Kiosk - Sabine Werz - E-Book

Kiosk E-Book

Sabine Werz

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Beschreibung

In keiner Stadt fehlen die Verkaufsbuden für Bier und Bonbons, Zeitungen und Zigaretten. Für Kinder sind sie ein bezahlbares Schlaraffenland, für die Großen Klatschbörse und Beichtstuhl. So auch der Kiosk vom redseligen Jakob. Er ist alltäglicher Treffpunkt für die schrullige Rose Quittländer oder für Nikita, die Kleine mit dem Huckleberry-Finn-Gesicht, die mit Gespenstern spricht. Hier begegnet Buddy, der Brabbler, dem Künstler Kwiatkowski, und der Dachdecker entfaltet – leicht schwankend – seine Gedanken über Gott und die Welt. Nach Jakobs Tod droht dem Kiosk das Aus durch die Abrissbirne und den Bauunternehmer Krahwinkel. Bis Karla auftaucht, eine Frau zwischen zwei Jobs und zwei Affären. Gewitzt gräbt sie Geschichten aus, von denen viele – vor allem Krahwinkel – hofften, sie seien vergessen. Karla wird zur Königin des Kiosk, bis ihre eigenen Geheimnisse sie einholen.

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Sabine Werz

Kiosk

Roman

Edel:eBooks

Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel:eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © 2000 by Sabine Werz

Eine frühere Ausgabe erschien bereits unter dem Titel "Kölsch und Kamelle".

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-185-9

edel.comfacebook.com/edel.ebooks

Über das Buch:

In keiner Stadt fehlen die Verkaufsbuden für Bier und Bonbons, Zeitungen und Zigaretten. Für Kinder sind sie ein bezahlbares Schlaraffenland, für die Großen Klatschbörse und Beichtstuhl. So auch der Kiosk vom redseligen Jakob. Er ist alltäglicher Treffpunkt für die schrullige Rose Quittländer oder für Nikita, die Kleine mit dem Huckleberry-Finn-Gesicht, die mit Gespenstern spricht. Hier begegnet Buddy, der Brabbler, dem Künstler Kwiatkowski, und der Dachdecker entfaltet - leicht schwankend - seine Gedanken über Gott und die Welt. Nach Jakobs Tod droht dem Kiosk das Aus durch die Abrissbirne und den Bauunternehmer Krahwinkel. Bis Karla auftaucht, eine Frau zwischen zwei Jobs und zwei Affären. Gewitzt gräbt sie Geschichten aus, von denen viele - vor allem Krahwinkel - hofften, sie seien vergessen. Karla wird zur Königin des Kiosk, bis ihre eigenen Geheimnisse sie einholen.

Personen, Schauplätze und Geschichten dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Prolog

Da gibt es nichts zu erzählen, würde der Antiquar sagen und den Walkürenritt auflegen. Bei geöffneten Fenstern, damit der ganze Kattenbug es hört. Trostlose Drecksgasse, verrottete. Das macht er so, seit Jakob tot ist, dem der Kiosk unten im Haus gehört hat. Fünf-, sechsmal am Tag die knisternde Schallplatte, manchmal tief in der Nacht.

Er hat deswegen auch schon vor Gericht gemußt, aber der Richter hat entschieden, daß das fünfmalige Abspielen des Walkürenritts keine Lärmbelästigung ist. Er hing der Theorie an, daß schlechte Filme junge Menschen auf die schiefe Bahn bringen, Wagner hingegen zur Besserung des moralischen Gesamtgefüges beiträgt.

Was schon am Abend nach Einstellung des Verfahrens, als der Antiquar erneut den Walkürenritt spielt, widerlegt wird. Der alte Grimmkopf hat die Lautsprecher außen auf die Fenstersimse gestellt. Es ist halb acht, und die Walküren reiten mit vollem Orchesterschall auf die gegenüberliegende Hausfassade zu, prallen ab und reiten donnernd, wie mit verdoppelter Wut zurück und immer so hin und her. Der Antiquar steht seitlich zum geöffneten Fenster und dirigiert Schatten an die Wand. Wenig später fliegen Steine, treffen die schräg stehenden Scheiben, Glas zerklirrt, und ein Splitter verletzt den Antiquar über der linken Braue.

»Pech gehabt, alter Dickschädel«, grölen die Steinwerfer und geben Fersengeld, als unten im Haus die Tür vom Kiosk aufgeht. Kwiatkowski baut sich im Türrahmen auf und schreit »Wichser« in die dämmrige Gasse. Auch nur ein Maulheld, findet der Antiquar und schlägt die zerschmissenen Fensterhälften so hart zu, daß Glas auf Kwiatkowski runterregnet, der ganz freundlich nach oben schaut.

Trotzdem. Drecksgasse, verrottete. Der Antiquar hebt behutsam den Arm des Plattenspielers, sucht eine Rille, setzt präzis die Nadel auf. Die Walküren nehmen erneut Anlauf. Auf dem Stück Gasse, wo der Antiquar wohnt, hoch oben im Giebel eines schmalen Backsteinhauses, ist der Kattenbug tatsächlich verrottet. Eine alte Gasse. So alt, daß nur die wenigsten Anwohner wissen, warum sie so heißt. Sie wissen nur, was es heißt, auf diesem kurzen Stück vom Kattenbug zu wohnen. Man wird beäugt und belinst oder mit sichtlicher Anstrengung übersehen von denen, die weiter obenan leben. Wer durch Zufall in die Gasse gerät, beschleunigt an dieser Stelle seine Schritte.

