12,99 €
Nach einer lebensgefährlichen Reise drohen Silla Nordvigs Träume von einem einfachen Leben zu zerbrechen. Geschlagen, verraten und erschüttert von der Enthüllung ihrer wahren Herkunft flieht sie mit Reynir Galtung, dem skrupellosen Anführer der Bloodaxe Crew, aus Kopa. Doch als sie sich gemeinsam verstecken müssen, entdeckt Silla bald, dass auch Rey Geheimnisse hat. Gefangen in einem Haus mit einem mörderischen Mann, den sie zu kennen glaubt, schmiedet Silla einen neuen Plan: Sie will die Magie, die durch ihre Adern fließt, kontrollieren, um ihre Schwester zu retten. Doch zuvor muss sie sich ihrem bisher größten Gegner stellen: ihren inneren Dämonen. Saga Volsik hat nichts mehr zu verlieren. Man hat ihre Familie getötet. Ihren Thron gestürzt. Und nun zwingen sie sie zur Heirat. Doch sie schwört sich, die Pläne der Königin Signe zu durchkreuzen. Das einzige Problem? Der gutaussehende zagadkische Würdenträger, der zu viele ihrer Geheimnisse kennt. Silla und Saga müssen die Kraft finden, sich ihrem Schicksal zu stellen, um das Land vor dem Chaos zu bewahren. Doch dann spinnen sich dunkle Fäden durch Íseldur und längst tot geglaubte Magie beginnt zu erwachen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Demi Winters
Kingdom of Claw
The Ashen Series
(Band 2)
Übersetzt von Sandy Brandt
Kingdom of Claw (The Ashen Series) – Band 2
KINGDOM OF CLAW
Copyright © 2025 by Demi Winters
First published by the Author
Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency
All Rights Reserved
First published in the United States by Dell, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC
Arranged by Agence Hoffman
Translation Copyright © 2025 by VAJONA Verlag GmbH
Übersetzung: Sandy Brandt
Korrektorat: Aileen Dawe-Hennigs und Susann Chemnitzer
Umschlaggestaltung: Stefanie Saw
Mapmaker: Megan S. H. Wyreweden
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für diejenigen, deren sicherer Raum zu ihrem Gefängnis geworden ist. Ihr seid mutig. Ihr seid stark.
Ihr seid Kriegerinnen und Krieger.
Anmerkung der Autorin: Viele der Wörter und Namen in diesem Buch stammen aus dem Altnordischen und/oder Isländischen; die Zeichen ð und þ wurden zur besseren Lesbarkeit in »th« und æ in »ae« umgewandelt.
Bjáni – byan-ee
Dúlla – doo-la
Eystri – ay-stri
Eisa – ay-sa
Flíta – flee-ta
Hevrít – hev-reet
Hjarta – h-yar-ta
Hver – kveh-r
Hvíta – kvee-ta
Íseldur – ees-eld-oor
Klaernar – klite-nar
Kunta – koo-nta
Lébrynja – lyeh-bryn-ya
Myrkur – mihr-koor
Nordur – nor-door
Reykfjord – rake-fyoord
Róa – r-oh-a
Signe – sig-nuh
Skjöld – shk-ul-d
Skógungar – shk-oon-gar
Slátrari – sl-ow-trar-ee
Stjarna – stya-tna
Sudur – soo-door
Urka – oor-ka
Vestir – vest-eer
Berskium – Pulver, das in der Nähe von Reykfjord abgebaut wird; wird von den Klaernar eingenommen, um ihre große Statur und Stärke zu erhalten.
Bjáni – Narr; eine Beleidigung.
Brennsa – Feuerwhiskey
Dúlla – ›Puppe‹ – Kosename für Frauen
Eisa Volsik – ehemalige Prinzessin von Íseldur; wurde von König Ivar ermordet und ihre Leiche in den Gruben der Burg Askaborg auf einen Pfeiler aufgespießt.
Eystri – das östlichste Gebiet von Íseldur.
Flíta – phönixähnliche Schmetterlinge, deren Flügel beim Fliegen leuchten. Im Alter gehen sie in Flammen auf und aus der Asche entsteht eine Raupe.
Galdra – magiebegabte Person; auch Asche genannt; von König Ivar geächtet.
Galdur – Essenz der Magie
Gothi – ein Priester der Ursinischen Religion.
Hábrók – Gott des Kampfes, der Ehre, des Glücks und des Wetters; einer der alten Götter von Íseldur.
Hevrít – ein Íseldurischer Dolch mit langer Klinge.
Hindrium – spezielles Metall, das die magischen Fähigkeiten der Galdra hemmt.
Hóra – Hure
Illmarr – geschuppter Vampir des Meeres; kann mit Aalblut angelockt und mit Vogelbeerpfeilen getötet werden.
Íseldur – Königreich von Eis und Feuer; der Inselstaat, in dem dieses Buch spielt.
Ivar Eisenherz – der neue König von Íseldur, der vor siebzehn Jahren die Krone von König Kjartan Volsik an sich gerissen hat.
Jökull – ein Berg in der Nähe von Kalasgarde, mit einer Reihe von Gletscherterrassen. Der örtlichen Legende nach sind dies die ›Schilde‹ von Sunnvald.
Kalasgarde – eine Stadt im Norden von Íseldur, in den Nordur-Ländern gelegen.
Karthia – eine Insel im Süden von Íseldur.
Kjartan Volsik – ehemaliger König von Íseldur; von König Ivar mit der Blutadler-Methode in den Gruben der Burg Askaborg ermordet.
Klaernar – König Ivars spezialisierte Soldaten. Auch bekannt als die Klaernar des Königs.
Kopa – große Steinstadt im nördlichen Teil des Gebiets von Eystri.
Kressen – Taler
Kunta – Fotze; eine Beleidigung
Lébrynja – spezielle, leichte Rüstung aus winzigen lederartigen Schuppen. Wird von der Blutaxt Bande getragen.
Letting– tödliche Veranstaltung, bei dem die Galdra laut den Klaernar Buße tun.
Malla – Göttin der Liebe, des Krieges und des Todes; Name eines der Monde; eine der alten Götter von Íseldur
Marra – Göttin des Wissens, der Heilung und des Friedens; Name eines der Monde; eine der alten Götter von Íseldur
Medovukha – ein zagádkisches alkoholisches Getränk, das Met ähnelt und aus fermentiertem Honig hergestellt wird.
Myrkur – Gott des Chaos und der Dunkelheit; einer der alten Götter von Íseldur.
Nordur – das nördlichste Gebiet von Íseldur.
Norvaland – Insel nordöstlich von Íseldur; wurde von Ivars Vater Harald gestürzt, der nun auf dem Thron sitzt.Róa – ein in Íseldur serviertes Heißgetränk, das aus der Rinde des Róabusches hergestellt wird.
Saga Volsik – ehemalige Prinzessin von Íseldur; wurde von König Ivar entführt und als sein Mündel aufgezogen; ist mit seinem Sohn verlobt Prinz BjornSkald – ein Dichter, der eine Art urtümlicher Poesie verfasst, die oft die Taten vergangener und gegenwärtiger Könige übertreibt.
Skarpling – eine kleine, mausgroße Kreatur mit Stacheln auf dem Rücken.
Skjöld – ein getrocknetes Blatt, das zur Behandlung von Kopfschmerzen eingenommen wird.
Skógungar – ein Waldläufer; ein friedliches baumartiges Wesen, das in den westlichen Wäldern lebt.
Slátrari – ›der Schlächter‹; ein Mörder, der Menschen von innen heraus verbrennt.
Sólas – Íseldurisches Münzgeld
Svalla Volsik – ehemalige Königin von Íseldur; sie wurde von König Ivar ermordet und ihr Leichnam auf einer Säule in den Gruben der Burg Askaborg aufgespießt.
Stjarna – ›Mutter der Sterne‹; Sunnvalds Frau; Göttin der Weberei, der Fruchtbarkeit, der Führung; eine der alten Götter von Íseldur.
Sudur – das südlichste Gebiet von Íseldur; beherbergt die Hauptstadt.
Sunnavík – Hauptstadt von Íseldur, wo sich die Burg Askaborg befindet.
Sunnvald – der Sonnengott-König der alten Götter von Íseldur; Gott der Feuer und Macht.
Thrall – versklavte Person; im Königreich Íseldur werden sie meist aus Norvaland hergebracht und an ihrem inneren Handgelenk markiert.
Urka – ein großes Volk östlich von Íseldur; hier entstand die Linie der urkanischen Könige, zu denen auch Ivar Eisenherz gehörte.
Ursir – der Bärengott, der von König Ivar und anderen Urkanern verehrt wurde; der Glaube wurde den Íseldurern aufgezwungen.
Vampirhirsche – fleischfressende Hirsche, die Säugetiere jagen und ihnen das Blut aussaugen.
Vestir – das westlichste Gebiet von Íseldur; beherbergt die westlichen Wälder.
Wolfsspinne – große Spinne mit zotteligem, grauem Fell
Zagádkia – geheimnisvoller Inselstaat südlich von Íseldur
Silla Nordvig flüchtete, nachdem Krieger der Königin ihren Vater getötet hatten, und versuchten, sie gefangen zu nehmen. Die letzten Worte ihres Vaters schickten sie auf die Suche nach einem Schildhaus in der Stadt Kopa, wozu sie die Straße der Knochen bereisen musste. Nachdem sie die erste Etappe der Reise nur knapp überlebt hatte, kletterte Silla in einen Versorgungswagen, ohne zu wissen, dass dieser der Blutaxt Bande gehörte, die auf dem Weg war, einen gefährlichen Auftrag in der Stadt Istré (westlich von Kopa) zu erledigen.
