Kirche der Armen? -  - E-Book

Kirche der Armen? E-Book

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Beschreibung

Wie kann die Kirche in Europa zu einer Kirche der Armen? werden? Und soll sie das überhaupt?Dieser Wunsch von Papst Franziskus wird im Kontext von neuer Armut und Migration auch für Europa brisant. Caritas-ExpertInnen, TheologInnen, Personen aus der Praxis und VertreterInnen unterschiedlicher Konfessionen und Religionen reflektieren aus bibel- und praktisch-theologischer, sozialwissenschaftlicher und sozialethischer Perspektive Konzepte wie Armut, Gerechtigkeit, Caritas und Diakonie. Mit prägnanten Begriffserklärungen, Interviews, Außenperspektiven aus Wirtschaft und Kunst, Einblick in Praxiserfahrungen regt das Handbuch zum Nachdenken und Weiterfragen an: Was kann "Armut" als kirchlicher Auftrag heute bedeuten?

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Johann Pock,

Regina Polak,

Frank G. C. Sauer,

Rainald Tippow (Hg.)

Kirche der Armen?

Kirche der Armen?

Impulse und Fragen zum Nachdenken

Ein Handbuch

Herausgegeben von Johann Pock

Regina Polak

Frank G. C. Sauer

Rainald Tippow

echter

Mit herzlichem Dank für die großzügige Unterstützung der Caritas Wien.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2020

© 2020 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlagbild: Shutterstock / Rawpixel.com

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-04363-6

978-3-429-04922-5 (PDF)

978-3-429-06342-9 (ePub)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der HerausgeberInnen

Johann Pock / Regina Polak / Frank G. C. Sauer/ Rainald Tippow

Kirche der Armen? Eine Einleitung

1. Begriffsklärungen

Armut (Jünemann – Polak – Tippow)

Barmherzigkeit (Polak – Pock – Augustin)

Befreiung (Jünemann – Helm – Polak)

Caritas (Pock – Tippow – Krockauer)

Diakonie (Haslinger – Baumann – Pock)

Gerechtigkeit (Mette – Polak – Riedlsperger)

2. Kontexte

Martin Schenk

Armut in Westeuropa. Situation und Herausforderungen

Erhard Busek

Armut in Osteuropa. Was versteht der Westen davon?

Regina Polak

Nutzlos und Überflüssig. Die Last der Geschichte, ihre Folgen und Heilung

Karin Heitzmann

Einkommensarmut aus sozioökonomischer Sicht

Günter Benischek

Die „weiße Magie“ des Geldes!? Perspektiven einer kundenorientierten Bank

3. Geschichte

Andreas Müller

Die Kirche der Armen. Theologische Motive aus der Alten Kirche

Bernhard Schneider

Armut und Armenfürsorge in der Geschichte des Christentums: Mittelalter und Neuzeit

Sebastian Pittl

„Kirche der Armen“ – Die Geschichte eines polymorphen Begriffs. Theologische Grundlagen

4. Theologische Grundlagen

Rita Perintfalvi

Sind das Volk Gottes die Armen (Ps 149,4)?

Ein bibeltheologisches und befreiungstheologisches Plädoyer für die Kirche der Armen

Manfred Scheuer

Kirche der Armen

Doris Nauer

Diakonisches Engagement – Typisch christlich?!

Herbert Haslinger

Rückseiten der Diakonie

Elisabeth Jünemann

Den Armen Raum geben – ein kirchlicher Auftrag, der gelernt werden muss

Benno Elbs und Michael Landau im Gespräch mit Regina Polak

Kirche als Zeugin der Freiheit, Mutmacherin und Horizonterweitererin

Herbert Haslinger

Die Frage nach Gott

Doris Nauer

Caritas & Diakonie. Gemeinsamkeiten und Unterschiede

5. Perspektiven: Konfessionen und Religionen

Willy Weisz

"… dass es keine Schande ist, arm zu sein, aber eine besondere Ehre ist es auch nicht."

Armut aus jüdischer Sicht

Amena Shakir / Adam Shehata

Armut aus islamischer Sicht

Maria Katharina Moser

Alle an einem Tisch. Diakonisch(e) Kirche sein.

Eine evangelische Perspektive

Frank G. C. Sauer

Diakonie und Holistic Mission. Eine anglikanische Perspektive zu einer Kirche der Armen

6. Landschaften des Diakonischen

Johann Pock

Kirche der Armen auf Ebene der Gemeinden.

Beispiele diakonischer Gemeindebildungen

Katja Fraunbaum /Anita Ofner

SOLWODI – „Solidarität mit Frauen in Not“

Gregor Steininger

Armut aus der Sicht von Menschen mit Behinderung

Franz Helm SVD / Karin Weiler CS

Als OrdenschristIn an der Seite der Armen

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Vorwort der HerausgeberInnen

Die Nachwirkungen der globalen Pandemie, die mit Covid-19, dem sogenannten Corona-Virus, über die Welt hereingebrochen ist, werden weltweit und auch in Österreich die Zahl der Armen und von Armut bedrohten Menschen in die Höhe schnellen lassen. Die Hilfsorganisation Oxfam1 rechnet damit, dass im Zuge der Coronakrise rund eine halbe Milliarde Menschen in Armut gestürzt werden könnten. Die Wirtschaftskrise, die auf die Welt zukommt, würde den Kampf gegen die Armut um zehn Jahre zurückwerfen, in manchen Regionen sogar um 30 Jahre. Auch die Caritas Österreich warnt zum Zeitpunkt der Endredaktion dieser Studie angesichts von 560 000 Arbeitslosen vor einer dramatischen Zunahme der Armut in Österreich. Michael Landau, der österreichische Caritas-Präsident, fordert deshalb eine Solidaritätsmilliarde, einen armutsfesten Sozialstaat, mehr Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik und eine Erhöhung der Ausgleichszulage.2

Als wir vor vier Jahren mit den Studien zum vorliegenden BuchProjekt begannen, konnten wir nicht ahnen, wie aktuell die Bedrohung durch Armut zum Zeitpunkt der Endredaktion sein würde. Alle Religionsgemeinschaften und Kirchen stehen nun vor der Herausforderung, sich dieser prekären Situation zu stellen.

Dabei war bereits zu Beginn unserer Forschungsarbeit das Thema Armut verstärkt in den Blick geraten. Die Banken- und Finanzkrise hatte 2008 europaweit verheerende Folgen gezeitigt. Die Beschäftigungssysteme der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union waren massiv unter Druck geraten. Anhaltende Arbeitslosigkeit, atypische Arbeitsverhältnisse, weit verbreitete Arbeit zu Niedrig- und Mindestlöhnen, prekäre Arbeitsverhältnisse infolge von dynamisierter Flexibilisierung der Arbeitswelt hatten das Armutsrisiko drastisch erhöht. Betroffen waren und sind vor allem schlecht gebildete Menschen, Frauen und Jugendliche. 2014 lag die durchschnittliche Armutsgefährdungsquote bei 17,2%, in Spanien und Griechenland waren mehr als 20% armutsgefährdet, auch in Österreich war das Armutsrisiko von 12,0% (2009) auf 14,2% gestiegen.3

Zeitgleich hatte in dieser Krisenzeit mit Papst Franziskus 2013 ein Papst die Leitung der Katholischen Kirche übernommen, der die Verantwortung für die Armen in den Mittelpunkt seines Pontifikats stellen sollte und bis heute in seinem Einsatz für die Armen nicht müde wird.4 „Ach, wie möchte ich eine arme Kirche für die Armen!“5, rief Papst Franziskus bei seiner ersten Audienz für Medienvertreter am 16. März 2013 aus. Zeichenhaft steht dafür der von ihm eingeführte „Welttag der Armen“, den der Papst zum Ende des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit 2016 ausgerufen hat. Erstmals begangen wurde der Gedenktag im Jahr 2017 – am 33. Sonntag im Jahreskreis, einen Sonntag vor dem Christkönigssonntag und somit in theologischer Verbindung mit dem wiederkehrenden Christus, der Gerechtigkeit herstellen wird.

Auch wenn diese Schwerpunktsetzung bis heute vor allem in Europa insbesondere in der Frage nach den konkreten Konsequenzen dieser Forderung heftig umstritten ist, war damit auch klar: Die Bedeutung von Caritas bzw. Diakonie für Gesellschaft und Kirche hatte und hat eine neue pastorale Bedeutung bekommen. Gerade in den unruhigen und herausfordernden Zeiten der kommenden Jahre wird sie aktueller denn je sein.

Startschuss unseres Projektes war ein universitäres Seminar zum Thema Armut von Regina Polak und Frank Sauer, aus dem zwei Abschlussarbeiten ins Buch aufgenommen wurden. Im Anschluss daran veranstalteten wir 2016 ein internationales, transdisziplinäres, interkonfessionelles und interreligiöses Symposium mit dem Titel: „Caritas und Diakonie. Befreiungspraxis im 21. Jahrhundert“. Die leitende Fragestellung lautete dabei: Wie kann die Kirche in Europa/Österreich eine Kirche der Armen werden? Wir gingen der Frage nach der Bedeutung des Themas „Armut“ für Theologie und kirchliche Praxis nach. Mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Expertinnen und Experten aus der Praxis sowie Vertreterinnen und Vertretern aus der katholischen und evangelischen Kirche sowie aus Judentum und Islam nahmen wir dabei die gesellschaftlichen und kirchlichen Entwicklungen in den Blick und reflektierten die Herausforderungen, die die wachsende Kluft zwischen Armen und Reichen mit sich bringt. Die meisten der in diesem Buch vorliegenden Beiträge (zumindest ihre inhaltliche Fokussierung) wie auch die Struktur des Buches wurden auf diesem Symposium entwickelt. Daraus entstand eine Kooperation zwischen dem Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät mit der Caritas Wien, die in der vorliegenden Publikation das Ziel verfolgt, aktuelle Fragestellungen und Antwortversuche zu benennen.

So hat denn auch dieses Buch folgende Leitfrage: Wie kann die Kirche in Europa zu einer Kirche der Armen werden?

Die Zielsetzung des Buches ist es, ein Handbuch zu zentralen Themen im Zusammenhang des Motivs „Kirche der Armen“ zu bieten – mit theologischer Vertiefung, interkonfessionellem und interreligiösem Zugang. Zugleich war es uns auch ein Anliegen, das Thema zu weiten über den Horizont der Kirchen hinaus im Blick auf Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Armut, ihre Ursachen und Bekämpfung, lässt sich nur multiperspektivisch und in einer Kooperation verschiedener Institutionen und Expertinnen und Experten verstehen und bekämpfen.

