Kleine Lichter - Roger Willemsen - E-Book

Kleine Lichter E-Book

Roger Willemsen

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Beschreibung

Seit sechs Monaten liegt der Geliebte im Koma, jetzt bespricht Valerie am Krankenhausbett ein Tonband, das ihn wieder ins Leben zurückführen, zurückverführen, soll. Nun, wo es um alles geht, ist alles in ihrer Sprache Liebe. Wie kann man fühlen und sich nicht verlieren? Wie kann man dem Mangel begegnen, der alle Liebe treibt? Wie kann man erhalten, was man nicht halten kann? Zwischen Wien, wo sie liebt, und Tokio, wo sie arbeitet, hin und her gerissen, beschwört Valerie die eigene Liebesgeschichte noch einmal herauf und zeichnet die Veränderung ihrer Gefühle akribisch nach – bis zu dem Punkt, an dem sie fast überwunden scheinen. Ein magischer Monolog, eine Beschwörung des Lebens: In seinem literarischen Debüt nähert sich Roger Willemsen so leidenschaftlich wie klug, so innig wie genau dem Phänomen der Liebe. Er erzählt nicht nur eine Geschichte an der Bruchstelle zwischen Leben und Tod, sondern erkundet behutsam das Wesen und die Sprache der Liebe selbst.

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Seitenzahl: 247

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Roger Willemsen

Kleine Lichter

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Inhalt

Kleine Lichter[Fortsetzung Kleine Lichter]

Hier endet meine Reise zu den Männern. Sie endet bei dir.

Mit dir nehme ich Abschied von allen, die mal meine Liebhaber waren und allen, die noch kommen wollten. Kein großer Bahnhof nötig. Du bist mein letzter Mann. Die Reise ist vorbei. Ich bin angekommen.

Mach dir keine Gedanken. Schon gar nicht, warum ich dir dies auf Kassetten spreche. Man soll sie dir vorspielen, solange ich weg bin. So werde ich nicht wirklich weg sein.

Und stör dich nicht daran, dass ich ein Wort so verschwenderisch gebrauche, mit dem du so geizig warst. Ich will dir die Liebe erklären, wie man den Krieg erklärt. Das heißt, die Liebe kann ich dir nicht erklären, nur meine. Ich erkläre sie dir in alten Vokabeln. Es geht nicht anders: Wer liebt, wechselt das Jahrhundert.

Was für ein Abend! Du solltest die Schwalben segeln sehen, durch die Häuserschluchten tauchen! Gleich wird es regnen. Ich muss die Fenster aufreißen, damit wir den Geruch nicht verpassen. Ich will den Staub für dich einatmen, die Wiener Sommerhitze. Schwärmen würdest du. Da stehen und schwärmen, und du hättest Recht.

Ich sehe dich an. Du am Fenster, ich hier. In meiner Vorstellung sind wir wieder zusammen, hier in unserer Wiener Wohnung.

Ich könnte so ruhig sein. Könnte barfuß gehen, dich von hinten umarmen und halten. Du könntest mich später mit deinem Flüstern zum rauschenden Regen in den Halbschlaf schaukeln. Wir könnten weiter ein Leben im Konjunktiv führen, wie es Kinder spielen: Du wärest der Mann und ich die Frau, und du kämst nach Hause und ich würde schon da stehen und wir hätten…

Du fehlst. Du fehlst, dass es schmerzt, unentwegt. Aber eigentlich hast du immer gefehlt.

Du warst nie genug.

Es ist nie genug. Jetzt –

Entschuldige. Ich hatte so schwere Tage.

Ich kann das Kommen und Gehen deines Atems hören. Bilde ich mir ein. Das Leben ist immer noch schön in dir. So war es immer: Was mit dir in Berührung kam, verwandelte sich und wurde dir ähnlich und schön.

Traf heute die alte Frau Koll im Treppenhaus. Ob mir Wien nicht fehle, ob ich nicht verkümmere so weit weg? Was sollte ich sagen, sie blickte so diagnostisch. Ob mir »da unten« das heimische Essen nicht fehle und die Muttersprache?

Ich ess alles, sag ich, und die Sprache hab ich immer bei mir.

»Sie waren ja als junges Mädchen eine Schönheit von erster Qualität, nich?«, antwortet sie und dreht sich weg.

Und was bin ich heute, sechs Monate, nachdem ich endgültig aufgehört habe, eine junge Frau zu sein? Sieh mich an, du kennst mich doch noch?

Komm, ich nehme dich mit zu unserem Fenster. Komm. Wie dir die Mauersegler gefallen würden mit ihren todesmutigen Stürzen!

Entschuldige.

