KISHOU I - Michael Kornas-Danisch - E-Book

KISHOU I E-Book

Michael Kornas-Danisch

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Beschreibung

Die heutigen phantastischen Geschichten unterscheiden sich im wesenntlichen von den Sagen und Mythen unserer Vorväter vornehmlich dadurch, daß ihre Geschichten nur noch "Geschichten" sind. In alten Zeiten waren sie in den verschiedenen Kulturen das probate Medium zur Vermittlung oder Begründung des kosmischen Weltganzen oder deren Teile. Der hier nun vorliegende 4-teilige High-Fantasy Roman greift auf die alte Tradition der prosaisch-gleichnishaften Verschlüsselung archetypischer Erfahrungen zurück, und versucht sie in eine unterhaltsame Fantasy-Geschichte einzuweben. Die Hauptpersonen des Romans sind die "Sippe der Chemuren". Hinter ihnen verbergen sich die personifizierten Götter der griechischen Mythologie. Sie sind allerdings hier – personifiziert als "Individuen" und damit herausgerissen aus ihrer eigentlich überpersönlichen Symbolik, und letztlich dem Unterhaltungswert der Geschichte dienend – entsprechend überzeichnet. Ihnen gegenüber steht ein in diese mythische Welt geworfenes, anfänglich sehr junges und anscheinend ganz normales Mädchen, das auf einer abenteuerlichen Odyssee, und in der Auseinandersetzung mit diesen mythischen Mächten heranwächst, und dabei nach und nach ihre Welt und deren Zusammenhänge erfährt – und letztlich sich selbst. Die Geschichte erzählt also scheinbar entgegen seinem Genre (Fantasy) etwas über die reale Welt des Lesers – genauer: über das, was wir als "Wirklichkeit" bezeichnen – indem es diese "Wirklichkeit" in symbolhafte Figuren, Handlungen und Lebensräume gleichnishaft verschlüsselt, um dessen Grundlagen erkennbar werden zu lassen. Bei aller persönlicher Faszination gegenüber den Erkenntnisssen unserer antiken Vordenker, war ich allerdings immer bemüht, vor allem eine unterhaltsame und augenscheinlich phantastische Geschichte aufzuschreiben, die nach einer gewissen Einlesezeit zu allererst einmal Spaß und Spannung für Hirn und Herz bereiten sollte. Der Autor

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Seitenzahl: 462

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Impressum

Copyright: © 2021 Michael Kornas-Danisch

KISHOU I

Nichts ist ohne das SCHEIDEN

Ohne das Scheiden ist NICHTS

So ist ENTSCHEIDUNG

SCHÖPFUNG

Erschaffend aus sich selbst heraus

Das DING

So ist das DING

Und mit ihm ist die ZEIT

Es kann nicht sein das EINE

Wo nicht ist das ANDERE

Prolog

„Li suni to!“

„Qua suni to?“

„Li – Suäl Graal!“

Die Altwisin nickte unmerklich, während sie Mujie Saii aufmerksam musterte. Sie nahm ein kleines Kännchen von der Anrichte neben sich, und träufelte von seinem Inhalt etwas über den Kräuterkreis, den sie kurz zuvor um ihre Füße herum angelegt hatte. Ein feiner Rauch kräuselte sich an Mujie Saiis Beinen nach oben. Sein Geruch überdeckte die feuchte und salzige Luft des nahen Meeres, die sich mischte in den Winden mit dem rauchigen Geschmack verbrannten Holzes. Es brannten immer einige Kamine in der Siedlung.

Dann endlich wandte sie sich um in das innere des Raumes, an deren gegenüberliegende Wand die Familie Saii gebannt und mit ängstlichen Blicken dem Ritual folgten. Mujie Saiis starre Augen blickten derweil die ganze Zeit leer und ohne erkennbare Erregung zum Fenster hinaus, in das wilde Hochland – hinüber zum 'Gespaltenen Berg'. Sie hatte einen guten Blick auf ihn. Wenn der immerwährende neblige Dunst sich zuweilen einmal für kurze Zeit auflöste, und das Wetter so klar war wie heute, fanden die Augen auch dessen Gipfel – und es war nicht irgendein Gipfel irgendeines Berges, von denen es in diesem Hochland so nahe dem Meer unzählige gab. Es war der Berg Suäl Graals, der mächtigen ,Göttin des Kelches' – wie sie in den Legenden beschrieben wurde. Der Gipfel dieses Berges wird darin als ihre Heimstatt benannt. Bei ihrer Ankunft vor vielen Zeiten hatte sie, um ihre Macht zu demonstrieren, den Berg in seiner Mitten aufgerissen, und seine dem Meer zugewandte Seite in die Fluten stürzen lassen – so berichten die Legenden.

„Bedeuten die seltsamen Worte meiner Schwester irgendetwas?“ Es war Halem Saii, der dies in Ungeduld fragte. Er war der einzige noch verbliebene Bruder Mujies. Zwei weitere, die Älteren, waren längst nicht mehr unter ihnen. Bogol Saii, der Älteste, verunglückte schon vor langer Zeit oben am Tausteg – einem leichten Überhang der nahen Steilküste – als die Familie nach der noch sehr kleinen Mujie suchten. Das Kind hatte ohne Begleitung bei einem Unwetter das Haus verlassen. Ein Teil des Überhanges brach unter seinen Füßen und stürzte mit ihm ins Meer. Der Zweite, Tako mit Namen, blieb vor noch nicht vielen Sonnenwenden im Kampf gegen den Stamm der Zuren im Feld.

„Bedeuten die seltsamen Worte meiner Schwester irgendetwas?“, fragte Halem noch einmal nachdringlicher, als die Altwisin nicht sofort antwortete. Altwisen waren ein besonderer Zweig der Heilkundigen, die allerdings neben der Heilkunst noch sehr viel Wissen über das Volk der Nin und ihre Stämme in sich trugen. Sie waren vertraut mit der Kultur ihres Volkes und ihren Wandlungen in der Zeit, ihren Traditionen, Ritualen und den Göttern. Halem hatte sie auf Bitten der Mutter von weit her in ihr Dorf geholt. Es gab nicht viele von ihnen.

Jetzt endlich nickte die Altwisin nachdenklich. „Es sind Worte einer sehr alten Sprache – Äonen liegen zwischen ihr und unserer Zeit. Nur zwei Stämme am Rande unserer Welt sind mir bekannt, in denen sie noch in Teilen lebendig ist.

„Was sagt sie?“, fragte nun der Vater und richtete sich etwas auf. Er war von stämmiger Gestalt, wirkte aber dennoch müde mit seinen ergrauten, wirren Kopf- und Gesichtshaaren.

„Sie sagt, sie wäre nicht da!“, antwortete die Altwisin.

„Wer ist nicht da?“, fragte der Vater sofort nach.

„Das waren auch meine Worte, die ich an sie richtete!“, nickte die Altwisin. „Sie sagte darauf: Suäl Graal!“

Schultern und Kopf des Vater senkten sich wieder, und auch die Blicke Halems und der Mutter verstummten, als wäre eine böse Ahnung in ihnen zur Gewissheit geworden.

„Erzählt mir von der Tochter – wann alles begann, und was sich sonst noch in ihr zeigt!“, forderte die Altwisin.

„Es ist schwer zu …!“, wollte der Vater gerade beginnen, als er sogleich von der Altwisin unterbrochen wurde. „Nicht hier! Ich habe Vorbereitungen getroffen, dass sie bald zurückkehren wird. Wir sollten ungestört sein!“

So wechselten sie in den angrenzenden Raum. Er war nicht viel größer als der Erstere, aber etwas wohnlicher gestaltet – besaß einen großen Tisch mit Stühlen und einen Kamin, der inzwischen aber verloschen war. Durch sein Fenster, dass hier an der Seite des Hauses lag, konnte man zwischen Bäumen und Sträuchern die Giebel des nahen Nachbarhauses sehen.

„Wir haben uns oft schon diese Frage gestellt!“, begann die Mutter sofort, nachdem sie sich gesetzt hatten. „Sie war eigentlich ein heiteres, unbeschwertes Kind, dass …“

„Aber auch immer schon sehr eigensinnig!“, wurde sie vom Vater unterbrochen. „Man konnte sie nicht alleine lassen, kaum das sie Laufen konnte!“, schüttelte er erinnernd seinen ergrauten Schopf. „Immer wieder einmal war sie verschwunden, fand sich auf benachbarten Gehöften wieder oder in den umliegenden Feldern und Brachen. Sie verweigerte jeden Gehorsam und keine Strafe konnte sie auf Dauer zähmen!“

„Ja, sie war sehr neugierig ...!“, versuchte die Mutter zu beschwichtigen.

