King Artus und das Geheimnis von Avalon - Pierre Dietz - E-Book

King Artus und das Geheimnis von Avalon E-Book

Pierre Dietz

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Beschreibung

„Was denkst du, weshalb die Bretagne bestrebt ist, sich von Frankreich zu trennen? Eines Tages stehen Artus und Merlin wieder auf und erheben dieses Land zum Zentrum der Welt!“ Wundersam, was der junge Marcel Amidieu in der Heimat seiner Tante Louane zu hören bekommt. Detailreich recherchiert und illustriert, führt uns dieser Roman von der Erschaffung der Menschheit bis zur Suche nach dem heiligen Gral. Nichts stimmt so, wie wir es kennen. Ein Puzzle, bei dem die Vergangenheit zur Realität und die Gegenwart zur Sage wird.

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„Was denkst du, weshalb die Bretagne bestrebt ist, sich von Frankreich zu trennen? Eines Tages stehen Artus und Merlin wieder auf und erheben dieses Land zum Zentrum der Welt!“

Wundersam, was der junge Marcel Amidieu in der Heimat seiner Tante Louane zu hören bekommt.

Detailreich recherchiert und illustriert, führt uns dieser Roman von der Erschaffung der Menschheit bis zur Suche nach dem Heiligen Gral. Nichts stimmt so, wie wir es kennen. Ein Puzzle, bei dem die Vergangenheit zur Realität und die Gegenwart zur Sage wird.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Das Buch

Der Autor

Impressum

Widmung

Titel

1Graffiti

2Reise in die Bretagne

3Tante Louane

4Vortigern

5Uther Ben Trajon

6La Forêt Fouesnant

7Der Großvater

8Artus

9Der »King«

10Krieg der Vasallen

11Kameled

12Jennifer

13Tafelrunde

14Osbad von Taden

15Gorron

16Pellinore

17Elaine

18Mælouas

19Mordred

20Merlin

21Galahad

22Lamorak

23Gui

24Ulfin

25Lancelot

26Bürgerkrieg

27Père Albert

28Gralssuche

29Dinabuc

30Verrat

31Camlann

32Danach

33Zweiter Weltkrieg

34Zurück in Paris

Anhang

Das Buch

Bitter für die Briten, dass nicht einmal die Artus-Sage vor den Franzosen sicher ist. — In „Diener des Goldes: »King« Artus und das Geheimnis von Avalon" erfährt der junge Marcel Amidieu von seiner bretonischen Tante, dass nicht in Britannien, sondern hier in der Bretagne die „wahre" Geschichte um Artus, Merlin, Excalibur und die Tafelrunde stattgefunden hat.

Je genauer wir der Jagd nach einem legendären Goldschatz und den Erzählungen alter Bretonen folgen, umso mehr verschwimmen Raum und Zeit, weitet sich unser Horizont und plötzlich erscheint die Bretagne als Ausgang und Ende dieser Welt. Alles stürzt auf uns ein: Teufel und Dämonen, Goten, Römer, Paradies, Sintflut, Jesus, Giganten, Weltkrieg und Wundermaschinen. Überall lauern Parallelwelten und unerwartete Begegnungen zwischen Mythen, Astronomie und Archäologie. Akribisch werden unzählige Spuren freigelegt und zu einem Netz verflochten, das uns so schnell nicht mehr loslässt. Alles dreht sich, bis Vergangenheit und Sage zu unserer Gegenwart und Zukunft werden könnten.

Dieses Buch ist kein Abenteuer, es will uns seine Wahrheit offenbaren.

Martin Fenske, Erstleser

Der Autor

Pierre Dietz, Jahrgang 1963, lebt im Rhein-Main-Gebiet und arbeitet als Animationsdesigner, Künstler und Schriftsteller. Deutsch-französische Wurzeln, historische Themen und ein bewegtes Leben im Medienbereich, als Kurzfilmemacher, Journalist und Fotograf prägen sein Werk.

Im gleichen Verlag erschienen:

»Briefe aus der Deportation«, »Resistance und Todesmarsch« sowie

»Das Geisterfestungsfest«.

CIP-Titelaufnahme der deutschen Bibliothek:

Dietz, Pierre; »King« Artus und das Geheimnis von Avalon.

1. Elektronische Ausgabe, Bodenburg / Niedersachsen, Verlag Edition AV

ISBN 978-3-86841-235-2

eBook 978-3-86841-245-1

Epub 978-3-86841-246-8

1. Elektronische Ausgabe

© 2020

by Verlag Edition AV, Bodenburg / Niedersachsen / edition-av.de

Alle Rechte vorbehalten!

Das Werk, oder Teile daraus, zu vervielfältigen oder zu verbreiten ist ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages nicht gestattet.

Satz und Gestaltung: Pierre Dietz / pierre-dietz.de

Lektorat: Martin Fenske

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Hintergrundfoto Titelbild: Johannes Plenio

Produced in Germany

Für Isabelle, Jean und Ron

12. Juni 1996

Der Blick auf die Uhr zeigt kurz vor zwei am Morgen. Paris schläft trotz der ungewöhnlichen Hitze. Drückend warmer Wind bläst den Staub durch die breiten Uferstraßen. In der »Seine« spiegeln sich die Lichter des »Musée d’Orsay«. Über dem ehemaligen Bahnhof ragt die Spitze des Eiffelturms empor. Marcel Amidieu schwelgt in Kindheitserinnerungen. Bei der Eröffnung des Museums für französische Impressionisten vor sechs Jahren ist der damals Dreizehnjährige mit den Eltern zugegen gewesen. Das ist für den Gymnasialschüler lange her. Das Betrachten der Meisterwerke zwischen dem Beginn der Zweiten Republik und dem Ersten Weltkrieg hat in ihm den Wunsch geweckt, eines Tages ein reicher und berühmter Künstler zu sein.

In einer Plastiktüte warten die vereinbarten Utensilien auf die bevorstehende Aktion. Darunter ein fester Karton, in den das Motiv geschnittenen ist, eine große Spraydose mit rotem Autolack, ein winziges Notizbuch mit karierten Blättern, Einweg-Kugelschreiber und ein gefalteter Plan der Untergrundbahn. Der Junge wartet auf einen wenig älteren Künstlerfreund mit dem Pseudonym »ME«. Das Kürzel steht für »Messerschmitt«, eine Firma, die im Dritten Reich Jagdflieger und Bomber gebaut hat. Sein Freund sammelt bevorzugt Plastikmodelle dieses Flugzeugherstellers und bemalt die Bausätze möglichst originalgetreu.

Marcel und einige Schulfreunde spielen ebenfalls Krieg, mit kleinen Plastiksoldaten. Dank ihrer Freizeitbeschäftigung haben sich die Schüler intensiv mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs beschäftigt und über Bücher und Zeitschriften eine Menge über die Gräueltaten der Nazis erfahren. Der Holocaust ist immer wieder ein Thema, weshalb keiner von ihnen freiwillig den Part der Wehrmacht übernimmt. Alle ziehen die Rolle des gerechten Alliierten vor, der den Juden zu Hilfe kommt. Sein Fehler, vor den Kameraden geprahlt zu haben, sein Vater sei aus Deutschland. Um dem Sohn Fragen nach der Herkunft zu ersparen, hatte dieser bei der Hochzeit den Nachnamen der Frau angenommen. Trotzdem haben die Spielkameraden den Halbfranzosen gerne aufgefordert, den Part des »Rommel« im Kampf gegen »Montgomery« und »Patton« zu mimen. Für Franzosen aus Kreisen der Résistance ist der Halbdeutsche der Sohn des ehemaligen Feindes dem gewisse Mitschüler mit Argwohn begegnen. Zu seinem Glück ist Paris eine Weltstadt und genügend andere sind ihm freundlich gesonnen. Insbesondere die dunkelhaarigen Mädchen interessieren sich für ihn, den Blonden mit den azurblauen Augen.

»ME« und Marcel haben sich über ihre Leidenschaft für Miniaturen von militärischen Fahrzeugen auf dem »Salon du Jouet«, einer Modellbaumesse im Norden der Stadt, kennengelernt. Marcel ist an »MEs« Tisch stehen geblieben, um bei ihm mehr über die Airbrush-Maltechnik aufzuschnappen. Im Verlauf des Gesprächs wechselt die Problemstellung auf die aktuellen politischen Zustände im Bezug auf die Bildung der Jugend.

„Die wahren Verbrecher des Krieges verschweigen uns die Lehrer bewusst!“, sagt »ME« energisch. „Nur wenige haben eine Ahnung von der Existenz der Hintermänner der imperialen Staatsführung, die zu Zeiten Philippe Pétains Frankreich an den Rand des Untergangs getrieben haben!“

„Wer sind die Leute?“

„Geheimbünde, die mit Luzifer paktieren!“

„Der Beelzebub ist eine Märchenfigur.“

„Wenn der Meister der Finsternis nur ein Hirngespinst ist, hätte sich sein Andenken nicht über alle Epochen der Menschheit, in der Malerei, auf der Bühne und in Aufzeichnungen, so hartnäckig gehalten.“

„Dieses Wesen ist ein Synonym für die Mächte des Verderbens.“

„Der Antichrist ist die treibende Kraft, die uns zu absonderlichen Handlungen verleitet, die wir unter normalen Umständen niemals täten.“

„Was vermag ein Mensch wider einen Dämon auszurichten?“

„Alles, wenn du Mumm in den Knochen hast!“

„Den Mut, aber nicht die Mittel und erst gar nicht das nötige Wissen!“

„Bist du bereit, gegen die vom Teufel besessene Staatslenker aktiv vorzugehen und einen Beitrag zur politischen Kunst zu leisten?“

„Wenn das der Karriere als Künstler förderlich ist.“

„Fertige eine Schablone an, besorge Autolack-Spraydosen und lege dir einen Decknamen zu. Das Motiv sprühen wir an die Wände der Stadt und sorgen so für einiges an Aufsehen. Wir benötigen außerdem einen Stadtplan und ein Notizbuch. Vergiss die Stifte nicht!“

„Ist »33« für dich in Ordnung? Das ist meine Lieblingszahl.“

„Perfekt!“

„Wie heißt du?“

„Das verrate ich niemandem!“

Der Unbekannte mit dem südfranzösischen Akzent hat ein außergewöhnliches Muttermal auf der linken Wange. Auf dem angehefteten Namensschild stehen nur die zwei genannten Buchstaben.