Nach ihrer Entdeckung handelte Silla einen Deal mit ihrem Anführer Reynir ›Axtauge‹ Bjarg aus, um ihm dabei zu helfen, Informationen von Kraki, dem ehemaligen Anführer der Bande, zu erhalten und sie im Gegenzug einen Teil der Strecke mitzunehmen. Dabei erfuhr Silla jedoch, dass Rey einen falschen Nachnamen (Galtung) benutzt hatte, und sie erpresste ihn mit dieser Information, sie bis nach Kopa mitzunehmen. Trotz ihrer feindlichen Beziehung offenbarte Rey Silla, dass die Skjöldblätter, die sie gegen Kopfschmerzen einnahm, gefährlich waren und süchtig machten. Als sie beschloss, die Einnahme einzustellen, unterstützte Rey sie und hielt ihre Abhängigkeit geheim.
Zu Sillas Überraschung hatten die Blätter Halluzinationen von einem kleinen, blonden Mädchen hervorgerufen, das ihr überallhin folgte. Zusätzlich verbargen die Blätter ein großes Geheimnis – Silla war eine Galdra, eine Gruppe von magischen Wesen, die von Íseldurs Königin gejagt und hingerichtet wurden. Während einer Konfrontation mit Skraeda, die Auftragsmörderin der Königin, erfuhr Silla, dass sie Eisa Volsik war; eine Prinzessin, von der man glaubte, sie sei siebzehn Jahre zuvor hingerichtet worden. Ebenso fand sie heraus, dass es sich bei dem Mädchen, das sie halluzinierte, um ihre ältere Schwester Saga handelte.
In der Zwischenzeit hatte Silla eine geheime Beziehung mit Jonas ›dem Wolf‹ Svik begonnen. Als Skraeda versuchte, Silla gefangen zu nehmen, entdeckte Jonas, dass Silla die Wahrheit über ihre Vergangenheit vor ihm verheimlicht hatte. Er war verletzt, willigte aber ein, ihr zu helfen. Doch als die Krieger der Königin erneut hinter Silla her waren und Jonas’ jüngerer Bruder getötet wurde, änderte sich alles. Jonas fühlte sich von ihr verraten und benutzte die Skjöldblätter, um sie zu betäuben und sie den Klaernar in Kopa zu übergeben.
Als sie von den Klaernar zum Kommandanten Valf gebracht wurde, kämpfte Silla um ihr Leben, schlug ihm mit einer Statue den Schädel ein und kletterte aus dem Fenster. Sie rannte zu dem Mann, der ihrem Vater von den Schildhäusern erzählt hatte, und fand ihn tot vor, während Skraeda auf sie wartete. Silla und Skraeda kämpften; dabei tötete Silla die Auftragsmörderin schließlich. Als sie das Haus verließ, warteten die Klaernar auf Silla und verfolgten sie in den Wald an der Grenze zu Kopa.
In der Zwischenzeit stellte sich heraus, dass Rey der rauchschwingende Galdra war, der auf der Straße der Knochen Menschen tötete. Als er einen versteckten Eingang zu Kopa betrat, um Silla zu helfen, war er gezwungen, seine Magie gegen eine Gruppe von Klaernar einzusetzen. Leider entkam einer von ihnen, bevor Rey ihn töten konnte. Rey fand Silla vor den anderen und zog sie in ein Gebüsch, um sie vor Entdeckung zu schützen.
Gemeinsam entkamen Silla und Rey aus Kopa, Rey mit dem Ziel, sich mit der Blutaxt Bande in Istré wiederzuvereinigen, und Silla mit einem groben Plan, nach Norden zu einem Ort namens Kalasgarde zu gehen. Am Ende von The Road of Bones hatte Silla ihre Identität gegenüber Rey nicht preisgegeben, so wie Rey seine Identität gegenüber Silla nicht preisgegeben hatte.
In Askaborg wurde Saga zu einem Treffen mit Königin Signe gerufen, bei dem sich herausstellte, dass Saga einen Monat lang ihre Gemächer nicht verlassen hatte. Die Königin teilte Saga mit, dass sie zu den Mahlzeiten wiederkommen und ihren Platz an der Seite ihres Verlobten einnehmen solle. Als sie in ihre Gemächer zurückkehrte, geriet Saga in Panik und verschwand in einem Geheimgang, bevor jemand sie sehen konnte. Während sie sich versteckte, belauschte sie das Gespräch von Signe und Maester Alfson im Raum dahinter und erfuhr, dass ihre Schwester Eisa am Leben war.
Silla Nordvig hatte einst geschworen, dass keine Macht der Welt sie in den wahren Norden von Íseldur locken könnte, aber offensichtlich hatte sie den verdrehten Sinn der Götter für Humor unterschätzt. Denn hier war sie nun, auf einem Pferd mit Axtauge, genau auf diesen Ort zusteuernd.
Die schwarzen Wände des Canyons stiegen zu beiden Seiten auf, als Pferd neben einem flachen Fluss entlangging. Die Natur hatte versucht, sich den Raum zurückzuerobern, und Moos und Grün bedeckten die Flussufer und die freiliegenden Felsen. Doch das schwarze Vulkangestein dominierte, die steilen Bergwände waren von rauer Schönheit.
Sie waren nun schon zwei volle Tage durch die Schlucht geritten. Die Sonne ging auf und unter, die Welt bewegte sich weiter, als wäre sie nicht in Stücke gerissen worden. Doch mit jedem Tag, der verging, sank Sillas Laune tiefer. Langsam wurde ihr klar, dass es kein Kopa geben würde.
Stattdessen gab es Kalasgarde.
Silla atmete aus. Rey behauptete, er kenne Leute in Kalasgarde, die ihr helfen könnten, sich vor der Königin und den Klaernar zu verstecken. Er dachte, es wäre sicher für sie. Aber Silla wusste es besser; ihr törichtes Herz war schon zu oft verletzt worden. Die Wahrheit war, dass es keinen sicheren Ort für sie gab. Nicht jetzt, da sie ihren wahren Namen kannte.
Eisa Volsik.
Erbin von König Ivars Erzfeind. Gejagt von Königin Signe wegen ihrer mysteriösen, boshaften Pläne. Politischer Spielball für die Mächtigen. Leichte Belohnung für die, die es nicht waren. Der Name brachte nichts als Elend. Mit angespannter Brust umklammerte Silla das Sattelhorn fester, bis ihre Knöchel weiß wurden.
Nicht sie. Nicht sie. Nicht sie.
Silla holte tief Luft. Atmete langsam aus. Kopa war Matthias’ Entscheidung gewesen, und Kalasgarde war die von Rey. Im Laufe der Tage wuchs in Silla der Gedanke, selbst eine Wahl zu treffen. Vielleicht gab es für sie bessere Möglichkeiten als die nördliche Wildnis dieses Königreichs. Ein Schiff, das Íseldur in Richtung Süden verließ, hatte etwas Angenehmes an sich. Sie könnte auf den südlichen Kontinent oder nach Karthia gehen, vielleicht. Irgendwohin, wo sie in der Dunkelheit verschwinden konnte.
Vorerst hatte sich Silla mit Reys Plan abgefunden. Istré für den Moment akzeptiert. Es war einfacher, nicht selbst entscheiden zu müssen. Eine Erleichterung, wenn sie ehrlich war. Aber zwischen den schwarzen Wänden des Canyons hatte Silla nichts als Zeit zum Nachdenken. Und dabei erinnerte sie sich an ihre Namen.
Ilías Svik. Matthias Nordvig. Skeggagrim.
Gute Männer, alle ihretwegen tot. Vielleicht war das Leben ihre Strafe. Jeden Morgen mit dem Schmerz ihres Blutes an den Händen aufzuwachen, mit dem Schmerz von Jonas’ Verrat, der sich in ihre Seele eingebrannt hatte. Zu wissen, dass Metta im Gefängnis der Klaernar war und unter den Händen ihrer Entführer litt.
Sicher, Silla trug die blauen Flecken von Kopa davon – die Schläge waren so heftig gewesen, dass ihr Auge angeschwollen war und ihre Rippen bei jeder kleinen Bewegung schmerzten. Dennoch konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie weitaus Schlimmeres verdient hatte.
Sie bogen um eine Kurve, und die Schlucht wurde breiter. Die unteren Ebenen der Wand waren an einer Stelle erodiert und hinterließen eine dünne schwarze Spitze, die von einem breiteren Felsen gekrönt wurde. »Sie nennen es Hábróks Hammer«, sagte Rey hinter ihr. »Hier werden wir heute Nacht unser Lager aufschlagen. Dort gibt es einen Überhang, unter dem wir Schutz suchen können. Viel Gras für Pferde …«
Ihre Gedanken schweiften zu dem Grollen seiner Stimme in ihrem Rücken ab. Es war unmöglich, auf dem Pferderücken Abstand zu halten, und in ihrer Erschöpfung hatte sie den Versuch aufgegeben. Obwohl sie es niemandem außer sich selbst gegenüber zugeben würde, war seine Anwesenheit – eine solide Wand bestehend aus diesem Krieger – beruhigend.
»Silla?«
Sie schüttelte den Kopf und versuchte, den Dunst zu vertreiben, der ihren Verstand trübte. Rey war abgestiegen und starrte auf die kleine, halbmondförmige Narbe in ihrem Augenwinkel.
