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Von Herzen kostet extra E-Book

Maria Soulas

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Beschreibung

Nach einem Unfall privat und beruflich vor dem Nichts, macht Cesca sich als hauptberufliche Briefeschreiberin selbständig. Ihr neues Metier sorgt für eine Reihe interessanter Begegnungen – auf dem Papier –, menschliche Verwicklungen – im wirklichen Leben – und schließlich für ein Happy-End. Ein wunderbarer, poetischer Roman. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Maria Soulas

Von Herzen kostet extra

FISCHER E-Books

Inhalt

Von Herzen kostet extra [...]Von Herzen kostet extra [Teil 1]Von Herzen kostet extra [Teil 2]

Von Herzen kostet extra

Lieber Thomas,

Wie sehr habe ich gelitten, als du diese Reise antreten musstest – ohne mich. Wie habe ich mich schon vor dem Abschied nach dir gesehnt! Und nun ist ein Wunder geschehen!

Die Trennung von dir hat mich erkennen lassen, wie sehr ich dich liebe. Viel mehr noch, als ich in deinen Armen ahnte. Niemals hätte ich geglaubt, dass Loslassen bedeuten kann, noch größere Nähe zu empfinden.

Du bist mein Lachen und mein Weinen und mein Lebensatem. Du bist in mir. Und so wird jede räumliche Entfernung bedeutungslos.

Ich umarme dich – und spüre deine Wärme!

Deine Anuschka

Mit ›u‹ oder mit ›ou‹ – Cesca fischte mit der Linken den Vertrag aus dem Stapel. Anouschka also und dann auch noch ohne ›c‹. Also nochmal – Anoushka. Sie druckte den Brief aus. So, Madame mit ›ou‹ und ohne ›c‹. Das war's.

Mit einem Blick auf die Uhr griff Cesca nach der Krücke und richtete sich langsam auf. Zeit für ihr Pillenmenü. »Und weil die Medikamente doch recht stark sind, nicht auf nüchternen Magen!«

Sie fand, sie konnte den alten Dr. Weißmann ganz gut nachmachen. Nur mit seinem Standardsatz hatte sie noch immer Probleme. ›Wird schon wieder, Mädel! Kopf hoch!‹ Nichts wurde. Statt schmerzfrei wieder ›herumzuspringen‹ – ach, Dr. Weißmann! –, quälte sie sich noch immer mit der verhassten Krücke herum.

Inzwischen war sie schon lang nicht mehr »die Ärmste«, der man Pralinés und Obst mitbrachte und Blumen, liebe Güte, all die Blumen, als wäre sie schon gestorben. Mittlerweile hatten sich die Gute-Wünsche-Boten in ihren Alltag verabschiedet. Und da man Cesca weder beim Lunch noch beim Squash noch beim Shopping zufällig traf, geriet sie in die wohltuende Vergessenheit, die niemandem ein schlechtes Gewissen bereitete. Sie hätte sich schließlich selbst melden können, wenn sie etwas brauchte.

Die gewaltigsten Blumenarrangements in ihrem Krankenzimmer waren natürlich von Tobias – pardon – Tobi gekommen. Am Anfang noch persönlich und wohl wirklich mit Mitgefühl – danach waren sie gebracht worden. Und dann, als die Frage auftauchte, wie lange sie wohl noch mit ihren Blessuren zu kämpfen haben würde, hatte er sie mit diesem verstehenden Ausdruck in seinen schönen, zur Abwechslung mal blauen Augen (sein Kontaktlinsensortiment enthielt jede verfügbare Farbe) angesehen und hingebungsvoll ihre (unverletzte) Hand gestreichelt.

»Weißt du, Fran«, er hatte sie so getauft, weil es viel schicker war als Francesca, und Cesca hatten nur ihre Eltern zu ihr gesagt. »Fran, es ist jetzt ganz wichtig für dich, zur Ruhe zu kommen, den schrecklichen Unfall zu vergessen und ans Arbeiten erst wieder zu denken, wenn du dafür den Kopf frei hast.« Sie könnte »natürlich jederzeit wieder voll einsteigen in der Agentur« – wenn sie keinen der Kunden mit ihrem neuen Look erschrecken würde, vermutlich.

Dass dieses Arrangement so gut war wie eine Kündigung, hatte sie realisiert, als sie aus der Klinik nach Haus kam und in der Post vornehmlich Rechnungen fand. Vor dem Unfall bestand die Hauptüberlegung darin, wann sie derlei erledigen sollte – jetzt geriet das Wie zum Problem. Bei der Beschäftigung mit ihren Finanzen stellte sie fest, dass sie zwar viel Geld verdient, aber ebenso viel ausgegeben hatte. Für eine Beratung über die Absicherung freier Existenzen hatte sie einfach keine Zeit gehabt.

 

Schon wieder war das Laken heruntergeglitten, und Cesca blieb bei der unvermittelten Begegnung mit sich selbst abrupt mitten im Zimmer stehen – vor dem gnadenlosen mannshohen Spiegel. Sie hätte den alten blinden drinlassen sollen, dachte sie bitter. Trotz des Sprungs.

Sie erinnerte sich genau, wie sie den Spiegel entdeckt hatte, eingestaubt in der Ecke eines alten Trödelladens. Augenblicklich hatte sie sich in den goldenen Schnörkelrahmen verliebt. Sie wollte ihn auch nicht liefern lassen, sondern sofort haben.

So vorsichtig wie an jenem Tag war sie nie gefahren, den ängstlichen Blick immer wieder im Rückspiegel auf ihren im Wind flatternden blauen Seidenschal gerichtet. Fast einen Meter ragte der schwere Rahmen aus dem Kofferraum. Wenn das alte blinde Glas nicht beim Hinauftragen gesprungen wäre, vielleicht hätte sie es nie ausgewechselt. Der blinde Spiegel hatte dem Rahmen besser gestanden. Und würde ihr jetzt vielleicht ein bisschen schmeicheln.