„Du überredest mich zu rebellischen Aktionen und sagst mir nicht einmal den Namen! Das ist wenig Vertrauen erweckend!“

„Das ist besser so. Öffentlich nenne ich stets nur den »Nom de Guerre«.

Freunden gegenüber, die das genauso zu handhaben. Wenn uns die Polizei erwischt, sagt der Ertappte nichts über die anderen aus. Den Tipp habe ich vom Großvater. Der ist in der Résistance gewesen.“

„Wer sagt dir, ob ich unter den Umständen überhaupt komme?“

„Ich spüre deinen Drang, dieses Land zu verändern, wodurch du dich von den meisten Jasagern unserer Generation unterscheidest.“

»ME« skizziert grob seine Vorstellungen auf die Rückseite eines Flugblatts.

„Bekommst du das hin?“

„Ich denke schon!“

„Wir treffen uns nächsten Mittwoch, um zwei Uhr nach Mitternacht, auf der »Pont du Carrousel« vor dem »Louvre«.“

Zwei Uhr in der Nacht. Vom »Place de la Concorde« kommend, rast ein Auto mit hoher Geschwindigkeit an Marcel vorbei. Kurz darauf schlendert »ME« in kurzen Hosen über die Brücke. »33« ist komplett in schwarz gekleidet. Der wohlhabende Sohn eines Winzers hat ein weißes T-Shirt und helle Halbschuhe an.

„Bist du bereit?“, fragt »33« mit konspirativem Unterton.

„Na klar!“, sagt »ME« emotionslos. „Zeig mir die Vorlage!“

„Die Polizei sieht uns an dieser Stelle von weitem!“

„Sei nicht so übervorsichtig! Je offensichtlicher, desto unauffälliger!“

»33« holt vorsichtig den Karton aus der Tüte und hält das labile Gebilde mit der Schutzfolie in den Schein der großen Laterne neben der »Statue des Wohlstands«, in deren hohlen Sockel einst das Häuschen zum Abkassieren des Brückenzolls untergebracht gewesen ist.

„Den Teufel hast du ausgezeichnet getroffen und die Buchstaben hast du perfekt hinbekommen. »ME33« als Signatur, übertrifft jede Erwartung!“

„Die Schrift habe ich auf unserem Rechner mit dem Zeichenschnitt

»Stencil« gestaltet und ausgedruckt.“

„Bist du wahnsinnig! Wenn dein Vater die Datei findet!“

„Ich bin nicht doof! Ich habe die Daten erst gar nicht gespeichert.“

„Wer hält die Schablone? Wer sprüht? Hast du den Notizblock eingesteckt?“

„Du bist mir einer! Bei der Nutzung des Computers rastest du aus, und im Gegenzug notierst du jede Straßenecke, an der wir sprühen auf dem Stadtplan. Wenn die Bullen uns schnappen, schreibt uns die städtische Reinigung spielend leicht die Rechnung für das Entfernen der Kunstwerke.“

„Sind wir erst bedeutende Künstler, beweisen wir mit diesen Aufzeichnungen, an welchen Stellen wir die kleinen Botschaften hinterlassen haben.“

„Warum sprayen wir nicht »Freestyle«? Das ginge schneller und das Ergebnis wirkt spontaner.“

„Das nervige Geschmiere? »Zigoing« oder »Shaboom«? Das hat keinen Style. Wo bleibt die politische Aussage? Die Leute sind von den knallbunten Schmierereien genervt und viele schauen erst gar nicht mehr hin. Mit der Form hat das Statement Charakter, einen Wiedererkennungswert!“

„Wir probieren die Wirkung des Graffitis besser erst einmal unten am Ufer aus?“

„So vergeuden wir nur Zeit! Den ersten Schritt wagen wir gleich am Gebäude gegenüber!“

„Am »Louvre«? Bist du von allen Geistern verlassen?“

„Das Schloss ist das bekannteste Kunstmuseum der Welt. Wir verewigen uns an seinen Mauern und sind morgen früh berühmt! Ein Skandal! Das bestbewachte Bauwerk Frankreichs ist verschandelt! Denke nur an die Presse, die ihre Fotoreporter schickt!“

„Und die Bullen?“

„Siehst du einen?“

„Jetzt nicht! Jeden Moment taucht eine Streife auf.“

„Künstler zermartern sich nicht das Hirn über solche Nebensächlichkeiten. Angst vernebelt die Sinne. Lass uns endlich loslegen!“

Die beiden Aktionskünstler überqueren den »Quai François Mitterrand« und schreiten auf den östlichen der fünf Torbögen zu. Auf dem anderen Ufer der »Seine« fährt ein Auto. Nervös zupft »ME« an einem Lederbändchen am Handgelenk. Das Brummen verhallt in Richtung »Palais Bourbon«. Unmittelbar unterhalb der italienischen Gemälden des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts hält »33« die Schablone an die halbhohe Wand mit steinernen Sitzgelegenheiten, die den Fußgängerbereich vom Verkehr trennt. Diese Ecke ist von zufällig vorbeifahrenden Fahrzeugen aus nicht einsichtbar. »ME« sprüht gleichmäßig – von links nach rechts und von oben nach unten – über die ausgeschnitten Stellen im Karton. Der erfahrene Hobby-Lackierer dreht die Dose auf den Kopf und bläst die restliche Farbe aus dem Ventil, um das Eintrocknen der Düse zu verhindern. Im Licht einer Taschenlampe holt »33« das Notizbuch aus der Tüte und notiert den Ort und die Uhrzeit. Ein erhabener Blick auf das gelungene Werk. Nach einer kurzen Trockenzeit verstauen die Freunde ihre Tatwerkzeuge wieder.

„Wo sprühen wir als nächstes?“

„Im Durchgang gegenüber zur »Rue de Rivoli«.“

„Du läufst nicht allen Ernstes übers offene Gelände? An den Laternen sind Kameras installiert.“

„Wir kriechen durch die Hecken. Dort sind wir für die Überwachungsbeamten unsichtbar.“

„Am Ufer sind wir überhaupt nicht zu sehen!“

„Für wahr! Und kein Mensch sieht dort unsere Botschaften!“

Wenige Meter vor dem »Arc de Triomphe du Carrousel« leuchten im »Cour Napoléon« schlagartig gleißend helle Flutlichter. Schnell ducken sich die ihre Köpfe. Ein rechteckig geschnittenes Gebüsch dient ihnen als Deckung. Aus einem Seitenportal des Museums strömen schwer bewaffnete Soldaten auf den Platz und postieren sich in einer Linie vor der größten der gläsernen Pyramiden.

„Ich habe dich vor den Überwachungsgeräten gewarnt!“, keucht

»33« panisch. „Jetzt sind wir geliefert!“

„Diese Veranstaltung ist staatlicher Natur und hat mit uns nichts zu schaffen. Einer der intriganten und korrupten Politiker empfängt vermutlich mitten in der Nacht einen geheimen Staatsgast. Die Medien sind aus leicht nachvollziehbaren Gründen nicht informiert.

Ich sehe auf jeden Fall niemanden von der Presse.“

„Und ich sehe keine Anzugträger. Nur Uniformierte. Das ist ein Manöver.“

„Im Zentrum der Stadt? Aber egal, lass uns hurtig verschwinden!“

Lautlos schwebt ein unbeleuchtetes Fluggerät heran. Das Luftfahrzeug, welches aus zwei durchdrungenen, ungleichen Zylindern mit einer komplizierten Oberflächenstruktur besteht, landet neben der großen Pyramide, ohne deren Glasfassade zu zerstören. Kurz bevor der seltsame Flieger aufsetzt, umgibt blaues Licht das Gefährt. Staub wirbelt auf. Eine Tür am Rumpf öffnet sich und eine Rampe fährt aus.

„Ich traue meinen Augen nicht! Und ich bin der Auffassung gewesen, alle Flugzeuge der Welt zu kennen! Das Gerät widerspricht allen Regeln der Aerodynamik!“

„Ich sehe weder Kennzeichen noch Flagge. Die Maschine scheint nicht aus Frankreich zu stammen.“

„Das ist garantiert eine asiatische Neuentwicklung. Ungewöhnlich leise!“

Ein Dutzend Männer und Frauen in Zivil schreiten andächtig durch das Tor des »Cour Carrée«, der seit dem Auszug des Finanzministeriums Teil der Ausstellung ist. Zwei Mitarbeiter tragen ein für den Louvre verhältnismäßig kleines Gemälde aus den Beständen der Kunstsammlung heraus.

„Das sind die »Arkadischen Hirten« von Poussin“, erkennt »ME« das Bild aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts.

„Erkennst du das Motiv aus der Entfernung?“

„Das Bild ist Thema einer Hausarbeit gewesen“, sagt »ME«.

„Was denkst du?“, fragt »33«. „Hat das Museum das Bild verkauft? Hat der Louvre das Recht, den Besitz der französischen Nation zu veräußern?“

„Das Bildnis umgibt ein Geheimnis. Zwei Schäfer deuten auf den Schriftzug »ET•IN•ARCA•DIAEGO«. Schatzsucher vermuten hinter den Worten einen Hinweis auf das Grab Jesu oder eines Apostels.

Der steinerne Sarkophag steht, dem Gelände nach zu urteilen, in Südfrankreich.“

„Was ein Zufall!“, erinnert sich »33«. „Wir haben uns in Latein mit genau jenem Spruch befasst. »Und in Arkadien ich«, ergibt keinen Sinn! Also haben wir angefangen, die Buchstaben anders aneinanderzureihen. Das ist lustig gewesen. Ich erinnere mich an die Kombination »ET•IN•ARCA•DIAEGO«.

Demnach liegt der Heilige Jacob im Bogen und nicht Jesus!“

„Hut ab! Nicht übel für einen Laien! Jeder Verschwörungstheoretiker nähme dir die Theorie mit Kusshand ab. Das Tor erscheint mir in dem Zusammenhang nicht zu passen.“

„Welche Ecke des »Midi« ist das?“

„Angeblich aus der Nähe von »Rennes-le-Château«.“

Aus dem futuristischen Flugapparat kommen düstere, in lange dunkle Mäntel gekleidete Figuren die Rampe heruntergelaufen. Zwei von den Fremden schleppen eine Packung, dessen Papier mattschwarz gefärbt ist. Ein Anzugträger aus den Reihen der Museumsleute schreitet würdevoll auf die absonderlichen Ankömmlinge zu.

„Das ist unser Staatspräsident!“, entfährt »33« ein Erstaunen. Auf ein Kommando hasten die Schatten eilig zur Seite. Mit übermenschlich großen Schritten eilt ein zweibeiniges Wesen im Format eines Goliaths auf das Staatsoberhaupt zu.

