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Roger Willemsen

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Beschreibung

In Roger Willemsens gesammelten Kurztexten aus den Jahren 1988 bis 2005 ziehen mehr als anderthalb Jahrzehnte noch einmal vorüber – mit ihren großen und kleinen Ereignissen, Stars, Skandalen und Absurditäten, mit all ihrer Komik und Tragik. Willemsens besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Medien und hier vor allem dem Fernsehen auf seinem Weg vom »Testbild zum Reality-TV«. Mit Durchhaltevermögen und Lust an der erkenntnisfördernden Provokation schreitet Willemsen durch die Hölle des Entertainments und das Paradies der Werbung, zwischen denen auch die Politik ihre Claims abgesteckt hat. Ein gemütlicher Fernsehabend gibt ihm Anlass zum »Nachdenken über Dolly Buster«, »Ehen der Volksmusik« und überhaupt »Allerlei Nacktes«. Er weiß, dass der Schnee von gestern auch der von morgen sein wird. Dabei steckt hinter Willemsens Sprachwitz und manchmal atemberaubender Gedankenakrobatik ein durchaus ernster Antrieb: Die Sorge um den Fortbestand einer kritischen und aufgeklärten Gesellschaft in einer Zeit der Mediendemokratie und eines auch kulturellen Wirtschaftsliberalismus.

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Seitenzahl: 642

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Roger Willemsen

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Im Sendekreis des Walrosses

Ich kam nach Hamburg im Januarmatsch. Die Stadt war, wie sie sich gehört: Mausgrau in Mausgrau, mit schwer hängendem Wetter und voller Individualisten, die in Surviver-Monturen an der Käsetheke Karaseks letztes Feuilleton diskutierten. Erst hielt ich das für hanseatisch, dann entdeckte ich: »Bolle-Safeway« in der Eppendorfer Landstraße ist eine Filiale der »Zeit«- und »Spiegel«-Redaktion, wo man zum Käse die Milch der frommen Denkungsart gereicht bekommt. Aber was verstand ich damals von ›Eppendorf‹? Gar nichts.

Monate später fuhr ich im Taxi eines gelassenen Rassisten in die Eppendorfer Landstraße. »Sie sind aber nicht von hier?«, fragte er. »Nö«, erwiderte ich. Da brach es aus ihm heraus: »Ihr habt es überhaupt nicht verdient, hier zu wohnen!« Kann sein, aber wenn jeder wohnte, wo er es verdient hätte, wäre die deutsche Bronx nicht kleiner als die deutsche Bucht.

Es wurde Frühling, und ich wohnte immer noch im Hotel. Wir hatten, im Dufthauch von Peichls »Eternity«, zu senden begonnen, hatten vielleicht ein paar hundert Zuschauer, aber schon in der ersten Woche zweimal die Seite 1 der »Bild«-Zeitung, d.h. den Olymp des Tagesgossip. Heimlich versprach ich dem, der mich zuerst auf der Straße ansprechen würde, eine goldene Uhr. Er kam schräg über eine Kreuzung von einer Baustelle her auf mich zu, trug eine Art ›Rolex‹ und bezeichnete mich als ›Ansager‹. Dafür ging er leer aus.

Es war Frühling, und auf den Plakaten zeigte ein Herr Voscherau seinen Mitbürgern und Mitbürgerinnen die blühenden Bäume. Irgendwo im Hintergrund hätte man sich eine Ehefrau und die Sprechblase gewünscht: »Liebling, ich habe die Anzüge geschrumpft«. Stattdessen versprach der Bürgermeister: »Foftein machen wir später«. Ich werde nie verstehen, warum man einen Mann wählen soll, der sich dem hochdeutschen Wort »Zwischenmahlzeit« verweigert. Schade, die Deutschen würden niemanden wählen unter der Parole: »Jetzt erst mal Mahlzeit«. Einmal bin ich ihm im Foyer des »Thalia«-Theaters begegnet, wo er nach der »Lear«-Premiere umlagert wurde, als sei er der verwaiste Steuerberater des irren Königs. Sonst ist er nur im Fernsehen an mir vorbeigeflimmert, wo er gern die Schönheit Hamburgs mit Worten preist, die ein Schwindsüchtiger für sein Sputum finden könnte.

