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Beschreibung

Während eines Urlaubs in Griechenland begegnet Helen, die sich eigentlich vorgenommen hat, endlich ihren verläßlichen Dauerverlobten Bernhard zu ehelichen, überraschend ihrem Exlover Alexander und läßt sich erneut auf verhängnisvolle Abenteuer ein. Ein raffinierter erotischer Roman mit Thrillerelementen und zugleich eine sich in flirrender, geheimnisvoller Atmosphäre entfaltende Liebesgeschichte. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Maria Soulas

Kisses on Ice

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Inhalt

Kisses on Ice [...]Kisses on Ice [Teil 1]Kisses on Ice [Teil 2]

Kisses on Ice

»Schau dir seinen Mund genau an und sein Lächeln. Danach kommt meistens nichts mehr, woran du dich am nächsten Morgen erinnern müßtest.« Pflegte Bibs zu sagen.

Gute alte Bibs. Gefährtin aus Kindertagen. Allgegenwärtige Hüterin gemeinsamer Vergangenheit.

Vielleicht hatte sie recht, Helens Blick streichelte über seine Lippen. Vielleicht waren nur die Küsse anders. Nichts sonst.

Sie griff nach der Tasche, die sie irgendwo hatte stehenlassen und die er ihr nun hinhielt. Ihre Hand berührte seine unmerklich. Aber das war nicht von Bedeutung. Nichts war von Bedeutung an seiner wartenden Gestalt in der Tür. Nichts außer diesem Mund, der Worte formte in einer Sprache, die ihr völlig fremd war.

Sein Mund erinnerte an Süße und Schwere, die sich auf Lippen legt, ohne Versprechen und ohne eines zu brechen. Voll und fleischig und so verheißungsvoll, daß es keiner Umarmung bedurfte, um Erregung zu zaubern. Was konnten Leiber einander erzählen, was Lippen sich nicht lang schon anvertraut hatten.

Helen variierte freundliches Nicken und achselzuckendes Nichtverstehen, während sie inmitten der Kofferberge in ihrem frisch bezogenen Urlaubsdomizil Ausschau nach ihrer Handtasche hielt. Irgendwo mußte sie sein, wenn sie nicht auch sie am Flughafen, an der Rezeption oder wo auch immer vergessen hatte. Sie überlegte, ob sie genug griechisches Geld für einen angemessenen Dank hatte. Sie konnte ihm schließlich kaum eine Kreditkarte in die Hand drücken mit dem Hinweis, er möge sich den Betrag X abbuchen für seine Mühe. Und einen weiteren für sein Stillschweigen Bernhard gegenüber. Sie verspürte eine riesige Erleichterung darüber, daß er nicht Zeuge dieser kleinen Szene ihrer Unzuverlässigkeit, Nachlässigkeit, Unordentlichkeit geworden war. Helens Blicke saugten sich an seinen Lippen fest.

Wäre Bernhard dabei, dann wäre es eine Gelegenheit von vielen, das väterliche Spiel der Ermahnung zu zelebrieren, das er so zu lieben schien. Niemals wurde es ihm langweilig, nie spielten sie »Laß uns sehen, was passiert, wenn«. Denn Bernhard wußte immer im voraus, was passierte.

Er kannte auch genau den Inhalt seiner Brieftaschen, Portemonnaies und sonstiger Behältnisse. Für den Fall, daß etwas gestohlen wurde (selbstverständlich nie liegengelassen!), verbrannte, von Fluten verschlungen wurde, ein durchaus wertvolles Wissen. Natürlich. Helen hatte nicht die leiseste Ahnung, wieviel Geld in welcher Währung sie wohl in ihrer Handtasche vorfinden mochte – vorausgesetzt, daß selbige überhaupt auftauchte.

Vielleicht aber war es ja auch beleidigend, ihn durch ein Trinkgeld in einen bezahlbaren Handlanger zu verwandeln. Sie könnte ihm andere Dienste anbieten. Dieser Mund würde es rechtfertigen.

Sie lächelte immer noch hilflos seinem Lächeln entgegen und überlegte, ob all die Kellner, Zimmermädchen, Pagen und ihre gleichermaßen an Trinkgelder gewöhnten Brüder und Schwestern sich wohl auf sinkende Einnahmen eingestellt hatten in Plastikgeldzeiten.

Noch immer freundlich nickend, die Reisetasche, die er ihr hingehalten hatte, in der Linken, spähte sie weiter nach ihrer Handtasche – mit einem Lächeln in seine Richtung, das heißen mochte »Moment noch« oder auch »Was haben Sie für einen aufregenden Mund« oder auch hoffnungsschwanger »Wie kann ich Ihnen nur danken!«

Welche Wohltat, keine Worte zu haben.

Sie stellte die Reisetasche ab, durchquerte den Raum und zog ihre Handtasche zwischen zwei Koffern hervor. Da hörte sie die Tür ins Schloß fallen. Ganz leise. Nicht aufregend. Kein atemloser Knall, der sie herumwirbelte. Keine ungestüme Vorbereitung. Kein kalter Luftzug, der ihre ungeduldige Haut erfaßte. Nur leichte Schritte, die sich näherten.