Wenn ich mich ganz hinausbeuge, kann ich sehen, wie ihre Flügelspitzen fast die Hauswände streifen. Schwül ist es, die Mücken schwärmen tief.

Kein anderer Vogel ist noch in der Luft. Jetzt wird jeden Augenblick der Regen einsetzen.

Jeden Tag mache ich mich auf den Weg zu dir. Manchmal, wenn ich in der Bahn sitze oder irgendwo warten muss, gehen meine Gedanken durch die Mauern zu dir. Dahinter liegt der Salon, das Dunkel des Waldes, der Stadtrand, ein See. Manchmal schwimme ich hinaus, tauche tief und kenne deine Welt nicht. Immer verliere ich Licht.

Trotzdem breche ich so gerne zu dir auf. Noch fasse ich dich nicht an, das kann ich noch nicht. Ich sehe dir nur zu. In Erinnerungen an unsere Nächte zu schwelgen fällt mir leichter, solange ich nicht weiß, wie sich deine Haut heute anfühlt, wie dein Körper ist, wenn er nicht antwortet. Die Schwestern wissen es, und sie wissen, wie sie mit dir umgehen müssen. So kann ich noch nicht sein.

Du ruhst, trotzdem bist du in Bewegung, und jeder Tag bringt uns unserem ersten Kuss näher, unserem nächsten ersten. Ich stelle mir vor: Das Leben wird in deine Lippen fließen, und sie werden auf meinen Lippen flüstern. Manchmal kann ich das Zittern dieses ersten Kusses fühlen, manchmal bin ich Jahre weiter. Da küsst du schon satt und stark, und wir können es immer noch nicht lassen.

Und denk dir: Alles könnte noch gut gehen. Du müsstest nur aus dir heraus treten, aus dem Hintergrund der Bühne vorn an die Rampe. Lass uns weiter im Konjunktiv spielen: Ich wäre hier, du kämest rein, überrascht, ich liefe dir entgegen, du nähmst mich in beide Arme, wir wären mitten im Kitsch … Lass mir meine Trümmerfrau-Phantasien. Ich wollte immer einen Heimkehrer, ausgezehrt und bedürftig, entlassen aus der Gefangenschaft.

Wir haben nie viel geredet über unsere Phantasien. Vielleicht hattest du keine. »Leben Sie Ihre Phantasien aus!«, nur Illustrierte raten einem solche Sachen. »Verliebt für immer? Es geht. Neun Tricks für ewiges Bauchkribbeln!«

Ich habe keine Phantasien, ich habe Phantasie.

Wusstest du das: In der Tierwelt beginnt die Degeneration mit dem Weibchen. In der Menschenwelt, finde ich, beginnt sie mit den Frauenzeitschriften, mit »Wellness« und »Streicheleinheiten«. Man kann sie kaum mehr erkennen, die Liebe.

Jetzt musst du zuhören. Die Geräusche vom Flur blende aus, die Visite, das Scheppern der Putzfrauen. Jetzt musst du bei mir sein. Das ist das Gute an dieser schockgefrorenen Zeit.

Nicht nur dir, auch mir passieren jetzt andere Dinge als früher.

Gestern sitze ich im Sperl, ein Herr nähert sich. Ich schüttele den Kopf schon, bevor er am Tisch ist: Kein Feuer, keinen Kaffee, kein Wiedersehen. Bitte. Aber sein Bremsweg ist lang, er zögert erst spät.

»Verzeihen Sie«, sagt er, und er meint es, das kann ich sehen. »Wir haben uns einmal gekannt.«

Ich schüttele den Kopf, er insistiert.

»Haben wir nicht«, sage ich.

»Erinnern Sie sich denn gar nicht?«

Ich sehe in seine Augen, die, groß und leer, ohne Lidschlag an meinen festhalten.

»Es bleibt bei Nein«, sage ich.

»Aber, sagen Sie, haben Sie mich denn nicht vor zwölf Jahren, als ich im Koma lag, im Alsergrund-Krankenhaus besucht und meine Hand gehalten?«

Er hätte mir eine Betonplatte über den Kopf schlagen können.

»Nein«, schreie ich.

Ich muss ihn erschreckt haben, er weicht leicht zurück.

»Sind Sie sicher?«

Ich nicke.

»Das ist schade, das ist jammerschade, ich hätte gedacht … Aber ich erkenne doch Ihr Gesicht.«

Meine Tränen sind ihm offenbar peinlicher als mir, er geht schrittweise rückwärts, ich schüttele weiter den Kopf.

»Das ist schade«, sagt er noch immer, »jammerschade.«

Warum muss mir das jetzt passieren, in dieser Situation?

Du hältst den Atem an. Was es bedeutet, dass ich mich hinsetze und diese Kassetten für dich bespreche, willst du wissen. Willst du? Lebt diese Sorge überhaupt noch in dir?