Dabei ist dieses Stück vom Kattenbug das älteste. Vor etwa fünfhundert Jahren wird es das erste Mal in Quellen erwähnt, höchstwahrscheinlich existiert die Gasse seit der Römerzeit. Würde das Geld dazu nicht fehlen, hätten die Denkmalpfleger auf dem Trümmergrundstück neben dem Kiosk schon längst Grabungen vorgenommen. Sie vermuten tief unter der Erde eine Kultstätte für Merkur, Gott der Händler, Diebe und Lügner.

Man darf bezweifeln, daß das für die Nachbarn vom Antiquar und die Stammkunden von Jakobs Kiosk von Interesse ist oder daß es für sie tröstlich wäre zu wissen, daß Auf dem Kattenbug, so der vollständige Name, nichts anderes als Auf dem Katzenbauch bedeutet und vom Mittelalter herrührt, als hier die Abtrittfeger, Mistschräffler, Darmsaitendreher, Knochenschnitzer und Kadaversammler hausten. Im Dunst der Faulgase, die den gehäuteten und geplünderten Bälgen toter Katzen entstiegen.

Zwischen geborstenem Kopfsteinpflaster wächst tief unter den Fenstern vom Antiquar sommers das Gras und frieren winters Taubendreck und Hundekot, was im Frühjahr dem Gras zugute kommt. Radfahrer hebt das Buckelpflaster aus dem Sattel, unkundige Autofahrer hüpfen beim Aufprall in den Schlaglöchern auf ihren Sitzen. Und das mitten in Köln, stellen sie kopfschüttelnd fest, bevor sie Gas in Richtung Schnellstraße geben oder kurz anhalten, aus dem Wagen springen und am Kiosk ein Päckchen Marlboro oder die Computerbild kaufen. Hier läßt sich’s gut anhalten, weil von hinten keiner drängelt, und wenn’s einer tut – »Sie schäle Printe, Sie, das ist doch hier keine Rennstrecke« –, dann kratzt das niemanden.

Nach Schulschluß kommen die Kinder, hängen in Trauben kurz über der Thekenkante und ordern lautstark Brausebonbons, Stangeneis und Sammelbildchen von »Star Wars«. Gegenüber vom Kiosk erinnert ein im zweiten Stock geköpftes Haus noch an den Krieg. Unten ist vor fünfzehn Jahren der letzte Metzger ausgezogen, weshalb die »1 a Teewurst aus eigener Herstellung«, für die ein verblichenes Pappschild wirbt, noch immer neunundvierzig Pfennig kostet. Genutzt hat sie dem Metzger nichts, er war noch zu teuer für diesen Teil vom Kattenbug, obwohl der vor dem Krieg eine recht ansehnliche Einkaufsstraße war, so eben auf dem Weg nach oben, wohlanständig, vor allem die jüdischen Geschäfte für Weißwaren, Wirkwaren, Porzellan, Feinkost en gros und en detail.

Hinter dem Pappschild im verschmierten Metzgerei-Schaufenster, hinter nachlässig aufgehängten Decken, hausen jetzt der Dachdecker und manchmal, wenn sie nichts Besseres vorhaben, auch Kalle und Buddy. Da stören sie keinen, und es ist besser als im Männerheim St. Agathe zwei Straßen weiter, wo sie nicht hingehören, denn der Dachdecker besorgt gelegentlich Baustellen-Jobs, die fürs Nötigste reichen, und im Kiosk gegenüber schreibt Jakobs Frau, das Lenchen, – »Lena für euch drei« – bis 200 Mark an – »danke, Sie sind nett, Frau Lena, schönen Tach auch«. Im ersten Stock des enthaupteten Metzgerhauses, wo die Wände schimmeln, wächst eine Birke durchs leere Fensterkreuz und freut den Dachdecker von Herzen. Im Mai hängt er bunte Bänder und seine Träume hinein. Das Haus will er kaufen und aufmauern bis in den verschwundenen vierten Stock oder einen nie vorhandenen fünften, je nachdem wieviel er getrunken hat. Und weil er in und von diesem Haus schon solange träumt, ist die zerklüftete Ruine sein Zuhause geworden.

Manchmal, wenn er seinen Blaumann anhat und nüchtern und manierlich ist, greift er sich bei Lena einen schmalen weißen Block und skizziert sein Bauvorhaben. Und bauen kann er tatsächlich so allerlei. Er wird nur meistens nicht fertig mit dem, was er anfängt. Lenas Haus ist voll von seinen angefangenen Baustellen, weil der verstorbene Jakob nie nein sagen konnte, wenn der Dachdecker Pläne gemacht hat. Schöne Pläne. Da ragt ein Stück Wendeltreppe aus Betonguß aus dem Kellerboden und führt zu nichts, und im Dach hat er mal eine Wand durchbrochen für einen Wintergarten mit Domblick. Seither sitzt der Antiquar gleichzeitig im Wohnzimmer und im Treppenhaus, und die Walküren haben viel Auslauf. »Das wird schon«, hat der Jakob immer gemeint, aber Lenchen stolpert auf dem Weg zur Waschküche regelmäßig über die Treppe ins Nichts.

»Schön, ja«, sagt sie inzwischen zu den Skizzen vom Dachdecker, auf keinen Fall »weiter so«, aber jedesmal »schön, ja«. Sie will keinem Menschen seine Träume miesmachen. Das wäre schlecht fürs Geschäft, und die Träumer würden zum neuen Drogeriemarkt abwandern, wo es das Bier in Büchsen für neunundsiebzig Pfennige gibt.