Was ich in den kommenden zwei Jahren von der Schönheit Hamburgs vor allem sehen sollte, war die im »Shell«-Atlas mit einem grünen Leuchtstrich für landschaftlich attraktive Stellen gekennzeichnete Route Hauptbahnhof – Wandsbek Ost. Wer seine Kenntnis über diesen Stadtteil mit dem »Wandsbeker Boten« des reinen Matthias Claudius in Zusammenhang bringt, der wird durch die pittoreske Ansammlung von Konsummüll und Lebensschrott hier jäh der Neuzeit versichert – eine Strecke, die ich immer gerne hatte, weil sie eine der wirklich großstädtischen Etappen in Hamburg ist. Ihre plausible ästhetische Fortsetzung findet die Wandsbeker Chaussee in der Kantine des »Studio Hamburg«, die Anfang der siebziger Jahre mit einem Innenarchitektur-Preis ausgezeichnet wurde, was sie so sehr verdient hat wie die dortigen Insassen den Fraß von der Drehscheibe. Da es sich bei den hier Arbeitenden im Wesentlichen um dramatische Menschen handelt, fliegt von Zeit zu Zeit mal ein Protesttablett vor die Füße des schuldlosen Küchenpersonals, was mit einer Hausmitteilung geahndet und als Einfall zu einer entsprechenden Episode in einem Serienkrimi ausgebaut wird. Hier begegnet man den charmanten Synchronsprecherinnen der »Golden Girls«, Wolfgang Völz oder Menge, dem Wontorra-Jörg oder Jürgen Roland. Hier findet der Blut- und Samenaustausch verschiedener Nachrichtenredaktionen statt, und im nobleren Restaurant-Teil reformieren solvente Medienmacher ihre Erfolgssendungen in die Pleite. Man muss sich folglich daran gewöhnen, dass die Kantine des »Studio Hamburg« für das Fernsehen unserer Tage etwa die Bedeutung hat, die das »Café Central« für die Literatur der Wiener Jahrhundertwende besaß. Aus dem Kompost von »Gemüsebratling mit Schleim« sind die geistigsten Artefakte unserer Fernsehunterhaltung aufgestiegen, und das riecht man ihnen manchmal auch an. Die Konkurrenz sitzt in einem ästhetisch nicht minder geadelten Ambiente in Lokstedt und hört auf den Namen NDR, was mir von einem Kameramann mit »Nur die Ruhe« übersetzt wurde. Entsprechend ist der NDR die einzige Fernsehstation der Welt, die im Sendekreis des Walrosses ausstrahlt.