„Sie war in allem ohne Maß und ohne jede Einsicht. Erinnere Dich, wie auch du geklagt hast!"

„Doch sie war eine andere, nachdem Bogol, ihr Bruder verunglückte!“

„Ich weiß nicht, ob es daran lag!“, widersprach auch hier der Vater unwillig. „Sie war eigentlich noch zu klein, um das Unglück zu versteh'n – aber wohl alt genug, um etwas ruhiger und einsichtiger zu werden!“

„Es kam aber doch sehr plötzlich!“, beharrte die Mutter auf ihre Ansicht der Dinge.

„Was veränderte sich an ihr?“, unterbrach die Altwisin den Disput.

„Sie war plötzlich sehr gehorsam!“, übernahm sofort die Mutter. „Sie ging kaum mehr über den Hof hinaus, half im Haus und auf dem Feld so gut sie schon konnte - … und war sehr ernst bei allem. Ich glaub, sie hat auch seit dem nicht mehr gelacht!“, richtete sie sich an den Vater, als wollte sie seine Bestätigung einholen.

„Sie war eben älter geworden!“, versuchte der noch einmal seine Sicht der Dinge zu verteidigen. „Es ist nicht leicht, dem Boden hier etwas abzuringen!“, richtete er sich an die Altwisin. „Es sind immer große Wege und viel Arbeit. Das bekommt man schon früh mit, wenn man hier lebt – und wir mussten damals auch auf Bogol verzichten. Er war ein ganzer Kerl und kräftig!“

„Aber du hast doch nun gehört, dass die Allmächtige von Mujie Besitz ergriffen hat, und es war die Allmächtige, die den Tausteg aus der Wand brach, dass unser Bogol ins Meer gerissen wurde. Wie kannst du noch meinen, das Mujies Veränderung nichts damit zu tun hat?“

Der Vater schwieg.

„Es ist doch so?“, setzte die Mutter fort, und schaute fragend zur Altwisin. „Unsere Tochter ist von Suäl Graal besessen!“

„Erzählt, was weiter geschah!“, ließ die Altwisin die Frage zunächst unbeantwortet.

„Der Stamm der Zuren traf vor noch nicht langer Zeit einmal mehr Vorbereitungen, in unser Land einzubrechen – vom Ogental aus. Es waren …“

„Das ist mir bekannt!“, unterbrach die Altwisin.

„Ja!“, nickte der Vater verstehend. „Werber kamen, um von jeder Familie den Tauglichsten zu fordern. Was soll man tun …!“, er atmete tief ein. „ich selbst habe in meiner Jugend schon gegen sie gekämpft! Sie müssen ja aufgehalten werden!“ Seine Lippen bewegten sich, als kaute er auf etwas herum … „Es war Tako, mein nun ältester, der mit ihnen ging. Er kehrte nicht zurück!“

„Mujie liebte ihren Bruder sehr, …“, bemerkte die Mutter mit gesenktem Kopf und erstickter Stimme, „… und gab ihm ein Amulett mit auf den Weg, das ihn schützen sollte …!“

„Seither ist sie nicht mehr sie selbst“, übernahm nun Halem Saii. „Wenn wir nicht auf dem Feld sind, verbringt sie die meiste Zeit im Gebetsraum, und spricht mit Gäa. Oft steht sie am Fenster, wie jetzt gerade, und stiert unentwegt zum Gespaltenen Berg hinüber. Nichts um sie herum scheint dann mehr zu gelten. Manches Mal schreit sie dann plötzlich wie ein weidwundes Tier und ist lange nicht zu beruhigen!“

„Sie sagt, sie wüsste nicht, was mit ihr geschieht in diesen Momenten!“, ergänzte die Mutter.

„Ich weiß nicht, ob es wahr ist …“, ließ sich nun wieder der Vater vernehmen. „Hier und in den umliegenden Dörfern erzählt man sich von vielen Unglücken in den Familien in den letzten Zeiten – und von verdorbenen Ernten. Man redet nicht offen darüber … aber es heißt, unsere Tochter …“

„Es sind nur einige, die so denken!“, wurde er fast barsch von Halem unterbrochen. „Mujie hat damit nichts zu tun! Sie ist gequält von Suäl Graal, wie alle unseres Volkes!“

Ein beklemmendes Schweigen folgte dem Ausruf Halems, und wurde erst von der Altwisin wieder aufgehoben. „Sie beherrscht Worte, die lange schon vergangen sind im Volk der Nin! Wisst ihr noch von anderen Fähigkeiten, die nicht gewöhnlich sind!“, fragte sie.

„Als Tako noch unter uns war, sah man sie mit großem Geschick mit dem Schwert umgehen!“, erinnerte sich Halem. „Doch man hat niemals gesehen, dass sie sich darin übte …!“

„Das ist wahr!“, bestätigte sofort der Vater. „Auch mit dem Bogen war sie schon sehr früh vertraut. Niemand konnte sich in dieser Kunst mit ihr messen!“

„Es war aber sicherlich auch kein gewöhnlicher Bogen!“, gab die Mutter zu bedenken. „Eine Magie war mit ihm verbunden!“

„Eine Magie?“, horchte die Altwisin auf.

„Es musste wohl so sein!“, bestätigte die Mutter.

„Die Tochter war gerade geboren …“, erklärte darauf der Vater nachdenklich, „… da erschien ein fremder im Dorf, dessen Namen niemand mehr erinnert – hochgewachsen und alt an Jahren. Er trug den Bogen bei sich. Wir boten ihm Unterschlupf in unserem Hause für die kurze Zeit seines Aufenthalts. Als er wieder aufbrach, legte er seinen Bogen auf das Kindbett, und sagte, dass nun sie ihn führen sollte, wenn sie herangewachsen war. Wir hielten es für eine Geste des Dankes, dass wir ihn bei uns aufgenommen hatten!“

„Und worin lag nun die Magie des Bogens?“, fragte die Altwisin nach.

„Kaum das Mujie die Kraft hatte, ihn ein wenig zu spannen …“, sprudelte die Mutter sogleich hervor, „… traf sein Pfeil das kleinste Ziel aus großer Entfernung. Niemanden sonst gewährte der Bogen diese Gunst außer der Tochter. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen …!“

„Zeigt mir den Bogen!“, bat die Altwisin.

„Wir haben ihn nicht mehr!“, schüttelte der Vater unwillig den Kopf.

„Nachdem eine Ahnung in uns aufkam, dass Suäl Graal ihr böses Spiel mit unserer Tochter trieb, konnte der Bogen nur ein Werk ihrer Allmacht sein!“, erregte sich die Mutter etwas. „Wir warfen ihn ins Feuer – aber er verbrannte nicht. Keine Flamme wollte an ihm zehren – selbst seine Sehne blieb ungeschwärzt! …“

„Ich trug ihn zuletzt zum höchsten Ort der Steilküste, und warf ihn hinab ins Meer, aus dem Suäl Graal einst entstiegen ist!“, übernahm Halem. „Wir gaben der Allmächtigen zurück was das ihre war!“, schloss er.

„Kannst du unserer Tochter helfen?“, fragte die Mutter nun mit ängstlichem Blick.

Die Altwisin senkte den Kopf und schien in sich hineinzuhorchen. Dann blickte sie wieder auf. „Nur Gäa und die Allmächtige wissen, was eure Tochter erleidet. Es müssen viele Zeiten in ihr aufgehoben sein, dass sie Worte in sich trägt, deren Klang längst vergangen ist! Mir scheint, eure Tochter ist ein Kishou – so bezeichnete man in den längst vergangenen Zeiten die ‚Suchenden’, wie sie im Volk der Nin so manchesmal wiedergeboren wurden. Der letzte, von dem mir berichtet wurde, lebte in Khokut – viele Tagesreisen von hier. Er soll allerdings bereits eine sehr hohe Stufe der Weisheit erlangt haben, so sprechen die, die von ihm wissen. Doch es ist schon sehr lange her, dass er unter uns war!“

Sie machte eine kleine Pause, und schien wiederum in sich hinein zu horchen. „Was geschehen ist, kann nicht mehr ungeschehen sein – was erfahren ist, nicht unerfahren!“, meinte sie endlich. „Möglich, dass Suäl Graal tatsächlich von ihr Besitz ergriffen hat – oder zumindest irgendeine Verbindung zwischen ihnen besteht. Es quält sie offenbar sehr!", bestätigte die Altwisin die Mutter weitgehend in ihren Befürchtungen. „Ich will ihr ein Elixier mischen, dass eine schwarze Decke darüber legen wird, was in ihr geschehen – und ein Zweites, dass sie vergessen macht, was in ihr als Erfahrung ruht. Das Erstere nimmt sie am Morgen jeden Tages zu zwei Löffeln, von dem Zweiten träufelt etwas am Abend auf ihre Ruhestatt. Es kann sie nicht heilen – wie der Suchende niemals auf immer aufgehalten werden kann. Doch wird es in der Zeit das Maß ihrer Empfindsamkeit herabsetzen!“

„Wonach sucht sie?“, wunderte sich Halem, doch für eine Antwort der Altwisin war keine Gelegenheit mehr. Der hölzerne Riegel der Tür klappte in diesem Moment nach oben, und der Zugang zum angrenzenden Raum öffnete sich langsam. Mujie Saii stand dort – zitternd und das Gesicht feucht von Schweiß und Tränen …

„Ich hab Angst!“, sagte sie leise.