Pläne haben viele hier auf dem Kattenbug und erzählen viel davon, wenn sie vor dem Kiosk stehen und sich gewichtig über die Theke mit den Zeitungsstapeln beugen. »Wissen Sie eigentlich, was ich machen würde, wenn ich könnte?« Sie pflegen ihr Leben im Konjunktiv mit der unerschütterlichen Selbstzufriedenheit werdender Mütter. Die Theke hat Lenchen gern zwischen sich und den schwankenden Gestalten und deren Plänen. Zu nah darf man so was nicht an sich ranlassen. Sie verkauft nur durchs Schiebefenster. Die Tür bleibt zu. Sie hat genug mit dem Laden zu tun, vor allem seit der Jakob tot ist, der im übrigen der ärgste Plänemacher von allen war. Nebenan und schräg gegenüber wohnen alte Leute in rissigen Häusern mit grauem Putz, vergessen wie die Gasse. Und Kurden, die Röcke kürzen und vom eigenen Pizza-Taxi träumen, und junge Eierdiebe, die für eine Nase Koks oder den nächsten Schuß einer Oma die Handtasche klauen, und seit anderthalb Jahren der Kioskgehilfe und Künstler Kwiatkowski, der fleißig Schädelplastiken verfertigt, weil er mal Totengräber war und Beuysschüler an der Akademie in Düsseldorf. Aber das ist noch so eine Geschichte, von der hier niemand was wissen will.

Dann gibt es noch verschiedene Sozialfälle, so farblos wie das Kopfsteinpflaster, denen gehören die Hunde, die nachts die Gasse verschmutzen, und dazu noch ein Satz Studenten, die das alles für das wirklich wahre Leben halten oder für eine soziale Idylle, was noch vermessener ist, als es die Pläne des Dachdeckers sind.

Zusammen führt sie manchmal Lenchens Kiosk und die Tatsache, daß die meisten von ihnen freiwillig oder unfreiwillig Herr über ihre Zeit sind. Da stehen sie in wechselnder Besetzung von früh um acht bis abends zehn auf dem Buckelpflaster bei Kaffee in knisternden Plastikbechern, erklären sich die Welt und halten sich für den Mittelpunkt. Wer sich zu benehmen weiß, wie Kalle, Buddy und der Dachdecker, der kriegt auch seinen Korn mit Büchsensahne zu einsachtzig, was zusammen Mäusemilch heißt und den Magen schont, aber billiger ist als ein kleiner Jägermeister zu zweineunzig.

»Ich bin nicht so fürs Süße«, erklärt der Dachdecker ein ums andere Mal seine Abscheu gegen den klebrigen Magenlikör, wenn sonst kein Gespräch aufkommen will. In seine Mäusemilch gehört ein Stück Zucker, kein Krümel mehr. »Wegen der Bauchspeicheldrüse.« Ihm ist wichtig, daß man über seine Gesundheit Bescheid weiß und darauf gefälligst acht gibt. Frau Lena respektiert das, tut zumindest so, als ob sie hinhört, wenn sie nicht gerade Zigarettenpäckchen einsortiert oder die Kühlschränke auffüllt oder feucht durchwischt, weil eine Pfandflasche nicht sauber geleert war und saures Bier auf den Boden ausgelaufen ist.

»Macht ma Platz, bitte«, scheucht Lenchen die Mäusemilchtrinker rüde zur Seite, wenn besonders ernsthafte oder besonders eilige Kundschaft kommt. Die Ernsthaftesten sind meist die Eiligsten und nehmen sogar mal eine Flasche Moet mit zu sechsundfünfzig Mark. Man kann nie wissen, weshalb bei so welchen sogar der Kwiatkowski die Tagediebe mit hochgezogenen Brauen und dem Kopfruck »Abmarsch« vom Kioskfenster wegdirigiert. Er hilft hier nur aus, weil der Jakob ja nun tot ist, dem die Bude eigentlich gehört hat. Was heißt eigentlich. Für die meisten gehört sie ihm noch, obwohl jetzt ein paar Zentner Erde auf ihm lasten.

Die alte Rose Quittländer läuft jeden Tag vorbei, um gegen Jakobs unerwartetes Ableben zu protestieren, und kauft keine Rätselhefte mehr. Jakobs Tod ist für sie eine glatte Beleidigung. Macht sich einfach so vom Acker. Vor seiner Zeit. Mit eben mal achtundsechzig. Die alte Rose ist fast fünfzehn Jahre älter, als der Jakob war. Da stirbt man nicht einfach vorneweg. Ein Jahr ist das her, und Rose hat seitdem nicht mehr gegrüßt, denn die Lena wohnt gerade mal zwanzig Jahre auf dem Kattenbug, rannte früher in bodenlangen Wallegewändern barfuß herum, lächelt zuviel und tut so verbindlich, als wäre bei ihr, der Rose, was morsch im Gebälk. Pah, wer ist denn barfuß durch die Gasse gelaufen? Sie wird noch den ganzen alten Kattenbug überleben, und keiner wird – wie beim Jakob – an ihrem Grab stehen und verklärend seufzen. Schon gar nicht die Zugezogenen. Für Rose Quittländer ist das jeder, der nicht hier geboren ist oder wenigstens ein halbes Leben hier wohnt und sie unaufgefordert von Anfang an grüßt. Anders als die Bagage, die weiter oben an wohnt und sich für was Besseres hält.

Gut hundert Meter entfernt, auf der gleichen Seite, werden die Häuser wirklich besser. Da, wo die Gasse einen Bogen schlägt, zum Trichter wird und frisch asphaltiert in eine vierspurige Schnellstraße mündet, die Köln von Ost nach West zerschneidet. Hier steht ein Bürohochhaus mit braun verspiegelten Fenstern, häßlich wie der Straßenlärm, und ein einsames, unversehrtes Mietshaus aus der Gründerzeit, von Bomben verfehlt, obwohl der ganze Kattenbug vierundvierzig lichterloh brannte und der Phosphor sich bis in die Keller fraß und die Menschen zu schwarzen Klumpen schrumpeln ließ, kaum größer als ein Brot. Am Tag danach konnte man bis zum Dom sehen.