 

»Wenigstens zu Weihnachten sollte er dir mal einen anderen gönnen.« Bibs' Lachen war ansteckend, aber Helen hegte den Verdacht, daß sie es genauso meinte. »Und da Bernhard ihn dir wohl nicht ans Bett tragen dürfte, mußt du im Training bleiben!« Helen widerstand dem Impuls, dem Fremden entgegenzugehen.

Sie würde mit kleinen Lektionen beginnen. Langsam richtete sie sich auf. Die erregende Neugier im Nacken, genau an jener Stelle, auf der dieser Mund verstummen könnte. Erlöst von seiner Geschwätzigkeit. Gebettet auf schweigende Haut. Wenn er sie jetzt berührte, dann hatte sie nicht den Anfang gemacht. Wenn er sie jetzt umarmte, dann hatte sie ihn nicht wirklich dazu aufgefordert. Wenn er sie jetzt küßte, dann würde sie wissen, wie diese Lippen sich anfühlten.

Unendlich lang schien ihr das Warten. Unendlich groß die Angst, er könnte gegangen sein. Bereits die Straße zurückschlendern, die Hände in den Hosentaschen, pfeifend, vor sich hin lächelnd oder vielleicht schon einem Freund erzählen, daß diese Touristin nicht einmal eine kleine Belohnung für ihn gehabt hätte, nachdem er ihr immerhin ihre Tasche hinterhergetragen hätte, die ganze vor Hitze flirrende Straße entlang, von der Rezeption bis zum Apartment.

Dann spürte sie ihn. Endlich verstummt, senkte sich der Mund auf ihren Nacken. Sie hielt die Augen geschlossen, um kein neues Bild zuzulassen, außer dem Abbild seiner Lippen, die auf Wanderschaft gingen. Wildfremdes Begehren in Erinnerung bannten für später. Für irgendwann, wenn sie fror und etwas zum Wärmen brauchte, was Bernhard ihr nicht geben konnte.

Das eigentümliche Gefühl, sich blind auszuliefern, nahm Helen den Atem. Sie neigte sich dieser Umarmung entgegen, als hätte sie auf nichts anderes gewartet. So sehnsüchtig, daß es sie schaudern machte und schwindeln und alle Empfindungen durcheinanderwirbelte, von denen sie nicht einmal geahnt hatte, daß sie alle gemeinsam so gegenwärtig waren. Staubig, erhitzt, müde von der Reise, durstig, wütend über Bernhards Ungeduld, keiner anderen Umarmung zugänglich als seiner tröstenden. Und nun.

Ihre Hand strich über seine Hüfte. Sein Atem keuchte jede Unbeteiligtheit davon, seine Ungeduld gesellte sich zu ihrer eigenen. Wurde ihr Verbündeter. Als wüßten sie, daß ihnen keine Zeit blieb.

Sie würde sein Gesicht vergessen. Sie würde ihn nicht mehr kennen, nicht einmal, wenn er ihr gegenüberstand bei der großen Feier am Abend, nicht einmal, wenn er wieder irgend etwas in Händen hielt, was sie irgendwo hatte stehenlassen, einer Knopflochblüte gleich, zum Wiedererkennen. Sie würde ihn artig begrüßen und sich bedanken, und das mit dem Trinkgeld würde Bernhard erledigen. Während sie sein Gesicht vergaß.Wie jedes andere Gesicht. Nur seinen Mund würde sie nicht vergessen. Und die Empfindung, wie er über ihre Haut strich, als wäre er dort zu Haus. Helen spürte, wie die Lust, diesen Fremden zu umarmen, alle anderen Gefühle davonschwemmte.

 

Sanft drehte er sie zu sich herum, und Helen küßte sich ihm entgegen. Es war ja nur ein Kuß.Nichts sonst. Den Rest ihrer Erregung würde sie mit in die Kirche nehmen, wo sie während der Zeremonie sicher genug Zeit für unzüchtige Gedanken hätte.

»Ganz geschwollen.« So nah seine Stimme. Helen schlug die Augen auf und sah in Bernhards Gesicht.

»Wir müssen aufhören damit, der Trauzeuge kann doch nicht zu spät kommen!« sagte er, und seine Hände öffneten ihren Reißverschluß. »Verzeih mir meine Ungeduld vorhin!« Und seine Hände lösten die Träger ihres Kleides.

Helen sah zu, wie sie strauchelte und in Bernhards Armen zu sich kam.

 

Sie würde ihm nichts sagen von ihrem kläglich gescheiterten Betrugsversuch, dachte Helen, als sie sich von, wie es schien, Unmengen von Hochzeitsgästen Richtung Kirchenportal ziehen ließ.Sie suchte Bernhards Rücken in der Menge. Er war mit Leichtigkeit daran zu erkennen, wie zielstrebig er vor ihr ging, in seiner aufrecht aufrechten Art.

Solange sie artig auf seinen Spuren wandelte, konnte niemand etwas aussetzen an ihrem kleinen Umweg. Fand Helen. Und Bernhard las nicht von Lippen und nicht ihre Gedanken. Und sah nur, was wirklich zu sehen war.

Und glaubte nur, was er sah.