Dabei steht im Zentrum unserer Überlegungen, gegen eine „Menschenvergessenheit“ in Kirche und Theologie Stellung zu beziehen. Das Thema muss aus unserer Sicht von den Nöten und der Verfasstheit der Menschen ausgehend bearbeitet werden, nicht normativ von oben.

Das gewählte Titelbild zeigt ein Mahl aus der Vogelperspektive. Dies hat folgenden Hintergrund: Die Erfahrung und Hoffnung auf das Reich Gottes wird in den biblischen Texten oft mit Bildern vom gemeinsamen Mahl ins Bild gebracht. In allen drei monotheistischen Religionen ist das gemeinsame Essen zentral. Die gelebte Gastfreundschaft, eine egalitäre Gemeinschaft beim Feiern und Essen, die damit verbundene Freude stellen gewissermaßen schon heute eine Vorwegnahme der eschatologischen, erwarteten bzw. erhofften Zukunft dar. Die übliche Perspektive auf ein solches Mahl ist hier verändert: Es ist eine ungewohnte Perspektive, von oben – eine Sichtweise, die übliche Vorstellungen aufbricht.

Als Herausgeber und Herausgeberin bedanken wir uns bei allen, die beim Symposium mitgewirkt und mit ihren Redebeiträgen zur Klärung der unterschiedlichen Fragestellungen beigetragen haben. Wir bedanken uns auch bei allen Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge nicht nur für ihre in den Beiträgen ausgedrückten Positionierungen, sondern vor allem auch für die Geduld im Erwarten des endgültigen Veröffentlichungsdatums.

Besonders bedanken wir uns für Korrekturen bei Dominik Höchtl sowie für umsichtige Korrektur- und Layoutarbeit bei Monika Mannsbarth.

Vor allem bedanken wir uns bei der Caritas der Erzdiözese Wien, die sowohl das Symposium als auch die Publikation dieses Buches großzügig gefördert hat.

Schließlich sagen wir dem Echter-Verlag herzlichen Dank für die geduldige und sorgfältige Betreuung des Buchprojekts.

Wien, Pfingsten 2020

Johann Pock, Regina Polak, Frank G. C. Sauer, Rainald Tippow

1 Oxfam International: Dignity not Destitution (2020): https://www.oxfam.org/en/press-releases/half-billion-people-could-be-pushed-poverty-coronavirus-warns-oxfam [Zugriff: 06.05.2020].

2 Michael Landau zur Corona-Krise (29.4.2020): https://www.caritas.at/aktuell/news/detail/news/86477-corona-wir-brauchen-nicht-nur-impfstoff-gegen-das-virus-sondern-auch-rezepte-gegen-armut-un/ [Zugriff: 06.05.2020].

3 Bundeszentrale für politische Bildung: Armutsfolgen der Banken- und Finanzkrise (2016): https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/arbeitsmarkt-politik/55396/armutsfolgen-der-krise [Zugriff: 06.05.2020].

4 Kirche der Armen – Weltkirche: https://weltkirche.katholisch.de/Themen/Kirche-der-Armen [Zugriff: 06.05.2020].

5 Ansprache von Papst Franziskus: Audienz für die Medienvertreter, Vatikan, 16. März 2013, http://www.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2013/march/documents/papa-francesco_20130316_rappresentanti-media.html [Zugriff: 06.05.2020].

Kirche der Armen? Eine Einleitung

Johann Pock / Regina Polak / Frank G. C. Sauer/ Rainald Tippow

Als Jorge Mario Bergoglio 2013 bei seiner Papstwahl den Namen Franziskus wählte, war das mit Bedacht und als Programm gewählt. „Vergiss die Armen nicht!“, soll ihm Kardinal Claudio Hummes nach seiner Wahl zugeflüstert haben. In den mittlerweile sieben Jahren seines Pontifikats hat Papst Franziskus dann das Thema der Armut und auch der armen Kirche vielfach angesprochen, aber auch symbolische Akte gesetzt, wie gleich zu Beginn seine Reise zu den Geflüchteten und MigrantInnen in Lampedusa oder nach Lesbos. Wie Laubach und Wahl in ihrem Buch „Arme Kirche?“1 im Jahr 2014 hervorheben, ist die Rede von der armen Kirche heftig umstritten. Jon Sobrino wurde für die Aussage, dass die Kirche der Armen der ekklesiale Ort für die Christologie sei, von der Glaubenskongregation noch 2007 kritisiert.2

Papst Franziskus spricht jedoch in seiner programmatischen Antrittsenzyklika „Evangelii gaudium“ (EG) vom 24.11.2013 explizit von der „armen Kirche für die Armen“ (EG 198). Was aber kann darunter konkret verstanden werden bzw. welche Fragen werden damit aufgeworfen? Und woher kommt dieses Motiv?

1. Das Motiv „Kirche der Armen“ – ein Kind des II. Vatikanums?

In den vergangenen Jahren haben sich international unterschiedliche AutorInnen der Frage gewidmet, in welcher Form das Thema der „Armut“ auch für die Kirchen und Religionen von Bedeutung ist. Eine wichtige Stimme ist dabei Luigi Bettazzi.3 Er war während des Konzils 1963 zum Bischof geweiht worden – und er war (wie er selbst schreibt „zufällig“) auch einer jener 40 Bischöfe, die 1965 den sogenannten „Katakombenpakt“ unterschrieben hatten. Für ihn liegt ein wesentlicher Grund dafür, dass sich gerade die römischkatholische Kirche so schwer tut mit dem Motiv der Armut darin, dass hinter jeder Äußerung zur ungerechten Verteilung des Reichtums der „Einfluss der marxistischen Ideologie“ gewittert würde.4 Dem hält er entgegen, dass jemand, der „Aussagen über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit dämonisiert und pauschal als marxistisch aburteilt“, damit zugleich „die eigenen, einstmals ‚bürgerlich‘ genannten gesellschaftlichen Privilegien“5 verteidigt.

Bettazzi benennt die wichtigsten biblischen Aussagen, die das Thema der Armut zentral in die christliche Botschaft einschreiben: In der Bergpredigt werden die „Armen im Geiste“ (Mt 5,3) seliggesprochen. Damit seien jene gemeint, die sich vor Gott als niedrig empfingen, wie z.B. Maria im Magnifikat (Lk 1,48). Für Lukas hingegen sind es die tatsächlich physisch Armen (Lk 6,20ff), denen er mit einem Wehe-Ruf die Reichen gegenüberstellt. Diese spannende Differenz zwischen dem matthäischen und dem lukanischen Armutsverständnis versucht Bettazzi zu übersteigen mit dem Begriff der „Kirche der Armen“.

Bettazzi zeichnet die Entwicklung des Motivs der „Kirche der Armen“ auf und nach dem II. Vatikanischen Konzil nach. Er versteht darunter: „die Kirche muss sich selbst so verändern, dass sich die Armen in ihr ‚zu Hause‘ fühlen, dass sie nicht mehr Objekte der Nächstenliebe der Gläubigen sind, sondern selbst als Subjekte aktiv als Protagonisten das Leben der Kirche gestalten.“6 Bettazzi stellt jedoch zu Recht fest, dass die aktuelle Kirche eher eine „für“ die Armen als eine „der“ Armen ist.

Einen anderen wichtigen Beitrag in der Ideengeschichte bietet Pierre Ganne, der 1973 vom „Armen und dem Propheten“ geschrieben hat.7 Er spricht davon, dass eine „Kirche der Armen“ noch keine arme Kirche ist. Nach ihm leidet die Beziehung „Kirche – Arme“ unter der gleichen Zweideutigkeit wie die Beziehung „Kirche – Welt“. Wenn man auf die Armen zugeht, ohne selbst arm zu sein, „ist [es] ein verdächtiges Unternehmen“8. Es bestehe immer die Gefahr der Paternalisierung oder Instrumentalisierung. Die Motivlage des Zugehens auf Arme müsse ständig kritisch hinterfragt werden. Denn auch Armut sei nicht ein eindeutiges Phänomen, sondern beruhe auf sehr unterschiedlichen Ursachen. Daher hält Ganne fest: „Die wahre Armut aber fordert … eine kritische Analyse der dauernden Ursachen des Elends“ 9.

Wenn sich nun die Kirche (bzw. auch die Theologie als Wissenschaft) verstärkt der Armut bzw. den Armen zuwendet, bedarf es einer großen Achtsamkeit in der Form der Zugehensweise. Ganne meint beispielsweise zu Recht im Blick auf die Verkündigung und Mission der Kirche: „Wenn die Kirche anfängt, die ‚Armen‘ zu evangelisieren, ohne selber im Herzen arm zu sein, vermengt sie großmütige Verkündigung der Frohbotschaft mit verdächtigen Motiven.“10

Für ihn besteht dabei eine doppelte Versuchung: den Glauben preiszugeben – oder Armen zu instrumentalisieren. Er sieht die einen, die bereit sind,

„die Wahrheit Christi und ihren Glauben zugunsten der ‚Befreiung der Armen‘ preiszugeben, vergessend, daß der Kampf gegen das Elend und für die Gerechtigkeit nur eine Vorbedingung ist für die Fülle der Hoffnung und der Liebe, und daß die Gerechtigkeit ohne diesen wesenhaften Bezugspunkt verrotten muß und ebenso viele Verbrechen erzeugen kann, als solche im Namen der Freiheit begangen wurden. Die andern werden versucht sein, die Menschen und ihr Elend der Wahrheit ihres Glaubens zu opfern.“11

Armut hat eine prophetische Funktion in einer jeweiligen Zeit und Gesellschaft. Problematisch ist für Ganne jedoch, wenn der „Arme“ und der „Prophet“ den Kontakt zueinander verlieren:

„Der Arme, der nicht mehr weiß, wer er ist, wird zwar den Propheten spielen können … Die falschen Propheten ihrerseits, von den Armen getrennt und deren Glauben in ein Haben verwandelnd, werden vorgeben, die Hüter der Wahrheit zu sein, aber nicht mehr wissen, wie die Prophetie der wahren Menschheitszukunft lautet. Das prophetische Licht wird bei ihnen zu einer Theologie entwürdigt, die letzten Endes das Elend mit der Erbsünde erklärt. Diese Theologie wird schließlich den christlichen Glauben entmenschlichen und ihn ins ‚Noman’sland‘ einer gewissen Transzendenz verbannen, angeblich, um seine Reinheit zu sichern.“12

Was Ganne hier erkennt, ist die Gefahr einer „idealisierten“, realitätsenthobenen Theologie oder Kirche, die „entmenschlicht“ ist.