„Glaubst du mir jetzt“, holt »ME« tief Atem, „was ich dir über die Verbindung der Regierung zum Teufel gesagt habe?“

„Der ist annähernd drei Meter groß!“, sagt »33« ein wenig zu laut.

„Leise! Wenn der uns hört, sind wir geliefert!“

Der Riese gibt dem Präsidenten die Hand. Das Landesoberhaupt verbeugt sich unterwürfig und ordnet mit einer Handbewegung die Übergabe des Gemäldes an. Die Museumsmitarbeiter erhalten im Austausch das schwarze Paket. Die dubiosen Gestalten kehren mit den »Arkadischen Hirten« in das Fluggerät zurück, begleitet von dem Giganten, der seinen Untergebenen langsamen hinterherschreitet.

Der Staatschef winkt zufrieden und lächelt politisch korrekt. Geräuschlos entschwindet der Spuk in der Dunkelheit der Nacht. Lastwagen der Armee brausen aus beiden Richtungen auf den »Place du Carrousel« und die Sicherheitskräfte leiten den Abzug ein.

„Zu dumm, ich habe meinen Fotoapparat vergessen! Derartige Aufnahmen sind gewiss ein Leckerbissen für die Boulevardpresse!“

„Das Spektakel hat uns die beste Zeit für eigene Kunstwerke geraubt.

Gleich öffnen die Bäckereien!“

Im Osten graut der Himmel über den Dächern des Palastes. Die zwei stehen unvorsichtigerweise auf und setzen ihren Weg fort. Ein lauter Pfiff ertönt und dringt ihnen bis ins Mark. Einige Soldaten steht im Schatten des Triumphbogens und sind von den mittlerweile Übermüdeten übersehen worden.

„Unbekannte Subjekte!“, ruft ein vermutlich altgedienter Haudegen.

„Dort, an der Hecke!“

„Ergreifen!“, befiehlt eine Frau in Uniform.

Der Fettleibige trampelt los und zerrt am Revolver. Der Verschluss des Halfters klemmt. Der Uniformierte verlangsamt das Tempo, um sich mehr auf das Waffenetui zu konzentrieren.

„Nichts wie weg!“, zischt »ME«. „Lauf!“

Ohne sich umzudrehen, rennen die Ertappten zum »Jardin des Tuileries«.

„Die Vorlagen!“, keucht »33« atemlos. „Ich habe unsere Tüte liegen lassen.“

Ein Schuss fällt! Entgegen aller Vernunft beschleunigen die Freunde in ihrer Todesangst die Laufgeschwindigkeit.

„Feuer einstellen!“, schreit die Vorgesetzte. „Sind Sie wahnsinnig? Sie hatten Befehl, die Agenten festzunehmen, nicht zu erschießen!“

„Das ist ein Warnschuss in die Luft gewesen!“, verteidigt sich der Angesprochene.

„Wir sind nicht im Krieg! Fassen Sie die Kerle, ohne gleich die halbe Stadt zu wecken!“

»ME« und »33« erreichen das Ende des »Louvre« und gelangen an den »Quai François Mitterrand«. Von dort führt der Sprint zur gegenüberliegenden Straßenseite und dort eine Treppe zum »Quai des Tuileries« hinunter. Die Flüchtenden wenden sich nach links und nähern so der »Pont Royal«.

„Durchhalten!“, treibt der sportliche »ME« zur Eile an. „Unter der nächsten Brücke lebt ein Bekannter von mir.“

In den zahlreichen Nischen zwischen den Pfeilern stehen Zelte von Obdachlosen.

„Etienne! – Etienne, bist du da?“

„Wer ist da?“, ruft eine jugendliche Stimme aus einer der Einbuchtungen.

„Ich bin’s, Thomas. Wo steckst du? Uns sind Soldaten auf den Fersen!“

„Uns Kleinkriminelle jagt gelegentlich die Polizei und ihr legt euch mit der ganzen Armee an? Respekt, Kollege!“

Der minderjährige Stadtstreicher zieht einladend die Zeltbahnen auseinander. Die beiden schlüpfen hektisch hinein. Der seit längerer Zeit ohne Körperpflege lebende »Clochard« schließt den Reißverschluss. Aus Erfahrung lässt der Lebenskünstler den Eingang einen Spalt offen, um hinaus zu spähen. Das stampfende Traben sich nähernder Armeestiefel verstärkt sich im Widerhall des Kalksteingewölbes. Unmittelbar vor dem Zelt verschnaufen die Uniformierten. Die Gejagten halten die Luft an. Anspannung und die Hitze treiben ihnen den Schweiß auf die Stirn.

„Na bravo!“, beschwert sich die Vorgesetzte. „Die sind über alle Berge!“

„Wenn Sie mich fragen“, entschuldigt sich der alte Mann in Uniform, der die vermeintlichen Agenten entdeckt hat, „sind das womöglich Kinder! Die zugegeben äußerst sportlichen Backfische haben das Entscheidende gewiss nicht zur Kenntnis genommen.

Die Nachteulen sind zum besagten Zeitpunkt schlicht zu weit weg gewesen.“

„Dank der unüberlegten Schießerei kommen wir nicht umhin, die Zeugen zu eliminieren! Nicht auszudenken, wenn die Geschichte in der Presse erscheint!“

„Ohne Hintergrundwissen sind ihre Aussagen wertlos! Die Medien oder die Polizei interessieren sich nicht für das Abfeuern einer Waffe, wenn dies folgenlos geschieht. Jede Nacht fallen Schüsse in Paris. Entlang der großen Boulevards haben alle Metropläne Einschusslöcher. Durchgeknallte Halbwüchsige in schnellen Autos nutzen die hell erleuchteten Flächen als Zielscheiben. Die subversiven Subjekte haben, wenn überhaupt, den Präsidenten gesehen, der einen Staatsgast verabschiedet hat.“

„Haben die Vögelchen den Austausch der Geschenke denn mitbekommen?“

„Peinlich ist die fehlende Verpackung! Eine maßlose Schlamperei! Das hat Konsequenzen!“

„Unser Gast hat deinen Fauxpas galant übersehen. Vermutlich sind die schwulen Burschen nur zufällig vor Ort gewesen. Die Hecken dienen zur Deckung ihrer Spielchen.“

„Ruhe!“, mault ein Obdachloser auf der anderen Seite des Gehweges.

„Du bringst der Organisation nur Schande. In meiner Einheit ist kein Platz mehr für dich!“

»33« sieht vorsichtig hinaus. Der Waffenträger zieht der angestauten Hitze wegen sein Barett vom Kopf. Der Mann hat eine Glatze und auffallend kleine Ohren. Derart winzige Hörorgane hat Marcel bislang nicht beobachtet. Weitere Soldaten, die den Uferweg in die entgegengesetzte Richtung abgesucht haben, erreichen ihre Vorgesetzte und nehmen ebenfalls ihre Kopfbedeckungen ab. Keiner von Ihnen hat Haare auf dem Kopf. Nicht einmal ihre Chefin. Und alle haben die gleichen Besonderheiten.

„Wir vergeuden kostbare Zeit. Erstatten Sie Meldung! Abzug!“

„Der Leitungsstab hat uns sein Kommen zu spät angekündigt! Wir sind zu sehr in Eile gewesen, um das Gelände angemessen abzusichern!“

„Der Meister liebt spontane Auftritte! Selbst wenn die Schwuchteln das Bild erkannt haben, ist die Information alleine wertlos!“

Der Trupp kehrt zur Treppe an der »Pont Royal« zurück. Leise und beständig plätschert das Wasser der »Seine« gegen das gemauerte Ufer. Der Hund winselt nicht mehr. Der heiße Wind lässt die Zeltbahnen flattern. Ein Lastwagen fährt über die Brücke.

„Verfolgt von Außerirdischen!“, seufzt »ME«.

„Sind dir ihre winzigen Lauscher aufgefallen?“, fragt »33«.

„Ein nicht zu übersehendes Merkmal! Danke, Etienne, du hast uns das Leben gerettet.“

„Keine Ursache! Diese blassen Gestalten sind öfter entlang des Ufers anzutreffen und ständig auf der Suche nach einer imaginären Bedrohung. Uns Obdachlose nehmen die merkwürdigen Wesen aus unerfindlichen Gründen nicht wahr. Nicht die geringste Ahnung, warum das so ist. Als ob wir aus Luft bestünden.“

„Wir haben einen Riesen gesehen. Eine furchteinflößende Erscheinung, deren Anblick scheinbar verboten ist. Einer der Soldaten – der Alte – hat auf uns geschossen! In was sind wir da nur hineingeraten? Weshalb steht von übergroßen Existenzen nichts in den Zeitungen?“

„Hauptsache, ihr seid erst einmal in Sicherheit!“

„Ich bringe dir bei Gelegenheit eine Pulle Wein vorbei“, bietet »ME« seinem Freund an. „Ist das okay für dich?“

„Da sage ich niemals nein! Das weißt du. Bleibt eine Weile in meinem Zelt.“

„Ich gehe nach Hause“, drängelt »33«. „Bald fängt die Schule an!“

„Verstehe! Freut mich, dich kennengelernt zu haben. Wenn du am Ufer bist, schaue bei mir rein. Du bist immer willkommen!“

Marcel begeht den Fehler, sich kurz auf sein Bett zu legen. Der Wecker klingelt. Der Übermüdete wacht nicht auf und verpasst das Frühstück. Sein Vater hat das Haus früh am Morgen verlassen. Der Ingenieur eines französischen Fahrzeugkonzerns zieht die frühen Morgenstunden vor, um am Nachmittag Zeit für sich zu haben.

Die bretonische Mutter ist Parfümverkäuferin in einem der gigantischen Kaufhäuser hinter der »Opéra Garnier«. Cécile Amidieu ist ein Kopf größer als sein Alter Herr, weshalb der Spätpubertäre nur ungern mit den Eltern Gemeinsames unternimmt, insbesondere wenn Schulkameraden am gleichen Ort zu erwarten sind. Die strenge Mama wünscht sich nichts sehnlicher für ihren begabten Sohn als ein Studienplatz an der Elite-Universität »Sorbonne«. Vor ihrem Weg zur Arbeit rüttelt diese an der Zimmertür, um sich zu verabschieden. Aus Panik, den Geruch des Obdachlosen zu verbreiten, bleibt die Tür verschlossen.