Die Rose Quittländer weiß das noch. Aber wen interessiert das schon? Jedenfalls ist das Gründerzeithaus seither fehl am Platze, begrünt, berankt, mit frisch geweißtem Stuck und diesem Brimborium von heiler Welt ohne Untergang. In den Fenstern hängen gehäkelte Halbgardinen, dahinter wohnen Studienräte und Steuerberater. Im Erdgeschoß haben die Rosenkreuzer ihr Zentrum. »Gott ist das Licht, und alles Licht ist bei Gott«, verkündet ein verblichenes Plakat in einem mannshohen Flügelfenster. Davor welken Stiefmütterchen.

Neben dem Altbau erheben sich graubraune Achtziger-Jahre-Festungen aus Betongußteilen mit wehrhaften Balkonen, in deren Gevierten sich das Rauschen des Verkehrs fängt. Hier wohnen die mittelmäßig Satten, die vom Leben längst Enttäuschten, die Sachbearbeiter und Angestellten, deren Träume sich im Lottogewinn erschöpfen. Ihre einzige Frage ans Leben lautet: »Und wer bezahlt das wieder?« Darauf haben sie auch die Antwort: »Wir.«

Da wird abends um neun die Haustür verschlossen – zweimal rum – wegen der Eierdiebe und dem anderen Gelichter vom Kiosk, dem man die gemeinsten Grausamkeiten zutraut, schon wegen der Hundehaufen im Kopfsteinpflaster. Hier wird jeden Samstag der Keller gefegt. Hier erregen die Walkürenritte des Antiquars äußerstes Mißfallen, obwohl man sie im Rauschen des Verkehrs nicht hören kann, sondern nur auf dem Weg zu dem neuen Drogeriemarkt, der am anderen Ende vom Kattenbug entstanden ist, da, wo die Gasse sichelförmig auf eine fünfstrahlige Kreuzung trifft, die sich wie vorm Krieg noch Platz nennt und trostlos ist wie Bukarest.

Auf dem Weg dahin also umdonnern einen in Höhe des Kiosk die Walküren, überfallen einen hinterrücks, immer voran die machtvollen Bläser und drängend die Streicher hinterher. Wenn es unerwartet los geht, macht man einen Satz. Direkt vor Lenchens Bude, und die Mäusemilchtrinker gröhlen.

Nachtjackenviertel. Alles Pack.

Was Unsinn ist. Der Antiquar allerdings ist ein ausgemachter Sonderling. Er heißt so, weil er da, wo jetzt der neue Drogeriemarkt ist, einen Buchladen gehabt hat. In einem Flachdachbau, hastig hochgemauert in den Fünfzigern, der zur Hälfte das tiefe Grundstück einer ehemaligen Brauerei ausfüllt. Die andere Hälfte vom Grundstück ist neuerdings mit würfelförmigen City-Apartments für Bestverdiener bebaut: »Höchster Wohnkomfort, zehn Gehminuten zur Innenstadt, Blick auf die Domspitzen, Tiefgarage, ruhig einschlafen, entspannt aufwachen«. Nur ganz verzweifelte oder ganz gleichgültige Seelen fallen darauf herein. Leichenhalle nennt der Künstler Kwiatkowski den Bau, weil man die wenigen Bewohner nie zu Gesicht bekommt.

Der junge Krahwinkel hat das Haus hochziehen lassen. Ein dynamischer Versager mit zwei Handys in der Tasche und Vaters Geld auf dem Konto. Dem alten Krahwinkel gehören auf dem Kattenbug das leere Grundstück neben dem Kiosk und acht oder neun Häuser, so genau weiß das keiner, nicht mal Rose Quittländer. Sie erinnert sich nur, daß die weggebombte Nummer achtzehn, neben dem Kiosk, dem Krahwinkel gehört, wo vor dem Krieg der »olle Jüdd« Korinthenberg seinen Glas- und Kerzenladen hatte.

Jetzt will der Junior die ganze Gasse umkrempeln. »Letzte innerstädtische Baulücken schließen«, von denen er glaubt, daß der alte Herr, der auf die Neunzig geht, sie übersehen hat. Obwohl der Junior an seinem Apartmentblock noch keinen Pfennig verdient hat, macht er weiter und sich lächerlich, wenn er in Bauhelm und Burberry-Trench über den Kattenbug hastet und wie belästigt zu Lena herübergrüßt: »Keine Zeit, keine Zeit«. Als ob ihn danach einer fragt.

Der verstorbene Jakob kannte den Junior noch als dickes Kind und vorlauten Fetz mit zuviel Taschengeld, für das er Unmengen von Mäusespeck und Brausestäbchen und Leckmuscheln gekauft hat, um Eindruck zu schinden. Scheint, daß das dicke Kind sich jetzt die ganze Gasse einverleiben und daran den Magen verderben will.

Immerhin ist der flammneue Drogeriemarkt, der den Laden vom Antiquar abgelöst hat, jetzt mit Granitplatten verblendet, auf dem Dach leuchten orangefarbene Buchstaben, umtanzt von grellen Luftballontrauben. Vor der Glasfront blinken Gitterkörbe mit Spülmittelflaschen zum Eröffnungspreis und verbilligtem Katzenfutter. Ganz so, wie man es aus Fußgängerzonen mit rotgrauem Mosaikpflaster, Tchibofilialen, H&M-Shops und bepflanzten Betonkübeln kennt. Nachts sieht der Drogeriemarkt tot und trostlos aus, und die Luftballons wirken wie verirrte Gespenster. Nur Jakobs Kiosk leuchtet bis abends um zehn.