Eigentlich hatte sie einen Seitensprung gut, fand Helen. Immerhin hatte Bernhard ihr, wenn auch eher absichtslos, einen verdorben.

Als sie schräg hinter ihm ihren Platz in der Kirche einnahm, nickte er ihr liebevoll zu. Helen nickte zurück, und eine tiefe Sehnsucht nach Bibs erfaßte sie. Bibs würde auch finden, daß sie mindestens einen guthatte. Helen wärmte sich an der Erinnerung an ihr gemeinsames Lachen.

Wenn sie jemals so mit einem Mann lachen könnte wie mit Bibs, dann würde sie ihm auf nackten Füßen um die Welt folgen. Das war ein schönes Bild, dachte Helen. Und ein recht hübsches Gelöbnis dazu. In seiner Ernsthaftigkeit fast lächerlich. Denn sie wußte ja, daß sie es nie würde einlösen müssen.

Bibs und sie könnten sich auf den harten Kirchenbänken zuzwinkern wie früher in der Schule und sich um die Wette beherrschen. Immer wissend, daß der unruhig wackelnde Stuhl nebenan die eigene Zurückhaltung schnell dem Lachteufel ausliefern konnte. »Doromme und Mendler, da ihr so fröhlich seid, könnt ihr uns ja bis morgen einen Aufsatz über das Lachen schreiben!« Eigenartig, daß Fräulein Winkelmann nicht einer ihrer Lachkrämpfe verborgen geblieben war. Nicht einmal die fast völlig unterdrückten. Helen spürte der Wohligkeit von Strafaufsätzen in der dritten Klasse und den abenteuerlichen Erklärungen für die nie geschriebenen nach.

Bernhards Blick traf sie unvorbereitet, mitten im kindlichsten Entzücken über die Freiheit ihres alten Lachens. Und fuhr ihr ins Herz. Über die Schulter geschaute Liebe. Liebe. Die sie wärmte und den ungeduldigen Bernhard vom Flughafen vergessen ließ.Bis sie wieder ganz bei ihm war, seine Hand schon um ihre wähnte. Der Weihrauchduft legte sich schwer auf ihren Atem und umräucherte Bernhards Blick, der sich wieder nach vorn richtete.

Es ist wie beim Zahnarzt, dachte Helen. Eigentlich war Heiraten nicht so viel erschreckender. Es kam natürlich darauf an, wen man ehelichte, ebenso wie es darauf ankam, an welchen Dentisten man geriet. Nur, wie sollte jemand schon ein halbwegs vernünftiges Urteil fällen, wenn er, per Lätzchen in eine frühkindliche Unmündigkeit zurückversetzt, willkürlich und bewegungsunfähig in der Horizontalen gelagert, den offenen Mund voller Wattepolster, mit gurgelndem Sauerstoff ruhiggestellt, dalag und in zwei Augen über einer Chirurgenmaske schaute.

Genausogut konnte sie ein Urteil fällen, wenn sie als Kleinesschätzchenmäuschen in eine frühkindliche Unmündigkeit zurückversetzt, willkürlich und bewegungsunfähig – meist – in der Horizontalen gelagert, den offenen Mund voller Küsse, mit rührenden Liebeserklärungen ruhiggestellt, dalag und in zwei Augen über einer Leidenschaftsmaske schaute.

 

Unangenehm hoch fand die Stimme des Geistlichen in ihr Ohr. Vielleicht ließ er sich mit Hormonen behandeln, um seiner Männlichkeit Herr zu werden. Dafür mußte man wohl eine höhere Stimmlage in Kauf nehmen. Helen lächelte böse und versuchte lockenden Lachanfällen zu widerstehen. Immerhin konnte diese Prozedur noch eine ganze Weile dauern. Und sie wußte genau, welche Folgen ein unangemessener hysterischer Lachkrampf hatte. Strafarbeit. Und Bernhard ließ sich nicht so leicht austricksen wie Fräulein Winkelmann.

Keine Kuscheleien, keine vertraulichen Anschmiegereien und wortlosen Spaziergänge. Wenn sie zu laut und nicht nur dann lachte, wenn es angesichts allgemeiner Heiterkeit vertretbar war. Das war doch eigentlich nicht zuviel verlangt. Und angesichts einer fast siebenjährigen (!) Allianz nicht einmal verwerflich. Wer erwartete schon vulkanische Beben mit Überschwemmungen. Sie würde diese kleinen Wärmeinseln nicht opfern. Weil sie sie so sehr brauchte, daß sie schon fröstelte, wenn sie nur an seine Stirnfalte dachte. Warum mußtest du, konntest du nicht einmal, war es zuviel verlangt, würdest du mir bitte erklären.

Imaginäre kleine Sprechblasen machten sich auf eine beschwingte Reise durch die Kirche. Eine schöne Kirche. Auch wenn Helen Kirchen nicht in ihrem eigentlichen Sinn nutzte, so hatte sie sich immer gern in ihnen aufgehalten. Sogar das Knien hatte einen Reiz.

Sie versuchte ihre Mundwinkel angesichts von Bernhards vorwurfsvollen Sprechbläschen vom Grinskurs abzubringen. Nur nicht loslachen. Sonst würde sie Vanessas und Roberts Hochzeitsnacht Aug' in Aug' mit Bernhards Rücken verbringen, der sich ihr ebenso vorwurfsvoll zu- wie sein Besitzer sich von ihr abwenden würde.

