« erzählt Tove Ditlevsen vom Aufwachsen im Kopenhagen der 1920er Jahre in einfachen Verhältnissen. Tove passt dort nicht hinein, ihre Kindheit scheint wie für ein anderes Mädchen gemacht. Die Mutter ist unnahbar, der Vater verliert seine Arbeit als Heizer. Sonntags muss Tove für die Familie Gebäck holen gehen, so viel, wie in ihre Tasche hineinpasst, und das ist alles, was es zu essen gibt. Zusammen mit ihrer Freundin, der wilden, rothaarigen Ruth, entdeckt Tove die Stadt. Sie zeigt ihr, wo die Prostituierten stehen, und geht mit ihr stehlen. Aber eigentlich interessiert sich Tove für die Welt der Bücher und hat den brennenden Wunsch, Schriftstellerin zu werden – und dafür ist sie bereit, das Leben, wie es für sie vorgezeichnet scheint, hinter sich zu lassen.

»Das Porträt einer Frau, die ihr Leben entschieden zu ihrem eigenen macht. Ein Leben, so frei und ungestüm, ich bin versunken in Tove Ditlevsens Büchern.« Nina Hoss.

»Eine monumentale Autorin.« Patti Smith.

»Ein Meisterwerk.« The Guardian

Über Tove Ditlevsen

Tove Ditlevsen (1917–1976), geboren in Kopenhagen, galt lange Zeit als Schriftstellerin, die nicht in die literarischen Kreise ihrer Zeit passte. Sie stammte aus der Arbeiterklasse und schrieb offen über die Höhen und Tiefen ihres Lebens. Heute gilt sie als eine der großen literarischen Stimmen Dänemarks und Vorläuferin von Autorinnen wie Annie Ernaux und Rachel Cusk. Die »Kopenhagen-Trilogie« mit den drei Bänden »Kindheit«, »Jugend« und »Abhängigkeit« ist ihr zentrales Werk, in dem sie das Porträt einer Frau schafft, die entschieden darauf besteht, ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu leben. Die »Kopenhagen-Trilogie« wird derzeit in sechzehn Sprachen übersetzt.

Ursel Allenstein, 1978 geboren, studierte Skandinavistik und Germanistik in Frankfurt und Kopenhagen. Sie ist Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen von u.a. Christina Hesselholdt, Sara Stridsberg und Johan Harstad. Für ihre Übersetzungen wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung.

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Tove Ditlevsen

Kindheit

Erster Teilder Kopenhagen-Trilogie

Aus dem Dänischen und mit einem Nachwort von Ursel Allenstein

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Eins

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Achtzehn

Schreiben heißt, sich selbst auszuliefern – Nachwort der Übersetzerin

Impressum

Eins

Am Morgen war die Hoffnung da. Sie saß als flüchtiger Schimmer im glatten, schwarzen Haar meiner Mutter, das ich nie zu berühren wagte, und sie lag mir auf der Zunge wie der Zucker im lauwarmen Haferbrei, den ich langsam verspeiste, während ich ihre schmalen, gefalteten Hände betrachtete, die reglos auf den Zeitungsberichten über die Spanische Grippe und den Versailler Vertrag ruhten. Mein Vater ging arbeiten, mein Bruder in die Schule. Also war meine Mutter allein, obwohl auch ich da war, und wenn ich mich nicht rührte und nichts sagte, konnte die ferne Ruhe in ihrem seltsamen Herzen andauern, bis der Vormittag alt wurde und sie auf die Istedgade zum Einkaufen gehen musste wie die gewöhnlichen Hausfrauen.