Vier Wochen vor Beginn unserer Sendung wurde eine ungemein sympathische Sprachbildnerin des NDR darauf angesetzt, meinen Fistelfalsett um eine halbe Oktave abzusenken, was dazu führte, dass ich bis zur ersten Ausgabe von »0137« fließend im Stimmbruch sprechen konnte. In jener Zeit habe ich erfahren, dass der NDR nicht minder schwer bewacht und gesichert ist als Lech Walesa in seinem Präsidentenpalast in Warschau. Man muss also vermuten, dass in Lokstedt ungemein Gefährliches und Aufrührerisches vor sich geht. Und tatsächlich habe ich einmal vor dem Außentor einen Mann mit einem Transparent gefunden, auf dem stand »Kein Blut für Öl«, was eines Tages zur Entfernung des Subjekts führte. Die Zwingburg SAT1 liegt in einem Komplex aus Supermarkt und Tiefgarage, was im Hinblick auf das Programm nicht ohne Symbolik ist – ein schönes, volksnahes, den Grundwerten Heimat und Familie verpflichtetes Programm, wie ich mich beeile hinzuzufügen, denn ich bin schon einmal ermahnt worden, weil ich etwas vermeintlich Hässliches gesagt haben soll. Wenig später bin ich aus der »Talk im Turm«-Sendung »Macht Fernsehen dumm?« (kein Zusammenhang!) wieder ausgeladen worden. Nimmt man hinzu, dass Springer Anteilseigner bei SAT1 ist – was sich an der wechselseitigen Dauerbefruchtung von »Schreinemakers live« und der »Bild«-Zeitung fast täglich nachbuchstabieren lässt –, dann weiß man, wie weit reichend es sich unter Umständen auswirken kann, selbst in einem Weltblatt wie der Hamburger »Szene« in dieser Hinsicht von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen. Lassen wir also das Programm gegen sich selbst sprechen. Wenn ich mich an zwei Jahre Hamburg erinnere, dann fällt mir überhaupt auf, wie oft ich in dieser Zeit für Dinge ermahnt worden bin, die ich gesagt oder geschrieben habe oder haben soll. Aus irgendeinem Grund halten es selbst Konzerne und einflussreiche Medienmacher für wert, nicht Kritik – so weit geht das ja gar nicht –, sondern eine Geschmacksäußerung, eine Missfallensbekundung, ein Rümpfen und Runzeln bereits mit Unterdrückung und Verfolgung zu überziehen, was einigermaßen deutsch anmutet, dazu führt, dass hinter jedem vorlauten Wort zwei Schwadronen von Rechtsabteilungen gegeneinander laufen, das Klima im politischen Kommentar wie in der Unterhaltung schlicht feige ist und sich die wenigen Beherzten so viel auf ihre Kritik einbilden, dass sie selbst schon wieder läppisch werden. In Hamburg achtet man den verbindlich unverbindlichen Ton auch deshalb, weil man sich auf dem engem Raum ständig wieder begegnet. Man möchte sich doch nicht meiden müssen, schließlich wird jede sachliche Differenz als eine höchst persönliche verstanden und geahndet. Dabei ist das wirklich Unausstehlichste an den Antitypen der Medien, dass sie privat so nette Leute sind. Marie Hüllenkremer, die ehemalige Chefredakteurin und sporadische Erneuerin des »Zeit-Magazins«, hat manchen Rüffel für mich eingesteckt, für Kolumnen, für eine Satire über die Helden des Jahres 1991, für eine Kritik an den Folgeerscheinungen der so genannten Wiedervereinigung und schließlich für eine umfangreichere Glosse zum englischen Königshaus, die von der blaublütigen Hausleitung für unschicklich gehalten wurde, auch wenn sich die Wirklichkeit in der Folge als weitaus unschicklicher entpuppen sollte. Neinnein, »Die Zeit« liebt die freie Meinungsäußerung, aber nur bei Meinungen, für deren Äußerung man keine braucht. Was sie dagegen für ›Stil‹ hält, ist in aller Regel eine Mischung aus Mutlosigkeit und Humorlosigkeit in gediegenstem Sprachgewande und die Bereitschaft, lang gedienten Mitarbeitern nach ihrem Fall oder »Rauswurf «(Raddatz, v.Westfalen ed alteri) noch öffentlich hinterherzutreten. Leider. Nur die Rechtsradikalen müssen vor der »Zeit« Angst haben. Denen wird hier nämlich so was von die Leviten gelesen, also, wenn die ihre Wochenration Theo Sommer hinter sich haben, dann kriegen sie vor Unrechtsbewusstsein keinen Molotow mehr hoch. »Die Zeit« entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einer Satire ihrer selbst. Keiner bekommt hier einen Bericht vom Skandal der Woche, der nicht bereit wäre, sich durch ein allgemeines Sendschreiben zum Verhältnis von Politik und Moral inklusive anhängender Paralipomena zu kämpfen – was einerseits damit zusammenhängt, dass hier vor allem vom Schreibtisch aus recherchiert (d.h. der »Spiegel« gelesen und die Allgemeinbildung mobilisiert) wird und dass sich hier zweitens jeder Leitartikler so sensibel in die Machtpolitik einzufühlen weiß, damit man merkt, diese Chefredaktion könnte ein ganzes Kabinett stellen. Neulich hat sie uns allen per »Manifest« für 1993 »Verzicht« anempfohlen – tapfer, diese Sozialfälle aus der Chefredaktion, beginnen wir also mit unserem Verzicht bei der »Zeit«. Meine Lieblings-»Zeit«-Schlagzeile aber war jene, die den Hanauer Atommüllskandal überstrahlte, sie lautete: »Die Büchsen der Atom-Pandora«. So viel zur Frage: wie mache ich dem Altphilologen die Brennstäbe schmackhaft? »Die Zeit« lässt sich inzwischen besser durch das darstellen, was nicht in ihr vorkommt, als durch die Dinge die drinstehen können. Aber weil selbst der klassische Studienrat irgendwann ausläuft und man aus Hochschulanzeigen-Rahmenprogramm kein lebensnotwendiges Blatt macht, wird die Stunde der »Zeit« wohl bald geschlagen haben. Vorher bekommen wir noch in diesem Februar »Zeit«-TV – also vermutlich gesammelte Leitartikel für verteilte Rollen – dann im März Bissingers Weekly »Die Woche«, wie Branchenkenner vermuten, die einzige publizistische Neugründung, die die Jahrtausendwende überleben und »Die Zeit« anfechten dürfte.