„Ohne die Gegenwart der Armen aber, die das prophetische Licht ‚inkarnieren‘, verliert die Theologie ihr Schwergewicht, sie beginnt, die Geschichte zu überschweben und hängt sie an ein angeblich Ewiges, das sich bloß als ein Zeitloses entpuppt.“13

Die beiden Ansätze von Bettazzi und Ganne verweisen auf die Notwendigkeit einer genauen Klärung dessen, was jeweils unter „Armut“ verstanden wird; aber auch auf die Kontigenz theologischer Konzepte, die immer wieder von konkreten gesellschaftlichen und politischen Umständen beeinflusst werden. Deutlich ist, dass das Motiv der „Kirche der Armen“ im Nachgang zum II. Vatikanischen Konzil (und nicht zuletzt angestoßen durch die Teilnehmer des Katakombenpakts) eine erste große Aufmerksamkeit in der Katholischen Kirche erhalten hat – und zugleich nicht zum zentralen Motiv katholischer Theologie geworden ist.

Dies hat komplexe Gründe, die noch näher zu untersuchen wären. So birgt die Auseinandersetzung mit Armut und deren Ursachen immer auch macht- und gesellschaftskritisches Potential, das nicht nur die Frage nach einer gerechten Gesellschaftsordnung stellt, sondern auch die Kirchen verpflichtet, selbstkritisch ihren Ort innerhalb der Gesellschaft zu reflektieren. Weiters spiegelt sich darin wieder, dass Systematische Theologie und Sozialethik innerhalb der Theologie nicht im nötigen Ausmaß zusammenarbeiten. Da das Thema Armut eng mit der Frage nach der Gerechtigkeit verbunden ist, wirkt hier überdies das jahrhundertelange Vergessen und Ignorieren der jüdischen Herkunft des Christentums nach – steht doch die Bekämpfung von Armut durch das Etablieren einer gerechten Ordnung im Zentrum des Alten Testaments.

2. Kontextualisierung des Armutsthemas

Damit aber plädiert Ganne bereits vor 50 Jahren, im Nachgang zum Zweiten Vatikanum, für eine kontextualisierte Theologie. Wie sehr das Thema einer „Kirche der Armen“ nicht nur grundsätzlich, theologiegeschichtlich und ideengeschichtlich zu analysieren ist, sondern letztlich nur kontextuell behandelt werden kann, zeigen zwei Ereignisse, die die Entstehungsgeschichte des vorliegenden Buches einrahmen. Den Ausgangspunkt nahm das Buch in der Zeit der großen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen im Jahr 2015, die im Hintergrund ja nicht nur die vielen Kriegs- und Verfolgungserfahrungen in Ländern wie Syrien oder Afghanistan hatten, sondern vor allem die Armutserfahrungen in vielen Herkunftsländern und auf den Fluchtwegen.

Zum Erscheinungsdatum dieses Buches ist die Welt beinahe erstarrt aufgrund der Covid-19 Pandemie und den damit verbundenen Restriktionen in vielen Ländern der Erde. Dies führt aktuell viele Menschen in Arbeitslosigkeit und Existenznöte – und es kommt leicht zum Vergessen der vielen Armen in jenen Ländern, denen nicht die medizinischen oder technischen Ressourcen zur Verfügung stehen wie in Europa. Die Pandemie mit ihren immensen wirtschaftlichen Folgen trifft aber auch nachweislich in Europa die Ärmsten stärker und vertieft soziale Unterschiede. Die Corona-Krise hat nicht nur einfach soziale Folgen, sie ist eine soziale Krise.

Die Diakonie-Leiterin Österreichs, Maria Katharina Moser, benennt die Konsequenzen dieser sozialen Unterschiede: „Eine österreichweite Cluster-Analyse der AGES (Mai 2020) hat gezeigt, dass sich ein Drittel der untersuchten Fälle in Senioren- und Pflegeheimen infiziert haben (1.127 von 3.800 Personen und 60 von 169 Clustern). Die 460.000 Pflegegeldbezieher/innen haben Expert/innen zufolge im Vergleich zu den unter 50jährigen ein 50- bis 80-fach erhöhtes Risiko zu versterben, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein Krankenhausbett oder intensivmedizinische Versorgung brauchen, ist 100 bis 1.000-fach höher. Menschen aus dem unteren Fünftel der Gesellschaft haben ein zwei- bis dreifach höheres Risiko für chronische Krankheiten als Menschen aus dem oberen Fünftel. Das gilt für Krebs, Diabetes, koronare Herzkrankheit oder schweres Asthma – Erkrankungen, die besonders anfällig für eine Covid19-Infektion machen. Wer in beengten, prekären Verhältnissen wohnt und arbeitet, kann kaum Abstand halten – und so erleben wir Superspreading-Events in Flüchtlingsheimen, Obdachlosenunterkünften, Erntehelferquartieren, Fleischfabriken und Postverteilerzentren.“14

In beiden Fällen waren und sind die Kirchen und Religionen herausgefordert, sich einzusetzen für die Menschen „am Rande“, für die VerliererInnen der jeweiligen Entwicklungen. Und es gab und gibt auch sehr viele Zeugnisse von institutionellen Hilfestellungen, aber auch von privaten Initiativen von Seiten der Kirchen und Religionsgemeinschaften.15

3. Inhaltliche Logik des Buchs

Das vorliegende Buch führt vor diesem Hintergrund von grundsätzlichen Überlegungen hin zu praxisbezogenen Analysen. In einem ersten Abschnitt wird eine Annäherung an zentrale Begriffe geboten – von Armut, über Caritas und Diakonie hin zu Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Freiheit, jeweils kurz definiert von unterschiedlichen AutorInnen. Dabei geht es nicht um eine endgültige Definition, sondern um eine plurale Annäherung an die Begriffe und Konzepte. Dieses Angebot unterschiedlicher Begriffsdefinitionen stellt eine Aufforderung dar, die eigenen Begrifflichkeiten zu hinterfragen und zu einem eigenen, kritisch fundierten Verständnis zu kommen.

Die Diskussion zur Armut muss dabei kontextuell geführt werden. Der Zugang des Buches fokussiert daher auf Europa, mit einigen ausgewählten Herausforderungen (wie Migration oder die ökonomischen Aspekte). Während im zweiten Abschnitt des Buches der ehemalige Politiker Erhard Busek Osteuropa ins Zentrum seiner Überlegungen stellt, benennt der Armutsforscher Martin Schenk die Situation der Armut in Westeuropa (mit Stand 2019). Die sozioökonomische Sicht wird einerseits von Karin Heitzmann dargelegt, andererseits vom Finanzfachmann Guenter Benischek. Regina Polak thematisiert Migration und Flucht als wichtige Faktoren der aktuellen Entwicklung.

Zu diesen Kontexten gehört ebenso der Blick auf die Geschichte, denn auch sie stellt einen zentralen Horizont des heutigen Sprechens von der „armen Kirche“ dar. Der dritte Abschnitt des Buches bringt einige zentrale geschichtliche Schlaglichter. Schon in der Alten Kirche war das Thema der Armut zentral (Andreas Müller); in Mittelalter und Neuzeit spielten Armut und Armutsfürsorge ebenfalls eine wichtige Rolle (Bernhard Schneider). Aber auch der Begriff „Kirche der Armen“ hat selbst eine spezielle Geschichte, deren theologischen Aspekten Sebastian Pittl auf den Grund geht.

Der vierte Abschnitt des Buchs entfaltet die theologischen Grundlagen der Rede von der Kirche der Armen. Die Alttestamentlerin Rita Perintfalvi hält ein bibeltheologisches und befreiungstheologisches Plädoyer für die Kirche der Armen. Die Bischöfe Manfred Scheuer (Linz) und Benno Elbs (Feldkirch) sowie der österreichische Caritasdirektor Michael Landau benennen aus lehramtlicher Sicht die Bedeutung einer Kirche, die „Zeugin der Freiheit, Mutmacherin und Horizonterweiterin“ ist. Herbert Haslinger führt in seinen beiden Beiträgen einerseits die Frage nach Gott als zentrale Frage einer Theologie der Diakonie aus, andererseits fragt er auch nach dem, was zumeist vergessen oder übersehen wird – nämlich nach den „Rückseiten der Diakonie“. Bei aller Bedeutung der Diakonie ist aber auch mit Doris Nauer zu fragen, warum das diakonische Engagement „typisch christlich“ ist und welche Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede es zwischen der katholischen Caritas und der evangelischen Diakonie gibt.

Der fünfte Abschnitt wendet den Blick auf andere Konfessionen und Religionen und versucht ansatzweise deren Perspektiven auf das Thema der Diakonie bzw. der Kirche der Armen darzulegen. Die jüdische Sicht auf Armut wird von Willy Weiß ausgeführt; die islamische Perspektive von Amena Shakir und Adam Shehata. Aus evangelischer Sicht legt die österreichische Direktorin der Diakonie, Maria Katharina Moser, dar, was „diakonisch Kirche sein“ bedeuten kann. Frank Sauer greift auf den Missionsbegriff zurück in der Ausfaltung der anglikanischen Perspektive.

Im letzten Abschnitt werden Konkretionen bzw. „Landschaften des Diakonischen“ angeboten: angefangen von der Frage, wie eine diakonische Gemeindebildung geschehen kann (Johann Pock), über die Analyse von konkreten diakonischen Orten wie der „Solwodi“, der „Solidarität mit Frauen in Not“ (Anita Ofner und Katja Fraunbaum). Georg Steininger berichtet, was Armut aus der Sicht von Menschen mit Behinderung bedeutet. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit der Darstellung von Franz Helm SVD und Karin Weiler CS, wie OrdenschristInnen an der Seite der Armen wirken.

4. Ergänzende Überlegungen zur orthodoxen Sicht

Das vorliegende Buch versteht sich als Handbuch – als ein kleines Nachschlagewerk zu zentralen Aspekten im Umfeld der Diskussion um die „arme Kirche für die Armen“. Der Entstehungsprozess des Buches bedingte auch eine gewisse notwendige Auswahl von AutorInnen und Themen.