Sogar die Ärzte haben mich ermutigt. Patienten wie dich muss man erschüttern, meinten sie, da seien schon welche mit Hilfe ganz anderer Töne ins Leben zurückgebracht worden.

Meine Fragen treibe ich in dein Schweigen, Stollen für Stollen. Willst du mehr als existieren? Hat dein Leben noch Personal? Sind deine Landstriche noch besiedelt, deine Straßen noch bevölkert? Wohnst du noch bei uns?

Morgen also werde ich für drei Monate nach Tokio zurückgehen, meine Wohnung auflösen, die Verträge kündigen, Besitz verschenken. Ein paar Händler und Galeristen muss ich zum Essen einladen, Abschied feiern und das Leben beenden, das ich in den letzten zehn Jahren dort geführt habe.

Danach komme ich heim. Vielleicht bin ich auch schon im Oktober wieder da. Bis dahin lasse ich dir diese Kassetten, komme Tag und Nacht in deinen Kopf und verführe dich ins Leben. Mach dir keine Gedanken, mein altes Leben saß ja schon seit einiger Zeit nicht mehr richtig. Jetzt gibt es Wichtigeres.

Ich habe dich so lange angesehen und gefragt, was kann ich tun, was ist groß genug? Mein Leben in deine reglosen Hände legen, das kann ich. Warte auf mich.

Wenn Liebe Leben retten kann, dann werde ich dich retten.

Um Himmels willen, wie rede ich? Diese Worte sind doch schon gar nicht mehr in Gebrauch. Vielleicht weil die Gefühle dazu nicht mehr wahr sind? Macht denn die Liebe aus uns Menschen von früher?

Angeblich ist ja die Liebe das einzige Ding, über das man nichts Absurdes sagen kann. Trotzdem bin ich mir peinlich. Ich rede, auch wenn es keine Form gibt für das, was ich dir sagen will. Die Welt ringsum ist ironisch. Die Natur ist es nicht. Die Liebe ist auch nicht ironisch.

Hör zu, ich erzähle dir meine Version von dir und mir.

Wo fängt unsere Geschichte an? Und wie kann ich sie so erzählen, dass du zurück willst in jene Erzählung, die du als Fragment zurückgelassen hast? Von »Was bisher geschah« bis »Und wenn sie nicht gestorben sind«.

Das Resultat zuerst: Ich ziehe zu dir nach Wien, hierher in unsere Wohnung. Da liegt das Leben, für das ich dich gewinnen will. Solltest du weniger Zeit brauchen als ich in Tokio, musst du auf mich warten. Sollte ich früher zurückkehren, werde ich warten.

Aber wie findet man den Anfang einer Geschichte? Unter so vielen doppelt belichteten Bildern, so vielen lose liegenden Fäden?

Vielleicht so: Am Anfang, als ich wieder nach Tokio zurückkehrte – das habe ich dir nie erzählt. Es war ein diffuser Tag, in den hinein ich flog, ohne Sonne, aber das Licht schimmerte, wollte nicht dämmern und hing selbst über den Wolken fahl.

Unsere ersten drei Londoner Tage lagen hinter mir. Behangen war ich noch mit dir, nicht ganz aus unserem Kokon geschlüpft, Stunden geflogen und alles schlief.

Mit einem Mal reißen die Wolken unter mir ein kleines Stück auf. Wie ein Flicken in einem Quilt musst du dir das vorstellen, wie eine Intarsie: Ein Stück Feld mit Felsen und Buschwerk, nichts Besonderes. Ich kann dir nicht einmal sagen, welches Land da unten lag. Jedenfalls sah es wüst aus und unbewohnt wie die Mongolei.

Und jetzt stell dir vor: Ich fliege in elftausend Meter Höhe über diesen kleinen Ausschnitt Erde mit seinen Felsen und Gestrüppen, und mit einem Mal fällt ein Sonnenstrahl schräg durch dieses Loch in der Wolkendecke, an mir vorbei, auf dieses unbehauste Stück Land, und kehrt strahlend reflektiert in den Himmel zurück.

Vielleicht war es ein Gewächshaus, auf das die Sonne fiel, aber ich dachte: Da liegt vielleicht eine vor zwanzig Jahren auf dem Feld zerbrochene Scherbe, aber nur an diesem einen Tag, nur aus jener einen Position, die das Flugzeug in dieser Sekunde einnahm, nur unter genau dem Einfallswinkel, der den Sonnenstrahl auf die besondere Krümmung der Scherbe in diesem Moment lenkte, nur im sinfonischen Zusammenklang aller physikalischer Gesetze wirft diese Scherbe, vielleicht zum ersten Mal in zwanzig Jahren den Strahl so zurück, dass er mich, gerade mich, mitten ins Auge treffen und blenden kann. Kannst du dir das vorstellen? Sie meinte mich.