Eine Weile hatte der »Belle-Epoque-Ballast« – wie Tobi ihn nannte – (mit Sprung) ihrer nüchternen Wohnung den mondänen Hauch verliehen, den sie sich immer gewünscht hatte, ohne zu wissen, was eigentlich fehlte. Dass sie den Spiegel hatte ersetzen lassen durch einen kalt glänzenden intakten, kam einem Verrat gleich, und es war mehr Tobi zu Gefallen. Immerhin hatte sie sich damals gewünscht, er möge sich wohl fühlen bei ihr.

Jetzt würde sie ihm am liebsten die Krücke ins glatte, kalte Gesicht schleudern – aber was sich in Filmszenen bewähren mochte, taugte selten für die Wirklichkeit. »Tja, ma chère«, sie trat näher heran. »Es würde niemand kommen, um die Scherben wegzufegen, und Spiegelzertrümmerung mit anschließender Entsorgung ist als krankengymnastische Übung umstritten!« Sie beugte sich, so gut es ging, nach unten, um nach dem Laken zu greifen, und ließ sich dabei nicht aus den Augen.

Die schmerzverzerrten Züge passten optimal zur tiefen Narbe, die sich quer über die Wange zog. Die kleineren Narben schienen wirklich zu verblassen, jaja, Dr. Weißmann, wird schon wieder. »Und die große, da kann man heute so viel machen. Jetzt muss erst einmal das Bein wieder in Ordnung kommen und dann kann man sich um die Schönheit kümmern.«

Sie erhaschte einen Zipfel des Lakens, zog sich selbst langsam wieder hoch und hielt den Stoff unschlüssig in der Hand.

Es war albern, alle Spiegel zuzuhängen. Sie hatte sich jedes Detail eingeprägt. Sie hätte sich aus dem Gedächtnis porträtieren können. Ihr neues Gesicht und ihren neuen Gang, der sie daran hinderte, beim zweiten Läuten schon am Telefon zu sein wie früher. Sie hatte vergessen, den Anrufbeantworter auszuschalten. Drei, vier.

»Wenn Ihnen die Worte fehlen, dann vertrauen Sie mir! Mit meinen Briefen können Sie Herzen erobern, Missverständnisse aus der Welt schaffen oder das Wohlwollen von Verwandten, Vermietern und Geschäftspartnern gewinnen!«

Eigenartig, dass ihre Stimme klang wie immer. Unversehrt. Und so kompetent und so seriös und so all das. Cesca beschloss, mit kleinen Schritten anzufangen. Als Erstes würde sie den Sarkasmus bekämpfen, der nicht viel kleidsamer war als das Selbstmitleid, und danach würde sie sich an die Tücher vor den Spiegeln machen. Sie zog das Laken fest, damit es nicht beim ersten Luftzug wieder erbarmungslos heruntersegelte, und bewegte sich langsam zum Telefon. Die Ansage war zu Ende, der Pieps ertönte und dann eine unbekannte Frauenstimme.

»Hallo! Hier Wunschmann, ich will einen Brief in Auftrag geben. Die Angelegenheit ist drängend und – diffizil. Meine Nummer lautet …«

Cesca schrieb gleich mit. Die Stimme war ihr unsympathisch, sie wollte die Aufnahme gleich wieder löschen, ohne sie nochmals anhören zu müssen.

Diffizil! Da war ihr Anoushka doch viel sympathischer gewesen. Sie hatte geheult, geschluchzt und gelacht und ihrem freiheitsliebenden Thomas, seit er vor zwei Wochen verreist war, fast täglich geschrieben – aber keinen Brief abgeschickt. Völlig verzweifelt war sie zu Cesca gekommen, ihr Dutzend Briefe im Gepäck. Sie bestanden allesamt aus schwülstigen Liebeserklärungen, unterschwelligen Drohungen, sie nie mehr allein zu lassen, und mussten dem Empfänger geradezu das Gefühl vermitteln, erstickt zu werden. Anoushka war sich selbst völlig klar darüber, dass sie Thomas auf diese Weise zu Tode umarmte.

Cescas spontane erste Vorschläge, noch ins Unreine fabuliert, hatten Anoushka ein Leuchten in die Augen gemalt, das ihrem eher unscheinbaren Gesicht eine eigentümliche Schönheit verlieh.

»Genau! Das ist das, was ich fühle. Und Thomas wird nicht glauben, dass ich ihn erdrücke mit meiner Liebe!« Sie war buchstäblich aus der Wohnung geschwebt. Cesca würde ihr den Brief gleich faxen, damit Thomas ihn noch rechtzeitig erhalten konnte. Wort für Wort aus dem Herzen seiner Anoushka und vor allem mit ihrer Handschrift.

Er würde verstehen, verzeihen, seine »geläuterte« Geliebte in die Arme schließen – und alles würde gut und Amen.

Die meisten Klienten waren unangenehmer als frisch Verliebte, die dem anderen aus ihrem chaotischen Innenleben zu berichten versuchten und dabei mehr Chaos als Klarheit über ihre Gefühle vermittelten.