 

Er hatte wirklich eine hohe Stimme für einen Mann. Der Priester zog mit seinem unverständlichen Singsang ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich und ließ die Sprechblasen platzen.

Plötzlich hatte sie das untrügliche Gefühl, daß irgend etwas fehlte. Als würde sie ein Bild ansehen, das sie kannte. Ein wichtiges Detail war übermalt worden. Verschwunden unter einem Farbklecks, der sich nicht von der übrigen Komposition abhob, so daß allein die Erinnerung das fehlende Detail ergänzen mußte.

Ihr Blick machte sich auf die Suche durch das steinerne, sicherlich jahrhundertealte Haus. Gottes Haus. Wer konnte so viele Häuser bewohnen? Ob Er es konnte? Zudem waren sie nach Glaubens- und Himmelsrichtungen unterschiedlich eingerichtet – und wer kannte schon Seinen Geschmack. Außerdem kam ständig jemand zu Besuch – ob Ihm das recht war? Schließlich wollte jeder auch einmal allein sein und nicht immerzu von Singsang und Orgelklängen aus dem Schlaf gerissen werden.

Als ihr Blick sich an den prächtig geschmückten Mauern entlangtastete, wußte sie es plötzlich. Es gab keinen Beichtstuhl. Eine Einrichtung, die zu den Errungenschaften der Zivilisation gehörte, deren Sinn und Zweck Omimi ihr nie erklärt hatte. Sünden beichten gehörte nicht zu ihrem Repertoire. Und hätte sie es je versucht, wäre dem Priester wohl Beten und Singen vergangen. Beichtstühle fielen eher in das Schlag-es-doch-nach- oder ins Bibs-Ressort. Oder besser noch in das der Eltern ihrer besten Freundin. Die wußten alles über allerlei, was mit Helens Leben nichts zu tun hatte. Ganz davon abgesehen, daß sie meinten, vor allem alles über allerlei in Helens Leben zu wissen.

 

Wenn sie die Augen schloß, verstummte der Geistliche, und sie konnte wieder jenes eigentümliche Geräusch hören, das sie ganz und gar in seinen Bann gezogen hatte. Damals in jener Kirche, die dieser glich. Aber welche Kirche glich nicht jeder anderen.

Nur hatte jene besondere Helen das beeindruckendste Erlebnis – wenn auch nicht der sakralen Art – aller Kirchenbesuche beschert. Und derer hatte es genug gegeben. Wenigstens dazu war der Urlaub gut gewesen. Wenn er sonst auch nur eine weitere Enttäuschung war, die ihr Vater ihr zugefügt hatte.

Sie hatte sich mit all der Liebe, die sie trotz Ephraims charmanter Gleichgültigkeit ihren Gefühlen gegenüber für ihn hegte, gefreut auf diese Urlaubsreise mit ihm. Der endlich mal wieder aus dem Nichts auftauchte und seiner ihn anhimmelnden vierzehnjährigen Tochter alle Freude zunichte machte, indem er einfach eine seiner Gespielinnen mitnahm auf ihre Reise. Die doch sie beide erleben sollten, in der er doch alle Zeit nur ihr widmen sollte und alle Aufmerksamkeit und all die Liebe, die Helen ihm zu unterstellen bereit war.

Sie waren zu dritt gefahren. Helen hatte ihren Vater aus der Nähe vermissen gelernt und war nach still durchweinten spanischen Nächten mit ihrem zerfledderten Uraltreiseführer losgezogen, den Omimi noch aus ihrer Jugend hatte. Lauter Kirchen waren darin verzeichnet – Spanien schien voll davon. Und sie war in jede gegangen und hatte in jeder eine Kerze entzündet. Das Licht angeschaut, den modrigen Weihrauchgeruch geatmet, der die Vergangenheit viel besser bewahrt hatte als jedes vergilbte Foto das könnte, und wieder einen Tag von diesem Urlaub abgestrichen.

Bis sie in jene Kirche kam, die so still war wie alle anderen. Helen hatte leichte Sommerschuhe mit Gummisohlen getragen, unhörbar auf dem Steinboden. Sie war, in ihre traurigen Gedanken versunken, an den Heiligenbildern entlang nach vorn gelaufen, um ihre Kerze anzuzünden und sich dabei, wie stets, ganz fest zu wünschen, ihr Vater möge durch eine – nicht gerade tödliche, aber doch ernste – Krankheit so geschwächt werden, daß er zu ihr und Omimi ziehen und sich pflegen lassen müßte.

Sie würde ihm täglich vorlesen, ihm erzählen von sich und ihren Träumen, und sie könnte sich aus seinen Schilderungen von früher, als sie ein Baby war und ihre Mutter noch nicht die Lust verloren hatte, ihre Maman und seine Frau zu sein, eine Erinnerung für später zimmern. In der sie sich einrichten würde, wann immer diese furchtbare Heimatlosigkeit wieder über sie hereinbrach.

Und er würde lernen, sie zu lieben.