Hör auf, sie anzustarren!, wollte sie schreien. Diese Narbe war ihre Verdammnis. Sie hatte den Männern bei Skarstad ihre Identität verraten; hatte ihren Vater umbringen lassen. Silla wandte den Kopf und stieg vom Pferd ab.
In den letzten Tagen, die sie gemeinsam unterwegs waren, hatten sie und Rey eine Art Routine entwickelt. Gedankenlos sattelte Silla Pferd ab und bürstete es, während Rey Vorräte aus dem Sattelsack holte und das Lager aufbaute. Als das Fell des Pferdes glänzte und sie zu einem saftigen Grasfleck gewandert war, hatte Rey schon ein Feuer entzündet. Er war bemerkenswert geschickt darin, ein Feuer zu entfachen, selbst mit dem nassesten Holz.
Silla sank auf das Gras. Sie zerrte an einem verirrten Faden, der von ihrer Kutte baumelte. Es war Reys Tunika, ebenso wie die Reithose, die sie an ihrer Taille festgebunden hatte. Seine Kleidung verschlang sie, aber das machte nichts. Sie hatte das rote Kleid verbrannt, in das Valf sie gesteckt hatte. Wenn sie nur die Erinnerung an seine Hand verbrennen könnte, die ihren Hals umklammerte, während die andere zu ihrem Gürtel wanderte.
Schrei, Liebes. Ich genieße es so sehr.
Die Stimme von Rey lenkte ihre Gedanken ab. »Morgen werden wir an einem Dorf vorbeikommen. Ich werde dort anhalten und einen Falken nach Norden zu den Kriegern schicken, die dich abholen werden.« Er hielt inne und musterte sie. »Und wir werden Istré nach Einbruch der Dunkelheit erreichen.«
Sillas Schläfen pochten bei dem bloßen Gedanken an Istré. Tagelang hatten sie sich zu zweit durch diese Schlucht gequält. Hier hatte sie sich in einer gefühllosen Existenz eingerichtet. Nicht ganz sicher, aber auch nicht ganz in Gefahr. Es war ein Dazwischen. Aber die Worte Dorf und Menschen ließen ihre Überlebensinstinkte hochschnellen und ihren Puls unregelmäßig schlagen.
Eine bedrückende Stille lag in der Luft, und Silla wusste, dass Rey seine Worte wählte. »Du musst heute Abend mehr essen, Silla.« Er zog ein paar Streifen getrockneten Elchs aus seiner Tasche und bot sie ihr an.
Silla starrte auf seine ausgestreckte Hand. Bei dem Gedanken an Essen drehte sich ihr Magen um, und der Gedanke an Kalasgarde war wie ein Anker, der sie nach unten zog, nach unten, nach unten. Sie fühlte sich verloren und sehr müde. Nicht nur ihr Körper, sondern auch ihre Knochen.
Ihre Seele.
Aber sie nahm den getrockneten Elch trotzdem. Sie zwang sich, in ihn hineinzubeißen. Was würde sie nicht für ihre Skjöldblätter geben, um für einen Moment oder zwei von allem weg zu sein. Würde es in Istré eine Apotheke geben? Aber Silla hatte all ihr Hab und Gut verloren, einschließlich der Sólas. Aber Rey … er bewahrte Münzen in einem Beutel an seinem Kampfgürtel auf, andere im doppelten Boden von Pferds Satteltasche. Sie könnte ein paar klauen. Sich zum Apotheker in Istré schleichen.
Der abscheuliche Gedanke erfüllte sie mit Selbstverachtung. Rey hatte ihr in Kopa das Leben gerettet. Sie konnte ihn nicht bestehlen. Aber die Sehnsucht war stärker als sie es seit Tagen … Wochen empfunden hatte.
Wie sollte sie sich ohne die Blätter von ihren düsteren Gedanken ablenken? Früher hatte sie Jonas gehabt, der ihr zur Flucht verholfen hatte. Aber wie die Blätter hatte auch er nichts als Elend gebracht. Alle Verbände für Sillas Kummer waren nun weg, und es tat weh, bei allen Göttern.
Rey war damit beschäftigt, einen seiner vielen Dolche zu schärfen, aber sie spürte seinen Blick auf ihrer Haut. Silla schaute in seine Richtung. Mit den Flammen, die sich in seinen Augen spiegelten, dem scharfen Kiefer und den breiten Beinen sah der Mann aus wie ein bösartiger Gott, der seine Klinge schärft. Völlig unbeeindruckt von allem. Undurchdringlich für menschliche Emotionen. Brutal gut aussehend.
Ihr Blick wanderte über seine breite Statur und blieb an seiner Hüfte hängen. »Darf ich?«, fragte sie und nickte in Richtung des Flachmannes.
Rey zögerte, bevor er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete und um das Feuer herum lief. Er hockte sich auf ihre Höhe und drückte ihr den Flachmann vorsichtig in die Hand. »Geh es langsam an«, sagte er, wobei sich eine Furche zwischen seinen Brauen vertiefte.
Sie wollte die Hand ausstrecken. Die Linie wegstreichen. Stattdessen hob sie die Flasche an ihre Lippen und nahm einen großen Schluck. Er brannte sich einen Weg durch ihre Kehle und ließ sie zusammenzucken. Dennoch starrte Rey so intensiv auf ihre Narbe, dass sie sich klein machte.
»Warum starrst du sie an?«, fragte sie und blinzelte gegen das Brennen des Whiskeys an. »Meine Narbe?«
Rey schien aus seiner Träumerei aufzuschrecken. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und wirkte einen Moment lang etwas verunsichert. »Es erinnert mich«, sagte er, »an ein längst vergangenes Leben.«
Silla dachte einen Moment lang über seine Worte nach, bevor sie sich einen weiteren Schluck Brennsa gönnte. »Erzähl mir davon«, sagte sie.
Rey lehnte sich zurück und ließ seinen Dolch über einen Schleifstein gleiten. »Ich möchte lieber nicht daran denken.«
»Schlechte Erinnerungen?«, fragte sie, obwohl er natürlich nicht antwortete. Ranken von Wärme entfalteten sich in ihrem Bauch und sandten winzige Vibrationen durch sie hindurch. Silla nahm einen weiteren großen Schluck des Whiskeys und schloss die Augen, als er seine Wirkung entfaltete. Es war wie ein Ausatmen des ganzen Körpers, ihre verworrenen Sorgen lösten sich, das Brennen der Schuldgefühle wurde gelindert.
Sie hob die Flasche für einen weiteren Schluck an.
»Silla.« Reys Stimme hallte durch die Luft. Sie war gereizt und warnend zugleich. Silla ignorierte ihn natürlich. Er wollte, dass sie verantwortungsbewusst und vernünftig war, obwohl sie nur vergessen wollte.
Sie erhob sich auf die Füße und streckte ihren Rücken. Sie fühlte sich schon besser. Fast glücklich. »In einem längst vergangenen Leben hatte ich Hühner«, sagte sie. Der Brennsa durchströmte sie mit einem leisen Rhythmus, der Silla Lust auf Bewegung machte. »Und eine Schaukel. Und ich habe ein Spiel gespielt. Willst du es spielen, Axtauge?«
Er blickte sie finster an. Das Licht des Feuers fing seine schwarzen Locken ein, das warme Braun seiner geschwungenen Wangenknochen. Reys normalerweise akkurat gestutzter Bart war seit einiger Zeit nicht mehr angerührt worden, und Silla war der Meinung, dass die letzten Tage auch für ihn eine Herausforderung gewesen sein mussten. Eine bessere Frau würde seinen Bart für ihn stutzen – würde versuchen, ihm die Last zu erleichtern.
Sie war keine bessere Frau.
Silla nahm einen weiteren großen Schluck von dem Whiskey und hustete. Er brannte in ihrer Kehle, in ihrer Lunge, in ihrem Magen, aber sie lernte, diese Art von Unbehagen zu schätzen – es war eines, das sie kontrollieren konnte. Und sie entschied sich dafür.
»Komm schon, Axtauge. Hab‘ Spaß mit mir.« Ihre Hand streckte sich aus, und sie sehnte sich danach, dass er sie ergriff. Dass er die strengen Barrieren, die er aufrechterhielt, fallen ließ. Nach einem Moment wurde klar, dass er nicht die Absicht hatte, sich ihr anzuschließen. »Gut«, murmelte Silla. »Dann spiele ich eben allein.«
Sie breitete die Arme aus und blickte nach oben. Die Dunkelheit war hereingebrochen, die Sterne sprenkelten den Himmel über ihr. Neugierige Pflanzen entfalteten ihre nach Mondlicht lechzenden Tentakel aus Buchten in den Wänden des Canyons, deren Leuchten ihr das Gefühl gab, sich in ihrem eigenen Sternbild zu befinden. Wärme und Euphorie durchfluteten ihren Körper, und zum ersten Mal seit Tagen fühlte sich alles so … leicht an. Silla starrte die Sterne an und begann, sich zu drehen. Ihr Lächeln breitete sich aus, ihr Körper wurde leicht wie eine Feder.
»Wir drehen uns, wir drehen uns, immer wieder.« Ein Lachen kam über ihre Lippen, und für einen winzigen Moment war Silla frei. Sie war ein Vogel, der durch die Lüfte schwebte, bereit, sich von allem zu entfernen. Schneller drehte sie sich, bis die Sterne und die seltsamen, leuchtenden Pflanzen miteinander verschwammen und der Boden unsicher wurde.