Halem war aufgesprungen und barg sie fest in seine Arme …

~

„Wie die Altwisin es vorher gesagt hatte, so geschah es. Die geheimen Elixiere aus wilden Kräutern zeigte ihre Wirkung, und in der Zeit zweier Sonnenwenden über dem Salzberg entspannte sich das Antlitz Mujie Saiis mehr und mehr, bis jede Bedrückung von ihr genommen schien.

Eine gute Zeit war angebrochen, die den gerechten Lohn der alltäglichen Beschwernisse versprach, mit denen man dem kargen Boden des Hochlandes seine Früchte abringen musste. Rahmin, der zweitälteste der Familie Tayl, warb seit kurzem um Mujie – und es sah zuweilen danach aus, als würde er erfolgreich sein. …

~

„M

ujie!“

„Was ist?“. Die Gerufene trat an das Fenster und stieß dessen rechten Flügel nach außen, der schon lange nur noch kraftlos an einem seiner Scharniere hing, und bei jedem Windzug halb zuklappte.

„Komm heraus, wenn du dich traust!“ Halem Saii stand ein Stück weit vor dem Haus, und übte sich schon den halben Tag in der Führung seines schweren Schwertes. Er hatte es sich von Ramon, dem alten Schmied, erst vor Kurzem nach seinen strengen Anweisungen anfertigen lassen – und es war ihm gut gelungen.

„Du spinnst!“, rief ihm Mujie zu. „Wo ist Rassl?“ Sie hatte durchaus bemerkt, dass schon vor einer Weile das Klirren und Schaben von Eisen auf Eisen aufgehört hatte. Rassl war der älteste Sohn jener Familie, deren Haus nur einen Steinwurf von ihnen, hinter der brüchigen kleinen Mauer stand. Er übte fast täglich mit dem Freund.

„Er ist aufs Feld!“, rief ihr der Bruder zu.

„Das solltest du auch tun, und Vater und Mutter helfen, anstatt die Vögel mit deinem Krach zu verschrecken!“

Halem lachte laut auf. „Ich wusste nicht, dass ich eine so ängstliche Schwester habe, dass sie grad' das Klirren von blechernen Tiegeln und Töpfen erträgt!“

Mujie Saii verdrehte unter einem Seufzer die Augen, zog ihr Schwert von der Halterung an der Wand, und verließ das Haus.

„Ich weiß nicht, warum ich dieses Ding hier heraus trage – ein Besen sollte reichen!“ Mit dem ,Ding’ meinte sie ihr Schwert, das sie durchaus noch zu führen verstand – nicht mehr mit jenem Geschick, das ihr früher zuteil war, der Schleier des Vergessens hatte sich wohl auch darüber gelegt – doch gut genug für manch kurzweilige Ablenkung vom Alltag. Sie warf ihre verfilzten Locken mit der Hand von der Schulter, die der raue Wind jedoch sofort wieder zurück trug, und stellte sich vor den Bruder auf.

„Ist es denn etwas anderes, was du in der Hand hältst?“, lachte Halem, und ließ in einer jähen Kreisbewegung die Klinge seines Schwertes seitwärts gegen die Schwester rennen.

Es war ein ungleicher Kampf, in dem Halem durchaus darauf bedacht war, dass die Schwester seine Schläge mit nicht all zu viel Mühe parieren konnte. Dennoch war sie sehr bald in die Defensive gedrängt. Mit dem Jauchzer des Übermuts wich er den wenigen Attacken der Schwester aus, die er ihr noch beließ. „Meine kleine Schwester ist mit ihrem Besen recht schnell!“, lachte Halem anerkennend – wohl um sie bei Laune zu halten.

Mujies Antwort war ein schneller Frontalstoß mit der Schwertspitze, dem der Bruder einmal mehr mit einem Jauchzer, und dem schnellen Öffnen seines Körpers auswich, so dass der Stoß Mujies ins Leere ging. Im vorläufigen Rückzug schwang Mujie die Klinge kreisförmig hinter sich, um nun mit einem Hieb von oben zu kommen. Wieder wich Halem elegant und übermütig jauchzend der Parade aus – doch die Klinge Mujies stoppte jäh in der Waagerechten. Ihr Körper drehte sich blitzschnell um die eigene Achse, und die Fläche ihrer Klinge klatsche hörbar auf das Hinterteil des Bruders.

Für einen Augenblick war tatsächlich eine Verblüffung in den weit geöffneten Augen Halems zu entdecken. „Du bist hinterhältig!“, beschwerte er sich. Aber es war wohl eher ein gespielter Vorwurf. Halem Saii liebte seine Schwester sehr.

„Na und?“, blinzelte Mujie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und einem frechen Grinsen an. Doch plötzlich spannte sich ihr Gesicht und ihr Blick fiel zum Himmel – in dessen schwere Wolken. „Es ist still geworden!“, sagte sie aufhorchend. Ihre Augen weiteten sich, als sehe sie dort oben etwas.

Halem schaute hinüber zum Gespaltenen Berg, dessen Gipfel sich, wie es fast immer war, im grauen Dunst auflöste, und horchte in die wilde Natur. Tatsächlich. Kein Blatt wurde von einem Wind bewegt – und auch die Vögel waren verstummt.

„Hol den Wagen – beeil dich!“ Fast flüsterte Mujie mit starren und weit aufgerissenen Augen.

„Was ist?“, wollte der Bruder wissen.

„Hol den Wagen – schnell!“ Fast schon lag ein Befehl in ihren Worten.

Halem war verwirrt – seine Blicke tasteten einen Moment unruhig zwischen der Schwester, dem Himmel und dem Gespaltenen Berg hin und hier. Er fand keine Erklärung, und die Dringlichkeit der Worte Mujies gestatteten keine Zeit, danach zu suchen. … „Ja!“, sagte er endlich, bereits im Laufschritt unterwegs zum Schuppen hinter dem Haus.

Nur Augenblicke später erschien er wieder mit dem Pferd, an das ein kleiner klappriger Wagen angespannt war. Mujie sprang auf das hölzerne Brett neben ihren Bruder, und Halem war bemüht, das Tier auf den schnellstmöglichen Trab zu bringen.

Ihr Feld war ein gutes Stück weit entfernt. Es gab in dieser Gegend nicht viel Land, das beackert werden konnte. Zu steinig und ausgewaschen war der Boden hier. Ächzend hastete der Wagen über den ausgefahrenen, holprigen Weg.

Mujies furchtsamer Blick ließ nicht ab von den Wolken über ihnen, als plötzlich ein gellender Schrei aus ihr herausbrach. Im selben Moment zerriss ein gleißender Blitz den Himmel, dem der ohrenbetäubende Schlag eines Donners folgte. Eine schwere Windbö fegte Pferd und Wagen fast von der Straße – und nur Augenblicke später schien der Himmel auf sie herabzufallen. Fluten von Wasser ließen kaum den Weg erkennen, der sie zu ihrem Acker führen sollte.

Halem Saii erschauerte. Nicht, weil der Schrei der Schwester ihn in eine überwunden geglaubte Zeit zurückwarf – er bemerkte diesen Umstand nicht einmal in diesem Moment. Er meinte vielmehr einen solchen Schrei des Schmerzes von ihr nie zuvor gehört zu haben – oder waren es nur die Begleitumstände, die seinen Klang so tief in sein Mark stieß ... Seine Augen versuchten verzweifelt, eine Orientierung durch die herabstürzenden Wasser zu finden, doch dann war es das Pferd, dass seinen Weg kannte. Unter dem nicht enden wollenden Schreien der Schwester bog es plötzlich nach rechts ab. Der Wagen schwankte, und seine hölzernen Räder versanken tief im Morast des Feldes, das sie nunmehr geradewegs überquerten. Endlich verstummte Mujie. Durch die wie aus Kübeln fallenden Wasser konnten ihre Augen erst etwas erkennen, als sie bereits am Ziel waren.