Die einzige gelungene Fernsehveranstaltung eines Blattes gelang dem »Spiegel« mit seinem Aust-TV, einer Unternehmung, die sich so weit vom Mutterschiff entfernt hat, wie es für die Handhabung des visuellen Mediums erforderlich ist. Stefan Aust bewirtschaftet im Chile-Haus ein labyrinthisches Büro, dessen innere Organisation Kafkas »Bau« nachempfunden ist. Die gesamte Anlage wirkt derartig autark, dass man sich von hier aus eher eine Wirklichkeit ohne Wirklichkeit als eine ohne »Spiegel-TV« vorstellen kann. Tief im Inneren pochen die roten Kolumnen der Einschaltquoten-Tabellen, deren steigende Tendenz gleichzeitig die Parabel für Dr. Austi Himmelfahrt in den Olymp des deutschen Fernsehjournalismus abgibt.

Diese Kolumnen sind zugleich die Herztöne des Magazins, das es in wenigen Jahren geschafft hat, sich in Tausenden von Metastasen im deutschen TV-Journalismus fortzusetzen. Die zitternde Handkamera, die ins Objektiv gereckte Abwehrhand des Opfers, das überhelle Gesicht im Lichtkegel, laufend, die Physiognomie des Elends, des Rauschs, des Krieges, des Hasses, der Katastrophe aufgelöst in der eleganten Spannungslinie der Dramaturgie und doch authentisch, das sind Formelemente, die »Spiegel-TV« jede Woche zur Nationalsprache der Fernsehreportage zusammensetzt. Vielleicht wäre diese Sprache noch reicher, wenn sie mehr Schattierungen und mehr Sprecher hätte. Es ist so populär, das »Spiegel«-Haupthaus mit einer Legebatterie zu vergleichen, dass ich es hier sofort tun muss, auch wenn es von innen eher einem publizistischen Pentagon ähnelt und man sich wundert, dass nicht bestimmte Staaten schon vom »Spiegel« eingenommen worden sind (sollten sie es sein, so hat es jedenfalls nicht im »Spiegel« gestanden). Der hiesige Staat jedenfalls beweist durch den »Kanzler der Montagsverweigerung« (wie der Volksmund sagt) die wahre Größe des »Spiegel«. Selbst prominentere Informanten werden allenfalls durch eine Meldung unter der Rubrik »Personalien« entlohnt. Die wahre Bedeutung Genschers etwa ließ sich zeitweise daran ablesen, dass er unter den »Personalien« eine eigene Kolumne unterhielt. Ein weiterer Beleg für die Größe des »Spiegel« ist, dass seine Angestellten regelmäßig von »diesem Blatt« sprechen, also gewissermaßen als Frösche in der Vogelperspektive, und man fühlt: so spricht sonst nur noch die Queen von ihrer »Firma«, dem Königshaus.