Ohne Vorwarnung wurde ihr die Flasche entzogen, ein Arm brachte sie zu einem abrupten Halt. Ihre Sicht drehte sich weiter, und es dauerte einen Moment, bis sie Reys wütende Miene erkennen konnte. »Was hast du gesagt?«, verlangte er, zu wissen.
Die Wände des Canyons mit seinen lebenden Sternen schwankten, und ihr Verstand wurde unruhig. Das war es, was sie gebraucht hatte. Um im Nichts zu ertrinken. Dass die Ströme des Getränks sie mit sich nahmen. »Das ist aus einem Spiel«, flüsterte sie und lehnte sich in seinen Arm. »Aus einem längst vergangenen Leben.«
Rey war seltsam still, und Silla zwang sich, ihn anzusehen. Wieder starrte er auf ihre Narbe, sein Puls pochte wie wild.
»Was ist?«, fragte sie.
»Manchmal denke ich« – er schüttelte den Kopf – »du erinnerst mich an jemanden.«
Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Silla, als ob sie versuchte, sich an etwas Wichtiges zu erinnern. Aber es war im Nu verschwunden, und Silla fand sich auf einer Bettrolle wieder, die in einer Nische in der Schluchtwand versteckt war.
Sie legte sich zurück auf das Bett und versuchte, ihre wirbelnde Sicht zu beruhigen. »An wen?«, fragte sie.
Rey hockte vor ihr, aber es war schwierig, seinen schattenhaften Ausdruck zu erkennen. »Ein Mädchen, das gern solche Spiele spielte«, sagte er aus der Ferne. »Aber sie ist schon lange tot.«
»Ich habe mich zu viel gedreht«, stöhnte Silla und legte eine Hand auf ihre Stirn.
»Ich habe dir gesagt, du sollst es langsam angehen.«
Eine große, warme Hand strich über ihren Rücken und brachte sie in eine sitzende Position. Mit schwimmendem Kopf blinzelte Silla. Ein Wasserschlauch wurde an ihre Lippen gepresst, kühles Wasser floss ihre Kehle hinunter. Aber es schien das Chaos in ihrem Magen nur noch mehr aufzurütteln.
»Ich kann nicht mehr fühlen«, flüsterte sie. »Ich möchte nur noch vergessen.«
Rey stieß einen langen Seufzer aus und ließ sich auf die Bettrolle neben der ihren sinken. Sie wollte sich in seine Wärme einrollen, sich ihm hingeben und auf seine Stärke vertrauen. »Vergiss es für einen Moment«, sagte Rey müde. »Ich werde hier sein.«
Silla hätte bei seinen Worten am liebsten geweint. Wie lange war es her, dass sie wirklich hatte loslassen können? Ihre Augen fielen zu, und sie fiel in einen tiefen Schlummer.
Silla erwachte im hellen Morgenlicht und mit einem pochenden Schädel. Einen schwindelerregenden Moment lang konnte sie ihre Umgebung nicht einordnen – der geschwungene schwarze Stein über ihr, das Rinnsal des fließenden Wassers irgendwo in der Nähe. Der Canyon, erinnerte sie sich. Sie war in der Nische der Schlucht versteckt.
Als sie sich aufsetzte, entdeckte sie Rey, der am Bach kniete. Er war nur mit einer dünnen Untertunika bekleidet, und seine hochgekrempelten Ärmel gaben den Blick auf kräftige, muskulöse Unterarme und eine Vielzahl an Tätowierungen frei. Gespannt beobachtete sie, wie er sich die Hände und Unterarme schrubbte, bevor er sich das Wasser über Haare und Nacken schöpfte.
Ein längst vergangenes Leben – die Worte hallten in ihrem Kopf wider, Erinnerungen an die Nacht, bevor alles in einem ekelerregenden Rausch zurückkam. Wie er auf ihre Narbe gestarrt hatte. Das Mädchen, an das sie ihn erinnerte, das längst tot war.
Der Schmerz pulsierte in ihrem Schädel, als sie versuchte, diesen Details einen Sinn abzuringen. Heiße, ruhelose Panik verschlimmerte ihren Kater. Alles tat weh, ihre Gedanken schwammen, und alles, woran sie denken konnte, war, dass die einzige Person, die ihren wahren Namen entdeckt hatte, weniger als einen Tag gebraucht hatte, um sie zu verraten.
Jetzt versuchte sie, sich selbst zu beruhigen – Rey wusste nicht, wer sie war; es war nur ein mulmiges Gefühl, das durch den Brennsa ausgelöst worden war. Aber was, wenn er es wusste? Oder was, wenn er es herausfand? Sillas Finger fanden den Fleck mit den kurzen, stacheligen Haaren, die die Klinge von Kommandant Valf hinterlassen hatte.
Kann nicht, dachte sie, und die Entscheidung wurde mit jedem Herzschlag fester.
Es gab kein Zurück mehr.
In diesem Moment legte Silla ein Gelübde ab. Sie würde niemals zulassen, dass ein anderer ihren wahren Namen erfährt. Sie würde ihn so festhalten, dass sie ihn aus dieser Welt verbannen würde.
Und egal, was es kostete, sie würde nie wieder in den Zellen der Klaernar landen.
Reys langes Ausatmen vernebelte die Luft, sein Körper schwankte auf Pferd, während es durch die Schlucht stapfte. Die helle Morgensonne fiel zwischen den schwarzen Wänden hindurch und wärmte sein Gesicht. Bald würden sie das Ende der Schlucht und den Wald erreichen, und Istré einen weiteren Schritt näher kommen.
Obwohl sein Gedächtnis verschwommen war, erinnerte sich Rey an einige Dörfer entlang ihrer Route und hatte beschlossen, im ersten Dorf Halt zu machen. Er musste einen Falken nach Vig und Runný in Kalasgarde schicken, und Silla brauchte bessere Kleidung als seine übergroße Tunika und seine Reithose.
Als sein Blick auf Sillas unordentliche Locken fiel, kämpfte Rey gegen den Drang an, eine Strähne um seinen Finger zu wickeln und daran zu zupfen. Er biss die Zähne zusammen.
Sie war verdammt ruhig. Zu ruhig.
Bei Hábróks haarigem Hintern. Rey konnte nicht glauben, dass es ihn irritierte, aber ihr Schweigen hatte etwas Unnatürliches an sich. Sie sollte auf die Felsformationen zeigen oder unaufhörlich summen. Er würde es nie laut zugeben, aber er mochte ihr Geplapper inzwischen. Es belebte ihn. Es lenkte ihn von den dunklen Orten ab, an die er sich gedanklich so oft zurückzog.
Und er konnte nicht anders, als an den Abend zuvor zu denken. Wir drehen uns, wir drehen uns, immer wieder, hatte sie gesagt. Als sie angefangen hatte, sich zu drehen, als sie diese Worte gesprochen hatte, war es, als ob Rey in eine andere Zeit zurückgeschickt worden wäre. Zurück in diese Gärten.
Das war ein ganzes Leben her. Ganz zu schweigen davon, dass das Mädchen längst tot war.
Aber Silla hatte sich an ihn geschmiegt. Sie hatte ihm genug vertraut, um für eine Weile zu vergessen. Warum fühlte sich das Vertrauen dieser Frau wie eine Sache an, die man wertschätzen sollte? Wie ein Schössling, den er beschützen wollte, damit er stärker werden konnte …
Rey schüttelte sich. Das waren gefährliche Gedanken – Gedanken, die er loswerden musste.
Die Schlucht wurde immer flacher, bis sie schließlich den Wald erreichten. Der vertraute Duft von Kiefernnadeln und Lehm betörte seine Sinne, als sie einem schmalen Ziegenpfad durch den Wald folgten. Nasses Laub streifte sie, und der Weg wurde zum Glück bald breiter.
Warum jagte die Königin sie?
Die Frage drängte sich in Reys Gedanken wie schon hundertmal in den letzten Tagen. In der Zeit nach Kopa hatte er Silla gefragt, warum die Königin sie jagte. Aber diesen Blick in ihren Augen – verzweifelt und erschrocken – wollte er nie wieder sehen. Und so hatte er zugestimmt, dass sie es ihm sagte, wenn sie bereit war. Rey wusste gut genug, dass manche Geheimnisse für die Sicherheit eines Menschen unerlässlich waren. Er wollte ihr Bedürfnis nach Geheimnissen respektieren. Aber die gottverdammte Königin jagte sie. Die Klaernar waren darin verwickelt. Kriegsbanden und Attentäter waren ihr nachgeschickt worden. Das war kein kleines Geheimnis, und die Kenntnis einiger Details konnte eine Frage von Leben und Tod sein.
Wieder und wieder ging er jedes seltsame Detail durch, das er über die lockige Frau gesammelt hatte, die in Reykfjord in seinen Versorgungswagen geklettert war. Wie Rey war sie eine Galdra. Da war das Singspiel und die Narbe, genau dort, wo ihre gewesen war. Sie hatte ein behütetes Leben geführt, als hätte man sie vor neugierigen Blicken versteckt.
Nur ein kleiner Mann lässt sich von Angst beherrschen, doch man muss ein Mann von Größe sein, um Barmherzigkeit zu zeigen. Und jeder kann sehen, dass du kein kleiner Mann bist.
Die Worte, die sie auf der Straße der Knochen zu ihm gesprochen hatte, schossen Rey durch den Kopf. Damals hatte er sie als merkwürdigen Zufall abgetan, aber jetzt fragte er sich, ob es mehr als das sein könnte. Was, wenn ihre Väter sich gekannt hatten? Das würde etwas mit der Identität des Mädchens zu tun haben …
Nein. Rey biss die Zähne zusammen. Das Mädchen war tot. Es hatte eine Leiche gegeben.