1

Mit dem Kiosk ist demnächst Schluß, wenn es nach Krahwinkel und seinen Bauplänen geht. Jetzt, wo der Jakob tot ist, der sentimentale Hund, wird sich da wohl was machen lassen. So viel weiß der Krahwinkel, daß die Lena dem Geschäft nicht gewachsen ist.

Er weiß nichts von Karla, die in einem seiner Apartments neben dem Drogeriemarkt wohnt. Keiner am Kattenbug kennt die junge Frau, aber sie kennt den Kiosk und überlegt, ob sie nicht endlich einmal hinübergehen soll. Unschlüssig steht sie am Fenster, schaut durch die Schlitze einer Jalousie in die Frühjahrsdämmerung hinaus. Die Leuchtreklame über der Bude verströmt milchiges Licht. Sie erinnert sich an hellrote Erdbeeren aus Schaumzucker, die den Gaumen rauh schmirgeln, und an Zeitungspapier mit gelbem Tabakgeruch.

Unsinn, denkt sie, ich gehöre da nicht hin. Immer noch lauter Schwätzer da, verhungerte Seelen, die ihr Leben verpaßt haben oder verplempert für kleinlaute Illusionen. Das letzte, was sie braucht. Keiner belügt mich besser als ich selbst, verhöhnt sie sich stumm. Sie zieht die Jalousie hoch und macht das Fenster einen Spalt auf. Wagners Walküren nähern sich von ferne, drängeln durch den Fensterspalt. Von ferne? Vom Kiosk.

Der Antiquar. Unverbesserlich. Ach was. Hat sie im Stich gelassen, war nicht der einzige. Hat er bestimmt vergessen. Weiß sicher nicht mehr, daß es sie gibt. Würde sie nicht wiedererkennen. Hat sich einen Dreck gekümmert. Genau wie Jakob. Soll in Frieden ruhen. Schluß damit. Alle sollen sie in Ruhe lassen, erst recht diese verdammten Walküren.

Schnell schlägt sie das Fenster zu. Sie muß an die Luft, sie braucht ein Bier. Eins? Verfluchter Kattenbug, sie hätte nicht wieder herkommen sollen. Man kehrt nicht als derselbe zurück, wenn man lange unterwegs war. Verfluchter Jakob. Nur raus. Auch Erinnerungen sind Illusionen. Sie hat genug davon. Das hat sie mit dem Antiquar gemeinsam. Am Drogeriemarkt vorbei taucht sie ab in die nächste Gasse. Raus aus der Vergangenheit.

Zur Zeit vom Antiquar war der Laden, der jetzt Drogeriemarkt ist, angefüllt mit schiefen Regalwänden. Bis unter die Decke und in den letzten Winkel des Lagers hinein. Bücher, nichts als Bücher standen darin, die nach Staub und Schimmel gerochen haben, und der Antiquar hockte dazwischen wie der Hüter des verlorenen Schatzes, mit gelbweißer Mähne und mißvergnügtem Lächeln, immer schweigsam und verschlossen. Kein Mensch weiß, wie er davon hat leben können, nur der Antiquar, aber der findet, daß es darüber nichts zu erzählen gibt. Auch nicht darüber, warum er den Laden vor knapp einem Jahr, kurz nach Jakobs Tod, ratzfatz aufgelöst hat.

Was Buddy, der Kumpel vom Dachdecker, ihm sehr übelnimmt, denn er war gerne im Laden und hat die Bücher sortiert. Wie er meint. Er hat die aus dem Regal genommen, die auf dem Kopf standen, einmal gestreichelt, umgedreht und wieder hingestellt. Buddy liebt Bücher, weil die Wörter darin ihren geregelten Platz und eine Ordnung haben, anders als in seinem Kopf, da trudeln sie durcheinander und finden keinen Halt und zerfallen auf dem weiten Weg von da oben bis runter in seinen Mund zu wüsten Buchstabenfolgen, die er dann mühsam mit der Zunge zusammensucht, mehr nach ihrem Geschmack als nach der Grammatik.

Sein Hirn hat eben zu viele Windungen und Sackgassen, in denen die Wörter sich verirren und kaputtgehen. So erklärt er sich das. Die anderen halten ihn für einen Deppen. Schon weil er so ein eingedrücktes Gesicht hat, als hätte einer während der Geburt die Faust mittenrein gepreßt und alles dahin verschoben, wo es nicht hingehört. Was der Wahrheit recht nahe kommt. Aber er ist kein Depp, und der Antiquar hat das gewußt und ihm zugehört. Glaubt Buddy. Manchmal verkriecht er sich auf das Trümmergrundstück neben dem Kiosk und brabbelt gegen die Mauer. Irgendwann muß das doch was werden.

»Markor«, murmelt Buddy jetzt. Es ist fünf vor zehn und schon lange dunkel. Lenchen schiebt ihm ein Päckchen Marlboro hin und eine Dreiviertelliterflasche Korn, die Hausmarke zu zehnneunzig. Scheint zu stimmen. Buddy streckt die Pranken vor und versenkt beides in die Taschen seiner schmutzigen Zimmermannshose, Erbstück vom Dachdecker, ständig verliert der Buddy seine eigenen Sachen.

»Schrei au, Da-da.« Aufgeregte Pause, dann angelt er tief aus seinem Rachen noch ein kratziges »CH« wie in Lachen hervor und schließt zu seiner Verwunderung und Freude mit einem ganzen Wort. »Dach«.