Er könnte lernen, Vater zu sein.

Und wenn nicht der Vater, den sie sich erträumte, dann wenigstens ein Freund. Vaterfreund.

Und sie würde ihm beweisen, daß sie die beste Tochterfreundin sein konnte. Wenn er sie nur ließe.

So viele Kerzen in unzähligen Kirchen mußten ihrem kleinen Wunsch doch genug Nachdruck verleihen, daß er nicht ganz unerhört blieb. Auch wenn er genau das war. Unerhört.

 

Plötzlich war sie stehengeblieben. Ein fremdartiges Geräusch drang zu ihr, das aus dem Beichtstuhl kam, den Helen sich erst nach dem Urlaub hatte erklären lassen.

Sie hatte reglos verharrt und war dann langsam näher getreten. Es war nicht direkt furchteinflößend, aber es bereitete ihr eine Gänsehaut. Es war ein tiefes, grollendes Keuchen, als wäre jemand in Lebensgefahr. Wenn sie näher heranging, wurde es nicht lauter, sondern tiefer. Es schien sie hineinzuziehen in eine grundlose Tiefe, die statt Angst nur Neugier weckte. Wie ein See, dessen Wasser in der herrlichsten Farbe leuchtete und lockte, auch wenn er ganz und gar undurchdringlich und gefährlich schien. Seine Anziehungskraft bestand darin, daß er sich nicht einladend gab. Seine Schönheit allein bewirkte die Anziehung. Und das Geheimnis, das ihn umgab.

Helen ging mit klopfendem Herzen weiter, bis sie zwei verschiedene Arten von Keuchen unterscheiden konnte. Eines mußte weiblich sein. Es war weicher als das andere, wenn es auch nicht zur normalen Stimmlage einer Frau zu gehören schien. Es war zu tief, aber es war schön.

Es klang wie der erste Laut, den ein Mensch vielleicht je ausgestoßen hatte, wie etwas Ursprüngliches, das sich versteckt hatte irgendwo vor der Sprache, die viel später kam mit ihren genormten Lauten und ihren Regeln. In dem angestimmten Keuchen war nichts Geziertes oder für Ohren Bestimmtes. Es war das Reinste, was Helen je vernommen hatte.

In einem unsteten Rhythmus lag noch ein anderes Geräusch unter diesem Keuchen. Helen glaubte zu hören, wie feuchte Haut an feuchter Haut rieb. Körper, die mit Kraft aufeinanderprallten und mit saugenden, schmatzenden Geräuschen wie bei nassen Kinderküssen immer wieder auseinandergerissen wurden. Einem sanften Platschen gleich diese Annäherung und zärtlichen Hieben, die das Nachbeben förmlich hörbar machten.

Das Keuchen des einen und des anderen schienen sich in einer eigenen Harmonie zu treffen und zu ergänzen. Und diese Harmonie war voller Schmerz, der in seiner Schönheit unerreichbar war. Das war kein Schmerz, der einen zum Weinen brachte oder ins Unglück stürzte oder verzweifeln ließ.Das war ein Schmerz, der einem nur vergönnt war, wenn man so tief in sich hinabsteigen konnte, daß man durch alle Gefühle zu gehen vermochte, die ein Mensch in sich barg.

Je länger sie dastand, desto mehr gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel, und sie sah durch einen kleinen Spalt das Gesicht eines Mannes. Nur unvollständig, aber es war das Gesicht, das sich der Urkraft seiner Stimme ergeben hatte. Das nicht länger anziehend oder interessiert oder gelangweilt oder fragend oder präsent oder besonders oder verschlossen oder freundlich oder wie auch immer wirken wollte. Es wollte nicht länger aussehen. Es wollte nichts, als mit jedem Muskel nachzeichnen, was die Reise in diese andere Dimension auslöste. Eins sein mit diesem Keuchen, das sich jeder Kontrolle verweigerte. Und nur es selbst war.

Helen empfand schmerzlich, wie sehr sie ausgesperrt war vom tiefsten Erleben. Sie war eine Zuschauerin. Nicht peinlich berührt und nicht schockiert, nur entsetzlich einsam.

Ihre Augen begegneten einander. Aber Helen war nicht sicher, ob er sie sah.

Vereinigung war das Wort, dachte Helen. Vielleicht war das Liebe. Aber es war nicht, was sie und Bibs sich manchmal ausdachten. Wenn sie über Jungen sprachen. Das hier war gewaltig und voller Gewalt. Es war überwältigend.

Helen hatte Mühe, sich zu lösen, als das Keuchen über leise, wie eindringlich schreiende Laute verebbte in einem tiefen, weinenden Atem. Der sich zu verlieren schien in ihrem eigenen, den sie seit einer Ewigkeit angehalten hatte.

Sie starrte auf den Beichtstuhl und den kleinen Ausschnitt dieses Gesichts. Sie dachte an den Körper des Mannes und spürte, wie ihr eigener sich mit einer erregenden Gänsehaut überzog. Seine Augen waren für einen kleinen Augenblick bei ihr und schon wieder fort. Auch nicht bei der Frau, dessen war Helen auf eigentümliche Weise gewiß, sondern bei sich. Ganz tief. Er schaute zu, wie sich die Tiefe, die er hatte erleben dürfen, allmählich wieder in sich verschloß.Sie verschwand nicht, sie hinterließ die Gewißheit ihrer Möglichkeit. Sie stand nicht zur Verfügung. Sie war ein Geschenk des Augenblicks.