„Bist du erkältet mein Liebling?“

„Nein, ich habe nur miserabel geschlafen!“

„Hast du gestern zu lange ferngesehen?“

„Bin beim Film eingeschlafen und mich haben Alpträume geplagt!“, lautet die Ausrede.

„Du hast in Kürze deine Prüfungen! Nervosität ist absolut normal.

Stehe endlich auf und gehe in die Schule!“

„Lass mich in Ruhe! Ich bin kein Kind mehr!“

„Dein Frühstück steht auf dem Tisch. Ich gehe jetzt los, mein Schatz!“

„Danke, Mama! Bis heute Abend.“

Marcel brüht sich am Gasherd in der kleinen schmalen Küche erst einmal einen überdosierten, von Hand gefilterten Kaffee. Das dickflüssige Aufputschmittel schmerzt im Gaumen und erzeugt kurz darauf Herzrasen. Marcel zittert am ganzen Körper. Der Raubbau an den Reserven hat zur Unterzuckerung geführt. Der Junge flucht wegen der eigenen Dummheit laut vor sich hin. Drei längliche Würfelzucker versinken in der öligen Substanz der zweiten Tasse. Der Gestank der Nacht schreit nach einer heißen Dusche. Ein weiterer Schluck zur Probe.

„Schon besser! Zwei Zucker mehr und die Mischung ist perfekt!“ Die Müdigkeit steckt tief in den Knochen. Der Gymnasiast schleppt sich zu dem ehrwürdigen Bauwerk, in dem das »Lycée Louis le Grand« seit 1563 untergebracht ist. Marcel steigt an der Metro-Station »Cluny – La Sorbonne« aus, durchschreitet den »Jardin Médiéval«, überquert den »Place Paul Painlevé« und biegt in die »Rue des Écoles« ab. Ihn trifft der Schlag. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lehnt »ME« an einer Hauswand und winkt ihn zu sich herüber.

„Ich habe auf dich gewartet.“

„Woher weißt du, auf welche Schule ich gehe?“

„Ist das so wichtig? Lass uns nach der Tüte suchen, bevor die Polizei unsere Unterlagen findet!“

„Ich schwänze nicht! Wir haben demnächst die ersten schriftlichen Klausuren.“

„Du handelst dir weit mehr Ärger ein, wenn die Schablone in die falschen Hände gerät!“

„Warum bist du nicht sofort zum Louvre gegangen?“

„Du beobachtest den Platz und warnst mich, falls diese sonderbaren Gestalten wieder auftauchen!“

Auf dem »Place du Carrousel« patrouillieren keine Glatzköpfigen mehr. Scharen von ahnungslosen Urlaubern stehen vor der großen Pyramide Schlange, weil ihnen der Nebeneingang, an dem sich nur selten Warteschlangen bilden, nicht bekannt ist. Trotz intensivem Stöberns bleibt die Tüte unauffindbar. Entweder haben die Soldaten das Beweismittel aufgelesen oder der Kehrdienst den Müll entfernt. Einige Touristen fotografieren ihr nächtliches Werk.

„Was habe ich dir gesagt!“, triumphiert »ME«. „Morgen lesen wir einen Artikel über das Kunstwerk in der Zeitung! Lass uns gleich heute Abend weitermachen!“

„Ich habe den Unterricht geschwänzt! Ich hoffe, meine Eltern bekommen davon nichts mit.“

„Du bist erwachsen. Schreibe deine Entschuldigung selbst!“

Juli 1996

Marcel hat im Leistungsfach Mathematik mit überdurchschnittlichen Noten geglänzt. Seine Mutter ermutigt ihn, sich trotz der Ausrutscher in den anderen Fächern an der »Sorbonne« zu bewerben. Größen wie Albert Einstein haben Tiefpunkte durchlebt und seien später kometenhaft aufgestiegen.

„Beim Vorstellungsgespräch“, ist seine Mama überzeugt, „punktest du durch deine hervorragenden Manieren, die du von mir erlernt hast.“

Die Schule ist aus. Ferien! Ein paar Tage drauf steigt der Junge frühmorgens in den Zug in die Bretagne ein. Kurz vor der Abfahrt. Sein Vater hat angesichts einer Unternehmenskrise keinen Urlaub erhalten und dem weiblichen Familienoberhaupt fehlen die Nerven, mit dem Großvater alte Meinungsverschiedenheiten aufzuwärmen. Durch die Spiegelung der Scheiben sind seine unter Zeitdruck stehenden Eltern nur schemenhaft zu erkennen. Die beiden winken zaghaft zurück.

Der Reisende bemerkt nicht, wie sich ein nach Knoblauch und Schweiß riechender Prolet neben ihn setzt. Im Mittelgang stauen sich die Fahrgäste. Viele haben einen Stehplatz. Neben ihm ein Knacken, gefolgt von einem Zischen – das typische Geräusch einer sich öffnenden Bierdose. Verwundert schaut Marcel in zwei unsympathische Augen. Ein Dreitagebart kaschiert eine unbestimmte fleischige Masse.

„Ein Bier, Kollege?“

„Für mich ist das zu früh am Morgen!“

Seine Gedanken schweifen in die Zukunft. Endlich sieht der leidenschaftliche Schwimmer das Meer wieder. Paris im Sommer ist langweilig. Alle Freunde sind verreist. Der Junge verbringt die Ferien bei Tante Louane in »La Forêt-Fouesnant«, in Küstennähe. Sein Großvater wartet ebenfalls sehnsüchtig auf den einzigen Enkel.

Der Gestank, den der Nachbar verströmt, ist unerträglich. In der Sitzreihe davor unterhalten sich zwei ältere Damen in unangemessener Lautstärke. Die betagten Vorstadt-Pariserinnen kommentieren Belanglosigkeiten in der Landschaft, als seien die vorbeirasenden Landmarken die wichtigsten Errungenschaften der Menschheit. Die Klimaanlage in dem Großraumwaggon ist für T-Shirt und kurze Hosen zu frostig eingestellt. Marcel friert. Bei der Menschenmenge besteht keine Hoffnung, aus dem Koffer ein wärmeres Kleidungsstück herauszuholen, geschweige denn, dem merkwürdigen Nachbarn zu entfliehen. Das Wetter verschlechtert sich zunehmend. Die flache »Perche« zieht vorüber und die Gedanken reisen durch die Vergangenheit.

Der Tod seines Onkels, Janick Noyieux, dem Ehemann der Tante, hat ihn damals tief getroffen. Seine witzige Art hat ihn als Kind oft zum Lachen gebracht und dessen Schiffsmodelle haben sich in seine Erinnerungen gebrannt, mit denen der Junge ungestraft gespielt hat, selbst wenn Teile abgebrochen sind. Der ehemalige Matrose eines Unterseebootes und späterer Kapitän eines gekenterten Touristen-Rundfahrtschiffes ist bei dem Versuch ertrunken, Passagiere zu retten.

Beruflich ohne Ehrgeiz lebt die Tante von diesem Zeitpunkt an von einer bescheidenen Witwenrente mietfrei im Haus des Großvaters. Die passionierte Anhängerin bretonischer Mythen und Sagen schreibt regional bekannte Bücher über ihre Entdeckungen. Das hat ihr keine Freunde beschert. Das frühere Stadtoberhaupt hat postuliert, ihre wissenschaftlich nicht fundierten Schauergeschichten vertrieben die Gäste. Die Hetze hat schädigende Ausmaße angenommen, denn das Oberhaupt des Ortes forderte den Zeitschriftenhändler auf, ihr erstes Buch nicht in sein Sortiment aufzunehmen. Bevor der Streit vor Gericht gelandet ist, starb der Bürgermeister aus ungeklärten Umständen. Seither hat Tante Louane in der Gemeinde den Ruf einer Hexe. Sein Opa Paul ist sechsundneunzig Jahre alt und hofft, nicht vor Marcels eintreffen das Zeitliche zu segnen.

„Zigarette?“, meldet sich der übergewichtige Sitznachbar wieder zu Wort.

„Ich rauche nicht! Aber egal, vielleicht beruhigt das Nikotin meine Nerven.“

„Dich aufzufinden hat mich meine letzten Nerven gekostet!“

Der Kahlköpfige zündet die beiden Glimmstängel an und öffnet eine weitere Bierdose. Ihm fallen die winzigen Ohren seines Nachbarn erneut ins Auge.

„Meine Vorgesetzte und ich haben durch dich beträchtlichen Ärger erhalten, und ich bin den Job als Sicherheitsoffizier des Präsidenten los.“

„Ohne Ihre Dienstmarke haben Sie nicht das Recht, mich zu verfolgen! Genießen Sie Ihre Freizeit!“

„Mein Chef bleibt der Gleiche, obwohl ich nicht mehr in der alten Abteilung bin. Sei froh, in diesem überfüllten Zug zu sitzen! Wenn all die Leute nicht im Gang stünden, hätte ich dich längst grün und blau geschlagen!“

„Ich habe Ihnen nichts getan! Ich kenne Sie nicht einmal. Das ist garantiert eine Verwechslung! Wenn Sie mir wehtun, schreie ich um Hilfe!“

„Ich übergebe dich meiner neuen Dienststelle! Danach ist meine Ehre wiederhergestellt und der große Meister ist mir wieder wohlgesonnen. Der Herr der Hölle wartet mit Vergnügen auf dich. Niemand sieht den Höchsten ungestraft!“

Um den Worten Nachdruck zu verleihen, quetscht ihn der Häscher zwischen sich und der Außenwand ein.

„Auf den Fang!“, bringt der Söldner einen Toast auf sich aus.

„Was haben Sie mit mir vor?“

„Ich bringe dich nach Paris zurück.“

Das widerliche Wesen neben ihm genehmigt sich auf den Sieg ein Bier nach dem anderen. Marcel hat Bauchschmerzen, Bedenken vor möglichen Konsequenzen und Platzangst. Die Gedanken rotieren. Der Junge steht kurz vor einer Ohnmacht. Alle seine Sinne haben Alarmstufe rot.

„Frankreich trennt sich besser von der Bretagne!“, fordert eine der beiden Damen auf den Sitzen vor ihm. „Die Menschen dort sind keine Franzosen!“

„Wir alle sind gläubige Christen!“, entrüstet sich ihre Nachbarin.

„Ich muss auf die Toilette!“, stellt Marcel seinen Mut auf die Probe.