Die Orthodoxen Kirchen stellen in Österreich eine wichtige Größe der Gesellschaft dar. Ein eigener Beitrag zur Orthodoxie fehlt im Buch. Beim Symposium 2016 legte Radu Preda, orthodoxer Sozialtheologe in Cluj (Rumänien), der zugleich als Staatssekretär in der Aufarbeitung kommunistischer Verbrechen beschäftigt ist, zentrale Linien einer orthodoxen Theologie der Diakonie vor.16

Da es in der Orthodoxie kein zentrales Lehramt (wie den Papst) gibt, versuche jede national verfasste orthodoxe Kirche auf ihre je eigene Form auf die Fragen der Zeit zu antworten. Damit sei die orthodoxe Kirche viel kontextgebundener. Für ihn liegt dabei ein Schwerpunkt auf der Gerechtigkeit, die jedoch nicht zu verabsolutieren sei. Theologisch ist Gerechtigkeit für ihn nur ein Attribut Gottes und müsse im Kontext der anderen Eigenschaften Gottes gesehen werden.

In Rumänien gab es auch vor dem Kommunismus soziale Institutionen; diese waren aber zumeist in privater bzw. kirchlicher Trägerschaft. Im Zentrum war und ist stärker die Nachbarschaftshilfe, und die Gemeinde war wichtiger als übergeordnete Strukturen. Daher ist eine Verbandsarbeit für Rumänien auch ein Novum.

In der orthodoxen Kirche (vor allem Rumäniens) gäbe es zwar eine Praxis der Diakonie, aber wenig theologische Reflexion dazu. Als Hauptbegriff sieht er dabei die „Philanthropie“ an, die „Menschenfreundlichkeit“. Aus dem Griechischen gäbe es auch noch die Rede von der „apostolischen Diakonie“. Dabei bestünde jedoch die Gefahr, sich mit der Diakonie nur nach außen zu legitimieren und eine Rechtfertigung zu haben für den Besitz. So werde beispielsweise das Netzwerk „philantropia“ zu einem Großteil über die EU finanziert.

Ein Problem sieht Preda darin, dass zu wenig Reflexion auf die Ursachen der Armut (und deren Beseitigung) gelegt werde. Für ihn ist die (orthodoxe) Kirche in Rumänien daher gewissermaßen die „metaphysische Putzfrau des gescheiterten Sozialstaats“: Sie helfe dabei, den Müll zu beseitigen. Es werde aber nicht danach gefragt, warum so viel Müll entsteht.

Ein Ziel wäre es, nicht mehr nur ein Projekt von Philantropie zu haben, sondern zu einem Prinzip von Philantropie zu kommen, bei welchem wirklich das Wohl der Menschen im Zentrum stünde. Dies müsste sich aber auch strukturell auswirken, da ansonsten keine Nachhaltigkeit erzielt werden könnte und die alten (kommunistischen) Strukturen weiterhin wirkmächtig wären.

Preda wies auch auf die vorhandenen Sündenbockmechanismen hin, durch die von den tatsächlichen Problemen abgelenkt und eine Veränderung der sozialen Situationen von der Wurzel her erschwert werden würde.

Für ihn ist zentral, dass die Armut in den osteuropäischen Ländern ein anderes Gesicht hat als im Westen. Aber auch innerhalb der osteuropäischen Länder sei die Armut nicht überall gleich. Es gäbe einige wenige, die extrem reich wären, bei gleichzeitiger großer Armut sehr vieler Menschen. Das Armutsgefälle zwischen West und Ost ist aus seiner Sicht „abyssal“.

Schließlich betont er noch die zentrale Bedeutung der Menschenrechte. In der orthodoxen Diskussion gingen dabei die Meinungen weit auseinander. So werde von einigen die Meinung vertreten, mit den Menschenrechten werde der Mensch an die Stelle Gottes gesetzt. Menschenrechte würden da oft in karikierter Form dargestellt: Menschenrechte werden nur zitiert zur Begründung für gleichgeschlechtliche Ehen, für Abtreibung oder als Grundlage für Propaganda der amerikanischen Sekten in Russland. Da sie in der Rezeption nur verkürzt wahrgenommen würden, käme es häufig auch zu einer grundlegenden Ablehnung der Menschenrechte. Hier bräuchte es mehr ökumenisches Engagement. Westliche Kirchen müssten mehr zeigen, dass auch die eigene Kulturgeschichte nicht so geradlinig gelaufen ist.

Preda hielt schließlich offene Fragen fest, die aus seiner Sicht im Blick auf eine Theologie der Diakonie für die Orthodoxie zu stellen sind:

• In einer noch zu schreibenden Sozialgeschichte der Orthodoxie müsste skizziert werden, dass man die Andersartigkeit der orthodoxen Kirche sieht (nicht als Gegensatz, sondern als andere Form bei gemeinsamer Basis).

• Wie stellen sich orthodoxe Kirchen dem Dialog mit der Moderne?

• Welche Rolle spielt das Trauma des Totalitarismus? Wie sieht die Diakonie nach dem Gulag aus (als Frage nach der „gescheiterten Nächstenliebe“).

• Wie stehen die Orthodoxen in der westlichen Gesellschaft zu ihrer Aufgabe, Träger der Nächstenliebe zu sein?

Literatur

Bettazzi, Luigi, Die Kirche der Armen vom Konzil bis zu Papst Franziskus, Würzburg 2015. (Original: La chiesa dei poveri. Dal concilio a Papa Francesco, übers. v. Barbara Häußler)

Ganne, Pierre, Die Prophetie der Armen, Einsiedeln 1986. (Original: Le Pauvre et le Prophète, Culture et Foi, Lyon 1973, übers. v. Hans Urs von Balthasar)

Laubach, Thomas / Wahl, Stefanie A. (Hg.), Arme Kirche? Die Botschaft des Papstes in der Diskussion, Freiburg 2014.

Moser, Maria Katharina, Corona als Karfreitagsmoment, in: https://theocare.wordpress.com/2020/06/26/corona-als-karfreitagsmoment-maria-katharina-moser/ [Zugriff: 26.06.2020].

Tippow, Rainald, Hoffnung statt Isolation, in: https://theocare.word-press.com/2020/04/07/hoffnung-statt-isolation-gastautor-rainald-tip-pow/ [Zugriff: 10.05.2020].

1 Laubach / Wahl (Hg.), Arme Kirche?

2 Vgl. ebd., 8.

3 Vgl. Bettazzi, Kirche der Armen. Dieses Buch hatte Bischof Bettazzi schon 2001 verfasst und dann aufgrund des Pontifikats von Papst Franziskus 2015 aktualisiert, vor allem aufgrund der 50-Jahr-Feier des Abschlusses des II. Vatikanums und des Auftauchens des Originaldokuments des sogenannten „Katakombenpakts“ von 1965, der damals von 40 Bischöfen unterschrieben worden war.

4 Ebd., 7.

5 Ebd.

6 Ebd., 40.

7 Ganne, Prophetie der Armen.

8 Ebd., 120.

9 Ebd., 122.

10 Ebd.

11 Ebd., 134.

12 Ebd., 134f.

13 Ebd., 135.

14 Moser, Corona als Karfreitagsmoment. Vgl. auch https://www.sn.at/panorama/oesterreich/ein-drittel-der-corona-cluster-in-senioren-und-pflegeheimen-87207229.

15 Vgl. Tippow, Hoffnung statt Isolation.

16 Die folgenden Gedanken entstammen dem Symposium.

1. Begriffsklärungen

Armut

1. Elisabeth Jünemann

Der sozialethische Blick auf die Armut zeigt ein differenziertes Bild: Der Blick auf die Ressourcen sieht den finanziellen Mangel. Arm ist, wer zu wenig Geld hat, seine Bedürfnisse in einem gesellschaftlich als notwendig anerkannten Maße zu befriedigen. Der Blick auf die Lebenslagen sieht die Chancen der Lebensführung, die nicht allein von den verfügbaren finanziellen Ressourcen abhängig ist. Allerdings ist es schwierig, Verwirklichungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume jenseits der finanziellen Ressourcen methodisch angemessen zu bewerten.

Schon deshalb kommt dem Ressourcenansatz weltweit größere Bedeutung zu: Absolut arm ist, wer weniger als 1,90 $ am Tag zur Verfügung hat. Diesen zurzeit noch ca. 700 Millionen Menschen fehlt das finanzielle Minimum zum Überleben. Neben der Unterschreitung des Existenzminimums ist die Unterschreitung des normalen Lebensstandards relevant. Als „arm“ gilt der, dessen Einkommen weniger als 50% des Durchschnittseinkommens beträgt. Arme gibt es dann auch in Wohlstandsgesellschaften.

2. Regina Polak

Die Armut gehört mit dem Gehorsam und der Keuschheit zu den drei „evangelischen Räten“. Sie ist eine Empfehlung Jesu, wie man ihm nachfolgen und „vollkommen“ sein kann (Mt 19,21). Dieser Rat idealisiert keinesfalls Mangel, Not und Elend, sondern empfiehlt Besitzlosigkeit und fordert dazu auf, das eigene Leben den Armen zur Verfügung zu stellen. Deshalb ist dieser Rat auch nur für jene verpflichtend, die sich freiwillig für ein in besonderer Weise Gott geweihtes Leben entscheiden, z.B. Ordensmitglieder. Alle anderen Christ*innen können, müssen aber nicht so radikal leben.

Ein Leben in Armut zu führen bedeutet, einen einfachen, bescheidenen Lebensstil zu pflegen. So werden Menschen nicht von irdischen Wirklichkeiten abhängig, z.B. von Sicherheit, Besitz, Wohlstand und Macht. Freiheit und Unabhängigkeit werden dadurch geschützt. Armut kann aber auch mit Verletzbarkeit und Zerbrechlichkeit, Bedürftigkeit und Ohnmacht konfrontieren, kann daher auch Angst auslösen. Anders als ein reicher ist sich ein armer Mensch daher eher bewusst, dass er, sie andere Menschen und Gott braucht.

Armut meint also auch eine Tugend, eine Lebenseinstellung, die um die Angewiesenheit auf Gott weiß. Deshalb – so das biblische Zeugnis – sind die Armen Gott in besonderer Weise nahe. Auch Jesus von Nazareth preist die Armen als glücklich, denn „ihnen gehört das Himmelreich“ (Mt 5,3).

3. Rainald Tippow

Armut ist eine Situation, die durch einen Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe sowie von sozialer Ausgrenzung gekennzeichnet ist. Zugleich sind die Möglichkeiten, dieser Situation aus eigener Kraft zu entkommen, nur eingeschränkt oder gar nicht vorhanden. Neben den bekannten Ausprägungen materieller Natur gibt es sie auch in ideeller Form, z.B. infolge von Einsamkeit oder dem Tod naher Bezugspersonen.