Einige andere Wagen standen da – die von benachbarten Familien. Sie selbst standen im Halbkreis versammelt vor den Überresten eines geborstenen und brandgeschwärzten Baumes.

Halem und Mujie Saii sprangen vom Wagen und wateten eilig durch den klebrigen Morast zu den Versammelten. Halem sah die zwei Leiber, die dort in der getränkten Erde lagen, zuerst – halbseitig schwarz verbrannt. Er versperrte seiner Schwester den Weg und barg ihren Kopf an seine Brust – doch die wusste es wohl längst schon ...

„Wir haben versucht, noch rechtzeitig zu kommen!“, sagte eine Stimme neben ihnen. „Aber wer hätte sie aufhalten können!“ Die Augen dessen, der da sprach, suchten nach dem Gespaltenen Berg – aber die vom Himmel herabstürzenden Wasser versperrten ihnen den Weg zu ihm.

~

Zorn und Hass lagen in den Augen Halem Saiis – doch auch die Ohnmacht einer vermeintlichen Schuld lasteten auf ihm, wie er so vom Fenster des Hauses den Gespaltenen Berg wieder und wieder mit seinen Augen bemaß. Nun war er es, der dort stand – kaum, dass er seit jenem Tag diesen Platz noch verließ. Er galt als der Stärkste und der Tapferste der Siedlung, doch seine Kraft hatte keinen Wert, denn sie hatte es nicht verhindern können.

Nur die Schwester war ihm noch geblieben ...

Die Tür des kleinen Verschlags in der Ecke des Raumes öffnete sich knarrend, und Mujie Saii trat heraus. Einen langen Moment stand sie da, und schaute stumm in den Rücken des Bruders. Ihre großen, dunklen Augen schienen aber durch ihn hindurch zu sehen, als erblickte sie etwas in weiter Ferne, und es lag eine stille Furcht in ihnen.

Wenngleich Mujie doch jünger war als er, so ließ die Herbheit ihres Gesichts dies kaum erahnen. Ihre langen, dunklen Haare waren verfilzt und bedeckten in dicken Strähnen die kräftigen Schultern. Sie war im ersten Moment eine wilde Erscheinung, aber ihre Augen erzählten etwas anderes.

Mit langsamen Schritten trat sie endlich an die Seite Halem Saiis und folgte schweigend dessen Blick zum Gipfel des Gespaltenen Berges ... „Ich habe Gäa gebeten dich aufzuhalten“, sagte sie nach einer Weile, ohne ihren Blick abzuwenden.

Halem Saii nickte. „Ich weiß!“, sagte er ruhig, während eine Hand über die kleine Wölbung seines Bauches strich. „Gäa erhörte deine Worte, und hat es versucht ...“ Sein Kopf wandte sich langsam dem Bretterverschlag zu, dessen notdürftig gezimmerte Tür, noch halb geöffnet, den Blick in die kleine dahinter liegende Kammer zuließ, die Mujie gerade verlassen hatte. Im flackernden Licht einiger Talklampen erhob sich eine verblasst bunte, hölzerne Gestalt, deren fleischige Hände ihren kugeligen Bauch umschlossen. Es war das Abbild Gäas, der Schutzgöttin der Nin. Sie war seit Urzeiten deren höchste Gottheit, und ihr wichtigstes Indiz war die stark ausgeprägte Wölbung ihres kugelförmigen Bauches, der in einer kleinen Andeutung auch jeden Nin auszeichnete. Gäa bewohnte nach den Überlieferungen ein großes, hell strahlendes Schloss mitten auf dem Meer, und die Bewohner des Ortes meinten es des Nachts zuweilen von der hohen Steilküste aus sehen zu können, wenn das raue Wetter sich einmal kurz aufklärte.

„... aber sie hat nicht mehr die Kraft, mich aufzuhalten!“ Halem Saiis Blick wandte sich wieder dem Berg zu, und betrachtete ihn schweigend.

„Mutter und Vater fürchteten mich, weil ich nicht war, wie die anderen!", sagte Mujie plötzlich in die Stille hinein.

„Was redest Du da!", war die abwehrende Reaktion des Bruders.

„Alle fürchten mich. Ich habe es immer gespürt. Ich war oft gekränkt und einsam, weil ich nicht zu euch gehören konnte!", widersprach sie mit unmerklichem Kopfschütteln. "Sie haben recht!", sprach sie im flüsternden Ton weiter. "Es es ist alles meine Schuld. Aber ich verstehe es nicht!"

„Hör auf so zu reden!", wurde sie von dem Bruder scharf unterbrochen, und sein Blick grub sich für einen Moment tief in ihre Augen, bevor sie sich wieder dem gespaltenen Berg zuwandten.

Es folgte ein Moment der Stille, doch Mujie hörte nicht auf. „Ich weiß nicht, was in mir ist!“, sprach sie leise weiter. „Sie sagen, Suäl Graal ist dort oben auf dem Gespaltenen Berg … Doch es ist nicht wahr“ Ihre Stimme klang, als würde sie mit sich selbst sprechen. „Ich weiß es – ich spüre es ganz deutlich. Sie ist in einer anderen Welt – tausendfach größer als der Himmel über uns!“

„Es sind Phantasien – Irrbilder. Was geschehen ist, hat den schützenden Mantel zerrissen, den die Altwisin über dich legte!“, wehrte Halem ab, ohne seinen Blick vom Fenster abzuwenden.

Mujie schüttelte unmerklich den Kopf. „Ich habe Angst. Ich muss zu ihr gehen. Ich muss sie aufhalten – dort wo sie zu Hause ist. Gäa wird mich führen und mit mir sein. Sie hat es mir versprochen!“

Nun wandten sich die Augen des Bruders doch zu ihr. Eine tiefe Sorge lag in diesem Moment in ihnen. „Du wirst wieder vergessen, Mujie! Es ist eine schwere Zeit für uns alle, doch ich werde sie beenden!“

„Nein Halem!“, brach es aus Mujie heraus, als würde sie erschreckt aus einem bösen Traum erwachen, und ein Zittern lag in ihrer Stimme. „Ich habe nur noch dich, du darfst mich hier nicht allein zurücklassen! Wer soll mich schützen? Selbst Gäa hat keine Macht über Suäl Graal ... Suäl Graal ist eine Unsterbliche ... Du kannst ihr nicht gegenübertreten in dieser Welt. Niemand kann das! du kannst sie nicht bezwingen. Niemand kann Suäl Graal bezwingen! Aber du könntest ihren Zorn erwecken!“

Halem Saii antwortete nicht. Seine Augen wandten sich wieder dem Fenster zu und sein Blick grub sich tief in den Berg.

„Dann werde ich dich begleiten!“, sagte Mujie nun wieder mit leiser, aber entschlossener Stimme, während ihre Augen wieder denen des Bruders folgten. Ihre schwieligen Hände umschlossen sanft ihr kleines Bäuchlein, das offenbar sein Einverständnis verweigerte.

„Nein!“, brach es zutiefst erschrocken aus Halem Saii hervor, und seine Hände gruben sich heftig in die Schultern der Schwester, als er sie zu sich herumriss. „Ich verbiete es dir mich zu begleiten! Hast du mich gehört, ich verbiete es dir! Wenn ich nicht zurückkehren sollte, so wird Rahmin dich schützen, wie er es mir versprochen hat. Und wenn ich zurückkehre, so ist es wieder Gäa, die mit uns ist!“

Mujie hielt ohne Regung dem Schmerz stand, den ihr die erschrockenen Hände des Bruders zufügten. Stumm blickte sie in seine wilden Augen, bis er endlich von ihr abließ.

~

Als Mujie Saii am darauf folgenden Morgen schon sehr früh in Unruhe erwachte, war sie bereits allein. Die beiden Holzscheite, auf denen gewöhnlich das schwere Schwert des Bruders an der Wand ruhte, waren verwaist, und es fehlte etwas von ihren Vorräten. Halem war bereits unbemerkt aufgebrochen. Weit konnte er noch nicht sein, denn sein Bett hatte noch nicht ganz die Kälte seiner Umgebung angenommen.

Ohne erkennbare Erregung lief sie halb bekleidet in die kalte Morgendämmerung vor das Haus, tauchte ihren Schopf in das eisige Wasser der großen Regentonne, die gleich neben der Eingangstür stand, und warf kurz darauf mit ihrem dichten verfilzten Haar das Wasser gegen die spröde, hölzerne Wand, dass es nur so spritzte.

Sie ging zurück ins Haus, schnürte die Sandalen, warf sich ein Fell über den Leib, stopfte ihren Schulterbeutel mit Wegzehrung voll, schob die Schleuder tief in den Gürtel, mit der sie eine gute Treffsicherheit bewies, und verließ das Haus bereits wieder. Die Siedlung lag noch im tiefen Schlaf, als sie nun aufbrach.