Jeder in diesem Reich kannte die grausamen Details.
Es sei denn, sie war an diesem Tag nicht gestorben. Was, wenn sie aus der Burg entkommen war und sich all die Jahre versteckt hatte, bevor sie in der Nähe von Skarstad entdeckt wurde? Er dachte an ihren Vater, einen angeblichen Knecht, der sechs Krieger der Königin getötet hatte, bevor er seinen Wunden erlegen war. Für sich allein betrachtet, schien die Antwort unwahrscheinlich. Aber wenn man sie alle zusammenzählte, gab es keine andere Erklärung.
Sie war es.
Rey drückte sich die Finger gegen die Schläfen. Das konnte nicht sein. Es war unmöglich.
Aber die Fakten häuften sich zu sehr, und mit jedem Herzschlag wurde das Unmögliche immer plausibler. Wie durch ein Wunder war sie an diesem Tag nicht gestorben. Sie war am Leben und hatte all die Wochen in seinem Wagen gesessen. Ein Gefühl der Verwunderung überkam ihn, und Rey öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber er klappte ihn wieder zu, als ein geflochtener Zaun in Sicht kam, gefolgt von einem langen Haus, aus dem Rauch aufstieg.
Rey hielt das Pferd in der Nähe einer Grasfläche an. »Wir halten hier ein paar Minuten an«, sagte er zu Silla und stieg ab. Er konnte nicht verhindern, dass seine Augen über ihr Gesicht wanderten und nach Ähnlichkeiten mit dem Mädchen suchten. Aber Reys Kiefer krampfte sich zusammen, als sein Blick stattdessen den blauen Fleck auf ihrer Wange fand. »Ich denke, es ist das Beste, wenn du dich nicht blicken lässt. Ziehe deine Kapuze hoch und bleibe hinter dem Zaun. Ich werde nur ein paar Minuten weg sein, um eine Nachricht nach Norden zu schicken.«
Rey hatte diesen Ort für ein Dorf gehalten, musste aber bald feststellen, dass es nur eine Ansammlung von Höfen war. Glücklicherweise waren die alten Mütter bereit, Rey für das großzügige Geld, das er bot, ihren Falken zur Verfügung zu stellen. Sie gaben auch bereitwillig Stiefel und Kleidungsstücke in Sillas Größe ab. Rey merkte, wie seine Dankbarkeit schwand, als die alten Mütter ihre unverheirateten Enkelinnen nach vorn drängten und ihn anflehten, über Nacht zu bleiben. Nachdem er die Nachricht nach Kalasgarde geschickt hatte, brauchte er seine ganze Geduld, um nicht die frechste der Enkelinnen anzuschnauzen, die ihn am Arm ergriff und versuchte, ihn zu einem Spaziergang in den Hof zu bewegen.
»Verheiratet«, bellte er und beobachtete, wie die Frauen seinen ringlosen Finger finster ansahen. »Meine Frau ist dort hinten!« Als er das Haus verließ, hatte Rey die Kleidungsstücke unter den Arm geklemmt und war losgelaufen. Er wollte unbedingt mit Silla sprechen. Er wollte ihr sagen, was er wusste … aber seine Füße blieben plötzlich stehen.
Silla war weg. Und sein gottverdammtes Pferd auch.
Wut ersetzte schnell seine Aufregung. Sie hatte sich in die von Monstern bevölkerten Wälder verzogen, während Krieger das Land nach ihr durchkämmten.
»Ich weiß, dass du schlauer bist als das, Sonnenschein«, brüllte er durch die an den Mund gelegten Hände. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich die Frauen der Höfe in der Tür versammelten. »Du weißt nicht, wie man reitet, ganz zu schweigen davon, dass du auf meinem gottverdammten Pferd sitzt!« Er steckte sich zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus.
Hufschläge und Sillas frustrierter Schrei drangen bald an seine Ohren. Einen Moment später tauchte Pferd aus dem Wald auf.
»Andersherum!«, flehte Silla und zog an den Zügeln. »Pferd, bitte!«
Aber Pferd warf nur den Kopf hoch und wieherte zur Begrüßung von Rey. Er schnappte sich die Zügel und streichelte die samtige Nase des Pferdes, während er Silla anschaute. »Mit Leckerlis kann man sich ihre Loyalität nicht erkaufen.«
Sillas Blick begegnete dem seinen, ängstlich und schuldbewusst.
»Warum fliehst du?«, fragte er mit leiser Stimme. Er warf einen vorsichtigen Blick auf die Frauen, die sich in der Tür des Langhauses versammelt hatten, schwang sich hinter ihr in den Sattel und schob die Kleidungsstücke in den Sattelsack. Sie trieben das Pferd vorwärts und ritten schweigend den Weg entlang, bis Rey der Meinung war, dass sie weit genug entfernt waren, um nicht belauscht zu werden. »Was ist passiert?«, fragte er und hob einen Arm, um sie vor einem tief hängenden Ast zu schützen. »Vertraust du mir nicht mehr?« Rey ging noch einmal alles durch, was er am letzten Tag gesagt hatte.
Sie hatte versucht, zu fliehen, hätte sich in Gefahr begeben, und als ein seltsames, trockenes Lachen aus ihr herauskam, wurde Reys Zorn noch weiter geschürt.
»Findest du das lustig?«, fragte er. »Hältst du das für ein Spiel?«
»Nicht im Geringsten«, sagte sie mit einem Schluchzen.
Ihr Götter, aber Rey hasste ihre Tränen. Seine Hände klammerten sich fest um die Zügel. »Du wusstest, dass ich dir folgen würde, so wie ich es in Kopa getan habe«, sagte er leise, als Pferd über einen umgestürzten Baum trabte.
Silla ließ die Schultern hängen. »Ich wollte nur zu den Hühnern.«
»Du darfst dich nicht in Gefahr begeben! Das hier ist wichtiger als deine Wünsche.«
Ihr ganzer Körper verkrampfte sich. »Was meinst du damit?«
Rey hatte vorgehabt, behutsam mit dem Thema umzugehen, ihr vielleicht nach und nach Antworten zu entlocken, aber ihr Ausrutscher hatte ihn verunsichert. Sie hatte versucht, sich selbst in Gefahr zu bringen, und er spürte, wie er aus der Fassung geriet.
»Ich weiß, wer du bist«, hörte er sich sagen.
Sie wurde ganz still.
»Ich weiß, warum die Königin dich jagt.«
Sie spannte sich an, als ob sie sich auf die kommenden Worte vorbereiten wollte.
»Deine Narbe. Ich war bei dir, als du sie bekommen hast, Eisa.«
Reys Worte bohrten sich in Sillas Haut. Ihr Atem stockte in der Lunge, als ihr klar wurde, dass es richtig gewesen war, ihren Instinkten zu vertrauen – Rey wusste, wer sie war. Und jetzt hatte sie die Gelegenheit verpasst, zu flüchten.
Deine Narbe. Ich war bei dir, als du sie bekommen hast, Eisa.
Ihr Körper zitterte. Er wusste, wer sie war, und Silla wusste, was jetzt kam. Jonas hatte nicht einmal einen Tag gebraucht, um sich gegen sie zu wenden. Wie lange würde Rey brauchen, um das Gleiche zu tun?
Jetzt kroch Panik durch ihre Glieder. Lauf, sagten ihr ihre Instinkte einmal mehr. Aber ein Funken Logik erinnerte sie daran, dass Rey sie nur zur Strecke bringen würde.
»Du hast versucht, zu fliehen«, knurrte er.
»Bitte«, flehte Silla und blickte sehnsüchtig in den Wald. »Lass mich in die Wildnis … lass mich verschwinden. Ich werde irgendwo ein Schiff nach Süden nehmen, und wenn ich das Geld habe, sorge ich dafür, dass du deine Belohnung bekommst … das schwöre ich dir.«
Rey stöhnte hinter ihr. »Du bist Eisa-götterverdammte-Volsik, und du willst Íseldur im Stich lassen?«
Die Luft zwischen ihnen vibrierte von seiner Wut und ließ Silla verwirrt zurück. Sollte er nicht glücklich sein? Er war gerade über die größte Belohnung des Königreichs gestolpert. Warum war er so wütend?
»Du bist eine Volsik!«, fuhr Rey fort. »Verstehst du nicht, was das bedeutet?«
Handschellen, dachte sie. Eine weitere Zelle. Ihre Wahlmöglichkeiten wurden ihr genommen. »Bitte«, flehte Silla erneut. »Du hast gesagt, du würdest mich nicht ausliefern. Wenn du etwas bist, dann ein Mann von Ehre.«
»Es geht hier um mehr als meine Ehre«, brummte er. »Und wenn du nicht in der Lage bist, kluge Entscheidungen zu treffen, werde ich dich an den Sattel binden und mit Gewalt nach Kalasgarde bringen lassen.«
»Kalasgarde?« Verwunderung durchfuhr sie. »Du willst keine Belohnung?«
Rey antwortete nicht.