Die entsprechende Form der rhetorischen Repetition liegt beim »Stern« im Hinweis auf das Debakel um die Hitler-Tagebücher. Der wird vor allem von den Blattmachern mit einer Geschwindigkeit in die Konversation eingeführt, als wolle man dem Gegenüber zuvorkommen. Von den »Stern«-Journalisten sagt man, dass sie lange brüten, bevor sie laichen. So entstehen kolossale »Auto-Journale« und aparte Zwischentexte zu langen Bilderstrecken, und Rolf Schmidt-Holz, der Chefredakteur, hat die intensivsten blauen Augen der gesamten Branche. Der Affäre um die Hitler-Tagebücher verdanken wir alle viel. Mir hat sie einen Ausspruch geschenkt, der mich zwei Jahre durch Medienhamburg begleitet hat, der als Fanal auch den Weg in die Zukunft der Medien überstrahlt und der wahr ist, auch wenn er bloß gut erfunden sein sollte: Als der Londoner »Times« die Hitler-Tagebücher zum Druck angeboten wurden, schrieben die Verantwortlichen ein Telegramm an Rupert Murdoch in Australien, des Inhalts, man habe ihnen die Tagebücher Hitlers angeboten, ein Professor aber habe Bedenken bezüglich der Echtheit angemeldet. Das Antworttelegramm war vier Worte lang: »Fuck the Professor, publish!«

Der Sklave der Erkenntnis

In einem Wiener Museum gab es ehemals einen ausgestopften »Neger«, wie man zur Zeit seiner Akquisition sagte, einen »wollhaarigen Afrikaner«, wie die Ethnologen verzeichneten, einen »schwarzen Mann«, vor dem niemand Angst zu haben brauchte, war er doch tot.

Während der Körper des ausgewachsenen Mannes säuberlich präpariert worden war, mussten die Augen durch ein gläsernes Imitat für Weiße ersetzt werden, weshalb der schwarze Afrikaner seelenlos aussah und wirkte, als sei er zum Aufziehen oder sonst noch nach seinem Tod mechanisch zu betreiben. In seinen Augen war jedenfalls kein Bild mehr zu erahnen von allen Bildern, die er auf seiner Reise vom schwarzen Kontinent nach Wien gesehen haben musste, wo er eine stämmige Wienerin heiratete, welche nach seinem Tode die anatomisch interessante Hülle des Gatten dem Naturhistorischen Institut vermachte, angeblich ganz gemäß seinem eigenen Willen.

Dies geschah im Sinne der Aufklärung, als eine Überwindung der Völker- und Rassenschranken, damit die Besucher kommen und staunen konnten, wie um im Neger ihre eigene Vergangenheit zu bewundern, bis tief hinunter ins Äffische, Tierische, Kreatürliche, von dem sich ja auch die schwarze Rasse noch einmal bis zu Onkel Tom, Billie Holiday und Joe Frazier emporarbeiten sollte.

Während einen lebendigen Schwarzen nur Kinder ungeniert betrachtet hätten, scharten sich um den toten zahlreiche Erwachsene, stellten Spekulationen über sein legendäres, aber schamhaft verborgenes Genital an und erfuhren durch Meyers Konversations-Lexikon (das noch 1906 mit diesem Wortlaut erschien), in vivo habe der Schweiß der Neger eine »öligere Beschaffenheit« als der der Weißen. Es muss den Besuchern eingeleuchtet haben, die Eigenart der Rasse durch ihr Exsudat zu bestimmen, sah man Schwarze doch immerzu – in der Plantage und im Ring ebenso wie beim Singen, Spielen und Tanzen – im Schweiße ihres Angesichts. Doch wusste das Lexikon auch, Neger seien im »stürmischen Kraftaufwand« den Weißen überlegen, für ununterbrochene Arbeit aber weniger geeignet und insgesamt »gefallsüchtig«, »lügenhaft«, »sinnlich«, doch »sehr gelehrig«. Das ›Wissen‹ vom Schwarzen entsprach deutlich dem Nichtwissen des Herrenmenschen.