Das war das Glück.

Und davon gab es nur Momente.

Mit dem letzten kleinen Rest an Staunen hatte Helen im Weitergehen den anderen Schatten gesehen. Das war nicht der Körper einer Frau. Eine behaarte Männerbrust wandte sich um und wurde schemenhaft sichtbar. Dann schmiegten sich die Gesichter wieder zu einem und die Lippen erzählten einander den Abschied.

Oder die Ewigkeit.

Oder das Gebet einer Leidenschaft.

Als Helen mit zitternder Hand ihre Kerze entzündete, hatte sie gebetet, daß in ihr soviel Tiefe sein möge und sie nicht sterben müßte, ohne sie zu erfahren.

 

Sie spürte diese alte, versunken geglaubte Erregung wieder an sich hochkriechen, als sie zurückkehrte in diese Wirklichkeit, zu all den anderen Hochzeitsgästen, die ehrfürchtige Mienen zum Popenspiel machten.

Wohlig lächelnd dachte sie, daß wenigstens ihr letztes Gebet in Erfüllung gegangen war. Also konnte die Kerzenanzünderei doch ein Gutes haben. Hin und wieder. Für einen Glücksmoment, der etwas von dieser Tiefe barg. Wenn auch nicht mit dem Mann, der vor ihr stand. Sie betrachtete Bernhard mit all der Zuneigung, die sie ihm schenken konnte, ohne zu lügen.

Helen legte ihre ganze Kraft in diesen Blick und streichelte mit den Augen Bernhards Nacken. Sie schenkte ihm ein wenig von der Erregung, die sich auf ihrer Haut niedergelassen hatte. Für den Blick, mit dem er sich zu ihr umdrehte, versprach sie ihm einen der zärtlichsten Küsse, die sie auf dieser Reise zu verschenken hatte. Er lächelte ihr wärmende Nähe zu.

Sie überlegte, daß sie dem Geistlichen erzählen könnte, wieviel näher spanische Kirchen dem Leben waren als griechische. Bei dem Gedanken mußte sie lächeln. Aber es war ein schönes Lächeln. Noch immer an den Kuß erinnernd, den sie Bernhard so heilig versprochen hatte.

 

Am Abend hatten ihr Vater und seine fast schon wieder abservierte Urlaubsbegleitung sie in ein romantisches Restaurant eingeladen. Mit Kerzen. Ohne Kreuze.

Helen hatte ihr erstes »erwachsenes« Kleid getragen. Schwarz und nichts für eine Vierzehnjährige in den Augen ihres Vaters, wie er beim Kleiderkauf deutlich gemacht hatte. Aber Helen hatte sich durchgesetzt mit Hilfe der Verkäuferin, die ihm so viel Aufmerksamkeit wert war, daß es ihm sogar gleich war, als die Frauen sich für das schwarze Kleid solidarisierten. Ein Sonderfall, denn Helen pflegte mit seinen Gespielinnen alles andere als Solidarität.

Sie fragte sich, ob es nicht nett wäre, die Geschichte vom Kleiderkauf und was danach kam seiner Momentgeliebten zu erzählen. Aber das war nicht mehr nötig. Der Moment ihrer Begehrlichkeit hatte sich bereits überlebt. Sie war nur noch so kurzzeitig vorhanden, daß Konversation mit ihr so überflüssig war wie das Begießen einer bereits eingegangenen Pflanze, die nur noch vor sich hin trocknete, weil niemand daran dachte, sie mitzunehmen, wenn er zum Mülleimer ging. Als Helen das Für und Wider noch ein wenig abwägte, sah sie ihn.

Sie wußte irgendwie, daß er es war. Und auch er schien sie zu erkennen. Aber es war ihm nicht unangenehm. Er war allein und schlenderte vorbei. Ihre Blicke trafen sich wie am Nachmittag.

Er lächelte ihr zu.

Und sie waren Verschwörer. So einfach war das.

 

Als sie es später Bibs geschildert hatte, waren beide in diese süße Atemlosigkeit verfallen und gänzlich ergriffen von diesem Mysterium. So war es also. Bis man heiratete vermutlich.

Bibs war überzeugt davon, daß ihre Eltern es nicht mehr taten. Nachdem sie erfolgreich ihre Zeugung vorgenommen hatten, waren sie wohl zu Wichtigerem übergegangen. Wie Autokauf, Hausbau und Kindererziehung.

Daher war die Wahrscheinlichkeit, sie dabei zu erwischen, sehr gering. Bibs hatte den Beweis angetreten, indem sie über einen längeren Zeitraum, zu den verschiedensten Tages- und Nachtzeiten, überraschend das elterliche Schlafzimmer aufgesucht hatte, ohne daß jemals jemand kurzatmig auf ihr Klopfen reagiert oder etwa um Geduld gebeten hätte. Unter den verschiedensten Vorwänden war sie erschienen und hatte stets beide Eltern in korrekter Schlafgemachbekleidung vorgefunden. Abgeschlossen wurde grundsätzlich nicht, und in einem anderen Zimmer hielten sich ihre Eltern auch nicht gemeinsam für einen möglicherweise verdächtig langen Zeitraum auf.