»Kalasgarde«, wiederholte Silla. Sie schüttelte sich vor Erleichterung. Keine Zelle. Sie würde nicht in eine Zelle zurückgehen. Silla holte tief Luft. Ließ sie langsam aus sich herausströmen. Das Zittern ließ ein wenig nach, aber der Rest seiner Worte sank endgültig in sie ein. »Du willst mich zwingen, nach Kalasgarde zu gehen?«
Rey war angespannt wie eine Bogensehne. »Ich habe viele unappetitliche Dinge für dieses Königreich getan, und ich werde noch viele weitere tun.«
»Ich kann nicht Eisa sein«, wimmerte sie. Es lag nicht an der Zelle in Kopa, nicht an Kommandant Valf, aber Rey hörte ihr nicht zu, wollte sie nicht erklären lassen … »Ich kann nicht sie sein; verstehst du das nicht?«
»Verstehst du nicht?«, gab er zurück. »Menschen starben, um deine Familie zu schützen. Ivar hat alle Volsik-Anhänger geholt und sie auf die abscheulichste Weise getötet.«
Das Brennen der Schuldgefühle breitete sich in ihr aus. »Bitte«, flehte Silla wieder. »Ich muss diese Insel verlassen. Nur so kann ich das Blutvergießen stoppen, das mich verfolgt.«
»Oder«, sagte Rey, »du könntest für dein Volk eintreten. Weißt du nicht, was deine Existenz für so viele bedeuten würde? Wie viel Hoffnung du bringen könntest?«
»Wie?«, rief Silla. »Verstehst du nicht, dass ich kaum Silla sein kann? Wie kann ich dann sie sein?«
»Ich verstehe nichts außer deiner Feigheit.«
Es war genau so, wie sie befürchtet hatte: Der Name würde sie binden, sie zu einem Ding machen, das benutzt werden konnte. Schon jetzt wurden ihr die Wahlmöglichkeiten genommen, ihr Selbstbewusstsein löste sich in Luft auf. »Du bist genau wie Jonas, du nimmst mir die Wahl.« Sie spürte, wie Rey zusammenzuckte, fuhr aber fort. »Aber du hast Kalasgarde gesagt, nicht Sunnavík, was bedeutet, dass du die Belohnung nicht willst. Warum also, Rey? Worauf bist du aus? Warum tust du das?«
Sie konnte spüren, wie er seine Worte wählte. Er zwang sie durch seine Zähne. »Weil all die guten Menschen gestorben sind, aber ich noch atme. Ich muss sie und ihre Tode ehren. Damit sie etwas bedeuten.«
»Das hat Jonas auch gesagt.« Ihre Stimme zitterte. »Er hat mich an die Klaernar ausgeliefert, damit Ilías’ Tod etwas bedeutet.«
Rey erstarrte und wagte kaum, zu atmen. »Das ist nicht dasselbe.«
»Wirklich nicht?« Wut stieg in ihr auf, und sie war erleichtert, etwas anderes als Angst zu spüren. »Oder ist das nur eine Ausrede von gewalttätigen Männern, damit sie nachts schlafen können?«
»Tu nicht so, als wüsstest du irgendetwas über mich.«
»Wie kann jemand etwas über dich wissen, Reynir Galtung?« Silla spuckte die Worte aus. »Du, der du alle meine Wahrheiten verlangst, aber keine einzige von dir selbst preisgibst? Du bist noch behüteter als Askaborg.«
Die Luft war dick vor Spannung. »Du wirst nicht mehr lange von meiner Anwesenheit gestört werden«, sagte Rey. Seine Stimme war kalt, ohne jede Emotion. »Wir werden heute Abend in Istré ankommen. Du wirst dich versteckt halten. Die Krieger, die ich geschickt habe, sind ehrenhaft. Sie werden dich mit guten, vertrauenswürdigen Leuten in Verbindung bringen, die am besten wissen, wie man mit dir umgeht.«
Wie man mit ihr umgeht. Silla biss die Zähne zusammen. Wut brodelte in ihrem Magen und brannte ihr in den Gliedern. Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, schlug ihn aber wieder zu, als Rey sagte: »Es gibt wilde Dinge in diesen Wäldern. Am besten schweigen wir.«
Silla blinzelte ihre Tränen zurück. Sie versuchte, ihre Entschlossenheit zu bewahren. Aber alles, woran sie denken konnte, war Kalasgarde.
Es war nichts weiter als eine weitere kalte Zelle.
Saga Volsik trug Schwarz zum Gottesdienst des Bärengottes – dem ersten, den sie seit über einem Monat besucht hatte. Es hatte rein praktische Gründe, wirklich. Aber vielleicht sollte sie sich keine Sorgen machen; inzwischen waren die Waschsklaven ziemlich geschickt darin, Blutflecken von der Kleidung der Königlichen zu entfernen.
Ihre Zofe hatte eine Seite ihres Haares zu einem kunstvollen urkanischen Zopf geflochten, und Saga hatte den Anblick mit ihrer liebsten Winterflügelbrosche vervollständigt. Wenn sie für den Bärengott bluten sollte, dann würde sie es verdammt noch mal so tun, wie es ihr gefiel.
Und nun saß sie neben Prinzessin Yrsa im Haus von Ursir, als die vom König bevorzugten Adligen zur wöchentlichen Vermählung eintrafen. Der Raum war gut beleuchtet, obwohl es keine Fenster gab. Kohlebecken, die das zentrale Podium säumten, erhellten und wärmten den Raum, während goldbeschlagene Säulen das Licht reflektierten und verstärkten.
Nach außen hin machte Saga den Eindruck, als sei sie gelangweilt. Aber innerlich war sie ein Wrack. Einen Monat lang hatte sie es geschafft, dies zu vermeiden – die Menge, das Spektakel, die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Saga fühlte sich wie ein angeleintes Tier, das zum Vergnügen der Zuschauer vorgeführt wurde.
Schau, wie gut sie sitzt. Schau, wie gut sie blutet. So ein gutes, kleines Haustier. Ihre Finger zuckten auf der Suche nach ihrer Zeichenkohle und dem Zeichenbrett, verzweifelt, um ihre strapazierten Nerven zu beruhigen. Es waren nun schon Tage vergangen, seit Saga das Gespräch zwischen Maester Alfson und Signe belauscht und erfahren hatte, dass Eisa – ihre kleine Schwester, die sie seit siebzehn Jahren für tot gehalten hatte – noch lebte. Nicht nur hatte die Königin Eisa monatelang gejagt, ihre Pflegemutter hatte davon gewusst und es Saga nicht gesagt. Es war eine erschütternde Enthüllung, die immer noch nicht zu fassen war.
Aber als die Tage vergingen und Saga auf eine Gelegenheit wartete, etwas zu tun – irgendetwas zu tun – um Eisa zu helfen, wurde ihre Nervosität nur noch größer. Saga konnte kaum noch schlafen. Ihre Tage verschwammen im Nebel. Stundenlang hatte sie in dem verborgenen Korridor hinter Alfsons Arbeitszimmer darauf gewartet, ein weiteres Gespräch zu belauschen, aber sie hatte nichts vorzuweisen.
An manchen Tagen war sie überwältigt, ihr Geist war wie eine überfüllte Tasse, die überschwappte, bis alles, was sie tun konnte, darin bestand, ihre Kohlen und ihr Pergament zu holen und zu zeichnen, zeichnen, zeichnen. Das war das Einzige, was ihren Geist wieder ins Gleichgewicht bringen konnte; etwas, das sie völlig ablenken konnte.
Aber Zeichnen war jetzt keine Option. Ihr Blick schweifte mindestens zum zehnten Mal durch den Raum und markierte jede Tür im Haus von Ursir. Der Hauptausgang. Die Tür des Hohen Gothi. Die Falltür unter dem Teppich an der Rückseite des Podiums – es sei denn, sie hatten sie zugenagelt.
Sie wiederholte diese Ausgänge immer wieder, um sich daran zu erinnern, dass sie in Sicherheit war. Nicht gefangen. Dennoch konnte sie das Urbedürfnis nicht abschütteln, sich in die Sicherheit ihrer Kammern zu begeben.
Mit pochendem Puls blickte Saga zu ihrer Rechten, wo Prinzessin Yrsa saß. Ihr smaragdgrünes Kleid stand im Kontrast zu Norvalands weiß-goldenem Haar und ihrer blassen Haut. Yrsas Rückgrat war gerade, die Lippen zu einem sittsamen Lächeln geschwungen, und ihre braunen Augen leuchteten, als ob sie nirgendwo anders lieber wäre. Saga öffnete den Mund, um etwas zu ihrer Pflegeschwester zu sagen – um die seltsame Spannung, die in diesen Tagen zwischen ihnen herrschte, zu unterdrücken –, aber die Worte waren nicht zu finden. Stattdessen richtete sich ihr Blick wieder auf den blutbefleckten Altarstein an der Stirnseite des Raumes.
Es hieß, der Bärengott gewinne seine Kraft aus Blut. Das war es, was die urkanischen Krieger zu solcher Gewalt im Kampf trieb. Je mehr Blut sie vergossen, desto mehr Ruhm wurde ihnen zuteil. Aber auch andere, weniger ruhmreiche Methoden – die Ermordung der eigenen Person oder des eigenen Besitzes – konnten Ursirs Segen erlangen. Bauern schlachteten oft die besten ihrer Tiere während Ursirs Frühlingserwachen, um sich eine fruchtbare Wachstumsperiode zu sichern, während einige urkanische Kriegerhäuptlinge die stärksten ihrer menschlichen Sklaven vor der Schlacht opferten. Aber für den Durchschnittsbürger war es am einfachsten, Ursirs Gunst zu erlangen, indem er an einem Letting teilnahm.