„Komm schon!“, murrt der Trunkenbold und die nächste Dose verliert ihren Verschluss. „Dieser Trick ist älter als das Kino und du hast dich schon einmal aus dem Staub gemacht. Mein Chef hat geeignete Mittel, um aus dir herauszuquetschen, was du mitbekommen hast.“

„Und weiter?“

„Das entscheidet der Meister, was mit dir geschieht!“

„Wieso geschehen? Ich bin kein Verbrecher! Was habe ich deiner Meinung nach gesehen? Und wo? Ich kenne Sie nicht!“

„Christen?“, schreit die Dame am Fenster. „Nachfahren von Templern, die Frankreich mithilfe des »Baphomet« ruinieren!“

„Diese Schachteln haben keine Ahnung!“, empört sich der Angetrunkene. „Hebräisch rückwärts gelesen wird aus »Baphomet« den Namen unserer großen Göttin SOPHI.A!“

„Ich muss aufs Klo!“

„Und wenn du dir die Hose vollmachst – du bleibst sitzen!“

„Sprich leiser!“, sagt die Mitreisende vor ihm zu ihrer Sitznachbarin.

„Uns hört der ganze Wagen zu!“

Monoton rattern die Räder über die Gleise. Der Inhalt einer weiteren Dose Bier rinnt durch eine Kehle, die keinen Durst mehr hat. Der Junge schaut angestrengt aus dem Fenster. Wann kommt der Zug im nächsten Bahnhof an? Hoffentlich ergibt sich auf dem Bahnsteig eine günstige Gelegenheit, um dem Fettwanst davonzulaufen. Dessen Chef beabsichtigt Marcel erst gar nicht kennenzulernen! Die Polizei ist dank der Graffiti keine Alternative und steckt am Ende mit dieser Organisation unter einer Decke. Heftiges Schnarchen dring an sein Ohr. Das Bier hat seine Wirkung als Schlafmittel voll entfaltet.

Der Junge stemmt sich mit voller Kraft gegen die Seitenwand. Der Kerl ist zu schwer! Unverhofft gibt die fleischige Masse nach. Ein athletisch gebauter Mitreisender grinst ihn an.

„Ich habe euer Gespräch unfreiwillig mitgehört. Ich habe keine Ahnung, was du seiner Auffassung nach ausgefressen hast, und die Hintergründe gehen mich nichts an. Ich schätze, du bist im Recht und der Penner ist ein Verbrecher. Los! Steige über ihn und verstecke dich bis zum nächsten Halt in der Menschenmenge! Der Säufer steht vermutlich so schnell nicht wieder auf.“

„Vielen Dank! Warum haben Sie mir geholfen? Sie kennen mich nicht einmal!“

„Ich habe genug Menschenkenntnis und ein Gespür für Ungerechtigkeit!“

„Wie revanchiere ich mich bei Ihnen?“

„Hilf anderen Menschen. Das Gute kommt eines Tages zu mir zurück!“

Der Junge hat keine Zeit, sich mit philosophischen Fragen zu beschäftigen. Sein Koffer ist in einem Gepäckregal aufbewahrt.

Unter einem Schwall an ruppigen Worten und derben Gesten hangelt sich der Befreite seinen Sachen entgegen und quält sich mit dem Reisegepäck in Richtung Lokomotive. Der nächste Waggon hat Abteile und auf dem Gang stehen nur vereinzelt Passagiere. Einen Wagen weiter stellt Marcel sich an den Ausstieg und schaut sich nervös um. Der Zug reduziert seine Geschwindigkeit. Die Strecke ist kurvenreich und folgt einer idyllischen Flusslandschaft. Die Bebauung ist urbaner. Die Gleise durchqueren den nicht endenden Rangierbahnhof von »Rennes«. Bange Minuten bleiben bis zum Erreichen des Hauptbahnhofs. Die Fahrgäste drängen sich zu den Ausgängen.

„Lassen Sie mich durch!“, lallt der Häscher von Weitem. „Im Namen des Staates! Geben Sie den Weg frei!“

Die Bremsen quietschen Unheil verheißend.

„Warten Sie gefälligst“, erwidert eine Dame, „bis Sie an der Reihe sind!“

„Das ist Behinderung einer Festnahme!“, schreit der Verfolger die Fassungslose an.

„Wenn Sie ein Polizist sind, bin ich Mutter Teresa!“

Mit der flachen Hand schubst der Aufgebrachte sein Hindernis aus dem Weg. Von dem brutalen Vorgehen erschüttert fällt die aus dem Gleichgewicht Gekommene über ihren Koffer und schlägt schreiend auf den Boden auf. Aus einer Platzwunde an der Stirn rinnt Blut. Die Bahn kommt zum Stehen.

„Was fällt Ihnen ein?“, wettert die zutiefst Empörte. „Ich zeige Sie an! Haltet diesen Verbrecher!“

Die Automatiktür öffnet sich. Marcel setzt zum Sprung auf den Bahnsteig an. Eine Hand an seinem T-Shirt hält ihn zurück.

„Lauf nicht weg, Amidieu! Ich finde dich, wo immer du dich versteckst!“

Das T-Shirt zerreißt.

„Du kommst mir nicht davon!“, knurrt der Häscher.

Die Handtasche der Gestürzten saust durch die Luft. Ein heftiger Schlag an den Hinterkopf des Betrunkenen, bringt ihn zu Fall.

„Sie bleiben“, droht die Aufgebrachte, „bis die Polizei kommt! Ihr Verhalten hat ein Nachspiel!“

Ohne sich umzudrehen, rettet sich Marcel, seinen Koffer hinter sich herziehend, in die Innenstadt.

Juli 1996

Der Gedanke, mit dem Zug weiterzufahren, bereitet ihm Unbehagen. Was, wenn der Glatzkopf am Bahnsteig auf ihn wartet? Marcel versteckt sich in einem kleinen Park neben dem »Musée des Beaux-Arts« und wechselt dort sein T-Shirt. Gegenüber steht eine Telefonzelle. Die Schwester seiner Mutter erklärt sich bereit, ihn mit ihrem Auto abzuholen. Treffpunkt ist die gegenüberliegende Uferstraße. Bis dahin sind, je nach Verkehrslage, bis zu drei Stunden Wartezeit zu überbrücken. Dem Gejagten fehlt die Ruhe in der Zwischenzeit alte Gemälde zu betrachten. Gespannt schweift der Blick die »Avenue Jean-Janvier« Richtung Bahnstation hinunter. Der Junge fragt sich, wer in besagter Nacht aus dem Ufo gestiegen ist. Weshalb lohnt der Aufwand, ihn nach so langer Zeit weiterhin zu verfolgen? Oder ärgert sich der Soldat nur deshalb, die Nerven verloren und auf ihn geschossen zu haben?

Zweihundertzehn quälende Minuten später rollt der uralte weiße Peugeot 203 Cabriolet über den »Quai Châteaubriand«. Die Inneneinrichtung des Zweisitzers besteht aus rotem Leder und riecht modrig. Das Verdeck hat Risse. Die feuchte Seeluft verhindert das Austrocknen der eingenisteten Pilze und Flechten. Im Fahrtwind des langsam fahrenden Wagens flattert das Kopftuch der glücklichen Tante.

„Was hat der Typ von dir gewollt?“, erkundigt sich Louane. „Am Telefon habe ich nur »Bahnhof« verstanden!“

„Das ist recht kompliziert.“

„Ich verstehe! Manche Gedanken brauchen Zeit, um sich zu setzen, und gewisse Erlebnisse ausreichend Abstand, bevor du darüber sprichst.“

„Ich habe dank des Vorfalls bisher nichts gegessen!“

„Ich kenne ein sympathisches Restaurant in »Larmor-Baden«, das von außen nicht sonderlich schick ist, aber eine ausgezeichnete heimische Küche hat. Von dort genießen wir einen grandiosen Ausblick auf die sagenumwobene Landschaft der Apfel-Inseln. Ich habe dir einiges zu erzählen.“

Am Golf von »Morbihan« angekommen hält das Auto auf einer Landzunge im Hafen der Stadt an. Das Wetter klart auf. Dünne weiße Wolken treiben nach Osten ins Landesinnere. Der Wind riecht nach Jod. Marcel holt tief Luft, um den Großstadtmief aus seiner Nase zu verbannen. Die Wellen rauschen im Sand oder gluckern unter den Booten. Der Strand ist übersät mit Muschelschalen, Seetang und toten Krebsen. Die wärmende Sonne taucht die Szenerie in ein friedliches Licht.

„Die Gegend ist ganz anschaulich, Tante Louane!“

„Du untertreibst! Dies ist der magischste Ort auf der ganzen Welt!“

„Übertreibst du nicht ein wenig? Eine alte Pinie, ein paar Häuser, ein kleines Schloss und eine Hafenmole. Der Ort hat nichts Eminentes.“

„Ich spreche von dem See!“

„Ist das ein See oder ein Meeresarm?“

„Dieses Gewässer ist in mystischer Zeit einmal ein verzauberter See gewesen, bevor der Fluss »Auray« das trennende Land weggeschwemmt hat.“

„Soso! Verzaubert. Ich sehe nur verendetes »Frutti di Mare«.“

„Das Wasser ist mit den Gezeiten gekommen und verschwunden. Die Menschen damals haben für den Vorgang keine Erklärung gehabt. Zur passenden Zeit angekommen sind hier die Wiesen aufgetaucht und die Inseln sind leicht erreichbar gewesen. Wenn die Sonne auf das nasse Gras geschienen hat, ist Dunst aufgestiegen. Die sagenhaften Nebel von »Avalon«! Oder auf Keltisch: Ãbállon.“

„Von der Seeluft bekomme ich Hunger!“

„Du hast recht! Wir essen etwas und ich lege dir dar, was ich in Erfahrung gebracht habe.“

Gleich ein paar Hundert Meter weiter steuert die Tante den nächsten Parkplatz an. Eine Mauer hindert einen kleinen Abhang, abzurutschen. Ein wenig schicker Bungalow, der auf einer durchgehenden Garage steht, beherbergt ein Restaurant mit großen Fenstern. Davor und an der Seite erstreckt sich eine Terrasse mit Seeblick. Liegende Betonstäbe mit Löchern verunstalten das Geländer. Ein Kellner stellt nach dem Regenschauer des Vormittags die Bestuhlung wieder auf.

„Hübsch ist das Ambiente wahrlich nicht!“

„Sitzen wir draußen?“, fragt Louane reflexartig.

„Der Wind ist zu heftig! Hinter den Scheiben wärmen uns die Sonnenstrahlen.“

„Drinnen sehen wir genug!“

Der Ober mittleren Alters, der schon bessere Tage erlebt hat, empfiehlt Taschenkrebs, Salzlamm mit weißen Bohnen samt Röstkartoffeln und flambierten Crêpe.