Helen erinnerte sich, daß allein das Erscheinungsbild von Bibs' Eltern – ohne jegliche Kontrollbesuche zu nächtlicher Stunde – schon Beweis genug war. In beige Wolle gehüllt, hatte Bibs' Mutter ihr den Beichtstuhl mit reuigen Ave Marias und Vergebungszeremonien erklärt. Und Bibs' Vater hatte in seiner braunen Hausweste dazu genickt. Völlig verzückt über diese wichtige Frage. Bibs und Helen hatten sich, als inzwischen erfahrene Schauspielerinnen unter Omimis Regie, relativ mühelos Interesse auf die Mienen gezaubert und sich mitnehmen lassen auf die sakrale Reise durch beigebraune Vorstellungswelten.

 

Ein ohrenbetäubendes Vielstimmenspiel, das unharmonisch in der Kirche anhob und jeglicher akustischer Ähnlichkeit mit einem Chor entbehrte, riß Helen aus ihrer Andacht. Die dünne Stimme des Popen ging völlig unter. Auch wenn seine von dichtem schwarzem Bart umwucherten Lippen sich noch bewegten, hatte sich die Aufmerksamkeit vom schwarzweißen Dreigestirn vorne völlig abgewandt.

Alle schrien durcheinander und versuchten trotz der Enge in der überfüllten Kirche ebenso vergeblich wie nachdrücklich hinaus oder irgendwo anders hin zu gelangen.

Helen fragte sich, ob sie möglicherweise einen entscheidenden Teil der Zeremonie versäumt hatte. Vielleicht hatte das Paar – oder, schlimmer noch, der Geistliche – irgendwelche unsittlichen Handlungen vollzogen, oder hatte die Braut vielleicht nein gesagt? Aber Helen erinnerte sich an Bernhards sorgfältige Recherchen, wonach griechische Paare während der Trauung gar nicht gefragt wurden. Keine Chance zu entkommen. Was also war passiert?

Plötzlich war Bernhard an ihrer Seite. Wenn er den Trauzeugenposten verließ, dann war Gefahr im Verzug. Helen stellte sich – auch ohne das geringste Rauchzeichen – auf ein Großfeuer ein.

»Ganz ruhig, Liebling!« Er nahm sie fest in den Arm, und Helen fragte sich, warum er, der offenbar viel aufgeregter war als sie selbst, sie zu beruhigen versuchte. Sie lehnte sich folgsam an ihn und wollte gar nicht ergründen, was ihr die unverhoffte Umarmung verschafft hatte. Es tat gut, ihn zu spüren und nachzufühlen, wie ihr Körper seinen erkannte, auf jene vertrauende Art, in der ihre Körper einander stets wiederfanden.

»Ich bin bei Dir!«

Fast hätte Helen gelacht, aber etwas in Bernhards Stimme, die selten beunruhigt klang, machte unmißverständlich klar, daß tatsächlich etwas nicht stimmte.

Dann folgte ihr Blick dem der anderen, die an die Decke starrten. Um einen über ihnen baumelnden Kronleuchter wand sich eine Schlange.

Atemlos starrte Helen das braungrüne Tier an. Es bewegte sich mit unbeeindruckter Grazie. Die Entfernung war so gering, daß Helen die winzige Zunge erkennen konnte, die immerzu durch das geschlossene Maul hervorschoß.

Unter dem Leuchter hatte sich ein freier Raum gebildet. Panisch und dicht aneinander gedrängt starrten alle nach oben und keiner wußte, ob es klüger war zu versuchen, ins Freie zu gelangen oder einfach stehenzubleiben.

Plötzlich trat Robert durch die Menge. Ohne Angst und mit einem fast hypnotischen Ausdruck im Gesicht näherte er sich der Schlange. Inzwischen waren alle Angstschreie verstummt und eine lähmende Stille hatte jegliche Geräuschkulisse verschluckt. Robert hatte sein Jackett ausgezogen und fest um seinen rechten Arm gewickelt. In der Hand hielt er einen Stock. Mit ruhigen Bewegungen kletterte er über die Bänke ganz nah an den Kronleuchter, den Stab immer vor sich haltend.

Helen hatte das Gefühl zu ersticken, bis sie merkte, daß sie die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Gierig sog sie die weihrauchschwangere Luft ein, während sie jeder Bewegung Roberts mit einer Mischung aus Unglaube und Faszination folgte.

Jetzt hatte er die Schlange, die er fixierte, fast erreicht. Sie verharrte vor ihm, und Helen fragte sich, woran man wohl erkannte, ob eine Schlange angreifen oder fliehen würde. Sie vertraute darauf, daß Robert es wußte.