Bereits in der folgenden Nacht hatte sie den Bruder eingeholt. Was Halem Saii der Schwester an Kraft voraus hatte, ersetzte sie durch Zähigkeit. Der Schein eines kleinen Feuers, das der Bruder entzündet hatte um sich in der eisigen Nacht vor der Kälte zu schützen, verrieten Mujie, dass er nur noch einen Steinwurf von ihr entfernt war. Er durfte sie nicht entdecken, also kauerte sie sich hinter ein dichtes Buschwerk, das sie auch einigermaßen vor den schneidenden Winden schützte, zog das Fell eng um ihren Körper, und schlief sofort ein.

Als sie erwachte, hatte es die Sonne noch nicht geschafft, die dichte Wolkendecke soweit zu durchdringen, dass ihr Licht das Land erhellte – so wie sie es sich vorgenommen hatte.

Hungrig stopfte sie in sich hinein, was sie gerade in ihrem Beutel zu fassen bekam, und machte sich bald eilig auf den Weg, um den Rastplatz des Bruders zu erkunden. Sie kam noch gerade rechtzeitig, um hinter einem Felsen verborgen, dessen Aufbruch zu erkennen. Sie musste sehr vorsichtig sein, denn es durfte nicht geschehen, dass er sie bemerkte.

Von nun an sollte sie ihn nicht mehr aus den Augen verlieren, und folgte ihm vorsichtig und in gebührendem Abstand auf dem beschwerlichen Weg, der in vielen Windungen und ermüdenden Steigungen zum Gipfel des Gespaltenen Berges führte.

Die Vegetation wurde nach und nach immer spärlicher und der nackte Fels war feucht und schlüpfrig. Aber es gelang ihr, dem Bruder über die drei Tage, die es brauchte, um auf den höchsten Punkt des Berges zu gelangen, zu folgen, ohne dass der einen Verdacht schöpfte.

So kam dann endlich der Augenblick, dass sich die Augen Halem Saiis über das Haupt des Berges erhoben. Es war das erste Mal in der langen Geschichte der Stammes, dass ein sterbliches Wesen diesen Ort sah. Zögerlich richtete er sich auf, nachdem er mit einer letzten Anstrengung den Aufstieg bewältigt hatte, und nun endlich den göttlichen Platz betrat.

Doch der Gipfel des Gespaltenen Berges bot nicht den Anblick, der in den Köpfen seines Stammes, weit unten am Fuße des Berges seinen festen Platz hatte. Ein schroffes Plateau war alles, was am Ende von seinem mächtigen Fuß blieb, und nicht sehr viele Schritte brauchte es, um zu der Stelle zu gelangen, die dem Berg seinen Namen gab. Eine fast gradlinige Kante beschrieb den Ort, wo der Berg abgerissen war. Steil wie der Fall eines Lots bot sich hier der Abgrund dar. Irgendwann erreichte er das Wasser, das sich in ewig wiederholenden Schlägen gegen den glatten Fels warf. Doch das immerwährende Grau der feuchtkalten Luft ließ es wohl niemals zu, dieses Schauspiel von dort oben mehr als nur erahnen zu können. Der Blick konnte nur den schweren Wolken folgen, bis sie sich bald im gleichförmigen Grau des Himmels verloren.

Mujie blieb ein wenig unterhalb des Plateaus hinter einem Felsvorsprung verborgen, gerade, dass sie den Bruder sehen konnte.

Halem Saii hatte sein Schwert aus dem Gürtel gezogen, und lief offenbar irritiert auf der gut überschaubaren Fläche, die der Berg an seiner höchsten Stelle belassen hatte, hin und her. Er war fassungslos – er konnte es nicht glauben. Alles was er fand, war schroffer Fels, Wind, und das abgründige Werk derjenigen, die er hier zu finden den beschwerlichen Weg auf sich genommen hatte. Es sollte eine Festung hier sein – eine Burg, oder was auch immer – und es sollte zumindest sie selbst hier sein – Suäl Graal!

Ungläubig wandte er sich nach allen Seiten. Für einen Moment erinnerte er sich der Worte Mujies, dass Suäl Graal nicht an diesem Ort zu finden wäre – aber das konnte nicht sein – das durfte nicht sein. ... Der Wind, der an seinem Körper zerrte, brachte ihn nicht aus dem Gleichgewicht, aber das ansteigende Rollen eines Donners lenkte seinen Blick nach oben, in die nahen schwarzen Wolken.

Ohnmächtig vor Zorn schrie er in sie hinein. Er rief nach Suäl Graal, streckte sein schweres Schwert hoch gegen den Himmel und forderte die Gottheit auf, sich nicht feige hinter den Wolken zu verbergen ...

Mujie Saii sah, wie unter dem Schlag eines heftigen Donners der gleißende Blitz herabfuhr, und den Himmel geradewegs mit dem Schwert Halem Saiis verband. Die Luft um ihn herum glühte blendend hell auf – als im selben Moment noch ein zweiter Blitz in die Spitze seines Schwertes schlug.

Ohne einen Laut von sich zu geben, brach Halem Saii in sich zusammen.

Die Lautlosigkeit des Todes Halem Saiis wurde ersetzt durch den gellenden Aufschrei der Schwester. Fast besinnungslos vor Schmerz sprang sie die letzten Schritte auf die Ebene, um sich über ihren Bruder zu werfen. Sie schrie und trommelte mit ihren Fäusten auf seiner Brust herum – aber es war kein Leben mehr in ihm.

Bald Ermattet und schluchzend lag sie eine lange Zeit auf seinem leblosen Körper, bis auch sie still wurde.

Es war noch einmal eine lange Zeit vergangen, als sie wieder ihren Kopf hob. Langsam richtete sie sich auf, und ebenso langsam schritt sie zum Rand des Abgrundes. Lange blickten ihre leeren Augen in die graue Welt hinein. Irgendwann zog ihre Hand die Schleuder aus dem Gürtel, um nach einem Moment des Verharrens mit ihr schlaff herab zu sinken. Vom Stöhnen der Winde übertönt, fiel sie lautlos neben ihren Füßen auf den Fels – und ohne auch nur einmal zu wanken, neigte sich ihr Körper langsam über seinen Schwerpunkt hinaus, und kippte still in den Abgrund.

Schon bald verschlang das Grau der feuchten, schweren Luft Mujie Saii. Und es war noch eine Zeit – die Letzte – bevor ihr Körper auf das harte Wasser aufschlug.

~*~

1.Buch

Wandlung

Und so Mujie Saii NICHT war

War sie EINS

Und so Mujie Saii EINS war

War sie wahrhaftig

Und so Mujie Saii wahrhaftig war

War sie

NICHT

Denn das WAHRHAFTIG

Das ohne WIDERSPRUCH

Das IST NICHT

Und so Mujie Saii NICHT war

Und so Mujie Saii EINS war

War da nichts AUßER Mujie Saii

War da nichts außer MUJIE SAII.

Und so da nichts AUßER Mujie Saii war

Und so da nichts außer MUJIE SAII war

So war

ALL.

Und so sie All war

SOWOHL ALS AUCH

JENE als auch DIESER

SCHWARZ als auch WEIß

Doch nichts zu gleichen Teilen

Doch nichts in Harmonie

Doch nichts das kam zur Deckung

So war eine GROßE BEDRÄNGNIS

Und so eine große Bedrängnis war

Und so da ein Drängen war

des EINEN entgegen dem ANDEREN

Da war EINS NICHT MEHR

Da war WIDERSPRUCH

DA WAR EIN SCHEIDEN

Da war SCHÖPFUNG

Da war wiedergeboren die

Die als Mujie Saii erkannt werden wollte

Dochdaran konnte sie sich nicht mehr erinnern ...

Erinnerung

Reflexartig ließ sie sich hinter der Mauer des Brunnens fallen. Der schwere Wassereimer, den sie gerade heraufgezogen hatte, plumpste neben ihr auf den Boden und ergoss seinen Inhalt über den Saum ihres Kleides. Ihr Herz raste, und etwas schien ihr die Luft nehmen zu wollen. Ihre Finger kratzten unkontrolliert an ihrem Bäuchlein herum, und es dauerte diesmal sehr viel länger als sonst, bis sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte. Es gelang ihr durchzuatmen.

Vorsichtig schob sie ihren jungen Körper an den groben Steinen des Brunnens entlang, bis ihre Augen das Ziel fanden. Unweit vor ihr, im hohen Schilf des kleinen Teiches war etwas – nicht ,etwas’ – ,Jemand’ … Sie hatte es erst bemerkt, als es sich bewegte – und war sofort abgetaucht. Jetzt war es nicht mehr da – wie immer, wenn sie danach suchte.