Ihm zu Gefallen stand der eitle Schwarze nachts allein zwischen den ausgestopften Tieren der Savanne, zwischen Affen, Giraffen und großen Wildkatzen, in einem auch für ihn völlig künstlichen Habitat, das versammelt worden war, ein nach dem Leben gearbeitetes Bild aus dem Schwarzen Kontinent zu geben, geeignet, unsere weißen Erkenntnisse zu mehren, auch wenn man den Schwarzen dazu seinen Tod gewissermaßen noch einmal sterben lassen und seine sterbliche Hülle dem Sarg vorenthalten musste.

Zum akademischen Zweck war der Leichnam erst abgebalgt worden, womit an der Sohle begonnen wird, also dem Körperteil, das zu Lebzeiten auch die Bastonade empfängt. Dann wurden die Beine so aufgeschnitten, dass man die Nähte hinten verbergen konnte, und schließlich die ganze Haut ins Wasser geworfen, gut abgewaschen und vom Fett befreit. Hierbei ging man behutsam vor, kannte man doch Berichte, die besagten, dass bei ertrunkenen Schwarzen die Haut wieder weiß wird, so wie die Missionare den Afrikanern auch erzählten, sie würden mit unsichtbaren Affenschwänzen geboren, die erst bei der Taufe abfielen. Für den Präparator ein großer Säuger, baute man dem Schwarzen ein rotglühend geschmiedetes Gerüst, stark genug, die schweren Häute zu halten, in die man nun mit Hanfgarn umwickeltes Heu in Würsten und Ballen einfüllte. Zuletzt wurden die Muskeln mit Torf nachgebildet und die Beinadern durch das Auflegen von mit Ton bestrichenen Bindfäden kopiert. Damit war der starke Körper des verlaufenen Mohren naturebenbildlich nachgeformt.

Als der schwierigste Teil aber erwies sich wie immer der Kopf, und im Eifer vergaß man eine sachkundige Überprüfung der Forschungsthese, die Schädeldecke bei Schwarzen sei dicker als bei Weißen, folglich habe das Gehirn weniger Platz. Dieses Urteil also überlebte den Toten und nebenbei noch seine Enkel. Als man endlich die Augen einsetzte, erreichte man zunächst einen grotesken, weltfremden Gesichtsausdruck, der durch mühevolles Korrigieren des Augenabstands und -sitzes so verbessert wurde, dass zuletzt ein beinahe lebensechtes Double entstand. Jetzt wurde noch alles Nackte gefirnist, die Krause gekämmt, ein kleines natürliches Ensemble rund um die nackten Füße versammelt, und fertig war das lehrhafte Exponat.

Die Wahrheit vom Fremden war ein Kunstprodukt, gewonnen an einem Toten, der noch in seiner musealen Auferstehung nicht sein durfte, was er war. Gestattet war ihm nur, als das Hirngespinst seiner Erforscher und Bewahrer auf die Nachwelt zu kommen. So holte ihn das künstliche Paradies heim, das man zu Erkenntniszwecken rings um ihn aufgerichtet hatte. Hier stand er nun nackt – denn das hielt man für seine Natur – in Edens Wildlife, einer von Vorurteilen errichteten Vitrine: ein Fremder, sich selbst fremd.

Im Ausstopfen und Präparieren dieses Toten war kein Schritt, der nicht symbolisch anklänge an das, was man den Lebenden seiner Rasse angetan hat. Rassismus ist Urteil ohne Erkenntnis. Was ihm seinen verführerischen Charakter gibt, ist, dass er vollstrecken kann, ohne kennen zu müssen, und dass er nur kennen wird, was er schon getötet hat.

Der Staat in Schwarz

Glaubt man der Regierung, dann hat kein menschliches Wesen so viele gute Tage wie der deutsche Staat. Von der Macht geht ein Schmunzeln und Glänzen aus, ein Optimismus und Zukunftsglaube, der an jedem Einzelmenschen einfältig wirken würde, ist doch auch der Fortschritt, der uns da lächelt, glockenreine Fantasy.