Die Sonne brach hinter dem grünen Zirkuswagen hervor, als strahlte sie aus seinem Inneren, und Krätze-Hans trat mit freiem Oberkörper und einer Waschschüssel in der Hand ins Freie. Nachdem er sich mit dem Wasser übergossen hatte, streckte er sich nach dem Handtuch, das ihm Schön-Lili reichte. Sie sprachen kein Wort miteinander, sondern waren wie Bilder in einem Buch, in dem man sehr schnell blättert. Wie auch meine Mutter würden sie sich in wenigen Stunden verändern. Krätze-Hans war bei der Heilsarmee, Schön-Lili seine Liebste. Im Sommer pferchten sie einen Haufen Kinder in den grünen Wagen und fuhren mit ihnen aufs Land. Dafür zahlten die Eltern eine Krone am Tag. Ich hatte selbst einmal an einem solchen Ausflug teilgenommen, als ich drei gewesen war und mein Bruder sieben. Jetzt, mit fünf Jahren, war meine einzige Erinnerung daran, wie Schön-Lili mich aus dem Wagen gehoben und in den warmen Sand gesetzt hatte, in etwas, das ich für eine Wüste hielt. Dann entfernte sich der grüne Wagen von mir und wurde kleiner und kleiner, und darin saß mein Bruder, und ich würde weder ihn noch meine Mutter je wiedersehen. Wenn die Kinder anschließend wieder nach Hause zurückkehrten, hatten sie alle die Krätze. Daher der Name Krätze-Hans. Schön-Lili war dagegen nicht schön. Schön war meine Mutter an diesen seltsamen und glücklichen Vormittagen, an denen ich sie vollkommen in Frieden lassen sollte. Schön, unantastbar, einsam und voller geheimer Gedanken, die ich nie erfahren würde. Auf der geblümten Tapete in ihrem Rücken, die mein Vater an einigen Stellen mit braunem Klebeband geflickt hatte, hing ein Bild von einer Frau, die aus dem Fenster starrte. Auf dem Boden hinter ihr stand eine Wiege mit einem kleinen Kind darin. Unter dem Bild war zu lesen: »Frau erwartet ihren Mann von der See zurück.« Manchmal entdeckte meine Mutter mich plötzlich und folgte meinem Blick zu dem Bild, das ich so zart und traurig fand. Sie aber brach in Gelächter aus, und es klang, als würden viele mit Luft gefüllte Papiertüten auf einmal zum Knallen gebracht. Mein Herz hämmerte vor Angst und Kummer, weil die Stille der Welt jetzt gebrochen war, aber ich lachte mit, denn ich wurde von derselben grausamen Fröhlichkeit gepackt wie sie. Sie stieß ihren Stuhl zurück, erhob sich und stellte sich in ihrem zerknitterten Nachthemd, die Hände in die Hüften gestemmt, vor das Bild. Und mit einer klaren und trotzigen Mädchenstimme, die nicht auf dieselbe Weise zu ihr gehörte wie ihre spätere Stimme, wenn sie anfing, mit den Verkäufern um die Preise zu feilschen, sang sie:

Darf ich kein Wiegenliedchen singen?

Ich lull’ doch nur klein Tulle ein.

Lulle leise lulle leise lulle leise:

Geh weg vom Fenster, Liebster,

komm in einer anderen Nacht.

Die Kälte und der Frost die haben

den alten Mistkerl heimgebracht.

Ich mochte das Lied nicht, musste aber trotzdem laut lachen, da meine Mutter es zu meiner Unterhaltung sang. Doch ich war selbst schuld, denn hätte ich mir das Bild nicht angesehen, wäre ich ihr gar nicht aufgefallen. Dann wäre sie auf ihrem Stuhl sitzen geblieben, die Hände ruhig gefaltet und die strengen schönen Augen auf ein Niemandsland zwischen uns gerichtet. Und mein Herz hätte noch lange »Mutter« flüstern können und gewusst, dass sie es auf geheimnisvolle Weise erfasst. Ich hätte sie noch lange allein lassen sollen, dann hätte sie stumm meinen Namen gesagt und gewusst, dass wir miteinander verbunden waren. Dann hätte etwas, das an Liebe erinnerte, die Welt erfüllt, und Krätze-Hans und Schön-Lili hätten es auch bemerkt und wären weiterhin bunte Bilder in einem Buch geblieben. Jetzt fingen sie stattdessen kurz nach dem Ende des Liedes an, sich zu streiten. Bald darauf drangen auch aus dem Treppenhaus erzürnte Stimmen in unser Wohnzimmer hinauf, und ich schwor mir, am nächsten Tag so zu tun, als gäbe es das traurige Bild an der Wand gar nicht.