Cesca musste an ihren ersten »Auftrag« denken. Im Krankenhaus hatte sie auf dem Flur eine junge Frau kennen gelernt, die bei einem Autounfall erblindet und der Verzweiflung sehr viel näher war als Cesca selbst. Die Frauen waren ins Gespräch gekommen und hatten mit einem ähnlichen Maß an Sarkasmus über ihre Zukunft philosophiert. Die andere hatte ihren Kindheitstraum, Pilotin zu werden, in den schönsten Farben(!) ausgemalt und sich bereits im Vorfeld für die zu beklagenden, leider jedoch unvermeidbaren Opfer bei Abstürzen entschuldigt. Aber das sei nur die natürliche Folge ihrer politischen Überzeugungen. Nachdem sie jahrelang auf dem linken Auge blind gewesen sei, habe sie sich parteipolitisch umorientiert mit der Folge, dass sie auch die übrige Sehkraft einbüßte.

Sie hatten sich gegenseitig darin übertroffen – zum Missfallen der vorbeieilenden Schwestern –, wie bei einem Quiz aufzuzählen, in welchen Berufen Blindheit geradezu eine Zugangsvoraussetzung war, und hatten wunderbare Karrieremöglichkeiten in der Justiz entdeckt, bei den Statistikern, nicht zu vergessen im weiten Betätigungsfeld der Schiedsrichter. Hier kam Cesca wieder zum Zuge, die bei ihren sportlichen Ambitionen sicher auch einmal eine gute Trainerin brauchen würde – für die Feinarbeit. Das heitere Beruferaten endete regelmäßig in Lachkrämpfen, die Cesca weitaus besser bekamen als das dumpfe Schweigen, das sie sich selbst zu bieten hatte und in das sie wieder eintauchte, als die andere entlassen wurde.

Ihr gemeinsames Lachen hatte einen schönen Grundstein gelegt, den man dem Sarkasmus bei Bedarf um den Hals hängen konnte, um ihn zeitweilig zu versenken.

In den verzweifelten Momenten las Cesca ihr vor und schrieb auch einige Briefe für sie – einen künftigen Beruf hätte sie in diesen Gefälligkeiten jedoch nicht vermutet. Später revanchierte sich die andere mit der Weitergabe diverser Aufträge von Leidensgenossen. Bei diesen ersten Kunden war häufig nur geschäftliche Korrespondenz zu erledigen, Wert auf poetische Liebeserklärungen legten die wenigsten von ihnen. Das kam später. In der rosaroten Periode ihres Schaffens sozusagen. Inzwischen spielte sich gut die Hälfte ihrer Aufträge in der kardiologischen Abteilung ab.

Während sie in eine überreife Tomate biss, die ihre helle Bluse blutrot an der üppigen Mahlzeit teilhaben ließ, beneidete Cesca ihre Kunden. Wie schön einfach musste das Leben sein, wenn sich Schwierigkeiten durch den Brief einer professionellen Schreiberin bewältigen ließen.

Ihr fiel kein Adressat ein, von dem sie mit dem perfektesten aller Briefe die Lösung eines ihrer Probleme hätte erhoffen können.

 

 

 

Sogar ihre Art zu klingeln weckte Cescas Unmut. Hätte sie es sich leisten können, wäre ihre Antwort schon vor dem Gespräch ein klares Nein gewesen. Mühsam ging sie zur Tür. Sie hasste es, Fremde in ihrer Wohnung zu empfangen, zumal wenn sie ihr so unsympathisch waren wie diese Frau Wunschmann. Wunschmann! Was für ein Name! Wenigstens war sie pünktlich.

Schon wieder läutete es, und Cesca konnte förmlich spüren, mit welchem Nachdruck sich ihr Besuch Gehör zu verschaffen suchte. Sie sah sie vor sich, wie sie mit trommelnden Fingern ihre Handtasche traktierte. Vermutlich ein schnörkelloses Modell aus Designerhand. Wie die Taschen, die in ihrem eigenen Schrank gestapelt waren, wo sie edel vor sich hin staubten.

Dass sie mitten im Sommer sogar Hut und Handschuhe tragen würde, hatte Cesca nicht erwartet. Ebenso verblüfft wie die eine auf Narbe und Krücke starrte, blickte die andere auf die feinen weißen Handschuhe.

»Himmel! Wer hat Sie denn so zugerichtet!«

Der Blick zeugte nicht etwa von Mitgefühl, sondern von einer Mischung aus Abscheu und dem aufflackernden Interesse an Schrecklichkeiten, die man nur in kleinen Dosen, ohne allzu viele Details, aber eigentlich doch am liebsten ganz genau erfahren möchte.

Cesca sah der anderen ins makellose Gesicht, widerstand dem Impuls, der Narbe nachzufühlen, eine Geste, die sie vor allem am Anfang angesichts solcher Blicke kaum hatte verhindern können. Plötzlich spürte sie stattdessen die behandschuhte Hand an ihrer Wange, die ihr Gesicht leicht von der einen in die andere Richtung drehte.

»Also nein! Francesca Salta! Von der heilen Seite erkenne ich dich natürlich gleich wieder!« Erwartungsvoll sah sie Cesca an. »Na?« Sie zog den Hut vom Haar und strich es aus dem Gesicht. »Birte Wunsch!«

Cesca konnte sich gut vorstellen, dass man sich vor einer Ohnmacht genauso fühlte wie sie in diesem Augenblick. »Hi«, sagte sie lahm.

Mit einer Kraft, die sie ihr nicht zugetraut hätte, packte die andere sie unterm Arm und zog sie ins Innere der Wohnung. Dabei war sie ihr keine Hilfe, sondern brachte Cesca fast aus dem Gleichgewicht.

»Das ist ja wohl unglaublich! Du bist die Poetin!« Sie sagte »Pötin«. »Aber du hast ja damals schon in der Schule so toll geschrieben.« Sie ließ sich in einen Sessel fallen oder vielmehr auf eine Art hineingleiten, die man leider nicht anders denn als Inbegriff von Eleganz und Anmut bezeichnen konnte. Die Unbeholfenheit ihrer eigenen Bewegungen wurde Cesca überbewusst.