Mit einer majestätischen Ruhe und so, als wäre sie sich der Schönheit ihrer Bewegung völlig bewußt, kroch die Schlange auf den hingehaltenen Stock. Ruhig und offensichtlich ohne Angst begann Robert mit dem umschlängelten Stab von der Kirchenbank zu klettern. Er hielt ihn gerade vor sich und ging wie ein Magier durch die Gasse auf den Ausgang zu. Der Kopf der Schlange war aufgerichtet und flößte allen, an denen sie auf ihrer matt glänzenden Sänfte vorbeigetragen wurde, atemlosen Respekt ein. Mit einem von einer neuen Schreiwelle begleiteten Satz ließ sie sich plötzlich zu Boden gleiten und schlängelte sich elegant zur Tür hinaus.

Helen schien es, als würden Minuten verstreichen in dieser angespannten Stille, bis Robert den entliehenen Stab an seinen kirchlichen Platz zurückbrachte, sein Jackett ausschüttelte, wieder anzog und lächelte. »Das war nett gemeint – aber wir haben uns keine neue Schlange gewünscht!«

Befreites Lachen brandete auf. Die meisten kannten Roberts alte Leidenschaft für die »Auf-dem-Bauche-sollst-du-kriechen«-Reptilien. Aber seit der Beinahe-Katastrophe mit Groucho-Chico-Harpo, seiner Riesenboa, hatte Robert sein Hobby aufgegeben.

Die kleine Kirche wurde von ungehörigem Applaus und Bravorufen erfüllt, als wäre man in einer Zirkusvorstellung und nicht bei einer Hochzeit. Helen spürte die Erleichterung, die selbst Bernhard erfaßt hatte, auf ihren Lippen verweilen, als sein Mund sich schon wieder von ihrem gelöst hatte. Er strahlte sie an. Als hätte er höchstpersönlich sie alle vor einem Unglück bewahrt.

Nur allmählich beruhigten sich die Gäste, und der Pope ergriff wieder sopranig das Wort. Er schien Robert zu danken und Gott und allen Heiligen, die weise aus ihren Goldrahmen an den Wänden schauten. Und allen, die nicht die Nerven verloren hatten, und allen, deren Geduld nun mit dem zweiten Teil der Hochzeit belohnt würde.

Bernhard trat wieder an seinen Platz, nicht ohne Helen noch einmal an sich zu drücken und ihre Hand an seine Lippen zu ziehen. Helen fragte sich, ob sie sich getäuscht hatte oder ob er tatsächlich erregt gewesen war. Ein Lächeln schlich sich auf ihre vor Anspannung trockenen Lippen. »Schade um jede Gelegenheit – in seinem Alter!« Würde Bibs sagen.

Aber weit und breit gab es keinen Beichtstuhl, und Helen wußte, daß der Versuch, diesen Gedanken weiterzuspinnen, alle Erregung verflüchtigen würde. Selbst völlig ausgehungert würde Bernhard sie niemals außerhalb des häuslichen Schlafzimmers oder einer autorisierten Ersatzstätte wie einem Hotelzimmer berühren. Und vielleicht war diese Gewißheit nicht schlimmer als jede andere.

Helen hatte eine Zeitlang Studien angestellt, wie Männer ihren körperlichen Gelüsten Gehör oder die Aufmerksamkeit anderer Sinne verschafften. Die Anfänge gleichklingender Leidenschaft, die beide übereinstimmend übereinander herfallen ließ, waren meist rasch überwunden. Was also war zu tun, nachdem die erste, ganz große Atemlosigkeit hinweggeschwappt war, ins Nirwana – welcher Gefühle auch immer. Es blieb nur die Möglichkeit, sich zu verabschieden oder sich in jener Gemeinschaftshaft einzurichten, inmitten eines spannenden Instrumentariums von Schlaf-(»Schläfst du lieber rechts oder links?«), Eß-(»Dein Bio-Rhythmus verlangt um fünf Uhr morgens Frühstück, und du frühstückst nicht gern allein?«) und sonstigen Gewohnheiten (»Das ist wirklich ein interessanter Beweis der Verbundenheit, die Urnen aller Menschen, die dir wichtig waren, in deinem Schlafzimmer zu sammeln«).

Der eine rückte näher, begann genüßlich herumzuknabbern, als hielte er einen für Fallobst, der andere umschlang einen, als wolle er pantomimische Ringkämpfe inszenieren, und die, die sich für aufmerksame Liebhaber hielten, suchten minutiös nach den Stellen, von denen sie sich den höchsten Erregungsgrad eingeprägt hatten. Auch bei mittlerer Intelligenz konnten sie sich meist bis zu drei, mitunter sogar mehr Punkte merken, die irgendwann einmal ein besonders lustvolles Stöhnen entfacht hatten.

Eine eigenartige Befangenheit nahm Besitz von ihnen allen, sobald der andere erfahren war. Ausgerechnet, wenn man sich so nahegekommen war, daß es keine körperlichen Fremdheiten mehr gab, fehlten die Worte, die der Nähe ebenbürtig waren. Vielleicht war das der Beweis, daß es gar keine Nähe war.

Helen hatte vielen angestrengten Umarmungsversuchen getrotzt, um nur den Worten nachzuspüren. Aber es gab keine. Nichts. Weder deutlich vulgär noch verzückt romantisch, noch obszön unmißverständlich. Nichts, was in ihren Ohren den Boden bereiten konnte für eine Antwort ihres Körpers.