„Auf der Insel gegenüber hat einst eine Frau namens Morgane gelebt.

Die Halbschwester des nebulösen Königs Artus hat die Region der Inseln beherrscht.“

„Das ist scheinbar Ewigkeiten her.“

„Durch massive Unruhen hat das Römische Reich zu jener Zeit die Vormachtstellung eingebüßt. Auf ihrer langen Wanderung haben die Goten eine Waffe mitgebracht, die auf Umwegen zu uns gelangt ist. Neuerdings ist behauptet worden, die Klinge sei aus Kalabrien und mit der »Macht der Götter« ausgestattet gewesen. Der erste Stahl in den Händen der Menschen.“

Der Junge schaut seine Tante an, als ob diese von einem anderen Stern zur Erde gekommen sei.

„Binde mir keinen Bären auf!“

„Hast du je von »Avalon« und von »Excalibur« gehört?“

„Wer kennt nicht das legendäre Schwert? Im Lateinunterricht haben wir gelernt »ex« heißt »aus«, »cai« bedeutet »Stein« und »libur« meint »frei«. Was hat der Säbel in der Bretagne verloren? Spielt die Artussage nicht in Britannien?“

„Wir sind in Britanien mit nur einem »N«! Das ursprüngliche Land der Kelten. Und alles geschah in »Letavia« und nicht auf den Inseln!“

„Beruhige dich! Ich habe verstanden, worauf du anspielst!“

Der Garçon serviert zwei »Chouchen«1 zum Aperitif.

„Der schmeckt hervorragend!“, urteilt Marcel.

„Achten Sie darauf“, mischt sich der Kellner ein, „Wenn Sie zu übermäßig davon trinken fallen Sie unweigerlich auf den Hinterkopf!“

„Ist das so?“

„Hier weiß das jedes Kind!“, stimmt Louane zu.

Die Servicekraft setzt ein Lächeln auf und verschwindet in Richtung Küche.

„Auf der Insel gegenüber hat Morgane Lancelot eingesperrt, um ihn zu verführen und ihm ihren Willen aufzuzwingen.“

„Liebe Tante, ich hoffe, du machst nur Spaß? Hast du Beweise? Denkst du dir das aus, um mich auf den Arm nehmen? Was weiß ich, der Junge aus der Stadt, über die Witze aus der Provinz? Jetzt sei bitte wieder ganz normal!“

„Bei uns Feen sind deine sogenannten Scherze fundierte Überlieferungen!“

„Seit wann bist du eine Fee?“

„Du bist durch Propaganda-Märchen verdorben, die uns Feen und Druiden diffamieren! Erst hat Rom, anschließend die Kirche, schließlich die vorgeblichen Aufklärer die Idee vom Leben mit der Natur diffamiert und uns in den Untergrund gedrängt. Wissen basiert auf den Lehren der Schöpfer. Wir haben die Kenntnisse zum Wohle der Menschen und aller Lebewesen angewandt. Schau nur, was Forscher dem Planeten angetan haben! Waffen und Umweltzerstörungen.“

„Ihr habt versäumt“, provoziert Marcel, „selbst Waschmittel und Fahrzeuge zu entwickeln. In diesem Fall wäre euer Ansehen in der Bevölkerung deutlich besser!“

Der Kellner bringt die frisch aufgebrühten Taschenkrebse, die der Koch fachgerecht geöffnet hat.

„Falls Sie einen Nussknacker oder Ähnliches benötigen, winken Sie mich kurz herbei.“

„Das geht schon!“, lächelt Louane die Bedienung an und führt ihre Ausführungen fort. „Die Allmächtigen haben uns solche Entwicklungen nicht erlaubt! Ihrer Aussaat und Schöpfung hat niemand Schaden zuzufügen. Nicht mehr lange und die Umwelt ist dank deiner Wissenschaftler, Waschmitteln und Autos dem Untergang geweiht! Bald ist die Erde wieder wüst und leer. So, wie die Götter unsere Erde vorgefunden haben.“

„Und die Fee, die mir gegenübersitzt, eine alte stinkende Karre fährt, und die Wissenschaft verurteilt, rettet die Welt vor der Apokalypse?“

„Von mir aus. Laufe jetzt gerne auf der Stelle zurück nach Hause in dein von miefenden Vehikeln und Reinigungsmitteln verseuchtes Paris!“

„Tut mir leid, das mit der ausgedienten Möhre ist mir so raus gerutscht!“

Die Tante schaut hinaus auf den ehemaligen See. Die Ebbe hat eingesetzt und die Furt zur Insel zeichnet sich deutlich ab. In der Strömung zwischen den Buhnen üben Paddler den Umgang mit den Kräften der Natur.

„Ich fahre den Schrotthaufen, bis dieser auseinanderfällt, um dem größten Übel, der Profitgier, entgegenzutreten. So ein Auto führe fünfzig Jahre und mehr. Wenn Konzerne Interesse am Naturschutz hätten, wären alle Teile in Modulen verbaut, die eine Werkstatt bei Defekt oder technischer Weiterentwicklung bequem austauscht.“

„Das ist ein Denkfehler! Wie baust du in einen Oldtimer nachträglich Airbags, Sicherheitsgurte, Kassettenrekorder, elektrische Fensterheber oder leistungsfähigere Motoren ein?“

„Das ist gar nicht nötig! Früher sind die Menschen mit dem zufrieden gewesen, was der Einzelne besessen hat. Neid ist in den Dorfgemeinschaften verpönt gewesen und ist in extrem harten Fällen bestraft worden.“

„Wie viele sind ums Leben gekommen, weil die alten Fahrzeuge unzureichende Sicherheitsvorrichtungen gehabt haben? Aber um erneut auf die Artussage zurückzukommen: Woher weißt du so genau, was damals geschehen ist? Aufgrund der vagen Hinweise aus der Gralsgeschichte ist die Forschung nicht von der Authentizität der Überlieferungen überzeugt.

Die Orte lassen sich nicht finden und die Geschichte ist vermutlich nur ein Idealbild des Mittelalters gewesen.“

Louane schüttelt unablässig den Kopf. Begreift der Junge nichts?

„Weil die Wissenschaft in England, Irland oder Skandinavien und nicht in der Bretagne nach den Fakten sucht! In den Köpfen der Bevölkerung ist weit mehr überliefert als in allen Büchern der Welt!“

„Von wem ist das Zitat? Einstein? Wallenstein? Freiherr von Stein?“

„Von Merlin persönlich, der gewusst hat, wie manipulierbar geschriebene Worte sind!“

„Soviel ich weiß, sind von ihm keine Aufzeichnungen vorhanden!“

„Wir kennen jedes Wort von unserem göttlichen Meister! Diese sind bis heute mündlich weitergegeben.“

„Ach! Merlin ist göttergleich gewesen?“

„Sein Vater ist der Teufel und die Mutter eine Gläubige.“

„Meinst du den drei Meter aufragenden Darth-Vader-Verschnitt, dem ich in Paris begegnet bin?“

Marcel schaut in weit aufgerissenen Augen.

„Jetzt überraschst du mich!“

„Vor dem Louvre ist bei Nacht so eine Art Ufo gelandet und der Gigant ist ausgestiegen.“

„Wenn der Herr der Finsternis dich bemerkt hat, bist du in großer Gefahr! Der hohe Herr hasst Zeugen, die nicht zu den Auserwählten zählen.“

„Du glaubst mir?“

„Warum nicht? Nur weil die Geschichte für normale Charakteren unglaubwürdig klingt?“

„Da sind Uniformierte mit Glatzen und kleinen Ohren aufgetaucht.“

„Das sind die Nachkommen seiner Brut! Nimm dich vor denen höllisch in Acht! Ich habe bei anderer Gelegenheit von der heimlichen Armee gehört.“

Der Junge runzelt die Stirn. Bringt die Tante die Zeiten nicht arg durcheinander?

„Was haben Menschen von heute mit der Spätantike zu schaffen?“

„Die Götter versuchen seit Anbeginn der Menschheit, uns für ihre territorialen Machenschaften zu missbrauchen. In jener Zeit sind die Franken die »Kleinohren« gewesen. Für den Diabolus existiert die Zeit nicht! Ich warne dich vor den Häschern!“

„Einer ist mir bis in den Zug gefolgt. Ich bin ihm nur knapp entkommen!“

„Ich habe mich über dein vorzeitiges Aussteigen gewundert. Jetzt ist mir so einiges klar. Große Vorsicht ist geboten! Am besten rufst du die Eltern aus einer Telefonzelle an. Und nur, wenn wir unterwegs sind.“

„Übertreibst du nicht ein bisschen?“

„Alle Telefongespräche laufen über Paris durch die Telecom-Zentrale unter den Tuilerien. Dort bist du leicht zu lokalisieren.“

„Das ist technisch unmöglich! Alle Gespräche zu belauschen, erfordert eine Unmenge an Personal.“

„Der Teufel verfügt über Techniken, die du dir in deiner kühnsten Fantasie nicht auszudenken vermagst. Und selbst im Traum reicht Vorstellungskraft nicht aus, um sich den Umfang auszumalen. Ich habe eine Freundin, die in »Comper am See« wohnt. Was hältst du davon, wenn wir die Nachfahrin der Viviane besuchen?“

„Ich kenne die Frau nicht!“

„Und weiter? Sie ist liebenswert und äußerst mitteilsam. Ihre Geschichten sind unbezahlbar.“

Marcels Laune sinkt auf den Tiefstpunkt.

„Ist dieser Tag nicht anstrengend genug für mich verlaufen? Ich sehne mich nach dem Meer.“

„Du verbringst sechs Wochen am Meer. Da fällt eine Übernachtung auf dem Lande nicht ins Gewicht. Der geschichtsträchtige Ort ist nur ein paar Kilometer entfernt. »Garçon«! Hat das Lokal ein öffentliches Telefon?“

„Neben den Toiletten, Madame.“

„Ich bin kurz weg.“

„Louane!“

„Keine Widerrede!“

Der Junge hofft, die Telefonverbindung kommt nicht zustande. Der Kellner tischt das Salzlamm auf.