Sie versuchte den dicken Kloß in ihrem Hals herunter zu würgen. Ihre Augen sprangen von Halm zu Halm, während sie wieder einmal angestrengt versuchte, sich an die Erscheinung zu erinnern. Doch auch dieses Mal gelang es ihr nicht. Zu schnell reagierte sie immer mit ihrer Flucht. Genauer: Irgend etwas in ihr reagierte zu schnell. Sie hatte keine Gewalt darüber.

Langsam begann sie sich zu beruhigen. Sie richtete sich vorsichtig auf und ließ den Blick durch den großen Garten kreisen. Alles schien, wie sie es gewohnt war. Irgendwelche Bewegungen und Geräusche waren immer da. Es war ein sehr großer Garten, dessen weite Begrenzung, die aus einer hohen und undurchdringlichen Hecke bestand, von hier aus nicht zu sehen war. Viele Bäume, Strauchwerk und hohes, wildes Gras ließen die Augen von diesem Platz aus nicht bis zu dessen Grenze vordringen.

Unzählige kleine Tiere teilten sich dieses Anwesen mit ihr. Einige von den Größeren kannte sie bereits sehr gut und spielte mit ihnen ... Es war immer etwas zu sehen oder zu hören an diesem Ort. Doch jenes Wesen gehörte nicht hierher – was immer es sein mochte.

Sie hob den leeren Eimer vom Boden auf, und hängte ihn erneut an den Haken des Taues, der ihn in der Tiefe des Brunnens sichernd begleitete. Ihre Hände bearbeiteten die quietschende und immer wieder hakende Kurbel der Winde, aber ihre Aufmerksamkeit galt ungebrochen ihrer Umgebung. Wieder versuchte sie sich zu erinnern …

Es ist schon eine gute Zeit her, als es das erste Mal geschah. Etwas verschwand um die Ecke ihres kleinen Heims, als sie gerade aus der Tür trat. Es war sehr groß … aber das war auch alles, was sie erinnern konnte. Es hatte keine Farbe und keine Gestalt – zumindest wusste sie keine zu benennen. Sie sprang sofort wieder zurück ins Haus, während ihr irgendetwas die Luft zu nehmen schien – dann war es vorbei. In dieser Art war es immer, doch die zeitlichen Abstände zwischen diesen Vorfällen wurden offenbar von Mal zu Mal kürzer.

Sie vernahm das leichte Aufsetzen des Eimers auf das tiefe Wasser, und das Seil erschlaffte. Sie wartete die Zeit, die der Eimer brauchte, um endgültig abzutauchen, und begann ihn wieder hinauf zu kurbeln.

Das geschah, wie immer, nicht ohne Mühe. Sie war noch sehr jung. Ihr noch schmaler, doch durchaus kräftiger Körper, der in einer leichten Wölbung ein kleines Bäuchlein verriet, beugte sich über den Brunnenrand, um den Bügel des Eimers zu fassen. Einen Augenblick lang schaute sie nach unten und vermochte in der Tiefe sich selbst zu erblicken. An frohen Tagen konnte sie viel Zeit damit verbringen, ihr Spiegelbild dort unten zu betrachten. Es war nicht Eitelkeit, es war vielmehr ein Staunen über das, was sie dort sah – und eigentlich nicht recht verstand. Zuweilen gab es kleine Wellen in der Tiefe des Brunnens, dann bewegte sich ihr Abbild und es schien ihr, als wäre die dort unten jemand Anderes – aber das konnte natürlich nicht sein.

Das Antlitz der Kleinen war in der Art, dass die sie umgebende Natur wohl ihre eigene Unvollkommenheit darin entdecken musste. In ihren großen, dunklen Augen, so schien es, konnte man all ihre durchwanderten Universen entdecken. … Doch es war keinerlei Erinnerung in ihr – sie wusste ja nicht einmal, dass es überhaupt etwas zu erinnern gab. Alles was ihr Nachsinnen füllte, stammte von diesem kleinen und vertrauten Ort.

Doch in diesem Moment hatte sie keinen Sinn für die Verwunderlichkeiten einer Spiegelung in der Tiefe. Sie zog fast hastig den überschwappenden Eimer auf die Brüstung, während ihre Augen einmal mehr versuchten, die hohe Hecke des Gartens durch all die Bäume und dem Gestrüpp zu erkennen. Doch es gelang ihr nicht.

Vielleicht kam dieses Wesen von dort draußen?

Sie hatte noch niemals auch nur einen Blick hinter diese Hecke getan. Ihr Bäuchlein signalisierte ihr unmissverständlich, dass es sich davor zu bewahren galt. Es gab wohl immer wieder Momente, in denen sie sich fragte, was hinter dieser undurchdringlichen grünen Wand lag, aber es blieben immer nur Momente. Eine unerklärliche tiefe Angst, die sie von Anfang ihrer Erinnerung an in sich trug, stillte immer sehr schnell die aufkeimende Neugier in ihr. Niemals hatte sie sich gefragt, warum sie allein war in diesem Garten – umgeben von einer unüberwindlich anmutenden Hecke – die seltsamerweise immer so aussah, als wäre sie gerade frisch beschnitten worden …

So saß sie zumeist in der heimeligen Küche des kleinen, alten Hauses, und dachte an tausenderlei Dinge, die sich jedoch niemals über die Grenzen ihrer kleinen Welt hinausbewegten. Und wenn ihre Gedanken hin und wieder anfingen, sie zu beunruhigen, dann streichelte sie ihr kleines Bäuchlein. Das war ein sehr angenehmes und beruhigendes Gefühl – wenn sie auch nicht sagen konnte, warum.

Mit beiden Händen wuchtete sie den schweren Eimer von der Mauer des Brunnens herunter und wandte sich endlich der nahen Eingangstür des Hauses zu. Fast lief sie schon rückwärts, so häufig wendete sie sich nach dem nahen Teich um – immer darauf gefasst, dass es wiederkehren würde.

Die Kleine lebte natürlich nicht gänzlich allein in dieser überschaubaren Welt.

Trautel Melanchful war eine alte Dame – eine sehr alte Dame, deren Alter nicht zu schätzen war. Sie war aber mindestens so alt, dass sie das gebrechliche Haus noch in seinen frischen und festen Tagen erlebt haben musste. Ihre weiß-lederne Haut war durchzogen von unzähligen tiefen Furchen, aber dennoch erschien sie auf eine seltsame Weise stark und fast unbezwingbar. Ihre Augen leuchteten wie zwei funkelnde Sterne, denen nichts zu entgehen schien.

Das heißt, diese Beschreibung war wohl bis vor einiger Zeit noch gültig, neuerdings wirkte sie nämlich ziemlich matt. Erschien sie bislang sehr mobil und sogar regelrecht flink, so bewegte sie sich nun schon seit einiger Zeit etwas gebückt, mit schleppendem Gang, und machte den Eindruck, als wollte sie jeden Moment zerbrechen. Ihre sonst silbrig glänzenden, schulterlangen Haare hingen nun dünn und farblos von Ihrem Kopf herab.

Der Kleinen war diese seltsame Veränderung nicht entgangen. Sie liebte die Alte sehr. Soweit sie zurückdenken konnte, war da immer wieder diese unerklärliche Angst in ihr. Doch Trautel Melanchful bemerkte es sofort, und konnte sie auf geheimnisvolle Weise wieder beruhigen. Die spannenden Geschichten, die ihr Trautel Melanchful des Abends vor dem Einschlafen erschuf – Geschichten und Abenteuer aus fernen und fremden Welten – waren nicht mehr zu zählen. ... und sie hatten immer ein gutes Ende!

Doch mit der zunehmenden Schwäche der Alten verebbten auch diese Geschichten. Immer häufiger musste sie ihr Bäuchlein streicheln, weil sie eine große Unruhe in sich spürte. Es war inzwischen sogar soweit, dass Trautel Melanchful ihre Unruhen nicht mehr zu bemerken schien. Es war eine Zeit, da sie das erste Mal meinte, ein Gefühl der Verlassenheit in sich zu spüren.

Vielleicht war dies der Grund, warum sie ihr noch nichts von den beängstigenden Erscheinungen erzählt hatte. Wahrscheinlicher war es aber wohl, dass sie fürchtete, etwas zu erfahren, das sie auf gar keinen Fall wissen wollte. Etwas in ihr fürchtete eine nahe Zeit.

So versuchte sie sich immer wieder einzureden, dass sie diese seltsamen Erscheinungen nur Tagträumen würde – eine Geschichte die sie selbst erschuf, solange es Trautel Melanchful an den ihren missen ließ – und dass bald wieder alles in Ordnung wäre. Es war ja auch nichts Wirkliches, was sie hätte benennen können.