Da insbesondere in reichen Ländern arme Menschen Reichtum und Wohlstand nicht selten als Ergebnis von Leistung sehen, wird materielle Armut als beschämend und stigmatisierend empfunden, etwa als Folge von Faulheit oder Schwäche. Die EU definiert Armut als „erhebliche materielle Deprivation“ und erfasst sie statistisch. Demnach spricht man von Armut, wenn das Haushaltseinkommen unter 50% des Einkommensmedians des jeweiligen Landes liegt. Was als Armut „gilt“, steht somit in Relation zur materiellen Lage des konkreten Lebensumfelds und stellt sich global daher anders dar als in Europa. Sie ist „immer auch ein gesellschaftlich definierter Status“. Je nachdem, ob sie sich an wissenschaftlichen Konzepten, der öffentlichen Wahrnehmung oder am subjektiven Notgefühl der Betroffenen orientiert, wird Armut verschieden definiert.

Barmherzigkeit

1. Regina Polak

Barmherzigkeit beschreibt eine Form der Liebe: jenes Mitgefühl, das einen Menschen erfasst, wenn er Menschen begegnet, die – z.B. an Armut – leiden. Das hebräische, griechische und lateinische Wort dafür verweisen jeweils auf seine seelisch-leibliche Dimension: „rachamim“ (Erbarmen) bedeutet Mutterschoss, Gebärmutter; eusplanchnizomai (sich erbarmen) heißt „die Eingeweide ziehen sich zusammen“ und misericordia beschreibt das mitfühlende Herz.

Barmherzigkeit kann und muss als in diesem Sinn spirituelle Erfahrung geübt werden. Laut biblischem Zeugnis ist die Barmherzigkeit untrennbar mit der Gerechtigkeit verbunden. Sie ist nicht deren Gegenteil, sondern ihre innere Kraft. Sie ist der „Raum“, in dem Gerechtigkeit erst möglich und menschlich wird. Freilich sind nur in Gott beide einig und eins. Menschen müssen um deren Verbindung in der Praxis immer wieder ringen.

In der christlichen Tradition helfen dabei die sieben leiblichen und die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit: Hungernde speisen, Dürstenden zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke und Gefangene besuchen, Tote bestatten; Unwissende lehren, Zweifelnden recht raten, Sünder zurechtweisen, Betrübte trösten, Lästige geduldig ertragen, Beleidigern verzeihen und für die Lebenden und Toten beten.

Die Barmherzigkeit hat auch eine politische Dimension: Sie beschreibt die Freiheit des Einzelnen, angesichts von Unrecht einem Menschen Gutes widerfahren zu lassen. Deshalb kann die Notwendigkeit, barmherzig zu handeln, auch auf mangelnde Gerechtigkeit verweisen. Jeder Akt der Barmherzigkeit stellt daher die Frage, wie gerecht ein System ist.

2. Johann Pock

Barmherzigkeit ist biblisch eine Eigenschaft Gottes (Ex 34,6) und Teil seiner Gerechtigkeit. Die biblischen Worte meinen vor allem den konkreten Erweis des Erbarmens.

Für Papst Franziskus ist Barmherzigkeit „der letzte und endgültige Akt, mit dem Gott uns entgegentritt“. Sie „öffnet das Herz für die Hoffnung, dass wir, trotz unserer Begrenztheit aufgrund unserer Schuld, für immer geliebt sind.“ (Misericordia Vultus 2) Barmherzigkeit steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Solidarität und Versöhnung – im Blick auf die Nächsten um uns, vornehmlich im Blick auf die Armen. Das lateinische miseri-cor-dia bedeutet: Sein Herz bei den Armen haben. Damit ist eine Optionalität des Handelns mitgegeben.

Barmherzigkeit wird so zu einem „prophetischen Einspruch“, indem sie die Kirche auf ihre primäre Sendung zu den anderen hin verpflichtet (vgl. Evangelii Gaudium 15).

Barmherzigkeit hat individuelle und institutionelle Aspekte: Indem man persönlich die Werke der Barmherzigkeit tut (die nach Mt 25 Reich-Gottes-Kriterien sind), kann ein jeder/eine jede ZeugIn für das Handeln Gottes im Leben werden. Zugleich gibt es die Kirche nur aufgrund der versöhnenden Barmherzigkeit Gottes. Indem die Kirche sakramental das Wirken Gottes präsent hält, ist barmherziges Handeln für ihre Sendung konstitutiv – und zwar in allen ihren Grunddiensten.

Barmherzigkeit hatte immer wieder den (negativen) Anstrich von Paternalismus (einem Helfen, das andere klein hält). Befreit von solchen Vorurteilen zeigt Barmherzigkeit das Göttlichste an Gott und gleichzeitig das Menschlichste am Menschen – und auch umgekehrt: das Menschlichste an Gott und das Göttlichste am Menschen.

3. George Augustin

Die Botschaft der Barmherzigkeit steht im Zentrum der biblischen Offenbarung und sie bildet die Mitte der christlichen Berufung: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Lk 6,36). Diese Botschaft ist nicht nur zentral für die Heilige Schrift, sondern Barmherzigkeit ist ein Begriff, der universal über die Grenzen der Nationen, Kulturen und Religionen hinweg verstanden wird. Barmherzigkeit ist eine Sprache des Herzens und als solche ist sie universal kommunikabel.

Um die tiefere Bedeutung der Barmherzigkeit für unser Leben und Tun zu erfassen, müssen wir verschiedene Dimensionen der Barmherzigkeit unterscheiden: 1. die Barmherzigkeit Gottes als Ausdruck seiner wohlwollenden Liebe; 2. die uns geschenkte Barmherzigkeit durch die Teilhabe an der Barmherzigkeit Gottes und ihre verwandelnde Kraft in unserem Leben; 3. die Barmherzigkeit als Ausdruck der gelebten Nächstenliebe in unseren Handlungen, besonders das Erweisen von Barmherzigkeit gegenüber den Armen und Notleidenden. Die Praxis der Barmherzigkeit kann unsere Welt gerechter und schöner machen. Für das Leben und Zusammenleben der Menschen in unserer Zeit ist die Praxis der Barmherzigkeit unverzichtbar. Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass wir die Schönheit der Barmherzigkeit Gottes erkennen und seine Tiefe in unserem Leben erfahren, damit wir in allen Lebensbereichen Barmherzigkeit leben können.

In der christlichen Tradition unterscheiden wir zwischen leiblichen und geistlichen Werken der Barmherzigkeit, wobei die jeweils 7 Werke gleich wichtig sind.

Die Barmherzigkeit ist jedoch keine ‚Zauberformel‘ für alles und jedes. Wenn Barmherzigkeit nicht eine rein menschliche Vorstellung von humanitären Werken sein soll, ist es wichtig, sich der tieferen erlösenden, heilenden und motivierenden Kraft der göttlichen Barmherzigkeit bewusst zu werden.

Befreiung

1. Elisabeth Jünemann

Die christlich-sozialethische „Option für die Armen“ verbindet sich spätestens seit der Theologie der Befreiung mit dem Auftrag zu deren „Befreiung“ – im doppelten Sinn: Befreiung des Menschen von Hunger, von Existenzangst, von Ohnmacht, von Ausgrenzung; vor allem aber Befreiung von deren Ursachen.

Freiheit wird im Sinne der Katholischen Soziallehre verstanden als „soziale Freiheit“. Das Recht des Menschen auf Freiheit ist kein bloßes Abwehrrecht, sondern immer auch ein Recht auf Gestaltungsmöglichkeit. Armut verhindert soziale Freiheit: Sie behindert direkt die Verwirklichung von Lebenschancen. Und sie verweigert Strukturen, die es ermöglichen, sich frei ins gesellschaftliche Ganze zu integrieren.

Papst Franziskus erinnert in der Tradition der Soziallehre und mit der Befreiungstheologie daran, „Werkzeug Gottes für die Befreiung und die Förderung der Armen zu sein, sodass sie sich vollkommen in die Gesellschaft einfügen können.“ (EG 187)

2. Franz Helm

Befreiung ist ein Prozess, der nie aufhört und der jeden Menschen betrifft. Auf persönlicher Ebene geht es um die Überwindung von Entfremdung, Abhängigkeiten, Schuld und Unterdrückung.

Untrennbar damit verbunden ist die Herausforderung der Befreiung im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bereich. Denn die persönliche Situation ist wesentlich mitbestimmt von gesellschaftlichen Verhältnissen. Insbesondere trifft das auf Menschen zu, die in Armut und Elend leben müssen. Ihre Situation hat fast immer strukturelle Ursachen. Daher sprechen Befreiungstheologie und katholische Soziallehre von „Strukturen der Sünde“, die bekämpft und überwunden werden müssen. Die Befreiung der Armen aus Elend und Unterdrückung setzt notwendigerweise den Einsatz für die Veränderung ungerechter Strukturen voraus.

Der in der Bibel geoffenbarte Gott ist ein befreiender Gott, der Lebensraum für seine Kinder schafft und erhält. Diesen Lebensraum als „MitarbeiterInnen Gottes“ zu schaffen und zu sichern, ist bleibende Aufgabe einer „Kirche für und mit den Armen“, ja aller ChristInnen.

3. Regina Polak

Die Heilige Schrift ist ein Zeugnis der Befreiungsgeschichte der Menschheit durch Gott. So erzählt der Exodus von der Befreiung der Israeliten und „eines großen Haufens anderer Leute“ (Ex 12,38) aus Ägypten – einer religiös-politischen Ordnung, die von der Unterdrückung der Armen lebte.

Mit der Auferstehung des Jesus von Nazareth wiederum wird die Menschheit von der Angst vor dem Tod befreit, die der Sünde Kraft verleiht. – Befreiung beschreibt eine zentrale Dimension der Erlösung und des Heiles, die Gott den Menschen zusagt. Befreit werden soll der Mensch von allen Mächten, die seine äußere und innere Freiheit bedrohen: von den äußeren Zwängen sozialer, politischer und ökonomischer Unterdrückung; aber auch von inneren Abhängigkeiten und Besessenheiten, von Angst, Schuld und Sünde, vom Aberglauben an vergöttlichte irdische Wirklichkeiten, denen sich Menschen allzu bereitwillig unterwerfen, wie z.B. Sicherheit, Macht, Erfolg, Konsum.

Erst die Befreiung von diesen Übeln ermöglicht wahrhaftige Liebe zu Gott und den Menschen und den Einsatz für eine gerechte Welt. Gottes Befreiungsgeschichte richtet sich zuerst an die Armen. Aber auch die Reichen müssen befreit werden. Nur so kann gemeinsam eine neue, andere und gerechte Gesellschaft aufgebaut werden, in der es keine Armen geben sollte (Dtn 15,4).