„Die Dame möge sich beeilen. Das schmeckt kalt nicht besonders lecker und ist warm gestellt schnell zäh.“

„Danke! Meine Tante ist nur kurz weg.“

„Nehmen Sie zum Hauptgang einen Rotwein oder lieber einen Cidre?“

„Ein Apfelwein passt zur Gegend – ein Roter zum Lamm.“

„Wir haben den besten Cidre der Welt! Unser Nationalgetränk ist aus den handverlesenen Äpfeln der Inseln in diesem See hergestellt. Eine Tradition, die bis in die Urzeit zurückreicht, als Eva einen der Äpfel Adam reichte.“

„Das Paradies lag …“

„… auf »Avalon«, mein Freund! Beerenfrucht oder Apfelsekt?“

„In dem Fall einen paradiesischen Cidre.“

Zufrieden schlendert der Ober zur Theke. Der Stadtjunge fragt sich, was die Sichtweise auf Geschichte der Bretagne derart verändert hat. Schafft die Abhängigkeit zu Frankreich Minderwertigkeitskomplexe? Marcel winkt Louane zu, die im Gesprächsrausch die Welt um sich vergessen hat. Der Garçon serviert die Getränke. Der Junge verliert die Geduld und stochert zaghaft im Essen herum. Größere Bissen folgen, bis der Teller annähernd leer gegessen ist. Da kehrt die Schwester seiner Mutter endlich wieder an den Tisch zurück.

„Beeile dich! Das Fleisch ist kalt.“

„Und weiter? So verbrenne ich mir wenigstens nicht den Mund!“

„Lass mich raten – die Gute hat abgesagt.“

„Wie kommst du denn darauf?“

„So lange, wie ihr telefoniert habt, sieht das nach einer Absage aus.“

„Wir haben unsere Neuigkeiten ausgetauscht und ich habe ihr erst einmal von dir erzählt …“

„Am Telefon?“

Kreidebleich sinkt Marcel auf dem Stuhl nieder.

„Oh! Die »Tuilerien« habe ich völlig außer Acht gelassen!“

„Jetzt lesen mich die Teufelsglatzen bei deiner Freundin auf.“

„Den Nachnamen habe ich nicht erwähnt. Wie viele deines Namens leben in Frankreich pro Quadratkilometer?“

„Diejenigen davon, die eine Tante Louane haben: exakt einen!“

„Lass uns aufbrechen!“

„Und der Nachtisch?“

„Ein kleiner Kaffee tut – in der Tat – stets gut!“

Die Tante ordert zwei »Expressos« und Marcel grübelt nach Argumenten, sein Gegenüber umzustimmen.

„Du hast nichts zum Umziehen mitgenommen.“

„Sorge dich nicht um mich! Janine hat die gleiche Kleider- und Schuhgröße wie ich. Wenn wir uns besuchen, helfen wir uns immer gegenseitig aus.“

„Verbringen Sie Ihren Urlaub in der Gegend?“, fragt der Kellner und serviert die Crêpes.

„Ein geheimnisvoller Landstrich“, schwärmt Louane, „um sich zu erholen. Wir lieben die Zeugnisse aus der Urzeit!“

„Wenn das so ist, setzen Sie auf »Gavrinis« über und sehen Sie sich dort den »Cairn« an. Das Bauwerk ist sechstausend Jahre alt. Dort ist kurioserweise eine zerbrochene Stele verbaut, die ursprünglich vierzehn Meter hoch gewesen ist. Die Archäologen fragen sich, wie die Menschen damals das schwere Stück auf die Insel transportiert haben.“

„Das klingt hochinteressant und wir nehmen Ihren Vorschlag unbedingt in unser Programm auf.“

Die Bedienung eilt zum nächsten Tisch und der Junge schaut sein Vis-à-vis fragend an.

„Warum hast du ihn angelogen?“

„Ich traue dem Kerl nicht. Der Schnüffler ist ständig um uns herum.

Ich wette, der hat jedes Wort mitbekommen. Sei nach dem Vorfall im Zug überaus vorsichtig! Am Ende ist der Ausflug eine Falle. Wenn wir dort verschwinden, bekommt das niemand mit.“

„Jetzt übertreibst du! Der Kerl hat normale Ohren. Eher ein wenig zu groß und leicht abstehend. Der »Garçon« hat uns den Tipp aus Freundlichkeit gegeben.“

„Sein Zuvorkommen ist mindestens eine Provision von dem Bootsbesitzer Wert, der uns zur Insel übersetzt. Für den Fall, wir führen hin.“

„Besser das, als bei deiner Freundin in einen Hinterhalt zu geraten!

Heute Abend sind wir …“

„Ich zahle und wir fahren zu ihr! Die Gute wartet schon auf uns.“

Der Ober bringt die Rechnung.

„Ich habe zwei ermäßigte Karten für Sie. Die bekommen nur gute Kunden. Die Führung ist inklusive.“

Louane bezahlt.

„Was habe ich dir gesagt?“, lacht sich die Tante beim Verlassen des Lokals ins Fäustchen. „Der tätigt nebenbei Geschäfte.“

„Ob sein Chef was von den Nebengeschäften ahnt?“

Ein befestigter Feldweg nimmt die ausgeleierte Federung des alten Peugeots erheblich in Anspruch. Janine steht am Gartentor ihres ländlichen Reihenhäuschens, das aus Naturstein gemauert ist. Die Fassaden sind mit Efeu bewachsen. Die Fensterkanten muten mittelalterlich an. Über die mannshohe Mauer ragt eine Palme. Mit quietschenden Bremsen und einer Fehlzündung kommt der alte Wagen zum Stehen. Ohne die Handbremse anzuziehen, hechten die langjährigen Freundinnen freudestrahlend aufeinander zu. Die beiden Damen umarmen sich und der Junge zieht geistesgegenwärtig den Hebel nach oben. Mit gemischten Gefühlen nähert sich der Jugendliche der, aus seiner Sicht, betagte Dame.

„Was für ein Prachtkerl!“, juchzt Janine entzückt. „Warum verbringst du deine Ferien nicht bei mir?“

„Ich bin bevorzugt am Meer!“, beschwert sich Marcel.

„Das ist hoffentlich nur ein Scherz! Kommt rein! Ich sage du zu dir? Ich bin

Janine, und ich serviere uns erst einmal einen Aperitif, zum Auflockern.“ Als wenn Louane nicht unterwegs schon locker genug gewesen sei. Die Angetrunkene argumentierte ihre Weiterfahrt unentwegt mit der Behauptung, Alkoholverbot am Steuer bezöge sich nur auf Autobahnen.

Das bescheidene Wohnzimmer ist mit Jesusdarstellungen aller Art übersät. Repliken von Gemälden, Kruzifixe und winzige Figurinen tummeln sich auf den rustikalen Möbeln oder hängen an den weiß getünchten Wänden. Eine Katze liegt auf der Fensterbank und beobachtet, was im Garten vor sich geschieht. Der Raum riecht nach Weihrauch und altem Holz. Marcel schaut sich fassungslos um. Bei sämtlichen Kirchgängen hat der selten praktizierende Katholik nicht so viele Gekreuzigte, Gegeißelte oder Gesegnete gesehen, wie in diesem Zimmer versammelt sind. Manche sind modern, einige Einzelstücke scheinen aus dem Mittelalter zu stammen.

„Spielen wir eine Partie Domino?“, durchbricht die Freundin die Stille. Ohne auf eine Antwort zu warten, zieht Janine eine kleine Holzschachtel aus der Schublade ihres Buffets. Ein roter Punkt markiert eine vertiefte Stelle im Deckel, mit der sich das Kästchen öffnen lässt. Mit einer geschickten Drehung landen die Spielsteine seitenrichtig auf dem Tisch. Die Vierzigjährige verschwindet in einem Nebenraum und kommt mit einer dunklen Flasche wieder zurück.

„Auf das Wiedersehen entkorken wir einen »Pineau des Charentes«!“

„Was ist das?“, fragt der unbedarfte Junge.

„Ein mit Wein angesetzter »Cognac«. Ein wohlschmeckender Aperitif. Ich ziehe den Korken und du verteilst die Steine!“

„Mein von der Großstadt verdorbener Neveu und ich haben einen Glaubenskonflikt. Deshalb sind wir bei dir. Ich hege die Hoffnung, du überzeugst den Abtrünnigen von der mystischen Einmaligkeit unserer paradiesischen Bretagne.“

„Ich habe nur erwähnt von der Schule von eurer Theorie abweichend unterrichtet zu sein.“

„Mein Neffe sucht Viviane bei den Engländern!“

„So verdummen die Kinder an den angeblichen Bildungsstätten!“, ist Janine erbost. „Einer behauptet eine vorgebliche Wahrheit und alle anderen plappern der Lüge hinterher. Erwachsenen haftet das falsche Wissen wie karamellisierte Butter an ihren Hirnen fest.“

„Die Lehrer brauchen eine Basis für ihren Unterricht!“, versucht Marcel seine Ausbildung zu verteidigen.

„Viviane ist in »Comper vom See« zur Welt gekommen!“, sagt Tante Louane mit Nachdruck. „Nicht in Großbritannien, sondern vor Ort hat die »Herrin vom See« Uther Pendragon das Schwert »Excalibur« überreicht! Im Wald von »Paimpont«, südwestlich von uns aus gesehen, hat das Haus gestanden, in dem die Schwester der Elaine ihr Pflegekind Lancelot aufgezogen hat, nachdem sein Vater Ban von Bénoïc getötet worden ist!“

„Ihr Ehemann Gerren ist der Herr des hiesige Wehrdorfs gewesen“, ergänzt Janine. „Dessen Vater Solor DuLac ist der Urahn aller alteingesessenen Familien dieser Gegend. Der Brautvater ist der Heiland gewesen, der mit Beginn der Unruhen, die Gralsburg bei »Saint-Jean-de-Monts« bezogen hat.“

„Von einer Hochzeit des Gekreuzigten ist in der Bibel kein Hinweis zu finden!“

„Erinnere dich! Wer hat ihn am Kreuz besucht? Die Mutter Maria, Magdalena und Marthe, die Schwester des Lazarus, den der Erlöser von den Toten auferweckt hat und der ebenfalls nach Frankreich gegangen ist.

Die Gebeine bewahrt die Kirche in »Autun« in der »Bourgogne« auf.“

„Was hat das mit den Leuten vom See zu gemein?“

„Der See im Familiennamen bezieht sich auf »Jesus vom See Genezareth« und ist ein alter Adelstitel. Mit dem See hinter dem Schloss hat der Name keine Relation. Über viele Generationen lang haben auf dem Land seine Nachfahren immer wieder untereinander geheiratet, um die göttliche Blutlinie nicht zu verwässern.“

„Ein Familienstammbaum von Abkömmlingen der Allmächtigen?“, ist Marcel überrascht.