Das war der Anfang.

Liebe. Ich sehe dem Wort nach, wie es in die Dämmerung flattert. Wie wird es in deiner Nacht ankommen? Herrscht da noch die wirkliche Welt? A propos: Sehen zwei Raupen einen Schmetterling fliegen. Sagt die eine: In so ein Outfit kriegst du mich nie! Lachst du? Das stammt aus der wirklichen Welt.

Lieber … Was macht glücklicher: Das zu sagen oder es zu hören? Wie froh bin ich immer gewesen, wenn ich dich so nannte! Heute bin ich nicht froh – ich will nicht so da stehen wie meine Sätze. So sollst du mich nicht sehen.

Das Leben lebt nicht mehr. Aber ich bewege mich darin wie von Sinnen, schlafe unruhig, auf der Suche nach einer Haltung, in der ich die Schmerzen weniger fühlen müsste und dich erreichen könnte. Ich gieße deine Blumen, bis das Wasser über den Rand tritt. Ich lege Alben auf, die wir nie gehört haben. Auf der Treppe bleibe ich stehen wie eine Hausmeisterin und verwickele die Mieter in Gespräche. Sie fragen nur vage nach dir. Keiner traut sich, genau zu sein. Dann ziehe ich mich wieder hinter die Tür zurück und inhaliere die Luft, in der noch dein Atem sein muss.

Als ich noch ein Kind war, nannte ich mich Witwe. Eine Hinterbliebene wollte ich sein in schwarzen Strümpfen, eine, der nicht mehr geholfen werden kann, die man in ihrem Gram respektieren muss. Das war die erste Lebensform, die ich für mich ausgesucht hatte. Später kam das Flittchen, die Staatsfeindin, die Amazone.

Als ich jünger war, war ich reifer: Meinen idealen Geliebten jedenfalls malte ich mir immer aus als Staatsfeind Nummer Eins. Riskant, aufrichtig und mit Anliegen. Ich muss jetzt manchmal an ihn denken.

»Und was wirst du kriegen?«, fragte mein Vater. »Einen Staatsdiener Nummer Dutzend.«

Die hat er mir beschrieben wie die Beamten bei Jacques Tati, monotone Männer mit ausverkauften Köpfen.

Mein Erster war dann wirklich so ähnlich, zehn Jahre älter, aber abgeklärt wie ein Pensionär. Marcel hieß er, das war damals noch originell. Aber begehrt hat er mich, als hätte er die Begierde schon hinter sich, furchtbar, im Grunde morbide. Er hätte sich auch mein Foto ins Bett legen können. Sich selbst nannte er »altersweise«, und wenn er gekommen war, sagte er immer: »Danke, dass es dich gibt!«

Neulich las ich von einem heidnischen Ritual. Da spielen die Musikanten ihre Weisen wild durcheinander und hoffen, dass sie in dieser Kakophonie zufällig die Tonfolge treffen, die den helfenden Gott wecken oder den Dämon vertreiben werde. Jetzt rächt es sich, dass du nie von meinen Männern wissen wolltest. Jetzt probiere ich sie an dir aus.

Du weißt ja, ich war nicht gerade das geliebteste Kind meiner Eltern und deshalb so dankbar für sein »Danke, dass es dich gibt«. Aber der Sex mit ihm fühlte sich an wie körperlose Pornographie, wie begleitetes Masturbieren, und die Liebe, die er meinte, gibt es wohl sonst nur noch in der Wendung »liebevoll zubereitet«. Aber damals verstand ich weder vom Sex noch von der Liebe besonders viel und dachte, das alles müsse so sein.

Was ich von ihm wollte, weiß ich nicht mehr. Vielleicht habe ich für kurze Zeit an seine Autorität geglaubt, an seine Eigenheit. Doch wenn wirklich jemals etwas Besonderes an ihm gewesen war, hatte er es sich vermutlich längst wegtherapieren lassen.

Dabei wirkte er am Anfang noch so attraktiv forsch, als er sagte:

»Bild dir bloß keine gemeinsame Zukunft ein.«

Das gefiel mir irgendwie. Aber am Ende war selbst von seiner rücksichtslosen Attitüde nichts mehr übrig. Er wolle keine »Besitzansprüche« erheben, hat er immer wiederholt, da war ich schon abgebrüht genug, ihm ins Gesicht zu lachen: »Ja, was denn sonst? So ist die Liebe nun mal, voller Besitzansprüche.«

Ich habe ihm offenbar einen Heidenschrecken eingejagt. Du glaubtest ja immer, nur Frauen hätten Angst vor Worten, von wegen!