Caritas

1. Johann Pock

Mit „caritas“ wird das neutestamentliche, griechische Wort „agape“ ins Lateinische übersetzt, die Liebe. In den frühen Gemeinden war die Agape das caritative Helfen im Rahmen des Gottesdienstes.

Die Liebe wurde zwar grundsätzlich von Theologen gewürdigt (wie Chrysostomus, Basilius, Augustinus, Thomas von Aquin); in der lehramtlichen Verkündigung kam die „Liebe“ jedoch nur vor als „Grundwirklichkeit“ von Familie und ehelicher Partnerschaft. Eine Verbindung von Eros und Agape im Hinblick auf die caritative Diakonie findet sich erstmals in der Enzyklika „Deus caritas est“ von Papst Benedikt XVI., wobei hier caritas als „Liebestun der Kirche“ übersetzt wird. Agape und Eros gehören zusammen – wer Liebe schenken will, muss auch Liebe empfangen können; beide bezeichnen die liebevolle Beziehung zum/zur Anderen.

Theologisch ist die Caritas trinitarisch grundgelegt: Gott selbst ist die Liebe (1Joh 4,8). In Jesus wird die sich bis in den Tod hingebende Liebe sichtbar – gefeiert in der Eucharistie. Der Heilige Geist befähigt die Gläubigen, sich den Leidenden helfend zuzuwenden, denn „die Frucht des Geistes ist die Liebe“ (Gal 5,22). Jesus verbindet die Gottes- und die Nächstenliebe (Mt 22,34-40) – und ergänzt, dass die Selbstliebe wesentlich dazugehört (V. 39 – „wie dich selbst“). 1Joh 4,20 macht deutlich: „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht“. Damit ist einer weltenthobenen Sicht der Liebe der Boden entzogen.

Der Begriff der Caritas wurde in der katholischen Kirche im 20. Jh. zur Bezeichnung ihrer Hilfsorganisation; daher wird mit Caritas im deutschen Sprachraum zumeist die verbandliche Caritas verbunden. Nach H. Pompey versteht sich die Caritas der Kirche „als Anwältin und Helferin der Leidenden unserer Gesellschaft“. In diesem verbandlichen Bereich sind die Begriffe Caritas und Diakonie inhaltlich fast austauschbar – sie bezeichnen die katholische bzw. evangelische Hilfsorganisation.

2. Rainald Tippow

Caritas meint gutes und gerechtes Leben für alle. Sie ist Ausdruck des Wesens der Kirche, denn „die Kirche kann den Liebesdienst so wenig ausfallen lassen wie Sakrament und Wort“ (Benedikt XVI.). In diesem Sinn ergaben sich seit der Frühzeit der Kirche unterschiedlich stark ausgeprägte Organisationskulturen und für die weitere Entwicklung wegweisende Aussagen. „Die eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zu bestehlen und ihnen das Leben zu entziehen. Die Güter, die wir besitzen, gehören nicht uns, sondern ihnen.“ (Johannes Chrysostomus)

Die Kirche sieht sich als „Anwältin der Gerechtigkeit und Verteidigerin der Armen gegen untragbare soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, die zum Himmel schreien“ (Aparecida 2007). Das fordert von einer modernen Caritas als organisierte kirchliche Liebestätigkeit, dass sie ihre Arbeit in einem zweifachen Sinn ausübt. Zuerst geht es um die praktisch-konkrete Hilfe. Stößt sie an Grenzen oder werden hier strukturelle Ungerechtigkeiten sichtbar, so sieht sich die Caritas anwaltschaftlich-politisch gefordert, denn man muss „den Forderungen der Gerechtigkeit Genüge tun, und man darf nicht als Liebesgabe anbieten, was schon aus Gerechtigkeit geschuldet ist.“ (AA 8)

3. Rainer Krockauer

Eine wichtige Rolle im Prozess einer Kirchenentwicklung am Ort der Armen spielt die institutionalisierte Caritas. Die bunte Vielfalt organisational Gestalten unter dem Dach der verbandlichen Caritas oder sozialcaritativer Orden bzw. Trägergesellschaften prägt, besonders in Deutschland, maßgeblich das Erscheinungsbild von Caritas neben ehrenamtlich- und gemeindlich-caritativer Arbeit. Kirchliche Sozialberatungsstellen, Senioren- und Pflegezentren, Hospize, Krankenhäuser oder Jugendhilfe- und Behinderteneinrichtungen zeichnen sich dabei nicht nur durch hochprofessionelles Engagement und hervorragende Dienstleistungen aus. Sie sind auch in der Breite des Lebensraumes und in der Tiefe des unmittelbaren Kontaktes zum Menschen angesiedelt, besonders an den „geographischen und existentiellen Peripherien“ der Gesellschaft.

In der institutionalisierten Caritas gibt es folglich nicht nur starke christliche Tat- und Wortzeugnisse, es gibt dort auch einen oft übersehenen, aber verheißungsvollen ekklesiogenetischen Entwicklungsprozess. Wer beispielsweise Gottesdienste in einer Behinderteneinrichtung oder Segensfeiern in einem Hospiz erlebt, kann die starke Ausstrahlung einer feiernden Kirche mit einer starken Botschaft am Ort der Armen und Bedrängten aller Art selbst erfahren. Das heißt: Seit langem wird in der institutionalisierten Caritas Kirche, vor allem durch gelebte „caritas“. Damit verbindet sich der spannende Selbstvergewisserungsprozess der dortigen Akteure, wie (die) caritas im Rahmen von institutionalisierter, ökonomisierter und professionalisierter Dienstleistungsarbeit glaubwürdig gelebt und verwirklicht werden kann. Oder: Wie das Evangelium mit seiner ganzen Kraft und Originalität in der Organisation zu wirken und die Verbundenheit mit den Armen, die Dienstgemeinschaft, ihre Feierkultur und ihre Botschaft und Unternehmensphilosophie nachhaltig zu prägen vermag. Und das Besondere: Diese Denk- und Entwicklungsprozesse verknüpfen sich vielerorts mit denen anderer Kirchenorte, z.B. von Pfarrgemeinden, ziehen diese mit an den Ort der Armen und stimulieren sie nachhaltig, bei und mit diesen Kirche der Armen zu werden.

Diakonie

1. Herbert Haslinger

Diakonie ist in einer Kurzdefinition das christliche Hilfehandeln zugunsten Not leidender Menschen.

Für die diakoniewissenschaftliche Reflexion kann man differenzierter definieren: „Diakonie“ bezeichnet die im christlichen Glauben begründeten und an ihm ausgerichteten Praxisformen, in denen Not leidende Menschen durch Solidarität, durch individuelle Bearbeitung ihrer Lebenslage sowie durch gesellschaftsstrukturelle Bekämpfung von Notursachen Hilfe in bzw. Befreiung aus ihrer Not erfahren, so dass sie entsprechend ihrer Würde als Menschen leben können.

„Not“ meint jedwede den Menschen aufgezwungene Einschränkung ihrer Lebensmöglichkeiten, welche ein erfülltes individuelles Leben wie auch eine gleichberechtigte Teilnahme am sozialen Leben erschwert oder verhindert.

Als „Hilfe“ firmieren Akte, in denen jemand seine Handlungsmöglichkeiten einsetzt, um bei anderen Personen einen diesbezüglichen Mangel auszugleichen.

Die bewusste Rede von „Menschen“ zeigt an, dass die christliche Diakonie grundsätzlich und ohne jede Unterscheidung allen Menschen gilt.

Diakonie ist auch ein Moment der Identität der Kirche: Der Begriff „Diakonie“ meint nicht nur einen spezifischen Praxisbereich der Kirche, sondern auch den verausgabenden Dienst für Menschen und ihr menschenwürdiges Leben, der die durchgängige Identität der Kirche bilden muss.

2. Klaus Baumann

Diakonie kann als ein Synonym für die Sendung des Volkes Gottes (der Kirche) auf dem (Pilger-)Weg durch die Zeit angesehen werden. Die Ergebnisse der exegetischen Studien über Diakonia im NT stellen die Aspekte der bevollmächtigten Beauftragung oder Sendung in den Vordergrund. Sie rücken traditionelle Schieflagen eines einseitig-unterwürfigen Dienst-Verständnisses zurecht. Diese wiederentdeckten Aspekte von Diakonie passen hervorragend zur Verwendung von „Diakonie“ in LG 29: „diaconia liturgiae, verbi et caritatis“.

Alle drei Wesensvollzüge der Kirche sind Diakonie als bevollmächtigter Auftrag, d.h. als sakramentale Sendung der Kirche, der bzw. die ihr von ihrem Herrn in der Kraft Seines Geistes anvertraut ist: die Feier des Glaubens, die Verkündigung des Evangeliums und die organisierte Praxis der Nächstenliebe besonders für „die Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1). Ihre – stets unvollkommen bleibende, aber doch anfanghafte – Realisierung schafft jene koinonia oder communio, der es zuerst um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit geht (vgl. Mt 6,33).

Für alle drei Wesensvollzüge ist somit die (kenotisch bleibende) „diaconia Christi“ als Sendung Christi „Raum“, innere Form und Maß allen liturgischen, verkündenden und caritativen Tuns. Sie ist Selbstmitteilung (Offenbarung und Ereignis) der Liebe (=Agape=Caritas) Gottes selbst. Für die organisierte Nächstenliebe der katholischen Kirche zeigt sich darum, wie glücklich die Wahl des Namens „Caritas“ für die gemeinsame Verwirklichung des wichtigsten Gebotes „im Leben“ (vgl. Sacramentum caritatis, 89) gewesen ist. Es ist die Erfüllung des ganzen Gesetzes (vgl. Röm 13,10; Gal 5,14; Mt 5-7) und es ist „neu“, indem es sucht zu lieben „wie ich euch geliebt habe“ (Joh 13,34; 15,12). Es hat in der Diakonie der Kirche absolute Priorität (und damit Erneuerungspotenzial).

Jesu Proexistenz wirkt weiter in der Proexistenz des Volkes Gottes „mitten in der Welt“, die – in allen seinen Wesensvollzügen, besonders und zuerst aber in seinem (kenotischen) Dasein und tätigen „Dazwischengehen“ für einander und für alle Menschen in Not – Gottes besondere Option für die Armen und Leidenden widerspiegelt. So wirkt es (prophetisch, priesterlich, königlich) daran mit, dass Sein Reich komme (Mt 6,10) – in konkreten Dienstleistungen, im Stiften von Solidarität, in politischer Anwaltschaft und in der (Bildung und) Befähigung zu solcher Praxis.