Buddy führt das Wort noch dreimal vor wie einen Tiger, der durch einen brennenden Reifen springt. Lena nickt knapp.

Ihr geht die Geduld vom Jakob ab, der für Sonderlinge was übrig hatte. »Jaja, ich schreib’s beim Dachdecker an, aber nu mach hin, ich mach gleich dicht.« Sonderlinge waren so eine Art Sammelleidenschaft vom Jakob. Vielleicht liegt das am Geschäft. Nach fünfunddreißig Jahren Kiosk kennst du sie alle, die Halbseidenen und Halbgaren, die Besserwisser und Besserverdiener, die normalen Monster und die monströs Normalen, da bleibt am Ende eine Vorliebe fürs Verschrobene übrig. Jakob liebte nun mal Anekdoten.

Oben legt der Antiquar noch einmal den Walkürenritt auf, obwohl ihm die Scheiben gestern erst zerschmissen worden sind. Buddy wirft verklärte Blicke hoch, so schön ist das. Er weiß, daß zu der Musik so Geschichten von Drachen dazugehören und von Zwergen, und alles zusammen klingt fast wie Nebel und ist eine richtige Geschichte von ganz von früher, als es so was noch gab. Wofür es Worte gibt, das gibt es auch, ahnt Buddy dunkel. Der Antiquar hat ihm davon erzählt und Bilder gezeigt und Buchstaben, in denen sich die Drachen verstecken. Goldene Buchstaben und blaue Drachen mit Flügeln. »Das, Buddy, ist mein wertvollstes Stück«, hat der Antiquar ihm anvertraut, und es eines Tages einfach verkauft. Mit dem ganzen Laden, wo es doch hingehört hat. Buddy brummt unwillig und geht.

»Dem alten Querkopf da oben fehlt der Jakob«, sagt das Lenchen mit einem Blick zum Dachgiebel, während sie die Papierkörbe mit der Eisreklame von den Mauerhaken nimmt. Kwiatkowski nickt langsam und wuchtet knirschend den Zeitungsständer über die Türschwelle in den Kiosk. Er packt das rauhgewebte Rollband des Gitters, hakt es los und läßt es genußvoll durch seine Handflächen gleiten. Das Gitter seufzt in den Angeln.

Früher, wenn der Antiquar das Rasseln des Rollgitters gehört hat, ist er oft heruntergekommen. Abends um zehn.

Zwei-, dreimal die Woche, um Bier zu trinken. Im Hof hinter dem Kiosk, wo Knöterich die roten Ziegelwände herabwuchert und Jakob mit dem Dachdecker seine Küche gebaut hat. Eine ziemlich monströse Küche mit gemauerter Front und offenem Kamin in einem viel zu kleinen Anbau. Der Dachdecker hatte dabei mal wieder seine Phantasie nicht im Griff gehabt.

Früher haben Jakob und der Antiquar in der Küche Musik gemacht. Der Jakob mit einer Mundharmonika und der Antiquar mit einem Banjo. Folk war die Droge. So bis in die frühen Achtziger, als Lenchen noch Wallegewänder trug und barfuß gelaufen ist. Nach einer Weile ist es immer das gleiche Lied gewesen.

»Wie zwei Verliebte«, hat sich das Lenchen halb gewundert, halb gefreut. Die beiden sangen irgendwas Schottisches über junge Helden, die in den Krieg ziehen wollen gegen Frankreich und auf sommergrünen Wiesen auf Segelschiffe warten, die sie holen sollen, und dann sterben sie den frühen Tod auf dem Schlachtfeld, und der Refrain sind zerrissene Därme, zerfetzte Schultern und die Flasche als einziger Freund. Den beiden Musikanten gefiel das. Haben sich dabei wohl für echte Kerle gehalten, denkt Lenchen und irrt sich.

Sie hat sich in ihrem Leben öfter in Männern und deren Träumen geirrt und ist ihnen treu geblieben. Sie ist der Typ Siedlerfrau, die klaglos im Präriewagen gen Westen zieht und nebenher Kinder gebärt und Indianer massakriert. Ihr Erster, da war sie dreiundzwanzig, hat alte VW-Busse nach Nepal chauffiert, durchs wilde Kurdistan, durch Afghanistan, jedenfalls immer durch die Wallachei. Und Lenchen neben ihm. Freiheit nannte er das.

Die Busse hat er dann in Nepal verkauft, und davon konnten sie drei Monate »da unten leben« – wie Lenchen sagt – bei Dope, Reisgerichten und Tee mit ranziger Yakbutter. Hat ihr nicht besonders geschmeckt, drum nahm sie später immer Knäckebrot und Margarine mit. Botteram mochte sie am liebsten.

Mit Dope für den Kleinhandel daheim ging es dann irgendwann in einem Flieger zurück, der Dopeerlös finanzierte den nächsten Bus, und ab ging es wieder in die Freiheit, die die Nepalesen ein Heidengeld gekostet hat. VW-Busse waren ein Riesengeschäft, da unten damals. Einmal haben sie einen Bus nicht verkauft bekommen, da mußten sie retour, samt Bus. Statt Dope hat ihr Erster ein Schneetigerjunges aus dem Himalaja mitgenommen, das er einem zwielichtigen Jäger mit platter Nase und verkniffenen Augen abgehandelt hat. Lenas Erster behauptete, das Viech sei mindestens zehntausend Mark wert, weil die Schneetiger vom Aussterben bedroht sind. Das Tigerbaby ist der Lena kurz vor dem Hindukusch auf dem Schoß weggestorben an einem gräßlichen Durchfall. Es hat so erbärmlich gestunken, daß ihr Erster es kurzerhand aus dem Fenster geworfen hat. Seither hat Lenchen es nicht mehr mit dem Träumen, aber spendet einmal im Jahr hundert Mark für den Worldwildlife Fund, Verwendungszweck »Schneetiger«.