Jedenfalls wurde ich von da an dominanter aus Lust an der Dominanz, das hatte mir das Kino beigebracht, und er alterte gleichzeitig so rapide, dass ich ihm schnell zu anspruchsvoll wurde. Am Ende war er windelweich und nicht mal mehr besonders männlich. Kann einer in einem Jahr die Generation wechseln?

Ob du den fühlen kannst? Na? Löst er was aus?

Geschlafen habe ich trotzdem mit ihm. Aber ich will dir nichts vormachen. Heute sehe ich ihn wie in einer Vitrine, wie seine Nachfolger, schmale Seelen, groß im Geschäft, klein im Geschlecht.

Am wenigsten aber weiß ich, wer ich selbst damals war. Eine, die ihrer Reife hinterherläuft, jedenfalls. Die Liebe, das sollte die Gegenwelt sein, zu den Eltern, zur Arbeit. Aber ich lief in jedes Verhältnis hinein, verstehst du, auf dieser offenen Flanke hast du mich erwischt.

Wenn wenigstens die Angst nicht wäre, die Angst vor mir selbst, vor dem Verlust und dem Ich, das bleibt, nimmt man ihm die Liebe weg. Ich kenne es ja kaum mehr, weiß ja kaum, wie es lebt. Aufstehen, Waschen, Aus-dem-Haus-Gehen, Arbeiten, Heimkommen, Essen, Schlafen, unbegleitet von dir?

Die Liebe verlangt doch nach einer dauernden Steigerung der Anwesenheit, und das war es doch, was ich wollte: dich immer anwesender zu machen.

Aber du? Gefehlt hast du mir immer. Selbst mitten im Kuss. Aber wenn du mir nicht mehr fehlst, was bin ich dann mehr als nur ein Pronomen?

Und zwischendurch beschleicht mich diese kleinliche Furcht, dass ich allein es jetzt bin, die die Liebe treibt, dass sie zusammenfiele, wenn ich sie ließe. Versteh doch, in einer Symbiose kann nicht ein Teil gehen, es sterben immer beide zusammen. Zumindest bade nur ich unsere Liebe aus.

Was meinst du, warum die chinesischen Kaiser immer vor Sonnenaufgang aufstehen mussten. Sie wollten sagen können: Das Aufgehen der Sonne haben wir erst ermöglicht.

Am Anfang wäre ich ja noch bereit gewesen, mich in die Täuschung zu werfen und auf die Gefahr des Verlusts hin zu leben. Aber heute bin ich mitten im Kitsch und will das Meer der Liebe, kein umgekipptes Gewässer!

Ja, ich fürchte, meine Angst vor der Trauer ist stärker als mein Appetit auf das Glück.

Aber keine Sorge, ich halte durch. Schließlich bist du meine Privatsache. Ich halte auch allein durch. Aber du darfst mich nicht zu lange warten lassen, sonst wirst du Ich.

Ich war bei meinen Männern. Von Marcel weißt du ja schon. Mein erster ernst zu nehmender Liebhaber, Silvio, war ein schöner Mann, also ein fataler. Er trug so eine reduzierte Innigkeit zur Schau, weißt du, da war so gar nichts Extrovertiertes, nicht einmal etwas Expressives, und dazu lachte er wie einer, der es noch nicht richtig geübt hat. Ich weiß bis heute nicht, was er bei mir gesucht hat.

Physisch Arbeitende sind oft so. Bei der Universität sei er angestellt, hat er gesagt. Vielleicht war er in der Poststelle. Diesen schwankenden Gang haben nun mal nur Leute, die das Lastentragen gewohnt sind.

Jedenfalls glühte ich, wenn er mich packte und sich schweigend den Weg zwischen meine Beine bahnte. Er war so beherrscht dabei, so sachlich wie ein Samurai, und meine Erregung fand ihren Weg nicht über die Haut, nur über den Kopf. Ein Killer, ein Vollstrecker. Wenn er in mich eindrang, dachte ich, jetzt dringe ich in sein Schweigen ein. Er sollte mir etwas sagen in seinem Stöhnen. Aber so tief sind wir nie gekommen. Er hat mir nichts offenbart.

Jedes Mal dachte ich, jetzt muss er sich entpuppen. Aber entweder hatte er seinen Sex mit sich selbst oder ich habe ihn nie verstanden. Jedenfalls habe ich vergeblich darauf gewartet, dass er mich mit seiner Kraft eines Tages in sein Schweigen einschließen würde. Da bin ich nie angekommen, und im Grunde fand ich das ganz verführerisch.

Er war so ein Pessimist mit schwarzen Höfen um die Augen. Hatte er die vom Pessimismus oder hatte er sich seine Weltanschauung passend zu den Augen ausgesucht? Ich weiß es nicht. Physische Arbeit ist ja auch eine Antwort auf Verzweiflung.