Gleichzeitig aber steht der Staat mit beiden Beinen auf der Erde, ein Lehrer und guter Hausvater, dem der ›Sachzwang‹ den ›Rotstift‹ führt, der den ›Gürtel enger‹ schnallt, kein ›Patentrezept‹ hat, sich aber an die ›Spielregeln der Gesellschaft‹ hält oder so ähnlich. Dieser Staat ist kein Bonvivant, sondern ein braver Wirtschafter und Biedermann mit verlässlichem und verlässlich eindimensionalem Innenleben, und weil sich Politik zum guten Teil kraft der Dinge verwirklicht, die wir nicht über sie wissen, und weil es also zu ihren Aufgaben gehört, Undurchsichtigkeit zu schaffen, deshalb sind wir dennoch für jeden signifikanten Halbsatz aus dem Mund dieses Biedermanns so dankbar wie für ein verwackeltes Prominentenfoto von einem Ferienstrand. Der anthropomorphe Staat, der Staat als verantwortlicher Patriarch, das ist eine Metapher für das, was wir nicht über ihn wissen und nicht wissen sollen.

Am menschlichsten wirkt dieser Staat, wo er Schwäche zeigt, wo er sie zeigen darf: in der Staatstrauer. Da baut sich seine empfindsame Innerlichkeit zu Denkmalsgröße auf. Gesenkten Kopfes, gebeugten Knies, haltenden Händchens wendet er sein wagnerianisch verwundetes Seelenleben in die Götterdämmerung heranziehender Blitzlichtgewitter – ein lebendes Bild nach klassischen Vorlagen. So wurde aus Helmut Kohl eine Charlotte Wolter der politischen Bühne.

Es muss was Herrliches sein um das Trauern! Dann, aus der stummen Denkmalsstarre zurückgekehrt in den Tonfilm, spricht der Potentat sein Trauern aus, und zwar meist indem er, wie die Linguistik sagen würde, den Sprechakt nicht durchführt, sondern ihn bezeichnet. D.h. er hat keine Worte, die Trauer verraten, nur welche, die sie etikettieren: ›wir sind tief betroffen‹, ›mit sprachlosem Entsetzen nehmen wir zur Kenntnis, dass ein Leben dahin ist‹ etc. So torkeln aus seinem Munde die Sprechblasen und Kranzgebinde, und dennoch fühlt sich das Gemeinwesen erleichtert, dass da jemand in seinem Namen als Pompe funèbre hinter dem Sarg herläuft und düstere Miene zum guten Spiel macht.

Solche Trauer nennt sich sprachlos, darf aber, als eine Inszenierung staatlicher Hygiene, nie wirklich sprachlos sein. Sie ist Öffentlichkeitsarbeit und als solche voller ungelöster und unbewusster Widersprüche. So müssen nach einem Attentat alle führenden Repräsentanten des Staates auf der Klaviatur eines Sentence Switchboard spielen, die da anbietet: wir verurteilen den feigen/den menschenverachtenden/den heimtückischen Mord auf das Schärfste/Entschiedenste/Nachdrücklichste etc. Als sei der Politiker der Komplize, der sich distanzieren müsse! Als sei der Mord, der nicht sprachlich verurteilt wird, damit schon legitimiert! Als sei es nötig, diesen aus der Gemeinschaft aller Morde herauszuheben und separat zu verachten! In alledem liegt eine ungewollte Identifikation mit dem Täter. Denn wenn im Alltagsleben dem einen sein Portefeuille gestohlen wird und der andere erwidert: ich verurteile diesen Diebstahl auf das Schärfste, dann macht er sich entweder verdächtig oder über den Bestohlenen lustig.

So zeigt die amtliche Trauer den Staat als ein Empfindungswesen, das auch im innigen Fühlen, im Leiden zu Hause ist. Da er aber in der Auswahl derer mit Staatstrauer-Anspruch etepetete ist und lieber nur ›des Staates Eigene‹ (Manager, Banker etc.) mit dem Halbmast auszeichnet, und da er Präsidenten hat, die vorbildliches Trauern vormachen, so errichtet der Staat in seinem ritualisierten Schmerz eigentlich eine Trauersperre, hinter der Opfer und Ämter verschwimmen.