Bei den Göttern, aber das konnte sie nicht tun. Sie musste sich in Sicherheit bringen – zurück in ihre Gemächer. Saga erhob sich von ihrem Stuhl und machte sich bereit, den Raum zu verlassen. Doch als Königin Signe in Begleitung von sechs Leibeigenen eintrat, war jede Chance auf ein Entkommen vertan. Schwerfällig sank Saga in ihren Stuhl und fügte sich ihrem Schicksal. Sie würde sich dem stellen müssen – Augen zu und durch.
»Ursir wird sich freuen, Euch zu sehen, Lady Saga«, ertönte die schrille Stimme einer Frau. Saga identifizierte die Quelle schnell als Lady Geira. Als die fromme, neue Frau des Hohen Gothi war sie eine von Signes vertrauenswürdigsten Beraterinnen, und das Mitleid in ihren Augen ließ Saga nach Gewalt verlangen. Stattdessen nickte sie knapp. »Es ist eine schöne Sache, seine eigenen Fehler zu erkennen und sie zu korrigieren«, sagte Geira und spielte mit einem Schlüsselbund, der an ihrem Hals hing. Die Frauen um sie herum gackerten zustimmend.
»Liebste Saga«, ertönte die klare Stimme der Königin. Die Frauen trennten sich, und sie trat hindurch, eine Krone aus Eisenkrallen auf ihrem weißblonden Haar. Saga stand auf und senkte die Stirn in Ehrerbietung vor der Königin. Signe nahm Sagas behandschuhte Hand und streichelte sie sanft. »Ich habe den weisen Rat der Hohen Gothi in deinem Namen eingeholt.«
Sagas Herz pochte.
»Er glaubt, dass ein zusätzliches Letting bei der Heilung deiner … Nerven helfen sollte.« Signes Leibeigene nickten und murmelten kollektiv zustimmend, wobei Lady Geira die Lauteste in der Runde war.
Die Antwort war natürlich Blut. Schlechte Laune? Blut lassen. Den Zeh angeschlagen? Blut lassen. Die Pest bekämpft? Auf jeden Fall Blut lassen.
Saga nickte wie betäubt. Die Königin ging zu ihrer Tochter und nahm Yrsas Gesicht in ihre Hände. »Grün steht dir gut, mein liebes Mädchen.« Signe gab Yrsa einen liebevollen Kuss auf jede ihrer Wangen.
»Danke, Mutter.«
Signe ließ sich auf einem Stuhl neben ihrer Tochter nieder, die Leibeigenen in der Reihe dahinter.
Saga schluckte das Brennen der Eifersucht hinunter. Sie sollte dankbar sein, dass die Königin sich für ihre Gesundheit interessierte. Ihre Pflegemutter war verwirrend. Hart und unnachgiebig, und doch streute sie hin und wieder kleine Krumen der Fürsorge ein. Und wie ein ausgehungerter Hund fraß Saga jedes kleine Stückchen auf.
Ein Schweigen legte sich über den Raum, als Thorir der Riese eintrat und die Ankunft des Königs ankündigte. Mit seinem buschigen, roten Bart und seiner imposanten Größe war es unmöglich, den Krieger in irgendeinem Raum zu übersehen. Aber im flackernden Licht von Ursirs Haus wirkte er irgendwie noch gewaltiger als sonst.
Nach Thorir kam König Ivar Eisenherz. Obwohl er einige Zentimeter kleiner war als Thorir, war Ivars gebieterische Präsenz im ganzen Raum zu spüren. Der König hatte schulterlanges, blondes Haar mit grauen Strähnen und einen Bart, der in doppelten urkanischen Zöpfe geflochten war. Und obwohl Ivars Augen kalt und hart waren, schimmerten sie vor Zufriedenheit, als sie auf Saga gerichtet waren.
Sie drehte sich um und wandte den Blick ab. Der Blick des Königs hatte schon immer ein unangenehmes Gefühl hinterlassen. Er fühlte sich nicht lüstern an, sondern … begehrlich. Als ob er ein Juwel betrachtete, das er für seine Schatzkammer gewonnen hatte.
Prinz Bjorn, Sagas Verlobter, kam als Nächster. Mit seinen dreizehn Jahren – neun Jahre jünger als sie – hatte Bjorn bereits die Größe seines Vaters erreicht, war aber schlaksig und unbeholfen, als er hinter Ivar herlief. Gekleidet in eine rote Tunika, die der seines Vaters entsprach, trug er sein blondes Haar ähnlich, und er war sicher, dass er das Ebenbild des Königs sein würde, wenn er volljährig war. Saga nahm Bjorn ihre Situation nicht übel – er hatte bei der Verlobung nicht mehr Wahl als sie. Aber sie hatte wachsam beobachtet, wie Ivar Bjorn immer mehr in seine Angelegenheiten hineinzog – sie hatte die Verhärtung seines Gesichts und die Abkühlung seiner Augen bemerkt. Saga verbrauchte viel Energie, um nicht daran zu denken, was für ein Mann ihr zukünftiger Ehemann werden würde.
Aber sie hatte so lange überlebt, weil sie sich den Erwartungen der anderen angepasst hatte, und so zwang sich Saga zu einem Lächeln gegenüber ihrem zukünftigen Ehemann.
Der Rest des königlichen Gefolges kam nach dem Prinzen herein, stämmige Männer mit mürrischer Miene, die ihre Plätze in der Abteilung der Krieger einnahmen. Der letzte Krieger der Gruppe schlenderte mit einem vertrauten Gang in den Raum, und als das Licht sein Gesicht enthüllte, zuckte Sagas Magen heftig zusammen. Flache, grausame Augen stachen aus einem vom Wind zerzausten, rötlichen Teint mit einem langen, grauen Bart hervor. Sie zwang ihren Blick zurück auf den Altarstein und versuchte, das heftige Pochen ihres Herzens zu unterdrücken.
Magnus Hansson war aus Reykfjord zurückgekehrt.
Saga wagte nicht, hinzusehen, aber sie verfolgte den Herzfresser aus dem Augenwinkel, wie er rechts neben König Ivar saß und die beiden sich zur Besprechung einander zuneigten.
Sie wiederholte die Ausgänge in ihrem Kopf. Der Hauptausgang. Der Weg durch die Tür des Hohen Gothi. Die Falltür unter dem Bettvorleger.
Zum Glück kam der Hohe Gothi herein, bevor sie völlig den Verstand verlor und Hals über Kopf floh. Er trug ein wallendes, braunes Gewand, und das Licht fiel auf den goldgeprägten Bärenzahn, der um seinen Hals hing. Mehrere Akolythen flankierten ihn, ein vergoldeter Käfig wurde von einem getragen, eine angeleinte Ziege von einem anderen gezerrt. Die Gespräche verstummten, als sie die Stufen des Podiums hinaufstiegen, die Ziege schrie laut und grub ihre Hufen in den Boden.
Thorir stand auf, hob die Ziege mit Leichtigkeit hoch und legte sie auf die Steinplatte auf dem Podium, bevor er zu seinem Platz zurückkehrte. Die Akolythen eilten herbei, um Thorirs Platz einzunehmen und die Ziege unten zu halten, als der Hohe Gothi sich vor die Menge stellte und einen zeremoniellen Dolch aus den Falten seines Umhangs zog.
»Wir ehren dich, Ursir, Gott der Götter, mit dem Blut unserer feinsten Kreaturen.«
Es war eine schnelle, blutige Angelegenheit. Der Gothi murmelte leise Worte, während er der Ziege den Hals durchschnitt, das Blut in einer goldenen Schale auffing und den Inhalt über den Altarstein goss. Dann wiederholte er den Vorgang mit einer Taube, die aus dem Käfig gezogen worden war.
Der Hohe Gothi begann mit einer Predigt, aber Saga verstand die Worte nicht. Stattdessen starrte sie auf den Altarstein – auf die Runen, die in seine blutbefleckte Oberfläche geritzt waren. Sie erzählte die Geschichte von Ursir – wie er den Mondhund besiegt hatte, um den Großen Wald und die Frau der Wolfsbestie für sich zu beanspruchen. Sie musste an all die anderen denken, die von den Urkanern überfallen und besiegt worden waren, an all die Töchter, die ihnen genommen worden waren. Es war ein endloser Kreislauf der Gewalt, angetrieben von dem Bedürfnis nach dem Segen des Bärengottes. Das Bedürfnis nach Blut. Das Bedürfnis, zu nehmen. Endlich verstummte die Stimme des Hohen Gothi, und die Gruppe der Krieger erhob sich, als das Letting begann. Doch der Sprecher des Gottes hob eine Hand und brachte die leisen Gespräche im Raum zum Schweigen. In Sagas Magen bildete sich ein Knoten der Besorgnis.
»Bevor wir beginnen, wurde mir gesagt, dass eine von Ursirs Töchtern in schlechtem Gesundheitszustand zu uns gekommen ist. Lady Saga, bitte setzt Euch zu mir aufs Podium, damit ich in Euer Gesicht schauen kann.«
Sagas Körper prickelte, als sich alle Augen im Raum auf sie richteten. Ihre Blicke waren wie Säure, die sich über sie ergoss, ihre Haut verbrannte und ihre Knochen auflöste. Saga schluckte und richtete sich auf. Machte einen Schritt vorwärts. Sie konnte ihre Füße nicht spüren, konnte nicht denken. Aber sie tat es. Sie stieg die Stufen des Podiums hinauf. Setzte sich auf den Stuhl. Sah in die Gesichter derer, die sie entweder bemitleideten oder ihr den Tod wünschten.