»Unsere kleine Salata! Darum hab ich beim Namensschildchen unten erst nicht geschaltet. Professionell. Prompt. Poetisch! – Schreibservice Salta.«

Cesca hatte sich gefragt, wie lange es dauern würde, bis die andere den alten, verhassten Spitznamen wieder hervorkramen würde, nachdem sie ihn schon nicht zur Begrüßung angebracht hatte. Das Kichern klang wie dreizehneinhalb.

»Mensch, was hab ich dich um deine Noten beneidet! Schade, dass du gerade in den Fächern so gut warst, wo man nicht abschreiben konnte – Deutsch und Sport! Darum hab ich nicht neben dir, sondern lieber neben Caro gesessen.«

Als hätte es je zur Debatte gestanden, dass sie nebeneinander sitzen sollten. Eher hätte Cesca die Schule gewechselt.

»Caro, unser Mathe-As, in Mathe konnte man echt gut abschreiben! Was wohl aus der geworden ist? Vielleicht war sie auch so schlau wie du und betreibt eine Agentur – Ich rechne Ihre Rechnungen nach!« Sie lachte. »Der verdanke ich jedenfalls mein Abi. Mathe befriedigend – toll für jemanden, der nicht einmal weiß, wer Herr Dreisatz war!«

Sie schlug die Beine übereinander und begann mit einer Laszivität, die besser auf eine Bühne als in Cescas Büro gepasst hätte, ihre Handschuhe abzustreifen. Cesca war sicher, dass jeder männliche Zuschauer auch auf dem hintersten Rang angefangen hätte, nervös auf seinem Stuhl herumzurutschen.

»Ein Schreibservice! Das hättste damals aushecken sollen, da hättste echt tollen Umsatz gemacht – pro Aufsatz zehn Mark mal zehn – so viele wärste mindestens losgeworden.«

Cesca wählte die wenn auch schmerzvollere, dafür aber weniger plumpe Art, sich zu setzen. Sie hatte sich den Sessel so zurechtgeschoben, dass Birte sie nur im rechten Halbprofil sehen konnte. Und sie würde ihr nicht die andere, die entstellte Wange hinhalten. Und sie würde auch nicht fragen, ob sie etwas zu trinken wollte. Sie würde nichts tun, um diesen Besuch unnötig zu verlängern. Oder gar umzugestalten in etwas anderes als eine rein geschäftliche Zusammenkunft. Sie rückte die Papiere vor sich zurecht. »Wie bist du eigentlich auf mich gekommen?«

»Über diese süße Anzeige in der Zeitung nach den Heiratsannoncen. Sie haben Stil. Ihre Briefe auch? Klassetext! Ich lese immer die Kontaktanzeigen – man weiß ja nie.«

»Soll ich dir eine Anzeige formulieren?«

Sie lachte. Das heißt, sie lachte nicht bloß, sondern sie warf den Kopf in den Nacken, versetzte ihre sorgfältig geschnittene, inzwischen blonde Mähne in einen Aufruhr, der ihr phantastisch zu Gesicht stand, und fächelte mit der Linken irgendetwas in die Luft.

»Nein, nein, ich hab grad zwei an der Angel – aber vielleicht, vielleicht ist das gar keine schlechte Idee! Ich studiere diese Anzeigen mit Hingabe. Mittlerweile bin ich Leseprofi. Auf einen armen Deppen würd ich gar nicht erst reinfallen. Das ist fast wie bei Zeugnissen, da gibt es so was wie eine Geheimsprache. Wenn man ein bisschen Ahnung hat, sieht man gleich, ob der einen am Knödel hat oder einfach nur keine Zeit, sich eine Frau zu suchen. Vielleicht ist ja mal was dabei.«

Vielleicht ein perverser Killer, dachte Cesca.

»Man darf schließlich keine Gelegenheit verpassen«, sie bedachte Cesca mit einem mitleidigen Blick, »solange man noch Gelegenheiten hat!« Sie stand auf und begann herumzulaufen. »Hier wohnt jedenfalls kein Mann, oder? Und dieser Unfall ist noch nicht sehr lange her. Stimmt's?« Triumphierend sah sie Cesca an. »Ich bin eine gute Psychologin und eine gute Detektivin.«

›Spürnase der Extra-Klasse‹ – Cesca folgte ihrem Blick. An ihrer Pinnwand hingen noch die Squash-Termine. Die Liste war durchgeplant bis drei Monate nach ihrem Unfall, und das wiederum war jetzt beinah ein halbes Jahr her.

Bloß nicht auf die Weißt-du-noch-und-so-weiter-Schiene geraten!

»Was war denn das für ein Unfall?«

Und auf die schon gar nicht. Cesca beschloss, ihr einfach zu sagen, dass sie nicht gern darüber sprach.

»Wir wollten übers Weekend nach London wegen eines gemeinsamen Filmprojekts – Charles wollte eine Idee von mir verfilmen. Eine experimentelle Geschichte, du weißt schon. Er war Regisseur, aber leider kein ebenso guter Pilot. Vielleicht hat er die Lage falsch eingeschätzt. Turbulenzen …« Sie imitierte Birtes Geste von vorhin und fächelte in der Luft herum, mit eindeutig abwärts gerichteter Tendenz. »Eine kleine Maschine, ein unerfahrener Pilot.«

Cesca sah, dass Birte die Geschichte gefiel, und setzte noch eins drauf. »Er starb in meinen Armen.«

Mit einem gequälten Lächeln schaute sie die andere an. Eigentlich war das ein wirklich guter Plot. Viel tragischer und großartiger, als beim Bilderaufhängen von der Leiter in eine Glastür zu fallen oder so.