Zugleich macht sie mit dem Blick und Geist Jesu frei dafür, alle Wirklichkeiten auch außerhalb der sichtbaren Kirche mit Freude wahrzunehmen, anzuerkennen und ggf. mit ihnen zusammenzuwirken, in denen auch Gottes Reich und seine Gerechtigkeit anbrechen und agape (caritas) realisiert werden kann.

3. Johann Pock

Das griechische Wort „diakonia“ meint zunächst einfach den „Dienst“. Im Neuen Testament bezeichnet es die Gesamtheit der fürsorgenden Tätigkeiten.

Als eine Grunddimension der Kirche verpflichtet sie diese zu einer dienenden Grundhaltung – und zwar in allen ihren Handlungen. Nach dem Kirchenverständnis des II. Vatikanums liegt die Identität der Kirche in ihrem Gesendet-Sein, in ihrer Hingabe hinein in die Welt und mit der Welt: Ohne diesen Weltbezug ist sie nicht die Kirche Christi. Damit ist Diakonie eine Form der Evangelisierung – der Verkündigung der Botschaft Jesu in konkreten Werken.

Der Maßstab für die Diakonie sind die Reich-Gottes-Kriterien (Mt 25), weshalb sie eine zuinnerst soziale und politische Ausrichtung der Kirche bedingt.

Im Verständnis von Diakonie kann man verschiedene Akzente setzen. Hermann Steinkamp hebt die politische Dimension in Form der Sozialpastoral hervor – mit dem Schwerpunkt auf der Veränderung ungerechter Verhältnisse und weniger in der (systemstabilisierenden) Hilfe.

Diakonie kann auch verstanden werden als das „absichtslose“ Helfen (das nicht hilft, um selbst davon zu profitieren oder um Menschen dadurch zu missionieren); das Maß des Helfens ist der/die Andere, was sich wiederum in der Achtung der Freiheit des Menschen begründet.

Diakonie hat sich schließlich auch in der Ämterstruktur der Kirche abzubilden: einerseits als „dienende“ Ausrichtung aller Ämter; andererseits als amtliche Repräsentanz des faktischen Handelns. Deshalb ist das Diakonenamt, welches Christus als jenen repräsentiert, der sich „für alle Menschen“ zum Diener und „Sklaven“ gemacht hat, auch für Frauen zu öffnen.

Meine Kurzformel lautet: Diakonie meint das absichtslose Handeln von ChristInnen, das Maß nimmt am Handeln Jesu und das als dienende Grundhaltung alle Dimensionen der Kirche wie auch ihre Ämterstruktur prägt.

Gerechtigkeit

1. Norbert Mette

Entsprechend dem Axiom von der Einheit der Gottes- und Menschenliebe besteht die Praxis des christlichen Glaubens in zwei Grundvollzügen: dem „Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen“ (D. Bonhoeffer).

Den biblischen Zeugnissen in beiden Testamenten zufolge hat sich Gott als der offenbart, der Gerechtigkeit ist und Gerechtigkeit will. Durch sein Handeln bewirkt er Gerechtigkeit und eröffnet er den Menschen die Möglichkeit, in Freiheit ihrerseits Gerechtes untereinander zu tun. Gottes „Tun des Gerechten“ besteht darin, die, die ihrer Rechte beraubt worden sind, wahr-zu-nehmen, sich von ihrer Not anrühren zu lassen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, in Freiheit miteinander leben zu können.

Diesen Gott, der für die Bedrängten und Unterdrückten, für die der „Fülle des Lebens“ (Joh 10,10) Beraubten Partei ergreift, zu erkennen und zu ehren, ist seitens der Menschen an eine entsprechende Praxis gebunden. „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit …“ (Mt 6,33).

2. Regina Polak

„Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben!“ (Mt 6,33). Das Streben nach der Gerechtigkeit des Reiches Gottes steht im Zentrum des Evangeliums Jesu Christi und beschreibt eine ebenso spirituelle wie soziale und politische Praxis.

Laut biblischem Zeugnis ist Gerechtigkeit zuerst eine Eigenschaft Gottes: Er sieht das Elend seines Volkes, hört seine Klage, kennt sein Leid und kommt ihm zu Hilfe (Ex 3,7). Die Gerechtigkeit Gottes ist also – im Unterschied zum griechischen Mythos – nicht blind und abstrakt, sondern sieht das Leid der Armen und hat Erbarmen. Deshalb ist diese Art der Gerechtigkeit auch parteiisch: Sie gibt den Armen Vorrang und nimmt die Reichen in die Pflicht. Sie zielt auf die Gleichheit der Menschen, auf eine gerechte Verteilung der Güter und Teilhabemöglichkeiten für alle Menschen einer Gesellschaft. Die Armen dürfen daher nicht nur mit Almosen abgespeist werden, sondern haben Rechte. – Weil Gott gerecht ist, können und müssen auch die Menschen als sein Abbild gerecht sein.

Spirituell bedeutet dies, Erbarmen (Mitgefühl) zu lernen und Gerechtigkeit als Tugend zu üben. Politisch verpflichtet dies dazu, an einer Gesellschaftsordnung mitzuwirken, die ihre ethische Qualität an einem guten Leben der Armen bemisst. Die Gerechtigkeit ist daher die Form der Liebe zu den Armen.

3. Alois Riedlsperger

„Gerecht“ ist ein Grundwort. Es meint richtig, entsprechend – im Sinne eines Maßstabs: Gleiches gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln oder jedem das Seine, das ihm Entsprechende zu geben. Dabei sind nach Situation und Kontext die Kriterien für diesen Maßstab zu diskutieren und zu bestimmen.

Das Wort „gerecht“ wird in unterschiedlichen Zusammenhängen genutzt: für menschliche Handlungen und ihre Beurteilung (z.B. bei Entlohnung, im Sport, vor Gericht), für soziale Regeln (z.B. Gesetze, Verfahrensweisen), für Beziehungen zwischen Personen und Gruppen in der Gesellschaft (z.B. Besserstellung, Benachteiligung). Im politischen Prozess bezieht sich „gerecht“ auf „Soziale Gerechtigkeit“.

Mit der Verarmung der Arbeiterschaft in der Industriellen Revolution wird damit ein Gesellschaftssystem als gerecht bezeichnet, das auf das Gemeinwohl im Sinne des Wohls aller und eines jeden abzielt. Mit der Globalisierung geht es um eine „Gerechte Weltordnung“ im Sinne eines weltweiten Gemeinwohls, mit dem Klimawandel um „ökologische“ und „Generationengerechtigkeit“ als politische Aufgabe.

2. Kontexte

Armut in Westeuropa

Situation und Herausforderungen

Martin Schenk

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit Armut in den westeuropäischen Ländern, ihren Ausprägungen und ihren Unterschieden. Dazu werden die wichtigsten Indikatoren zu Rate gezogen und die Ergebnisse in den Kontext sozialstaatlicher Sicherung gesetzt. Aus den sozialempirischen Daten wird auf die Herausforderungen geschlossen, mit denen sich Armutsbekämpfung und -vermeidung in Westeuropa aktuell konfrontiert sieht. Dabei kommen Wohnen, Gesundheit, sozialer Aufstieg, Pflege, Prekarität und die Suche nach Anerkennung in den Blick.

1. Armut: Verhältnis, Freiwilligkeit und Freiheit

Armut setzt sich stets ins Verhältnis. Sie manifestiert sich in reichen Ländern anders als in Kalkutta. Menschen, die in Österreich von 700 € im Monat leben müssen, hilft es wenig, dass sie mit diesem Geld in Kalkutta gut auskommen könnten. Die Miete ist hier zu zahlen, die Heizkosten hier zu begleichen und die Kinder gehen hier zur Schule. Deshalb macht es Sinn, Lebensverhältnisse in den konkreten Kontext zu setzen. Armut ist weniger ein Eigenschafts- als ein Verhältniswort.

Die Ohnmacht: Armut ist das Leben, mit dem niemand tauschen will. Hier geht es nicht um freiwillig gewählte Armut wie sie zum Beispiel von Mönchen oder Asketen praktiziert wird. Freiwillig gewählte Armut braucht einen Status, der den Verzicht zur Entscheidung erhebt. Unfreiwillige Armut sieht anders aus. Armutsbetroffene haben die schlechtesten Jobs, die geringsten Einkommen, die kleinsten und feuchtesten Wohnungen, sie haben die krank machendsten Tätigkeiten, wohnen in den schlechtesten Vierteln, gehen in die am geringsten ausgestatteten Schulen, müssen fast überall länger warten – außer beim Tod, der ereilt sie um durchschnittlich sieben Jahre früher als Angehörige der höchsten Einkommensschicht.1 Fasten ist nur dann Fasten, wenn die Möglichkeit, etwas zu essen, offen steht, sonst sind wir beim Hungern. Der Zustand der Unterernährung mag der gleiche sein, aber die Möglichkeiten, die die Personen haben, unterscheiden sich. Den Unterschied zwischen Hungern und Fasten macht die Freiheit.

Die Unfreiheit: Armut ist nicht nur ein Mangel an Gütern, sondern auch an Möglichkeiten. Armut heißt eben nicht nur ein zu geringes Einkommen zu haben, sondern bedeutet einen Mangel an Möglichkeiten, um an den zentralen gesellschaftlichen Bereichen zumindest in einem Mindestausmaß teilhaben zu können: Wohnen, Gesundheit, Arbeitsmarkt, Sozialkontakte, Bildung. Armut ist eine der existenziellsten Formen von Freiheitsverlust2. Freiheit zum Beispiel über Raum zu verfügen: aus einer runtergekommenen Wohnung wegziehen können oder eben nicht. Oder sich frei ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen oder nicht. In Armut kann man sein Gesicht vor anderen verlieren. Oder die Verfügbarkeit über Zeit: Frauen mit Kindern in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, die nicht entscheiden können, wann und wie lange sie arbeiten und wann eben nicht. Oder die Freiheit sich zu erholen. Die sogenannte Managerkrankheit mit Bluthochdruck und Infarktrisiko tritt bei Armen dreimal so häufig auf wie bei den Managern selbst. Nicht weil die Manager weniger Stress haben, sondern weil sie die Freiheit haben, den Stress zu unterbrechen: mit einem Flug nach Paris, einem guten Abendessen und Hilfen im Haushalt.