Ich empfand eine Art Liebe zu ihm, wahrscheinlich weil er bis zuletzt ein Versprechen geblieben ist. Bis zuletzt heißt, bis er zuckerkrank wurde, Erektionsprobleme kriegte und begann, andauernd davon zu reden.

Am Ende wurde alles Physische immer schwieriger, und für mich war er verloren. Heute bin ich nicht mal sicher, ob er je so gewesen war, wie er mir anfangs erschien. Wahrscheinlich bot er einfach nur eine gute Projektionsfläche für meine Illusionen.

Ist das würdelos, was ich hier bin: Ich, die unheilbare Liebende, du, der große Schweiger, der mir nichts hinterlassen hat als Rätsel, Seufzer, Erinnerungen, das Jauchzen und Klagen deiner Lust an meinem Ohr. Das Gesicht dazu bleicht langsam aus. Das sollst du ruhig wissen. Denn ich habe mich ja selbst erschrocken bei dem Gedanken: Der Tod der Liebe bedient sich des Vergessens.

Wie konnte ich irgendetwas vergessen?

Das soll die Liebe sein? Ja, ja, sage ich und glaube mir.

Dir nicht.

Du bist zu deiner Zeit ein großer Liebender gewesen, eine Jahrhundertbegabung im Umgarnen, und ich habe dich angehimmelt in dieser Passion, die von dir auf mich niederstrahlte und habe dafür gesorgt, dass sie nicht satt wurde, dass dein Verlangen nie gestillt war. Aber irr dich nicht, die Liebe, die du siehst, ist nur, was ich dir zu sehen gebe. Daneben habe ich noch meine geheime Liebe, meine Verrücktheit.

Diesen Garten kennst du noch nicht, den habe ich uns aufgespart für jetzt. Darin sammle ich deine Spuren, Rückstände aus deinem Leben, Gekritzeltes, Verlorenes. Kleine Trophäen unserer Rasereien. Darin fühle ich dich, wie du es nie erlebt hast. Die Liebe ist ein Versprechen. Meine besten Versprechen habe ich mir aufgehoben.

Sieh dir zum Beispiel den Inhalt dieses Koffers an. Nur einen einzigen Schritt musst du zurücktreten, schon sind es nur noch die Hinterlassenschaften unserer Geschichte: Tickets, bekrakelte Speisekarten, das Püppchen eines Mannes mit Hut und Mantel, eine senegalesische Serviette mit Restaurant-Stickerei, »Chez Amadou«. Billets douces, Ausrisse aus einer Zeitung, Programmhefte, Fotos, ein Schwamm, Kronkorken, ein Kerzenstummel, Tessas Todesanzeige, lauter Requisiten für das wahre Drama aller Liebenden, das mit dem Titel »Weißt du noch?«, oder »The Way we Were« oder »Wish You Were Here«.

Ich küsse dein Bild, ich gehe auf deinen Spuren zurück in unsere Geschichte, ich gehe wie durch den Schnee in deinem Tritt, um zu fühlen, wie dein Schritt ist, ich gehe so männlich … als könnte ich auf deinen Spuren in das Haus unserer Liebe zurücklaufen, wo alles ist, wie es war.

Wie viele Briefe habe ich nicht abgeschickt, wie viele ins Blaue geschrieben. An deinem Bett habe ich gestanden, meine Fingerspitzen geküsst, um deinen Leib damit zu betupfen, Schriftzeichen auf deine Brust zu malen.

Ich lasse nichts unversucht.

Meine Verrücktheit macht dir Angst? Ich nenne Vernunft, was da ins Verrückte spielt. Vergiss nicht, seit einem halben Jahr liebe ich ohne Antwort, ohne Korrektur. Ich sitze an deinem Bett, massiere dir die Füße, stelle Teelichter auf und fühle hinaus ins Ungewisse. Da ist es nicht leicht, bei Trost zu bleiben. Doch wenigstens verstehe ich jetzt, was es heißt, uns sei bestimmt, was wir lieben, nicht, von wem wir geliebt werden.

Manchmal war mein Fühlen so groß und unbeantwortet, dass ich in der Zeitung die Todesanzeigen Unbekannter studierte, die sachlichen, geschäftlichen vor allem, in denen es heißt, dass der Verlust unersetzlich sei und dem Toten für immer ein Andenken bewahrt werde. Aber so ist es nicht, oder? Dann habe ich mich hingesetzt und all mein Fühlen in eine Anzeige für so einen Fremden gelegt. Waren die Todesanzeigen in der Zeitung unpersönlich, dann war mir der Tote gerade recht, und ich schrieb:

»Was dieser Raum zusammenhält, das war für mich die ganze Welt.«

Ich schrieb an dich.