Den schweren, hölzernen Wassereimer mit beiden Händen haltend, stieß sie die nur angelehnte verblichene Tür mit der Schulter auf. Knarrend schwang das Holz zurück, und machte den Weg in die Küche frei, durch die man das Haus betrat. Sie wuchtete die Last noch ein paar Schritte weit bis zu der kleinen Anrichte zu ihrer Linken, und ließ endlich von ihr ab.

Trautel Melanchful stand mit dem Rücken zu ihr auf der anderen Seite des überschaubaren Raumes und schaute wortlos durch eines der Fenster in den Garten hinaus. Obgleich dieser Anblick für Kishou nichts wirklich Ungewöhnliches an sich hatte, war sie doch etwas erschrocken. Von diesem Fenster aus schaute man direkt in die Richtung des kleinen Teiches …

So stand sie wie angewurzelt vor der Anrichte und starrte zu Trautel Melanchful hinüber. Die rührte sich nicht. Ihre spindeligen Finger waren auf den Fenstersims gestützt, während sie in gebeugter Haltung in den Garten hinaus schaute – hinüber zum Teich.

Stand sie schon lange da? – Hatte sie es auch gesehen? – Warum sagt sie nichts? Tausend Gedanken liefen gleichzeitig durch ihren Kopf. Sie redete immer gern – und viel. Unter normalen Umständen hätte sie sofort gefragt … Aber die Umstände waren schon seit Längerem nicht mehr normal. Etwas in ihr fürchtete die Antwort, die der Frage folgen könnte … So stand sie einfach nur da, und schaute in den gekrümmten Rücken der Alten, die ihrer Anwesenheit scheinbar keinerlei Beachtung schenkte.

Die Augen des Mädchens begannen unstet in dem Inneren des kleinen Raumes umher zu flattern – unsicher, wie sie der bedrückenden Situation begegnen sollte – als Trautel Melanchfuls Hände sich plötzlich vom Sims des Fensters lösten, und sich ihr schwacher Körper schleppend in das Kücheninnere eindrehte.

Die Kleine vergaß fast das Atmen, als sich ihre Augen trafen. Es schienen ihr fremde Augen, die sie meinte noch nie zuvor gesehen zu haben. Etwas Seltsames, fast beängstigendes lag in diesem Blick … Doch es war nur einen Moment lang – dann verlor sich der Eindruck doch schnell wieder, und sie strahlten wieder jene Wärme aus, die sie immer so nötig hatte.

Die Alte schlurfte langsam zu ihr hinüber und nahm sie wortlos in die Arme. Diese seltsame Ruhe lief sogleich wieder durch ihren Körper, wie sie es schon tausendmal erlebt hatte, wenn Trautel Melanchful ihre Arme um sie schloss. Doch diesmal schien es etwas Besonderes – vielleicht ja nur, weil es seit Langem wieder das erste Mal war. Es war wieder diese wunderliche Übereinkunft, die keinerlei Fragen und keiner Antwort mehr bedurfte. Vielleicht hatte Trautel Melanchful etwas gesehen – oder auch nicht. Es war nicht mehr wichtig.

„Ich hab‘ Angst.“, sagte sie leise.

„Ja.“, antwortete Trautel Melanchful.

~

Der Rest des Tages war fast so, wie sie ihn von der Zeit her kannte, als Trautel Melanchful noch flink durch die Zimmer huschte, und sie sich in ihrer Nähe sicher und geborgen fühlte. Zwar vermied sie es, an diesem Tage noch einmal in den Garten hinauszugehen, aber sie war sich sicher, dass nun alles wieder wie früher sein würde. Trautel Melanchful schien wohl nach wie vor sehr gebrechlich, doch etwas hatte sich auch an ihr an diesem Tag verändert. Es war nicht mit Worten zu beschreiben, aber es schien ihr etwas Wunderbares zu sein.

Doch diesem hoffnungsvollen Tage folgte die Nacht. Und es war ein böser Traum, der diese Hoffnung auf immer begraben sollte.

Sie träumte, sie stünde an dem Rande eines mächtigen Abgrunds, und während ihre Augen regungslos in die Untiefen starrten, spürte sie einen unwiderstehlichen Drang, über diesen Rand hinauszuschreiten. Das Bäuchlein rebellierte, aber sie konnte nicht einmal beruhigend ihre Hände auf ihn legen. Wie ein kleiner windiger Teil des Felsens, der sie trug, stand sie da, unfähig sich zu rühren. Sie bemerkte, wie ihr Körper fast unmerklich, aber doch spürbar damit begann, seinen Schwerpunkt mehr und mehr in die Richtung des Abgrundes zu verlagern. Das Blut staute sich in ihrem Kopf, als etwas in ihr schreiend um Hilfe flehte. Aber ihr Mund war nicht in der Lage, die Worte zu formen. Immer mehr und mehr neigte sich der Körper dem Abgrund entgegen, und das Schreien ihres Innern konnte ihn nicht aufhalten.

Wie ein geschlagener Baum kippte sie langsam vornüber, bis die drängende Kraft, die sie verführte, ihr Werk vollenden konnte, und sie in die abgründige Tiefe riss.

Sie stürzte in unendliche Tiefen, und erst jetzt erwachte ihr Körper aus seiner Erstarrung. Schreiend griff sie um sich – verzweifelt einen Halt suchend – bekam plötzlich tatsächlich etwas zu fassen – krallte sich mit aller Kraft daran fest – und erwachte.

Drei Kerzen, die auf der kleinen Kommode neben ihrem Bett standen, verbreiteten ein warmes, ruhiges Licht. Auf dem Rand des Bettes saß Trautel Melanchful, und die Hände der Kleinen krallten sich tief in ihren knöchrigen Arm ...

Und obwohl Trautel Melanchful doch in der letzten Zeit so stetig abmagerte, und nun mehr oder weniger nur noch aus Haut und Knochen bestand, erschien sie seltsamerweise jetzt, wie sie da so saß, mit einem ruhigen Lächeln im Gesicht, gar nicht so schwach, wie es ihre Gestalt vermuten lassen wollte. Ihre Augen funkelten, und auch die unzähligen Furchen ihres Gesichts schienen weit weniger tief als sonst – ja eigentlich waren sie kaum noch zu bemerken. Nur einige dünne Schattenlinien, die das Kerzenlicht in ihr Gesicht zeichnete, ließen die Orte vermuten, wo sonst nur tiefe, knittrige Falten zu sehen waren.

Die Kleine war so sehr erleichtert, aus einem bösen Traum zu erwachen, dass sie lauthals anfing zu lachen. Das Lachen brach so plötzlich ab, wie es aus ihr heraus gefallen war. „Ich hab’ ganz gemein geträumt!“, sagte sie endlich, und ihre vollen Lippen stülpten sich etwas eingeschnappt nach vorn – eine viele Male erprobte Geste, die mit einiger Sicherheit das benötigte Verständnis und den Trost Trautel Melanchfuls aktivierte.

Trautel Melanchful nahm ihre Hände, die sich noch immer in ihre magere Haut krallten und nun weiße Druckstellen hinterließen, und zeigte ein geheimnisvolles Lächeln ... „Ich weiß, meine kleine Kishou!“, sagte sie. „Es ist nun die Zeit der Erinnerung!“.

„Was für eine Erinnerung?“, fragte die Kleine verwundert.

„Nun – die Erinnerung an deine Zukunft!“

„Hä?“, wunderte die sich. „Wie soll man sich denn an die Zukunft erinnern … Das geht doch gar nicht! … Die ist doch … Die ist doch … da vorn!“ Sie machte eine ausladende Handbewegung ins Nirgendwo und schaute dabei verwundert und etwas zweifelnd auf Trautel Melanchful.

Die Alte lächelte und schüttelte sanft ihren Kopf. „Nein, meine kleine Kishou. Es ist immer das Vergangene, das du in der Ferne findest.“

Ihr Tonfall wurde plötzlich ernster, ohne aber an Wärme zu verlieren. „Es ist ein tiefes Geheimnis in dir verborgen, und es ist nun die Zeit, es zu ergründen!“

Die Gelöstheit verschwand jäh aus dem Gesicht des Mädchens. Sie verstand nichts von dem, was Trautel Melanchful da sagte, aber eine schnell aufkeimende innere Beunruhigung ließ keinen Zweifel daran, dass irgend etwas in ihr wusste, was die Worte der Alten bedeuteten. Unwillkürlich begann sie, ihr kleines Bäuchlein zu streicheln, aber diesmal war es anders als sonst, und ihr Herz begann eher noch heftiger zu schlagen. „Was meinst du damit? Ich weiß gar nicht … wovon du redest!“, stammelte sie abwehrend.