Wenn die Hoffnung derart zerschmettert war, zog sich meine Mutter mit heftigen und gereizten Bewegungen an, als wäre jedes Kleidungsstück eine Beleidigung für sie. Auch ich musste mich anziehen, und die Welt war kalt, gefährlich und unheimlich, weil der dunkle Zorn meiner Mutter immer dazu führte, dass sie mich ins Gesicht schlug oder gegen den Kachelofen stieß. Sie war fremd und geheimnisvoll, und ich stellte mir vor, ich sei als Säugling vertauscht worden, und sie wäre gar nicht meine Mutter. Nachdem sie sich angezogen hatte, trat sie vor den Spiegel im Schlafzimmer, spuckte auf ein Stück rosafarbenes Seidenpapier und rieb es fest über ihre Wangen. Ich trug die Tassen in die Küche, und in meinem Inneren krochen lange, merkwürdige Wörter hervor und legten sich wie eine Schutzhülle über meine Seele. Ein Lied, ein Gedicht, etwas Linderndes, Rhythmisches und unendlich Melancholisches, das jedoch nie so leidvoll und traurig war, wie es der Rest meines Tages unweigerlich sein würde. Wenn mich diese hellen Wogen von Wörtern durchströmten, wusste ich, dass meine Mutter mir nichts mehr anhaben konnte, denn in diesem Moment hörte sie auf, für mich von Bedeutung zu sein. Meine Mutter wusste es auch, und ihre Augen wurden von einer kalten Feindseligkeit erfüllt. Sie schlug mich nie, wenn meine Seele derart bewegt war, aber sie sprach auch nicht mit mir. Von nun an und bis zum nächsten Morgen waren sich nur unsere Körper nah. Und trotz der Enge mieden sie jede noch so leichte Berührung. Die Seemannsbraut an der Wand hielt weiter sehnsuchtsvoll nach ihrem Mann Ausschau, aber meine Mutter und ich brauchten keine Männer oder Jungen in unserer Welt. Unser unergründliches und ungeheuer zerbrechliches Glück gedieh nur, wenn wir miteinander allein waren, und seit ich aufgehört hatte, ein kleines Kind zu sein, kehrte es nie richtig zurück, abgesehen von seltenen, zufällig aufblitzenden Momenten, die mir jedoch sehr wertvoll geworden sind, jetzt, da meine Mutter tot ist und es niemanden mehr gibt, der ihre Geschichte erzählen könnte, wie sie wirklich war.