Ich druckte meine Liebe zu dir in einen schwarz geränderten Kasten, und die Hinterbliebenen, die keinen Schimmer hatten, lasen meinen Text und sahen ihren Toten plötzlich anders. Jedenfalls stellte ich mir vor, dass sie ihn plötzlich wärmer, inniger sähen, weil er irgendwem so viel bedeutet hatte.

Manchmal habe ich damit die Familien wohl verstört, die nun nicht mehr sicher waren, ob sie nicht einen Schwerenöter, einen Fremdgänger und Verräter zu Grabe trugen. Vielleicht bewunderten sie ihn ja auch plötzlich dafür. Aber jeder Mensch kennt sich selbst gut genug und ist der Erste, der versteht, warum man ihn betrügt.

Ich verlange zu viel. Wahrscheinlich ist deine Lage auch eine Antwort auf mich. Du willst mir fehlen, ich soll verrückt werden, weil ich dich nicht haben kann, und selbst der Arzt fragte mich kürzlich:

»Haben Sie schon einmal all Ihre Phantasie auf den Tod gerichtet?«

Entschuldige. Seither spielte sich mein Leben auf einer anderen Farbskala ab.

Ich muss eine Antwort wissen. Doch war ich in unserer Beziehung immer die Frage. Auf alles solltest du antworten, nichts durfte ohne deine Antwort bleiben.

Du Armer, ich Arme. Mein Leben hätte so leicht sein können – wäre bloß die Liebe nicht gewesen, die schwächt und verwüstet. Heute kenne ich kaum noch den Unterschied zwischen der Liebe und dem Liebeskummer.

Ich habe dir nichts zu sagen, denkst du, oder immer dasselbe. Doch du bist geduldig, du lässt die Schwestern die Kassetten einlegen, wieder und wieder, hörst es dir an, nicht wahr, es macht nichts, dass du es kennst, nicht wahr? Es sickert in dich ein. Es sprengt dir das Herz, langsam wie das Wasser, das in den Stein dringt.

Komm! Sieh mich an! Drück meine Hand. Ich kann nicht mehr. Lass. Wenn ich weine, dann auch um mich. Lass.

Nach sechs Monaten im Zwischenreich, was weißt du wohl selbst aus dieser Zeit? Die Infektion flammte so rasch auf, wie man ein Streichholz anzündet. Die Reise ins Koma aber bist du ganz langsam angetreten. Ich konnte sehen, wie sich dein Bewusstsein in Zeitlupe abwandte, in die Ferne blickte und über die Hügellinien davonzog.

Allmählich bist du in deinen Schatten hinein gewichen, zurück, zurück. Ich erinnere mich an deine Worte: Wenn ich krank werde, sagtest du, möchte ich mit dir krank werden. Wenn ich sterbe, fragtest du, möchtest du mit mir sterben?

Und in meinem Kopf ratterten die Schlussfolgerungen: Wenn du das Leben liebst, liebst du dich selbst dann mehr? Wenn du dich mehr liebst, bist du dann nicht schon jenseits der Liebe, jedenfalls wenn sie grenzenlos sein soll?

Was tue ich uns hier nur an? Ich muss alles sagen. Aber alles sagen kränkt dich und mich und die Liebe. Ich muss dir in Worten kommen, die sich nur einstellen, wenn man fühlt. Sie sind mir peinlich. Wo ist jetzt mein Pragmatismus, wo das Mädchen, das ich war, und in diesen ganzen Schwulst hinein höre ich dich noch mit meiner Stimme sagen:

»Aber Valerie, hast du denn keine Angst, dass uns genau diese Worte über die Gefühle hinaustreiben könnten?«

Mein einzig Wahrer! Lass gut sein. Ich stecke dich an, ich hole dich auf die Welt zurück, auf unsere, und diese Welt war immer voller Trennungen. Und immer hast du Hindernisse produziert: Streiks, Herpes, Bombenalarm oder Bürgerkriege. Immer standest du irgendwo auf der Welt, hast die Achseln gezuckt und gesagt: Leider. Leider kann ich nicht bei dir sein. Leider geht kein Flugzeug mehr. Leider werde ich es nicht rechtzeitig schaffen. Leider: Nicht ich.

Ein einziges »leider«, und es ist wie in einem dieser europäischen Märchen: Jemand kommt nachts ins Haus, hält die Uhren an, isst die Teller leer, löscht alle Kerzen. Die Zeit steht, und mittendrin hat sich alles verändert. Sogar die Luft hat die Farbe gewechselt.