Anderen macht sie die Träume nicht kaputt. Schon gar nicht Männern. Auch dem Jakob nicht, dessen Abenteuer Gott sei Dank mehr im Kopf stattfanden und hinten im Hof und in der vollgestopften Küche und in schottischen Folksongs.

Irgendwann war das mit der Singerei dann vorbei. Jakob und der Antiquar haben nur noch Bier getrunken. Geredet hat immer der Jakob. War ein heilloser Lügner, würde der Antiquar sagen. Einer, der sein Leben lang nach Pointen rang, als hätte das Leben eine andere als den Tod. Aber das hat der Jakob nie einsehen wollen und Geschichten erlogen und immer die Wirklichkeit ausgebessert.

»Wat willste?« hat Jakob manchmal gefragt. »Siehste nicht, wie die Leute das freut?«

Lauter sinnlose Geschichten, findet der Antiquar, sinnlos wie das ganze Leben, wenn man sich nichts vormacht. Der Jakob freilich hat sich immer was vorgemacht und sich für eine lokale Größe gehalten, weil er einmal ein Lied über den Kattenbug gedichtet hat, das in der Rundschau abgedruckt und von einem kleinen Karnevalsverein zum Erkennungslied erkoren worden ist. Danach galt der Jakob als Kölns fröhlichster Kioskbesitzer, und manchmal schauten Journalisten vorbei, Volontäre mit Hang zur großen Sozialreportage, um über ihn und den sterbenden Kattenbug zu berichten. Dann hat der Jakob Sprüche geklopft, »da könnte ich Ihnen Geschichten erzählen, Geschichten«, und hat nicht weiter gewußt. Besser er hätte den Mund gehalten, findet der Antiquar.

In diesem Jahr wollte Jakob sein Jubiläum feiern: Fünfunddreißig Jahre fröhlicher Kioskbesitzer vom Kattenbug. Ein Straßenfest hat er geplant, das immer größere Ausmaße annahm und die Gasse zu sprengen drohte, Jazzkapellen auf Pritschenwagen, ein Kinderkarussell, selbstgezimmerte Reibekuchenbuden vom Dachdecker, Lotteriespiele für einen guten Zweck, Trödelstände entstanden in seinem Kopf und ein Ansturm der Presse.

»Der Kattenbug, das ist überhaupt das Leben, da liegt die Welt drin«, hat er getönt, fröhlich übersehend, daß das ganze Land im Sommer zum Straßenfest wird und die Jazzkapellen einen bis auf die Rolltreppen neu eröffneter Einkaufszentren verfolgen. Lenchen hat ihn wie immer machen lassen, bis kurz vor Schluß.

Am Ende ist Jakob erstickt. Lungenkrebs. Den letzten Atemzug hat er nicht mal mehr ausgestoßen, die Luft ist woanders entwichen, wo Jakob sie nicht mehr brauchen konnte. Kwiatkowski, der Maulheld, hat aus seiner Zeit als Totengräber mal erzählt, daß die Leichen sogar im Sarg noch furzen. Kein Wunder, daß der Antiquar so was nicht wissen will.

Vier Wochen nach der Diagnose war Jakob schon tot. Ohne letzte Worte. Unpassendes Ende für einen geborenen Faselhans, würde der Antiquar sagen, wenn er davon erzählen würde. Aber er hat sich seither ganz aufs Schweigen verlegt.

»Der Jakob ist die Stimme, und du bist das Ohr«, hat Lenchen früher immer gemeint, und wenn sie ein wenig betrunken war, hat sie hinzugefügt: »Zusammen gebt ihr einen ganz anständigen Mann ab.«

Unsinn, würde der Antiquar sagen und wieder den Walkürenritt auflegen. Gerade wimmeln und wuseln die Streicher ein dramatisches Furioso zusammen, hektisch, so als müßten sie verstreute Noten vom Boden auflesen und dabei die Bläser einholen oder einen Bus.

Die können schon nerven, diese Walküren, denkt Kwiatkowski und holt die im Aprilwind knatternde Eisfahne ein. Überhaupt Wagner, viel zu aufgedonnert, kein Sinn für Stille. Gute Musik öffnet in uns verborgene Räume, bei Wagner ist es so, als schlüge er mit Wucht alle Türen zu. Findet Kwiatkowski.

Nikita wiederum, die sich von Pflasterstein zu Pflasterstein – nie auf den Strich treten und nur jeden zweiten Stein nehmen – auf den Kiosk zuarbeitet, in der Hoffnung, ihn zu erreichen, bevor Kwiatkowski das Rollgitter hinabfahren läßt, findet das Wüten der Wagnergeigen wunderschön. Da wird sich der Eckenflüsterer nicht aus seinem Versteck bei der verlassenen Metzgerei heraustrauen. Der steht da, seit Jakob tot ist, und murmelt Verwünschungen. Und vielleicht verstummt unter der Musik auch die schwindelhohe Ziegelmauer vom Trümmergrundstück neben dem Kiosk, die ein einziges Wispern und Flüstern ist, weil sich in ihrem Moos und ihren Ritzen nachts die Dämonen und Spottgeister versammeln.

Es ist nicht leicht, wenn man neun Jahre ist und die eigene Mutter vor den Dämonen beschützen muß, die überall lauern, weil sie so wunderschön ist, daß an ihr ständig das Häßliche Rache nimmt. Beim Tarotspiel zieht die Mutter immer den Tod, ein höhnisch grinsendes Gerippe.