Zwei

Auf dem Grund meiner Kindheit steht mein Vater und lacht. Er ist so alt und schwarz wie unser Kachelofen, aber nichts an ihm macht mir Angst. Sämtliche Dinge, die ich über ihn weiß, darf ich wissen, und wenn ich mehr wissen will, brauche ich nur zu fragen. Er spricht nicht von sich aus mit mir, weil er nicht weiß, was er mit kleinen Mädchen reden soll. Hin und wieder tätschelt er mir den Kopf und sagt: »Hehe«. Dann presst meine Mutter die Lippen zusammen, und er zieht die Hand hastig wieder zurück. Mein Vater hat gewisse Rechte, weil er ein Mann ist und uns alle versorgt. Damit muss sich meine Mutter wohl oder übel abfinden, allerdings tut sie es nicht ohne Protest. »Du könntest dich ruhig hinsetzen wie wir anderen auch«, bemerkt sie, wenn er sich aufs Sofa legt. Und wenn er ein Buch liest, sagt sie: »Vom Lesen wird man wunderlich. Alles, was in Büchern steht, ist gelogen.« Sonntags trinkt mein Vater ein Bier, und meine Mutter schimpft: »Das kostet 26 Öre. Wenn du so weitermachst, enden wir noch in Sundholm.« Obwohl ich weiß, dass Sundholm ein Ort ist, wo man auf Stroh schläft und dreimal täglich Salzheringe vorgesetzt bekommt, findet das Wort seinen Weg in die Verse, die ich mir ausdenke, wenn ich ängstlich oder einsam bin, weil es so schön ist wie das Bild aus einem Buch meines Vaters, das ich sehr mag. Es heißt: »Arbeiterfamilie beim Waldspaziergang« und zeigt einen Vater, eine Mutter und deren beiden Kinder. Sie sitzen im grünen Gras und lachen gemeinsam, während sie den Proviant verspeisen, der zwischen ihnen liegt. Alle vier sehen zu einer Flagge auf, die neben dem Kopf des Vaters im Gras steckt. Die Flagge ist tiefrot. Ich sehe das Bild immer auf dem Kopf, weil ich die Gelegenheit nur habe, wenn mein Vater das Buch liest. Dann schaltet meine Mutter das Licht ein und zieht die gelben Gardinen vor die Fenster, obwohl es noch gar nicht dunkel ist. »Mein Vater war ein Schuft und Säufer«, sagt sie, »aber immerhin kein Sozialist.« Mein Vater liest unbekümmert weiter, weil er ein bisschen schlecht hört, auch das ist kein Geheimnis. Mein Bruder Edvin ist damit beschäftigt, Nägel in ein Brett zu hämmern, die er anschließend mit der Kneifzange wieder herauszieht. Er will einmal Handwerker werden. Das ist etwas sehr Vornehmes. Handwerker haben richtige Tischdecken statt Zeitungen, und sie essen mit Messer und Gabel. Sie werden niemals arbeitslos, und sie sind keine Sozialisten. Edvin ist schön, und ich bin hässlich. Edvin ist klug, und ich bin dumm. Das sind unumstößliche Wahrheiten, so, wie die weißen Druckbuchstaben am Giebel des Bäckers in unserer Straße. Dort steht: »Politiken ist die beste Zeitung«. Einmal habe ich meinen Vater gefragt, warum er dann den Social-Demokraten lesen würde, aber er runzelte nur die Stirn und räusperte sich, und Edvin und meine Mutter stimmten ihr Papiertütengelächter an, weil ich so unsäglich dumm bin.

Das Wohnzimmer ist an vielen tausend Abenden eine Insel aus Licht und Wärme, und wir befinden uns immer darin wie die Pappfiguren hinter den Säulen des Puppentheaters, das mein Vater nach einem Modell im Familie Journalen gebastelt hat. Wir haben immer Winter, und draußen in der Welt ist es genauso kalt wie im Schlafzimmer und in der Küche. Das Wohnzimmer treibt durch Zeit und Raum, und das Feuer prasselt im Kachelofen. Obwohl Edvin mit seinem Hammer gehörig Lärm veranstaltet, kommt es mir viel lauter vor, wenn mein Vater eine Seite im verbotenen Buch umblättert. Wenn er viele Seiten umgeblättert hat, blickt Edvin mit seinen großen, braunen Augen zu meiner Mutter hinüber und legt den Hammer beiseite. »Will Mutter nicht etwas singen?«, fragt er. »Doch«, antwortet meine Mutter und lächelt ihm zu, und im selben Moment legt mein Vater das Buch auf seinen Bauch und sieht mich an, als würde er mir gern etwas sagen. Doch was mein Vater und ich uns mitteilen wollen, sprechen wir niemals aus. Edvin springt auf und reicht meiner Mutter das einzige Buch, das sie besitzt und schätzt. Es ist ein Buch mit Kriegsliedern. Er steht über sie gebeugt, während sie darin blättert, und obwohl sie sich natürlich nie berühren, sind sie sich auf eine Weise nah, die meinen Vater und mich ausschließt. Sobald meine Mutter zu singen beginnt, schläft mein Vater mit über dem verbotenen Buch verschränkten Händen ein. Meine Mutter singt laut und schrill, und als würde sie Abstand von den Worten nehmen, die sie singt.

Mama, bist du es?

Ach, weine nicht so.

Sorge dich nicht, ich bin jetzt froh.

Müd musst du sein, dein Weg war weit.

Danke, dass du gekommen, bei all dem Leid.