»Du großer Gott!« Wortwahl, Betonung und die leichte Verzögerung zeigten hinreichend deutlich, wie erleichtert Birte war, rechtzeitig auf die angemessene Floskel gestoßen zu sein. Wenn man sich eine gute Portion Naivität bewahrt hatte, hätte man das, was in ihrem Gesicht aufblitzte, Betroffenheit nennen können. Aber auf eine solche Idee verfiel Cesca erst gar nicht.

»Jetzt versuche ich mich davon abzulenken, indem ich etwas tue, was mir leicht fällt und was mich am Nachdenken hindert.« Sie vertiefte ihr Lächeln. »Eine schöpferische Pause sozusagen. Ich begegne interessanten Persönlichkeiten und Schicksalen. Und sogar Menschen, die ich vor vielen Jahren einmal kannte.«

Birte setzte sich wieder, diesmal auf die Sessellehne auf der anderen Seite. Jetzt hatte sie freie Sicht auf die Narbe, die sie genüsslich nutzte.

Cesca drehte sich nicht weg.

»Du warst damals die Schönste von uns allen in der Klasse.« Es klang wie eine neutrale Mitteilung, nicht wie ein Kompliment. Und es war auch nicht so gemeint. Viel eher sollte es Cesca an ihr verändertes Aussehen erinnern.

»Na ja, es gibt ja heutzutage gute Chirurgen.« Sie wandte ihr plötzlich das Profil zu. »Guck mal, hab ich machen lassen!«

Cesca sah nichts.

»Toll geworden, oder? War ja nicht viel, aber die Nase ist jetzt noch zierlicher und die Kinnpartie total edel. Kannste dir alles aussuchen. Es gibt richtige Kataloge.« Sie erhob sich. »Ich hatte natürlich auch Panik – was, wenn etwas schief läuft oder ich womöglich eine Narbe zurückbehalte. Es waren ja nur minimale Korrekturen. Aber trotzdem, kann ja immer mal was sein.« Völlig ungeniert breitete sie ihre schlimmsten Befürchtungen aus. Bis ihr wieder einfiel, dass ihre kosmetischen i-Tüpfelchen-Operationen jemanden, der gerade schwer verletzt aus einem Flugzeugwrack geklettert war, nicht sonderlich interessieren mochten.

Ein Blick auf die Uhr verwandelte Birte plötzlich in die Frau von vorhin.

»Tja, jetzt heißt es nach vorne sehen – du machst das schon!«

Cesca hätte fast laut herausgelacht. Als hätten sie sich abgesprochen. Alle Menschen, die ihr nicht nahe standen, die kaum etwas davon wussten, wie es in ihrem Innersten aussah, und die ihr selbst auch besonders gleichgültig waren, schienen denselben Satz einstudiert zu haben. ›Du machst das schon.‹ Was sollte dieser geballte Unsinn bedeuten?

»Also, Folgendes«, Birte erhob sich und trippelte wieder auf und ab. »Ich bin liiert mit zwei Männern, die nicht unbedingt voneinander wissen sollen. Philip musste dienstlich verreisen – glücklicherweise reisen alle ohne Begleitung, und so musste er schweren Herzens auf mich verzichten. Meine Güte, war ich froh! Wer will schon mit zwanzig alten Männern in abgelegenen südfranzösischen Klosterruinen irgend so ein blödes Mönchsbuch erforschen! Die Zeit möchte ich doch lieber für einen kleinen Trip mit André nutzen. Da Phil aber ein ganz Sentimentaler ist, wünscht er sich jeden Tag einen Brief von mir.« Der Ton, in dem sie es sagte, ließ keinen Zweifel daran, dass Sentimentalität nicht eben der Charakterzug war, der sie besonders eng verband. »Er schreibt gern und hingebungsvoll, und jetzt muss ich halt auch. Aber wir wollen mal nicht übertreiben, fünf Briefe reichen für vierzehn Tage. Das ist die Quersumme! Siehste – ist doch was hängen geblieben!« Sie lachte.

»Wenn er wenigstens in der Ruine übernachten würde! Da käme kein Briefträger hin, aber die Herren nächtigen in so einem französischen Schlösschen. Und Monsieur wünscht sich liebevolle Herzensgrüße von mir … Abgestempelt sollten die Briefe natürlich hier sein. Und nicht auf den Malediven. Außerdem sollen sie so romantisch verschroben klingen, wie er es gerne lesen möchte und ich es nie hinkriegen würde.«

»Spätestens beim Versuch, dich anzurufen, wird er doch merken, dass du nicht da bist.«

Gönnerhaft sah Birte, die gerade vor dem (unverhängten) Spiegel ihr Haar ordnete, über die Schulter. »Ich hab ein spanisches Au-pair-Mädchen, das so schlecht deutsch spricht, dass sie eh nie was mitkriegt.«

«Du hast Kinder?« Dieser Gedanke wäre Cesca nie gekommen.