Der Hohe Gothi stand vor ihr, seine dunklen Augen musterten ihr Gesicht. Seine Stummelfinger stießen an ihre Wangen und drehten ihr Gesicht in die eine oder andere Richtung. Er drückte ihren Kiefer zusammen, zog ihren Mund auf und schaute auf ihre Zunge.
»Es ist, wie ich dachte«, verkündete er der Menge. »Unreinheiten haben sich in ihrem Körper angesammelt und zehren an ihrer Gesundheit.« Das Rauschen des Flüsterns wurde im Raum lauter. »Ich verordne ein Letting, um das Blut zu reinigen und Ursirs Segen zu erteilen.«
Saga wollte sich aus dem Stuhl reißen und aus dem Raum rennen. Aber alle Augen waren auf sie gerichtet; der Hohe Gothi krempelte ihren Ärmel hoch und schaute finster drein.
»Ah«, sagte er so laut, dass es der ganze Raum hören konnte. »Ihre Ader ist geheilt!« Er riss Sagas Arm hoch und entblößte mit unnötigem Enthusiasmus die Innenseite ihres Ellbogens vor der Menge. Ein kollektives Aufatmen durchzog den Raum, als sie die frisch verheilten Narben betrachteten. »Ein Beweis für ihren halbherzigen Glauben! Seht, was aus Sparsamkeit entsteht – schlechte Gesundheit. Was ihr Ursir gebt, wird er euch zehnfach zurückzahlen!«
Das Blut rauschte in Sagas Ohren.
»Jetzt verstehe ich. Das ist viel schlimmer, als ich gedacht habe«, sagte der Hohe Gothi. »Ich fürchte, ich muss meine Methode ändern. Ein Großes Opfer wird gefordert.«
Saga versuchte mit aller Kraft, nicht daran zu denken, was das bedeutete. Es spielte keine Rolle, wie sie über die Angelegenheit dachte. Sie musste die gute, gefügige Saga sein, die tat, was man ihr sagte. Aber innerlich strampelte und schrie sie. Wie bei den Tieren würde ihr Blut genommen, nicht gegeben werden.
Als sich ein Akolyth näherte, zog sich Saga in die Tiefen ihres Geistes zurück. Sie war nicht hier.
Nein. Saga rannte durch die Gärten, ihre jüngere Schwester quietschte hinter ihr. Vögel zwitscherten in den Hecken, der Duft von frischem Laub lag in der Luft. Eisa war hinter ihr, drehte sich und drehte sich und drehte sich und fiel um …
»So«, sagte der Gothi, als der Schmerz in ihre Armbeuge fuhr.
Sie schloss die Augen, und dann lag sie auf dem Bauch in der Bibliothek, umgeben von hohen Regalen, die bis zu den Dachbalken reichten. Ein Feuer knisterte leise im Kamin, eine Katze faulenzte auf dem Schoß von Königin Svalla.
»Noch eine Tasse«, murmelte der Gothi. Ihre Lider bewegten sich und ein goldener Schimmer fiel ihr ins Auge – die vergoldete Schale, die sich langsam plätschernd mit ihrer Lebenskraft füllte. »Noch eine Tasse.«
Zorn und Verurteilung schrammten über ihre Haut. Sie beobachteten sie und warteten darauf, dass sie zerbrach. Wussten sie nicht, dass sie bereits gebrochen war? Sie hatten ihr ihre Familie genommen, ihre Burg, ihr Königreich, und jetzt nahmen sie ihr Blut. Was gab es da noch zu holen? Sicherlich würden sie es finden und auch das mitnehmen.
Eisa. Glut, tief in ihr vergraben, flammte auf. Eisa brauchte sie. Doch als die vierte Tasse Blut aus Saga floss, blutete auch ihr Geist.
»Sie ist blass«, murmelte der Akolyth.
»Noch ein Becher«, bellte der Hohe Gothi.
… das ist es, was sie verdient hat, fluteten fremde Gedanken die ihren.
… sie muss wie ihre Familie mit Blut bezahlen, fügte ein anderer hinzu.
… sie verdient jede Strafe, die sie bekommt …
Die Worte pochten in ihrem Schädel und machten Saga darauf aufmerksam, dass ihre mentalen Barrieren fielen, die Gedanken der Menge ungehindert auf sie einflossen. Sie konnte eine, vielleicht zwei Personen auf einmal mit ihrem Verstand handhaben, aber mehr als das wurde ihr zu viel.
Weitere Gedanken stürmten auf sie ein. Saga wusste, dass sie ihre Barriere wieder aufrichten musste – sie musste ihre Sinne in Schach halten. Sie griff nach den ausgefransten Rändern und flocht eine notdürftige Barrikade zusammen. Es musste reichen; sie konnte nichts anderes tun.
Der Lärm im Raum schwoll an und kräuselte sich, als ihr Kopf zur Seite kippte. »Das reicht.«
Ihr Ellbogen wurde bandagiert, während der Gothi zu der Menge sprach.
Aber Saga wirbelte herum, drehte sich, wirbelte, krachte. Sie sahen ihr zu, alle, als sie stand. Sie stolperte.
Sie sah rot – den Bart von Thorir dem Riesen, als er sie aufhob und die Tribüne hinuntertrug. Die Menge murmelte, die Feuer brannten, ihr Herz klopfte, klopfte, klopfte, zu stark, zu schnell. Und dann wurde Saga wieder auf ihren Stuhl gesetzt.
»Das hast du gut gemacht«, flüsterte Yrsa.
Saga blinzelte und unterdrückte den Drang, zu lachen. Gut gemacht. Gut geblutet.
Unterworfen wie eine gute, kleine Gefangene.
Aber als ihre Sicht umherwirbelte, sah sie sich und Yrsa als Mädchen, die in den Gärten spielten und auf Ponys durch den königlichen Wald ritten. Eine Zeit lang waren sie fast wie Schwestern gewesen. Aber jetzt war da nur noch Distanz.
… mein kleiner Bär ist so groß geworden …
Ein Schauer lief Saga über den Rücken. Signe … Sie nannte Bjorn ihren kleinen Bären. Sagas mentale Barrikaden waren immer noch nicht intakt, und es schien, dass Signes Gedanken durch eine Lücke drifteten.
… und bald wird er verheiratet sein. Ich hoffe, wir können Saga rechtzeitig wieder gesund machen. Ich frage mich, ob Ivar sich die falsche Schwester ausgesucht hat. Blondes Haar ist sicher kein Maß für die Stärke eines Menschen …
Sagas Hände waren fest umklammert, ihre Sinne weiteten sich, griffen nach Signe …
… und Eisa hat sich sicherlich als widerstandsfähig erwiesen. Aber wir werden sehen, wie sie sich gegen die Wolfsfütterer schlägt. Meine erste Aufgabe heute wird es sein, für den Brief zu sorgen …
Saga atmete scharf ein, ihre Barrieren brachen plötzlich durch und überfluteten ihre Sinne mit allen Gedanken im Raum auf einmal. Es war laut, eine Kakofonie des Lärms, die es fast unmöglich machte, die ausfransenden Kanten zu fassen und die Barrikaden wieder an ihren Platz zu weben.
Irgendwie schaffte sie es.
Ihr Blick fiel auf ihre Hände, Signes Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf.
Die Wolfsfütterer. Ein Brief. Heute.
Die Zeremonie begann, Krieger und Anbeter drängten sich durch den Raum. Saga blieb auf ihrem Platz sitzen, ihr Geist klärte sich allmählich. Die Glut in ihrer Brust wurde heißer, Hoffnung keimte in ihr auf. Nach Tagen des Wartens war die Gelegenheit gekommen.
Sie musste Signe aufhalten; sie musste diesen Brief abfangen.
Und als der Aderlass weiterging, breitete sich ein benommenes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
Unmittelbar nachdem sie Ursirs Haus verlassen hatte, machte sich Saga auf den Weg zum Falknerturm. Askaborg bestand aus einem zentralen Bergfried und vier verzweigten Flügeln, unter denen sich ein Labyrinth von Tunneln erstreckte. Als König Ivar die Burg eroberte, waren alle loyalen Volsik-Anhänger hingerichtet worden, ebenso wie die Helfer. Was er nicht wusste, war, dass das Wissen über Askaborgs Tunnel mit ihnen untergegangen war. Und obwohl die Urkaner einige der Tunnel gefunden hatten, kannte nur Saga die meisten.
Doch als sie an den kalten Steinwänden entlang tastete, die durch den Westflügel führten, konnte sich Saga an keinen einzigen Tunnel erinnern. Sterne tanzten in ihrem Blickfeld, und ihr Kopf pochte heftig im Kielwasser ihres Lettings. Es ging nur langsam durch den Korridor, aber sie kam stetig voran.
Zum Glück war das Risiko, jemandem zu begegnen, gering. Dieser Korridor tief im Westflügel von Askaborg diente ausschließlich dazu, die Korrespondenz zum und vom Falknerturm zu bringen.
Trotz ihres traumähnlichen Zustands verfolgte Saga in Gedanken ihren Weg zum Turm. Durch den Korridor. Bis zur Sackgasse. Und dann konnte sie durch die alten Verteidigungsmauern gehen, ohne einen Fuß ins Freie zu setzen.
Das Fackellicht tanzte an den Wänden entlang, und Sagas Herz pochte mit doppelter Kraft, während es versuchte, ihren Körper mit dem wenigen Blut zu versorgen, das ihr geblieben war. Die Wände schienen sich zu biegen, der Boden unter ihren Füßen schwankte. Doch trotz des Schwindelgefühls ließ sie sich nicht aufhalten.
Dies war ihre Chance.