2. Soziale Ungleichheit

Der Begriff soziale Ungleichheit definiert Unterschiede zwischen Gesellschaftsmitgliedern bezüglich sozialer Schichtmerkmale, wie z.B. Einkommen, Teilhabe an den Bildungsgütern, berufliches Sozialprestige, verfügbarer Besitz, Gesundheitsrisiken von Arbeitsbedingungen und Wohngegend. Die wichtigste Determinante sozialer Ungleichheit stellte nach Hradil3 in vorindustriellen Ständegesellschaften die Geburt dar, in der beginnenden Industriegesellschaft war es der Besitz und in den modernen Industriegesellschaften entwickelte sich der Beruf zum zentralen Ungleichheitsfaktor. Sage mir welchen Beruf Du ausübst und ich sage Dir, wo Du in der Gesellschaft stehst. Als bedeutsamste Dimensionen sozialer Ungleichheit gelten heute berufliche Position, Einkommen und Bildung, die für die Konstruktion sozialer Schichten miteinander kombiniert werden.

Dieser sozioökonomische Status entspricht einer vertikalen Ungleichheit, die mit anderen Dimensionen verwoben ist wie Gesundheit, Wohnsituation, sozialen Kontakten und auch Lebensstilen. Wenn Einkommen ungleich verteilt ist, spricht man von Verteilungsungleichheit. Unter Chancenungleichheit hingegen versteht man, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Frauen oder Zugewanderte „innerhalb der Verteilung eines knappen, begehrten Gutes eine bessere oder schlechtere Stellung einnehmen“4.

Die drei Dimensionen des Schichtindikators haben auch ihre Grenzen. Die berufliche Position gilt nur für die eine Hälfte der Bevölkerung: die Erwerbstätigen. Für die andere Hälfte wie PensionistInnen, Arbeitslose und viele Armutsbetroffene ist der Berufsstatus nicht ermittelbar. Und für gut ausgebildete „Ich-AG“s und studierte Taxifahrer verbindet sich hohe Bildung nicht mehr mit hohem Einkommen.

Vertikale und horizontale Ungleichheiten sind miteinander verwoben. Es ist nicht so, dass in der postindustriellen Gesellschaft soziale Schichten bzw. sozialer Status vom Milieu bzw. der Lebenslage abgelöst werden, sondern es zeigen sich neue Verknüpfungen und Abhängigkeiten. Pierre Bourdieu5 hat mit dem Begriff des „Habitus“ den Brückenkopf beschrieben, der in einem Feedbackprozess soziale Position und Lebensstil verbindet.

3. Armut in der Europäischen Union

Wenn wir nun die Daten der empirischen Sozialforschung vergleichen, können wir in West-Europa unterschiedliche Entwicklungen beobachten. Der Indikator „Armutsgefährdung und Mehrfach-Ausgrenzung“ umfasst die drei Gruppen „Armutsgefährdung“, „erhebliche materielle Deprivation“ und „Personen in Haushalten mit keiner oder sehr niedriger Erwerbsintensität“ (vgl. Abb. 1). Armutsgefährdung bedeutet so viel wie Einkommensarmut, also ein Leben unter der mit Haushaltseinkommen berechneten Armutsgrenze. Als „erheblich materiell depriviert“ gelten Personen in Haushalten, denen es am Notwendigsten mangelt, die Wohnen, Ernährung, Gesundheit, Wärme beraubt („deprivare“) sind. Westeuropäische Länder, die weniger als 4% „erheblich deprivierte“ Personen aufweisen, sind Schweden, Niederlande, Finnland, Dänemark, Österreich und Luxemburg. Länder mit höherer sozialer Ausgrenzung sind Portugal, Spanien, Italien, Irland und Griechenland. Bei „Armutsgefährdung“ haben Großbritannien und Deutschland relativ hohe Werte.

Abb. 1: Armut in Europa6

NEET-bedeutet im Englischen Not in Education, Employment or Training. Der Begriff bezeichnet die Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener, die keine Schule besuchen, keiner Arbeit nachgehen und sich nicht in beruflicher Ausbildung befinden. Italien hat die höchste NEET-Rate (22,2%), gefolgt von Bulgarien (21,6%), Griechenland (20,6%), Zypern (18,7%), Kroatien (18,6%), Spanien (18,6%), Rumänien (17,2%), Irland (16,1%), Ungarn (15,4%) und Portugal (14,2%).7 Alle diese Länder verzeichnen ein massives Anwachsen der Jugendarbeitslosigkeit seit 2008. Das Land der EU-28 mit dem größten Anstieg ist Zypern, dicht gefolgt von Griechenland. Deutliche Zuwächse sind auch in Rumänien, Italien, Spanien und Portugal zu verzeichnen (Abb. 2).

Abb. 2: Jugendarbeitslosigkeit in Europa8

Eine vergleichende Studie im Auftrag des Europäischen Parlaments,9 dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, führt die Ergebnisse von nationalen Studien aus Belgien, Zypern, Griechenland, Irland, Italien, Spanien und Portugal über die Auswirkungen der Finanzkrise und der Austeritätspolitiken zusammen und analysiert deren Auswirkungen auf die Grundrechte in der Europäischen Union: In allen sieben Ländern kam es zur Reduktion von LehrerInnen an den Schulen, obwohl die SchülerInnenzahlen gestiegen sind. In Griechenland wurden Schulen nicht mehr beheizt und Schulstandorte wurden geschlossen, was den Zugang zur Bildung für bestimmte Bevölkerungsgruppen erschwerte. In Spanien sparte man bei der Schulausstattung, sogar bei den Schulbüchern. In Griechenland kam es zu gravierenden Einschnitten zusätzlich im Gesundheitssystem. Dabei wurde die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung so aufs Spiel gesetzt, dass sogar die Kindersterblichkeit anstieg. Auch die Wartezeiten für Operationen sind explodiert, gleichfalls in Spanien, Irland und Zypern. Diese Kürzungen in den Gesundheitssystemen haben die Ärmsten am härtesten getroffen.

3.1. Der Elefant im Weltladen und der Sozialstaat

Er hat einen breiten, hohen Rücken, der Kopf mit Mund geht nach unten, der Rüssel zeigt nach oben. Der Elefant, der da über die Erdkugel spaziert, bildet die Entwicklung der Einkommen in den letzten 30 Jahren ab – in einer Grafik, die als Elefantenkurve bekannt geworden ist.

Abb. 3: Einkommenszuwachs und Verlust weltweit

Beim Schwanz hinten, ganz unten wird der arme, abgehängte Teil der Weltbevölkerung sichtbar. Dort, wo sich des Elefanten Rücken befindet, ist der Anstieg der Einkommen der städtischen Mittelschichten in China und Indien abgebildet. Dort, wo der Mund nach unten geht und der Rüssel seinen Anfang nimmt, kann man die unteren Mittelschichten Europas und der USA erkennen, im aufgerichteten Rüssel sehen wir die Zunahme des Reichtums der Reichsten.

Der Elefant des Ökonomen Branko Milanovic10 zeigt uns vier Entwicklungen: Es gibt Regionen dieser Erde, die weiter bitter arm sind. Es gibt eine Verbesserung der Einkommen in den städtischen Milieus Asiens, besonders in China. Es gibt einen Verlust bei den unteren Mittelschichten in Europa und den USA. Und es gibt mehr Reichtum ganz oben. Die Gruppe der Superreichen mit mehr als 2 Milliarden Dollar Vermögen hat sich verfünffacht und ihr Gesamtbesitz mehr als verdoppelt. Die großen Gewinner sind die Mittelschichten Asiens und die Superreichen im Westen, die großen Verlierer die Angehörigen der unteren Mittelschicht der reichen Welt.

Die Elefantenkurve beim Rüssel zeigt uns noch ein interessantes Detail: Der Rückgang der Mittelschicht im Westen ist dort am stärksten, wo der Sozialstaat geschwächt und abgebaut wurde – ersichtlich in den USA, Großbritannien oder Spanien. Bei einem genaueren Blick auf die Mitte werden unterschiedliche Teile dieser – oft fälschlicherweise als einheitlich dargestellten – Schicht sichtbar. DIE Mitte gibt es nicht, wie aktuelle Daten der Nationalbank11 zeigen. Bezieht man neben Einkommen auch Konsum und Vermögen in die Analyse ein, dann zerfällt die Mitte in einen Teil mit Vermögen und in einen ohne. Etwa die Hälfte der Mitte ist in Besitz einer Wohnung oder eines Hauses. Die untere Hälfte hat kaum nennenswerten Besitz. Wobei „Unten“ und „Mitte“ einander näher sind als „Mitte“ und „Oben“. Und das macht einen Riesenunterschied. Die untere Mittelschicht lebt nämlich solange in relativem Wohlstand mit Mietwohnung, Auto, Urlaub, Hobbies und Zukunftschancen für die Kinder, solange Systeme des sozialen Ausgleichs existieren. Ihre Lebensqualität wird durch den Sozialstaat möglich gemacht. Pensionsversicherung, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, geförderte Mietwohnungen und öffentliche Schulen sichern den Lebensstandard und verhindern gerade in unsicheren Zeiten ein Abrutschen nach unten. Die untere Mitte hat kein Vermögen, um Einschnitte wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit einfach aufzufangen. Und wäre sie gezwungen, Vermögen für Alter, Bildung, Krankheit oder Arbeitslosigkeit anzusparen, wären ihr Lebensstandard und ihr Konsumniveau vernichtet. Die Mitte ist dort weniger gefährdet, wo es ein starkes Netz sozialer Sicherheit gibt.

Auch die aktuellen Daten der Statistik Austria weisen auf diesen Zusammenhang hin. Die Haushaltseinkommen bleiben in Österreich insgesamt stabil. Einige Armutsindikatoren sinken seit 2008 – zwar nur auf das hohe Niveau von vor der Krise, aber: Die langfristige Entwicklung seit 2004 zeigt keine steigenden, aber konstant hohe Armutslagen.12 Das ist sehr ungewöhnlich im Vergleich zu anderen europäischen Staaten. Ohne Sozialleistungen und soziale Dienstleistungen wären auch mittlere Haushalte massiv unter Druck und stark abstiegsgefährdet.

All das weist auf die Stärken des Sozialstaats hin:

• Sozialleistungen wirken als automatische Stabilisatoren: Während Industrieproduktionen, Exporte und Investitionen in Folge der Finanzkrise stark gesunken sind, ist der Konsum der privaten Haushalte stabil geblieben, teilweise sogar gestiegen.