»Nein, nein, zwei anspruchsvolle Katzen, die brauchen jemanden!« Sie lachte. »Zahlt alles Herbert. Herbert Mann, mein Exmann Nummer zwei. Den Namen hab ich behalten. Toll, oder? Wunsch-Mann – der beste Doppelname! Fand sogar der Standesbeamte. Übrigens, kleiner Tipp für Scheidungen: Mach immer einen Deal, der dir gleich eine große Summe bringt. Häuser und Abfindungen kannst du wenigstens behalten. Mit monatlichen Zahlungen läuft das ja anders. Und wer will schon vom nächsten Gatten abhängig sein. Na ja.«

Sie beendete die Frisur-Inspektion. »Wo war ich? – Ja, also das dumme Ding ist Spitze im Katzenversorgen und mir außerdem treu ergeben. Falls du mal ein Mädchen brauchst, kann ich dir behilflich sein. Außerdem muss man immer darauf achten, dass sie ein Foto schicken. Denn man darf ja auf keinen Fall so eine Hübsche erwischen. Das fehlte noch, dass sie meinem Lover das Frühstück serviert und dabei so appetitlich aussieht, dass er sie gleich mitvernaschen möchte. Nein, man muss immer eine Hässliche nehmen.« Sie blieb nach zwei Schritten wieder stehen, als würde sie auf einem Laufsteg für die Fotografen posieren.

»Was wollte ich noch? Ja, sie ist also darauf getrimmt, keinesfalls etwas von der Reise zu erzählen und mich sofort zu informieren, falls er überhaupt über die Nummer zu Hause anruft. Zwei Minuten später rufe ich zurück und sage«, ihr Augenaufschlag war offensichtlich erprobt und unter der Rubrik ›leicht gequält‹ jederzeit abrufbar – »Liebling, dieses dumme Mädchen hat wieder alles falsch verstanden! Außerdem telefonieren wir fast ausschließlich per Handy. Das hab ich gleich von Anfang an so gehandhabt. Er muss ja nicht immer wissen, wo ich gerade bin! Seine Post wird die Kleine persönlich zu dir rübertragen – meine Briefe müssen schließlich passen. Du erledigst den Rest. Ich schreibe alle Briefe immer am PC – also kein Problem mit der Handschrift, und unterschreiben tu ich nur mit einem Kuss. Nimm aber einen geschmackvollen Lippenstift. Auf keinen Fall Pink, das trag ich nie. Eher Rost und Rot, aber kein grelles. Tja, ich brauche dann noch Kopien, damit ich weiß, was für herzzerreißendes Gedöns ich ihm geschrieben habe, dem kleinen Romantiker. Alles klar?« Sie zupfte die Kostümjacke zurecht und griff nach ihren Handschuhen.

Cesca hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

»Ach – den kleinen Streich von damals nimmst du mir nicht mehr übel, oder?« Sie kam angetrippelt, legte ihre Wange kurz an Cescas (rechte!), ehe diese der unverhofften Umarmung entgehen konnte, und war schon wieder weggetrippelt. »Krieg ich eine Rechnung, oder machen wir das gleich in bar, oder wie hältst du es?« Sie öffnete eine Geldbörse.

Cesca wusste nicht, warum, aber mit einer nicht zu verhindernden Spontaneität nannte sie einen völlig überhöhten Preis. Die andere nickte nur geschäftig, zog ein Bündel Scheine heraus und drückte ihr einige in die Hand. »Wenn du weitere Ausgaben hast oder etwas brauchst, Anruf genügt.« Sie kritzelte eine Handy-Nummer auf die Rückseite ihres Kärtchens und war schon an der Tür. Dann hielt sie inne.

»Fast hätte ich es vergessen, ich hab dir noch ein Foto von Philip rausgesucht und ein bisschen was zusammengeschrieben über ihn und mich – damit du keinen Fauxpas begehst beim Liebeschwören. Was da nicht drin steht«, sie tippte auf den kleinen Umschlag, »ist, dass André der bessere Lover ist. Aber das verraten wir dem guten, soliden Philip nicht, weil er nämlich dafür viel reicher ist!« Ihr Lächeln, mit dem sie aus der Tür huschte, war so Ekel erregend verschwörerisch, dass es Cesca die Luft nahm. Sie humpelte zum Fenster und riss es auf.

Unten stand – mit der vorderen Hälfte auf dem Gehweg – ein auffallendes Cabrio der Luxusklasse. In dem Moment, in dem sie darauf tippte, dass nur Birte einen solchen Wagen so parken konnte, stieg ein Mann ein. Falsch gewettet, dachte Cesca beim Anblick des sportlichen Schönlings. Aber da kam Birte schon unten aus dem Haus und stieg auf der Beifahrerseite ein. Ihr Chauffeur schien ihr bei der Umarmung genussvoll die Rippen zu brechen – trotzdem gelang es ihr, den Kopf so zu drehen, dass sie die rasch zurückweichende Cesca sicher noch am Fenster gesehen hatte.

 

 

 

»Natürlich nehme ich den kleinen Streich von damals nicht übel, liebe Birte. Wir waren doch alle ausgekochte kleine Luder, die üble Späße trieben, oder?« Wütend ging Cesca zum Spiegel und begann ihre mühsame Verpackungsprozedur. »Verhängte Spiegel« könnte sie das Kunstwerk nennen und eine ganze Ausstellung damit gestalten. »Blick in Spiegel – Blick ins Nichts.« Kleine, große, runde, eckige, verzierte, nüchterne Spiegel, alle mit weißen Laken zugehängt. Phantastisch! Und nicht mal von Christo.

Der Typ hatte genauso ausgesehen, als wäre er gut im Bett – und sonst nicht viel. Das Auto gehörte vermutlich wirklich Birte. Reich geschieden, schien sie ihren Reichtum nicht auf der hohen Kante versauern zu lassen. Sie investierte ihn zum Beispiel, um Menschen dafür zu bezahlen, andere Menschen, die ihr nahe standen, möglichst perfekt zu betrügen. Cesca schüttelte sich bei dem Gedanken, Briefe an den Dritten im Bunde zu küssen. Und dabei bitte keinen rosa Lippenstift auftragen! Nur Rot und Rost! Sie hoffte, Birte würde nicht gleich abreisen und sie könnte ihr das Geld und ihren Auftrag vorher zurückgeben. Sie wollte mit ihrer schmutzigen kleinen Ménage-à-trois nichts zu tun haben. Sollten die drei sich doch ohne ihre Hilfe verlustieren.