Trautel Melanchfuls Gesicht straffte sich noch etwas mehr, und gab dem Kerzenlicht nun kaum mehr eine Gelegenheit, einen Schatten darin zu verbergen ... „Du hast mich niemals nach dem Großen Belfelland befragt, in dem unsere kleine Heimstatt ruht. Nun ist die Zeit, da du es ergründen wirst. Dort findest du alle Ursache und das tief in dir ruhende Geheimnis!“ Ihr schmächtiger, verkrümmter Körper richtete sich während ihres Erzählens etwas auf, und schien an Kraft zu gewinnen. „Das Ergründen dieses Geheimnisses, das weit außerhalb deiner Erinnerung liegt, ist für mich von großer Bedeutung. Ich habe sehr lange warten müssen auf diesen Tag, und ich weiß, wie sehr du ihn in deinem Inneren fürchtest. Doch in jener Zeit, die so weit außerhalb deiner Erinnerung liegt, hast du meine Hilfe erbeten – und gefordert dich zu mahnen, wenn die Zeit dafür ist. Dies ist nun die Zeit!“

Die kleine Kishou begann während der Kunde Trautel Melanchfuls nervös an ihrem Bäuchlein herumzukratzen. Nicht, dass sie sich an irgend etwas erinnerte, aber dennoch war da das höchst ungute Gefühl, dass etwas Bedeutendes geschah, dem sie nicht entfliehen konnte. Am liebsten hätte sie jetzt irgend etwas eingeworfen, das befähigt wäre, auf ein belangloses Thema umzuschwenken, doch sie spürte, dass es dazu bereits zu spät war. „Es passier’n schon lange so komische Sachen … ich versteh’ das alles nicht!“, dachte sie mehr laut, als dass sie die Alte tatsächlich ansprach … „Hat das auch damit zu tun ... was ich immer wieder im Garten sehe?“, fiel ihr plötzlich ein. Es war immerhin eine gute Gelegenheit, dieses Thema anzusprechen.

„Was ist in unserem Garten?“, fragte die Alte.

„Ich hab’ keine Ahnung!“, stöhnte Kishou fast etwas genervt. „Ich erschreck’ mich immer so, wenn es da ist, und versteck’ mich dann ganz schnell. Wenn ich dann wieder hingucke, ist es weg. Ich dachte, du hättest es heute auch gesehen, … wie du am Fenster gestanden bist!“

„Ach das meinst du ...“, lächelte Trautel Melanchful.

„Du hast es also auch gesehen?“ Kishous Augen öffneten sich weit.

„Natürlich, ich sehe es immer, denn es ist immer da!“

„Wieso hast du mir nie davon erzählt? – ich erschreck’ mich doch immer so, wenn ich es sehe … Was ist das denn?“, fragte sie nun doch mit einem durchaus vorwurfsvollen Unterton.

Trautel Melanchful lächelte und schaute ihr tief in die Augen. „Es ist deine Erinnerung, die dein Geheimnis bewahrt. Deine Furcht vor ihr ist jedoch noch zu groß, um ihr ins Angesicht zu sehen! Manchmal kannst du nun schon einige Konturen erkennen – soviel, wie deine Furcht zulässt. Seit du es zum ersten Mal bemerkt hast, bist du bereits auf dem Weg – verstehst du?“

Kishou verstand nicht – und sie hatte auch nicht das leiseste Interesse daran, es zu verstehen. Sie verspürte ein aufkommendes Gefühl der Übelkeit, und auch das heftigste Reiben an ihrem Bäuchlein brachte keine Beruhigung mehr. „Es ist sicher alles nur Einbildung!“, entschied sie unmissverständlich abwehrend.

„Ja“, antwortete das Mütterchen. „Es sind deine inneren Bilder, die du seit jeher in dir trägst!“

Kishou sagte nun nichts mehr. Zu sehr war sie mit ihrem Bäuchlein beschäftigt und starrte dabei an die Decke, während ihr Kopf verzweifelt nach einer einfachen Erklärung – oder wenigstens nach einem Ausweg aus dieser Bedrohung suchte.

Es folgte ein Moment der Stille, der auch nicht gerade geeignet war, sie zu beruhigen …

„Möchtest du nichts über das Große Belfelland wissen, das sich hinter der hohen Hecke unseres Gartens in alle vier Winde erstreckt?“

 „Nein!“, schoss es aus Kishou heraus, noch bevor Trautel Melanchful ihre Frage richtig beenden konnte. „... ist doch egal!“, schimpfte sie fast. „Das interessiert mich nicht!“ Ihre Lippen schoben sich zu einem ausdrücklichen Schmollmund nach vorn und ihr Blick starrte unter den nach unten gezogenen Augenbrauen an die gegenüberliegende Wand.

„Wäre es dir gleichgültig, wenn ich sterben müsste?“, fragte Trautel Melanchful übergangslos, aber mit der selben ruhigen, klaren Stimme.

Kishou schaute erschrocken zu ihr auf – um aber sofort wieder das Schmollgesicht aufzusetzen ... „Quatsch!“, bemühte sie sich zu schimpfen. „Was hat das denn damit zu tun!? Es interessiert mich eben nicht, was da draußen ist! Na und?“ Gerade rechtzeitig fiel ihr die Geschichte von Liza und den Räubern ein, die ihr Trautel Melanchful einmal erzählte. Liza war sehr stark, und sprach immer mit sehr klaren und deftigen Worten – das hatte ihr sehr imponiert. Und die passten jetzt genau hier hin, wie sie befand.

„Und doch ist mein Leben untrennbar verbunden mit der Aufgabe, die du dir einst gestellt hast!“, antwortete Trautel Melanchful ernst.

„Da bin ich aber gespannt!“, murrte Kishou – und sie war gar nicht gespannt. Es war ihr einfach nur elend zumute, und auch der noch so verzweifelte Versuch, sich in die ,starke Liza’ hineinzufühlen, konnte daran nichts wirklich ändern. Sie hatte keinerlei Erinnerung an irgendetwas, was das Frösteln ihres noch jungen Körpers erklären konnte. Es war wohl der Körper, der sich erinnerte – auf jeden Fall wollte er nicht mehr zur Ruhe kommen.

„Und überhaupt – was denn für eine Aufgabe?“, trotzte sie weiter in die unerträgliche Stille hinein, weil Trautel Melanchful nicht gleich geantwortet hatte – aber im selben Moment hatte sie ihre Frage auch schon wieder bereut.

Trautel Melanchful bemerkte die Falle, die sich Kishou selbst gestellt hatte, und lächelte. Sie nahm die Hände der Kleinen und drückte sie. „Hier wirst du dich immer festhalten können, auch wenn du sie einmal nicht fühlst!“

Die Alte erhob sich von dem Bett und schlurfte zu der betagten Kommode hinüber, die am Fußende des Bettes, an der gegenüberliegenden Wand stand. Sie bückte sich, zog die unterste Lade weit auf, wühlte zwischen einem großen Haufen getrockneter Blätter herum, die sich im Laufe der Jahre dort angesammelt hatten – Kishou pflegte schon immer die schönsten Blätter die sie fand, zu sammeln – und zog endlich eine kleine Truhe hervor. Sie wischte mit der Hand ein paar Blattkrümel von ihr herunter und betrachtete sie einen Moment. Dann schob sie die Lade wieder in die Kommode hinein und schlurfte mit der Truhe zurück zum Bett.

„In der Truhe ist nix drin!“, stellte Kishou nüchtern fest. „Ich hab’ sie da auch schon gefunden!“

Trautel Melanchful lächelte einmal mehr, während sie sich wieder auf den Rand des Bettes niederließ. „Du konntest noch nichts darin finden, weil noch nicht die Zeit dafür war!“, verriet sie ihr.

Kishou setzte sich auf, ergriff die Truhe und klappte den Deckel nach oben. „Siehst du – da ist nix drin. Was willst du mit der Truhe?“

Trautel Melanchful nahm das hölzerne Kästchen wieder an sich, und Kishou ließ sich zurück in die Kissen fallen. „Die Truhe, und was darin ist, gehört dir!“, sagte sie unbeeindruckt. „Aber erst, wenn die Zeit dafür ist, wirst du es finden können. Diese Zeit ist nun gekommen.“

Kishou legte verwundert die Stirn in Falten. „Wie? Aber da ist doch ...“

„Greif nur hinein!“, wurde sie von Trautel Melanchful unterbrochen.

„Häh? Aber ...“

„Nun greif schon hinein!“ Die knochigen Hände der Alten streckten ihr die kleine Truhe noch etwas mehr entgegen.

„So’n Quatsch!“, krittelte Kishou und griff kopfschüttelnd in die Truhe.