Und ich habe mich revanchiert, auch aus Selbstachtung: Leider werde ich drei Tage länger weg bleiben müssen. Leider lässt man mich hier noch nicht gehen. Leider wird es diesmal nichts.

Als ich zum dritten Mal aus Tokio zu dir kam, habe ich eine Nacht gleich hier draußen im Flughafenhotel Schwechat verbracht, jetzt kann ich es ja sagen, nur um dich warten zu lassen, um dein Verlangen zu enttäuschen. Bittersüß: Eine Nacht vor dem Fernseher, und ich hätte sie in deinen Armen verbringen können! Der Portier war ein Schmutzfink, der nach 22 Uhr mit der Flasche vor meiner Tür erschien, und viel, sagte er, viel verstünde er von den einsamen Frauen. Heute darfst du es wissen. Ich habe ihm nicht einmal geantwortet.

Und jetzt? Siehst du mich wieder aus der Ferne an? Lässt du mich vor deinen Augen verzweifeln, damit du mich besser fühlen kannst? Auch das wie im Märchen: »Damit ich dich besser fühlen kann.«

Wenn man so oft »leider« gesagt hat, wenn man so lange so weit entfernt voneinander lebte, was ist man dann, ein Paar? Ein Doppel-Du? Glaubst du, wir haben nur überlebt, weil wir die Bühne der Sehnsucht so geschickt bespielten? In dem Stück kennen wir jeden Fingersatz. Glaubst du, die Ferne ist unser Element? Glaubst du, aus der Nähe können wir uns nicht richtig fühlen? Ach, dann erleben wir ja gerade die Vollendung der Liebe.

Siehst du, ich halte dir einen Monolog. Im Leben hättest du das meine »Waschweiberei« genannt. Im Leben halten nur Debile, Vorgesetzte und Schauspieler Monologe – und wir, wir zu zweit, als Pas de deux, dasselbe sagend, fürchtend, wollend. Den Verstand ermüden sie, aber die Gefühle lieben die Wiederholung, und ich habe eine ganze Kindheit lang Zeit gehabt, hart zu werden und mich nach dem warmen Überschwang zu sehnen.

Ich reihe Ausdrücke wie »von Herzen«, »von ganzem Herzen«, »aus tiefstem Herzen« – als könntest du sonst unwahr finden, was wahr ist. Aber ich muss dich aufwecken, jedes einzelne Gefühl in dir, jede Stimme, das ganze Orchester, und ich habe doch nur mich: Deine Valerie oder wie ich früher unterschrieb: deine deine.

Ich war bei meinen Männern. Es fällt mir schwer, mich in ihnen zu erkennen, denn ich weiß nicht einmal mehr genau, wer ich damals war. Aufgedeckt habe ich sie wie Patiencekarten. Im Grunde fühlte ich mich stillgelegt und kann mich auch nicht erinnern, mit einem dieser Männer je eine Überraschung erlebt zu haben. Überzeugt haben sie mich nicht, aber damals habe ich mir eingeredet, so ein etwas sachlicheres Verhältnis zum Gefühl sei ganz erwachsen.

Außerdem machten sie das Leben leichter planbar. Wollten sie mich ins Bett kriegen, haben sie das rechtzeitig angekündigt. Ich bin nie überrumpelt, nie eingeschüchtert worden und war damit ganz zufrieden. Sie sollten mich mit der Liebe in Ruhe lassen, vielleicht war es das. Und sie sollten mir nicht fehlen, das auch, aber sie sollten da sein, wenn ich einen Paravent vor meine Einsamkeit schieben wollte.

Das ging so weiter. An meinen Männern stimmte immer etwas, nie das Ganze. Einmal bin ich auf so einen Typen geflogen in dem grün schillernden Jackett eines Ballroom-Eintänzers. Um ihn herum war alles so unbeschwert, und geliebt hat er mich wie ein Animateur. Er konnte sich in sein Wohnzimmer stellen und das »American Songbook« runtersingen. Herzzerreißend war seine Ambition, nicht seine Stimme.

Aber Vorsicht: Besonders schmerzhaft sind tiefe Erfahrungen mit flachen Menschen. Die Oberflächlichen haben nichts, wo du alles hast. Sie lassen dich leiden, sie können nichts dafür. Ihre Oberfläche darf man lieben, aber nie weitergehen.

Danach kam einer mit beginnender Bitterkeit: Jarvis. Der hatte wieder etwas Tragisches. Aber was ich anfänglich für Mitleid gegenüber der ganzen Welt hielt, stellte sich schließlich als narzisstische Kränkung heraus. Er machte eine Allianz der Erniedrigten und Beleidigten aus unserem Verhältnis, und statt »Ich liebe dich« hätte er eigentlich sagen müssen: »Ich bin bereit, dich in deiner Selbstverachtung zu unterstützen.«