Sie humpelte zum Telefon, nahm den Hörer ab und drehte die Visitenkarte um. Dabei fiel der Umschlag zu Boden, ein Foto rutschte heraus. Cesca legte den Hörer langsam wieder auf die Gabel. Das war also Philip.

Zutiefst beunruhigend, dass ein Mann wie der Blonde von vorhin und er mit derselben Frau zusammen waren. So hatte sie sich ihn jedenfalls nicht vorgestellt. Sie beugte sich vorsichtig zu dem Umschlag hinunter. Die Schmerzen schienen gegen Dr. Weißmanns Prophezeiungen völlig immun zu sein. Schweratmend richtete sich Cesca auf. Mit dem Umschlag in der Hand lehnte sie sich zurück und versuchte den Schmerz wegzudenken. Weit weg. Irgendwohin.

Als es ihr ein wenig gelungen war, zog sie das Foto ganz aus dem Umschlag. Natürlich war es ein Bild von ihnen beiden. Eine strahlende Birte mit sterilem Hochglanzlächeln und ein ernster, attraktiver Mann. Das schwarze Haar von einer einzelnen weißen Strähne durchzogen, die genau rechts an der Stirn begann. Er hätte dort akkurat den Scheitel ziehen können, immer an der weißen Strähne entlang. Wenn er einen getragen hätte. Aber sein Haar war einfach nach hinten gekämmt oder vielmehr mit den Fingern zurückgestrichen. Cesca erinnerte sich genau an die Geste. Ebenso wie an sein grasgrünes T-Shirt. Er musste ein Dutzend davon haben – oder er trug beim Joggen immer dasselbe. Jeden Dienstagabend an der alten Bahnlinie. Cesca hatte die Route nur ausprobieren wollen, weil man von dort einen herrlichen Blick auf den Fluss haben musste. Allerdings hatten Bäume die Sicht versperrt, und sie hatte nach dem ersten Versuch vorgehabt, wieder auf eine ihrer bewährten Strecken zurückzukehren.

Dann hatte sie ihn getroffen. Er lief wie jemand, der Spannungen und Ärger abschütteln wollte, nicht wie sie selbst, weil es ihr Spaß machte, weil sie unbedingt diese Bewegungslust ausleben musste. Sie brauchte die körperliche Erschöpfung, um sich zu spüren. Montags Schwimmen, dienstags Joggen, mittwochs Ruhetag für Tobi, donnerstags Squash und freitags Tanzen. Die Wochenenden routinelos für alles zu haben, wenn sie nicht arbeiten musste.

Jeden Dienstag, drei oder vier Wochen lang, hatten sie sich gegen halb acht an der Abzweigung getroffen. Cesca hatte sich gefragt, ob er – wie sie – auch genau darauf achtete, die Zeit nicht zu verändern. Früher war sie nach Lust und Laune gelaufen. Nie die gleiche Strecke zweimal hintereinander, nie zur gleichen Zeit. Plötzlich hatte sie bei der Arbeit auf die Uhr geschaut, die Joggingsachen vorsorglich mitgenommen, um ihn nicht zu verpassen. Und dann hatten sie eine schöne Weile das Mal-sehen-werwen-anspricht-Spiel gespielt.

Cesca hatte es genossen. Ebenso wie das Eis nach dem Joggen. Jeden Dienstag. Mandeleis. Extra große Portion. Die sie im Auto auf der Fahrt nach Hause verschlang. Ein flüchtiger Blick an der Ampel. Fast hätte sie ihn übersehen auf seinem Fahrrad. Kein Rennrad, nichts, was für sportlichen Ehrgeiz getaugt hätte. Ein ganz gewöhnliches Rad, mit dem sich behaupten ließ, dass man sich körperlich betätigte und nicht nur am Schreibtisch oder im Auto saß.

Sie sah sein Lächeln noch vor sich, das kaum da war, als es schon wieder verschwand. Es hatte dem Eis gegolten, das sie sich nach der harten Bremsung – fast hätte sie das leuchtende Rot übersehen – von der Nase wischte. Leider sprang die Ampel gleich auf Grün, und der kleine Moment, in dem Cesca mit klebriger Mandeleisnase und ebensolchen Fingern seinen einladendintensiven Blick hätte erwidern können, war schon wieder vorbei, als hinter ihr gehupt wurde.

Cesca hatte sich noch mehr als sonst auf den nächsten Dienstag gefreut. Aber da hatte sie diesen Abendtermin gehabt und als sie endlich loskonnte, war es schon fast dunkel. Von ihm war nichts zu sehen. Und bald danach war das Joggingkapitel sowieso erst mal vorbei.

 

 

 

»Das ist hervorragend, dass Sie so sportlich sind!«, hatte Dr. Weißmann gelobt und versucht, sie davon zu überzeugen, dass sie viel schneller wieder gesund werden würde als unsportliche Unfallopfer. Und sie hatte ihm sogar geglaubt.

Weil er so aufrichtig und irgendwie menschlich wirkte. Weil er Anteil zu nehmen schien an ihrem Schicksal. Weil es so schön knarzte, wenn er in seiner Uraltpraxis über die echten Parkettböden schlurfte, die so glatt waren, dass Cesca fürchtete zu stürzen, wenn sie die Krücke nicht richtig aufsetzte. Aber das war alles Trainingssache. Und im Trainieren war sie gut. Gewesen.

Bei Dr. Weißmann gab es keine beängstigenden Gerätschaften, die piepsten, summten oder Diagramme ausspuckten, die mit ernsten Mienen wortlos studiert wurden.