„Hast du ihm noch nichts von dem Gral erzählt?“, fragt Janine.

„Das hätte den Jungen restlos überfordert!“

„Ist dir unsere Geschichte nicht wichtig? Du bist einer von uns! Der Gral ist keine wandelnde oder grell leuchtende Schale gewesen.“

„Sind mit dem Gral nicht die Blutstropfen aufgefangen, die der Sohn Gottes am Kreuz vergossen hat?“

„In England hat ebenfalls einen Ort »Sulis« geheißen“, ergänzt Tante Louane, „das heutige »Bath«! Die Briten behaupten, dies sei der Ort aus der Artussage.“

„Der Gral ist der Gesalbte selbst. Nach der inszenierten Wiederauferstehung ist das »Agnus Dei«, wie erwähnt, mit seiner Frau und den drei Marien auf zwei kleinen Seglern über Ägypten vor den Römern geflohen. Auf dem zweiten Boot ist neben den anderen Mirjam von Bethanien mitgereist. Ihr hat der Messias den Auftrag gegeben, dessen Lehren zu verbreiten und eine Kirche zu gründen. Die drei Frauen sind in Südfrankreich in »Saintes-Maries-de-la-Mer« gelandet. Das Schiff mit Marthe, Jesus und Josef von Arimathia an Bord hat »Hispanien« umrundet und ist in dem »Sulis« vor Anker gegangen, das fernerhin in Erinnerung an die Ankömmlinge aus dem Orient »Lorient« genannt worden ist. Die Nachfahren der Besatzungen irren, da der Sinn des Unternehmens in Vergessenheit geraten ist, nach wie vor auf der Rückreise über Land in die alte Heimat heute als Zigeuner durch Europa.“

„Das ist unhaltbar. Artus hat mehr als vierhundert Jahre später als Jesus gelebt! Oder stimmten deren Geburtsjahre überein?“

„Der Friedensfürst ist unvorstellbar alt geworden“, setzt Janine ihren Vortrag fort, „wenn der Heiland nicht am Ende weiterhin am Leben ist.

Annähernd fünfhundert Lebensjahre hat unser geistiger Meister und heimlicher König in der Bretagne gewirkt. Das erklärt, warum wir so gläubig und die katholischsten unter den Katholiken sind! Nach dem Tod seiner Frau, der schwarzen Martha von Bethanien, ist der Sohn Gottes auf der Suche nach »Maria«2 Magdalena in Richtung Pyrenäen weitergezogen. Dessen Nachkommen haben sich im Laufe der Zeit über die Königshäuser in allen Ländern Europas ausgebreitet.“

„Die Ritter der Tafelrunde haben den Herzenswunsch gehegt“, übernimmt Louane das Gespräch, während Janine an ihrem Tee nippt, „ihm zu dienen. Der Nazarener hat nur Rechtschaffenen gewährt, sich ihm zu nähern. Der Verkünder der Liebe hat keine Raufbolde um sich gewollt. Besonnenheit, Nächstenliebe und Mäßigung haben die Gralsritter ausgezeichnet.“

„Für was benötigt ein höheres Wesen Soldaten?“, ist Marcel sprachlos.

„Die »Hüter des Heiligen Grals« sind seine Leibwächter gewesen.“

„Jesus hat hübsche Töchter gehabt“, grinst Janine.

„Selbst der Teufel hat sich an einer vergangen“, sagt Louane trocken. „Die Gute hat ihr Kind sofort taufen lassen, weshalb sich ihr Sohn Merlin auf die gute Seite geschlagen hat.“

„Der Druide ist getauft worden?“, fragt der Junge ungläubig.

„Endlich verstehst du uns!“, freut sich Janine.

„Ich sehe, worauf ihr hinaus zielt, aber nicht, was ihr mit euren Räubergeschichten zu bezwecken gedenkt.“

„Du bist halber Bretone. In dir fließt das Blut des Herrn!“

„Ist sein Blut nicht in uns allen? Zumindest in uns Christen?“

„Jesus ist der Sohn Gottes und hat uns zu Nachfahren Gottes gemacht.“

„Trinkt nicht so viel von dem »Pineau«!“, ermahnt Marcel die leicht angetrunkenen Frauen. „Sonst erlangt ihr den Status von Heiligen! Davon abgesehen, sind meine Vorfahren Karl Marx und Martin Luther. Die beiden Wegbereiter anderen Denkens sind die Ahnen der Deutschen, warum dieses Volk gegen Kommunismus und Religionen ist. Welches Kind interessiert sich für das, was die Eltern treiben oder getrieben haben?“

„Eben nimmt uns der Frechdachs auf den Arm!“, schmunzelt Janine.

„Oh, jetzt habt ihr mich ertappt!“

„Was wir dir über unsere Halbinsel erzählt haben“, spielt Louane die Ernsthafte, „entspricht der Wahrheit.“

„Ich gehe eher von der Realität zweier trunkener Damen aus, die einem Urlauber den Glauben an die Historie der Menschheit rauben!“

„Dem Jungen ist nicht zu helfen!“, bemängelt seine Tante.

„Was meinst du“, steht Janine auf und hebt ihren Zeigefinger hoch über ihren Kopf, „weshalb die Bretagne bestrebt ist, sich von Frankreich zu trennen? Eines Tages stehen Artus und Merlin wieder auf und erheben das Land zum Zentrum der Welt!“

„Das dauert noch ein paar Tausend Jahre!“, zieht Marcel die enthusiastischen Frauen weiter auf. „Ich denke, ihr habt für eure Behauptung keinerlei Beweise.“

„Beschäftigen dich mehr mit deiner Herkunft, statt dich nur an den Strand zu legen.“

„Schau dir die Sehenswürdigkeiten an! Janine fährt dich gerne zu den Schauplätzen der Geschichte. Du bestaunst viele Zeugen aus Gestein, um dir ein Bild der eigenen Vergangenheit vor Augen zu führen.“

„Die Menhire sind Bestandteile einstiger Großbauwerke“, steigert sich Louane in das Thema rein. „Die kleinen Steine sind beim Bau von Burgen und Ortschaften entwendet worden. Die ursprünglichen Aufbauten aus Holz sind verbrannt oder verfallen. Die Quader sind durch die Kräfte der Natur erodiert. Wissenschaftler sagen, primitiven Völker haben die Monolithen mühsam durch Europa transportiert, um diese für ihre Götter hinzustellen. Gott selbst hat jene Säulen aus den Felsen gebrochen oder aus Beton gegossen. Nach über sechstausend Lenzen ist von den Bauwerken nichts geblieben.“

„Angenommen ihr habt recht mit den Vermutungen, welche Gebäude haben eurer Meinung dort gestanden?“

„Keine anderen als heute!“, begeistert sich Janine über Marcels einlenken. „Da standen Bahnhöfe, Supermärkte, Verwaltungsgebäude, Verteidigungsanlagen und Wohnhäuser.“

„Da hat sich ein minimaler Denkfehler eingeschlichen! Die technische Entwicklung hat sich stets auf den Kenntnissen der Vorfahren aufgebaut und sich fortwährend weiterentwickelt. Katastrophen und Krieg haben immer wieder für Verschlechterungen gesorgt.“

„Das gilt für uns niedere Kreaturen“, bleibt Janine stur, „aber nicht für die Allmächtigen!“

„Der Mensch hat durch Konflikte und Seuchen schwere Rückschläge hingenommen“, ergänzt Tante Louane. „Ein Gott erkrankt nicht! Ein Gott stirbt im Kampf oder lebt ewig!“

„Wie lässt sich eure Vielgötterei mit katholischem Gedankengut vereinbaren?“

„Das ist in der Bretagne eine lang gehegte Tradition. In der Kirche glauben wir an den einen Gott und privat an die alten Überlieferungen.“

Der Junge wacht von innerer Unruhe getrieben auf. Wo ist der Lichtschalter? Im Schein einer unzureichenden Beleuchtung offenbart sich ihm ein fremder Raum. Vor der Couch stehen seine Schuhe. Eine kratzige Zudecke strömt einen undefinierbaren Geruch aus. Sämtliche Kleidungsstücke hat der Schlaftrunkene noch an. Die ungewohnte Umgebung und der Restalkohol schlagen auf sein Gemüt. Wo ist die Toilette?

Der Aufstieg lärmt unter den wieder angezogenen Schuhen. Janines Stimme dringt an sein Ohr.

„… bei mir! Gleich morgen früh, holst du ihn ab!“

In welche verlogene Welt ist Marcel da nur geraten?

„Ich passe auf ihn auf. Bei mir kommt so schnell nichts weg! Schon gar nicht mitten in der Nacht!“

Marcel packt die Panik. Die saubere Freundin der Tante unter einer Decke mit diesen merkwürdigen Gestalten? Bei dem ganzen Unfug, den die Märchentante erzählt hat, ist ihr Verhalten vorauszusehen gewesen. Das Telefonat ist der eindeutige Beweis. Nachdenken! Einmal tief durchatmen. Auf keinen Fall in der Falle bleiben! Louane zu wecken, ist ihm verwehrt. Die Treppe erzeugt beim Betreten einen Höllenlärm. Ein winziger Hohlraum unterhalb der Stufen hält als Unterschlupf her. Ein Gestell mit Schürhaken und ein Ascheimer bieten ihm zusätzlichen Sichtschutz. Die Zeit vergeht nicht. Aus dem Zimmer nebenan kommen nicht zuzuordnende Geräusche. Endlich zieht Janine schlafwandlerisch an ihm vorbei.

„… bekommt ihn schon!“, flüstert die Verräterin vor sich hin.

Das Holz über ihm knarrt. Eine Tür gähnt in ihren nicht geölten Angeln. Kurz darauf herrscht Stille. Der Junge schleicht zur Ausgangstür, dreht bedachtsam den Schlüssel um und entweicht ins Freie. Die Katze nutzt die Gelegenheit und verschwindet in der Finsternis. Dicke Regentropfen prasseln herab. Der Ausreißer schnappt sich einen Schirm, der neben der Eingangstür in einem Eimer steckt und huscht mit dem für ihn zu kleinen Regenschutz in den Garten. Dankenswerterweise ist das Tor in die Freiheit nicht abgesperrt. In welcher Richtung liegt die nächste Stadt? In der Dunkelheit verliert Marcel nach ein paar wenigen Metern die Orientierung. Hauptsache weit genug weg von dem Irrenhaus. Eine Taschenlampe hätte im Wohnzimmer auf der Anrichte gestanden, schießt ihm durch den Kopf.