Alle Lieder meiner Mutter haben viele Strophen, und noch bevor sie die erste beendet hat, hämmert Edvin schon wieder, und mein Vater schnarcht geräuschvoll. Edvin hat sie nur zum Singen aufgefordert, um ihren Zorn über die Lektüre meines Vaters abzumildern. Er ist ein Junge, und Jungen mögen keine Lieder, die einen zum Weinen bringen, wenn man genau hinhört. Und meine Mutter mag es auch nicht, wenn ich weine, also sitze ich nur mit einem Kloß im Hals da und schaue auf ihr Buch hinab, wo der sterbende Soldat auf dem Schlachtfeld die Hand nach der lichten Gestalt seiner Mutter ausstreckt, von der ich genau weiß, dass sie in Wirklichkeit gar nicht da ist. Alle Lieder im Buch haben einen ähnlichen Inhalt, und während meine Mutter sie singt, kann ich tun und lassen, was ich will, denn dann ruht sie so sicher in ihrer eigenen Welt, dass nichts von außen sie stören kann. Sie hört auch nicht, wenn sie unten wieder anfangen, sich zu streiten und zu prügeln. Dort wohnt Rapunzel mit dem langen gelben Zopf gemeinsam mit ihren Eltern, die sie noch nicht für einen Strauß Glockenblumen an die Hexe verkauft haben. Mein Bruder ist der Prinz, und er weiß nicht, dass er bald, nach seinem Sturz vom Turm, blind sein wird. Er hämmert Nägel in sein Brett und ist der Stolz der Familie. Denn das sind die Jungen nun mal, während die Mädchen einfach nur heiraten und Kinder kriegen sollen. Sie müssen sich versorgen lassen, etwas anderes dürfen sie weder erwarten noch hoffen. Rapunzels Eltern arbeiten bei Carlsberg und trinken dort fünfzig Bier am Tag. Zu Hause angekommen, trinken sie weiter, und kurz bevor ich schlafen gehe, fangen sie an zu brüllen und mit einem dicken Stock auf Rapunzel einzuschlagen. Sie kommt immer mit blauen Flecken im Gesicht oder an den Beinen in die Schule. Wenn die Eltern es leid sind, ihre Tochter zu traktieren, gehen sie mit Flaschen und abgebrochenen Stuhlbeinen aufeinander los, und oft kommt die Polizei und nimmt einen von beiden mit, woraufhin endlich Ruhe im Haus einkehrt. Mein Vater und meine Mutter können die Polizei nicht ausstehen. Sie finden, Rapunzels Eltern sollten sich in Ruhe prügeln dürfen, wann immer es ihnen passt. Die interessieren sich nur für die kleinen Fische, sagt mein Vater, und meine Mutter hat schon oft erzählt, wie die Gendarmen ihren Vater abholten und ins Gefängnis steckten. Das wird sie nie vergessen. Mein Vater trinkt nicht und war noch nie im Gefängnis. Meine Eltern prügeln sich auch nicht, und ich habe es viel besser als sie früher. Trotzdem legt sich ein dunkler Rand aus Angst um all meine Gedanken, wenn es unten still wird und ich ins Bett muss. »Gute Nacht«, sagt meine Mutter und schließt die Tür und geht wieder ins warme Wohnzimmer. Dann ziehe ich das Kleid aus und den Wollunterrock und das Mieder und die langen schwarzen Strümpfe, die ich jedes Jahr zu Weihnachten bekomme, streife mir das Nachthemd über den Kopf und setze mich einen Augenblick auf die Fensterbank. Ich blicke hinab in den schwarzen Hof weit unten und auf die Mauer des Vorderhauses, die immer weint, als hätte es gerade geregnet. Dort in den Fenstern brennt fast nie Licht, weil dahinter die Schlafzimmer liegen und kein anständiger Mensch im Hellen schläft. Zwischen den Mauern kann ich ein kleines viereckiges Stück Himmel erkennen, an dem manchmal ein einzelner Stern leuchtet. Ich nenne ihn Abendstern und denke mit aller Macht an ihn, wenn meine Mutter nach mir geschaut und das Licht ausgemacht hat und ich in meinem Bett liege und sehe, wie sich die Kleiderhaufen hinter der Tür in lange, verschlungene Arme verwandeln, die sich um meinen Hals legen wollen. Ich versuche zu schreien, bringe aber nur ein schwaches Wispern zustande, und wenn der Schrei endlich kommt, sind das