Ratsch – das Rollgitter ist unten, und Nikita erschrickt, zwingt ihren Atem nieder. Jetzt muß sie ganz leise sein, um die Hölle nicht zu wecken. Mit doppelter Anstrengung starrt sie aufs Pflaster, nur keinen Strich berühren, den Fuß ganz vorsichtig auf den übernächsten Pflasterstein setzen und lautlos ausatmen. In der Badewanne übt sie unter Wasser regelmäßig das Luftanhalten und hat es schon auf eine Minute gebracht.

Früher hat der Jakob oft in der Kiosktür gestanden und gewartet, ob sie noch kommt. »Na, Spritzbilla, wo marschierte lang«, hat er gerufen, und der Antiquar stand daneben und hat so grimmig geguckt, daß die Mauer verstummte, und alles war gut. So wie den Antiquar stellt Nikita sich Gott vor, ein unversöhnter alter Zauberer, der das Böse in Schach hält, weil er noch viel böser sein kann und viel mächtiger, wenn er will und man ihn gnädig stimmt. Das Rollgitter trifft mit schnappendem Geräusch auf die Eisenschiene am Boden.

»Wird immer kauziger«, sagt Kwiatkowski im Kiosk zu Lenchen und meint den Antiquar. Lenchen hört nicht hin. Sie sitzt auf einem umgedrehten roten Bierkasten, zählt leise flüsternd das Geld und kraust die Stirn. »Das geht nicht mehr lang«, sagt sie.

»Ach was, so schlimm ist das doch nicht«, meint Kwiatkowski.

»Nicht schlimm? Es läuft beschissen.«

»Was meinen Sie?«

»Den Laden. Die Umsätze gehen immer weiter runter. 758 Mark an einem Sonntagabend mit Fußball-Länderspiel. Da trinkt man doch Bier, und ich habe zwölf Sorten kalt. Was haben wir früher an den kalten Getränken verdient.« Sie stellt den roten Kasseneinsatz mit dem Silbergeld auf die Eistruhe. Die Münzen klirren kurz und sacht.

»Glauben Sie, es liegt am Walkürenritt?«

Lenchen zuckt die Achseln. »Vielleicht am Drogeriemarkt. Die verkaufen Jacobi 1880 zu 7,98, und Bier und Sekt haben sie auch, hat der Dachdecker erzählt.« Der treulose Verräter der, denkt sie. Bei mir schreibt er an bis zum Letzten, und da nimmt er die Sonderangebote mit, und das nach allem, was der Jakob für ihn getan hat.

»Aber die haben kein Lenchen im Drogeriemarkt.« Kwiatkowski glaubt, daß so oder ähnlich Sätze klingen müssen, die ein Lenchen trösten. Lena steckt sich eine Zigarette an, zieht heftig und legt sie gleich wieder über die Kante vom Aschenbecher. Gewohnheitssache. Beim Bedienen hat sie nie die Hände zum Rauchen frei, da verqualmen ihre hektisch angezündeten Zigaretten nach wenigen Zügen im Aschenbecher, oft mehrere gleichzeitig, und überziehen die Negerküsse mit einem blaugrauen Schleier, der sie zäh macht und nach kaltem Rauch schmecken läßt.

Lenchen schaut Kwiatkowski fest an. »Die kommen nicht wegen mir, außer vielleicht der Dachdecker und sein Anhang, weil er anschreiben kann. Den anderen fehlt der Jakob.« Sie schweigt. Ihr fehlt er auch.

Kwiatkowski greift sich ein Bier aus dem Kühlschrank. »Auch eins? Die Laternen sind ja jetzt an.« Das ist so ein alter Scherz von Jakob. Lenchen trinkt frühestens nach Einbruch der Dunkelheit, meistens erst wenn der Laden zu ist. Erst ein Bier, dann eine Flasche Amselkeller, der mal Amselfelder hieß und aus Jugoslawien stammte. Ohne Stiele und Stengel gekeltert.

»Kann eins brauchen. Aber nehmen Sie eins von hinten, die sind kalt.« Sie trinkt und denkt nach. »Kwiatkowski, ich schaff das auf Dauer nicht alleine.«

»Ich bleib Ihnen noch eine Weile erhalten, so zweimal die Woche mach ich ’nen Tag.« Ihm wird mulmig, während er das sagt, zwar macht er das schon so, seit Jakob tot ist, aber wenn er was verspricht, wird’s offiziell. Sofort abhauen möchte er dann, auf Nimmerwiedersehen. Aus der Ferne sind ihm Freundschaften am liebsten. »Kwiatkowski, du bist ein Windhund«, hat der Beuys einmal zu ihm gesagt und einen Windhund auf eine Serviette gemalt. Die Serviette hat er noch immer.

Lenchen kann mit Kwiatkowskis Versprechen nicht viel anfangen. »Zweimal die Woche reicht nicht. Der Einkauf, fünf Tage Schicht, die Buchhaltung, die Remittenden, die Bestellungen – das ist zuviel. Außerdem gehört mir der Laden nicht mal. Jakob war ja immer noch mit seiner Ersten verheiratet, hatten auch das Kind.«

Kwiatkowski schüttelt langsam den Kopf. »Unsinn, die haben das Erbe ausgeschlagen, das Kabuff gehört Ihnen.«

Lenchen zieht die Stirn in Falten. »Und die Schulden.« Das »Kabuff« nimmt sie übel. Außerdem: Blut ist dicker als Wasser, denkt sie, sagt sie aber nicht, denn Kwiatkowski haßt solche Sätze, so viel weiß sie. Solche Sätze sind der Grund, weshalb er Lenchen immer noch siezt. »Jakob hat es anders gewollt«, schützt Lenchen vor.