Dr. Weißmann war Erholung von der Welt, aus der sie kam. Wo sie endlose Klinikflure entlanghumpelte. An dezent bunten Wänden vorbei, die vom erfolglosen Versuch zeugten, die Krankenhausatmosphäre fröhlich zu übertünchen. Einsam hallte ihr Krücken-Klack-Klack in die Kälte. Fand nirgends ein Polster zum Dämpfen, ließ sich keine Sekunde von einem dicken Teppich verschlucken, von munterem Stimmengewirr oder Musik übertönen, von keiner Normalität aus diesem desinfizierten, staubfreien Tunnel ziehen. Klack-Klack.

Geschäftig wehten Weißkittel vorbei mit federnden Schritten und wichtigen Mienen, manchmal mit einer professionellen Freundlichkeit, die Cesca von ihrem eigenen Geschäftsgesicht kannte. Aber sie hatte mit Gesunden zu tun gehabt. Die durfte man auf diese Weise anlächeln, dachte sie. Die wollten genauso ein Gesicht. Es war im Preis inbegriffen. Es war ihr Job. Wer von ihr ein Image kaufen wollte, bekam ihr selbstkreiertes als lebenden Beweis zur Ansicht. Ohne Einblick in ihr Innenleben.

Das war etwas völlig anderes.

Kilometer um Kilometer hatte sie mit ihrer Krücke zurückgelegt, sobald sie den Rollstuhl kühl lächelnd zurückweisen konnte. Ihre linke Wange verübelte es ihr zwar, aber sie hatte ihr altes Gesicht nicht verloren. Sie konnte es – wenn auch unter Schmerzen – immer noch aufsetzen. Und genauso professionell auftreten – wenn auch mit Krücke – wie die anderen. Sie trug nur keinen weißen Kittel.

Keines der Gesichter war ein wirkliches Gesicht, das von irgendetwas Gelebtem erzählte. Kein Augenpaar war ein wirkliches Augenpaar, das verstehend schauen konnte. Kein Mund war ein wirklicher Mund, der aufmunternd zu trösten vermochte. Kein Wort war ein wirkliches Wort. Alles zerbrach an der Kälte zu hässlichen kleinen Silben, die ebenso hässliche Narben trugen wie sie selbst.

Nur ein Wort war wirklich. »Warten« – auf irgendeinem der Gänge, vor irgendeinem Untersuchungszimmer, auf irgendjemanden, der kaum mit ihr sprechen würde, unwillig antwortete und schon wieder hinausgeweht war, bevor sie überhaupt sein Namensschildchen entziffert hatte oder sagen konnte, was sie sagen wollte. Fragen, was sie fragen wollte. Einen Witz machen, den sie machen wollte. Um zu wirken, als wäre sie unter Gleichen. Scherzend über die Komplikationen, als würde das die Schmerzen bannen. Sie könnten über »Hals- und Beinbruch!« lachen, während sie die Röntgenbilder gemeinsam betrachteten.

 

 

 

Da Cesca direkt neben dem Telefon saß, konnte sie diesmal abheben, bevor der Anrufbeantworter sich einschaltete. Eine angenehme Männerstimme. Ein Geburtstagsgruß für eine alte Dame, die Rilke und Mozart liebte. Cesca lächelte. Für solche Leute hatte sie den Schreibservice gegründet. Sie vereinbarte Zeitpunkt und Honorar besonders freundlich. Im Grunde war sie nie so gewesen wie die Gestalten auf dem Klinikflur. Nicht wirklich. Sie hatte sogar ihre Kunden wie Menschen behandelt.

Cesca beschloss, dem Auftrag von Birte besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Sie betrachtete das Foto, das auf ihrem Schoß lag. Vielleicht nicht ganz im Sinne der Auftraggeberin. Aber vielleicht in seinem Sinn.

Er hatte so dunkelblaue Augen, dass sie auf dem Bild fast schwarz wirkten. Aber Cesca wusste genau, dass sie blau waren. Und wie sie schauen konnten. Mit einer leichten Melancholie, die sie beim ersten Treffen schon angerührt hatte.

Sie zog auch den restlichen Inhalt aus dem Umschlag. Tabellarisch-lieblos lag die Geschichte von Birte und Philip vor ihr. Links ein paar Daten, rechts ein paar Stichwörter.

Phil – so nenn ich das Schätzchen …

Dann heißt er bei mir Philip, dachte Cesca.

… läuft mir beim Joggen fast vors Auto.

Cesca schluckte. Das war drei Monate nach ihrem Unfall gewesen. Sie war irgendwie sicher, dass er an der alten Bahnlinie gelaufen war. Und dass es ein Dienstagabend gewesen war. Und das vermittelte ihr ein Gefühl der Verbundenheit.

Wütend, weil ich zu schnell war, aber durch blaues Superkostüm mit tiefem Ausschnitt gleich versöhnt! Völlig unverletzt. Wirkt trotz verschwitztem T-Shirt irgendwie viel versprechend – lade ihn zerknirscht(!) zum Essen ein. Nimmt Wiedergutmachung an – darf Restaurant wählen.

Cesca blätterte rasch weiter, in diesem Stil ging es über zweieinhalb Seiten.

Treffer – er sucht sehr gute Adresse heraus, erscheint im eleganten Outfit und ist dort bekannt! Endlich mal was anderes als André, der immer nur Geschäfte macht, die schief gehen.

Und so weiter und so weiter. Cesca schlüpfte in eine Geschichte, die neben Birtes Kalkül vor allem enthüllte, was dran war an der Gleich-und-gleich-gesellt-sich-gern-Geschichte: nichts.