Damit die Staatstrauer aber komplett werde, muss nach Empfinden und Verurteilen noch ein dritter Schritt vollzogen werden: das Appellieren, die Rückführung in den Alltag der Pflicht. Die schönste Kür in dieser Disziplin entwickelte beim Olof-Palme-Begräbnis ein ausländisches Staatsoberhaupt, und da Präsidenten, als die Titelverteidiger im Volkstrauern, immer auch am weitesten in den kosmischen Raum hinaustrudeln dürfen, formulierte dieser durchaus standesgemäß, als er sagte: »die Menschheit hat die moralische Pflicht zu überleben!« Das bedeutete: sollte uns auch das Leben durch den Verlust so vieler Staatsmänner verleidet werden, so dürfen wir aus sittlichen Gründen den wüsten Planeten doch nicht den Flatterfüßlern und den Nacktsamern überlassen, sondern müssen in unserer Existenz als brave Beamte der Schöpfung fortfahren.

Staatsmännischer und trostloser ist wohl noch kein Preis des Lebens ausgefallen als dieser, der endlich wider Willen echte Trauer auslöst über ein Leben, das man nur noch als Erfüllung einer Bürgerpflicht genießbar finden könnte.

Esels Botschaft

Vor Jahren habe ich Maria und Joseph nahegestanden – als Zeuge bei der Verfilmung eines Krippenspiels. Die Inszenierung näherte sich ihrem Gegenstand realistisch, das heißt, die Maria war schön und Joseph proletarisch, das Heu echt wie das Baby obendrauf und der Stall aus naturidentischem Holz. Auch Ochs und Esel standen gutmütig und warteten auf Weihrauch und Myrrhen und den ›Action‹-Ruf des Schöpfers.

Als es dann aber so weit war, hatte sich ein einzelnes unbeobachtetes Detail der Szenerie indezent emanzipiert. Aus dem zottigen Vlies zwischen den Hinterbeinen des Esels ragte mit einem Mal etwas ›lustweh Gekrümmtes‹, wie Robert Musil das einmal nannte, und es ward nicht ›Hosianna‹, sondern ›Cut‹. Die Natur war dazwischengekommen. Also wurden Kameras und Scheinwerfer ausgeschaltet, die drei heiligen Könige kamen von draußen und die Hirten vom Feld, um sich den exaltierten Esel anzusehen und zu staunen, wie er sich allmählich, ganz ohne äußere Einwirkung wieder beruhigte.

Kaum war aber das Ensemble wieder drehfertig, da ragte es wieder groß und drohend zwischen den Eselsbeinen ins Bild, und noch dazu schrie jetzt das Tier so markerschütternd, dass an ein Krippenspiel nicht zu denken war. Nach einigem Hin und Her und mehreren neuerlichen Versuchen, die alle zu demselben Resultat führten, wurde resigniert, und damit stellte sich – zumindest für jenen Tag – Christi Geburt als unfilmbar heraus.

So blasphemisch es scheinen mag, gerade die Ankunft des Erlösers mit einer erotischen Exaltation zu verbinden, man muss kein Esel sein, um vom Aroma des Religiösen aphrodisiert zu werden. Nichts ist bekanntlich erregender als ein Erregungsverbot. Bis in die neueste Kunst, Literatur, den jüngeren Film, bis in Werbung und Videoclips hinein, werden nicht nur im Westen, sondern selbst in Asien heilige Stätten, Kirchen und Klöster, Sakristeien und Krypten aufgesucht als die Orte mit dem natürlichsten Verbotsklima. Nirgends sonst lässt sich auch die Verwandtschaft zwischen der Verherrlichung durch den Glauben und der Verherrlichung durch das Begehren so rein zusammenführen wie hier. In all ihren wattierten Beichtstühlen, entweihten Presbyterien und zweckentfremdeten Devotionalien, in allen aufgedröselten Kuttenkordeln, abgeworfenen Kapuzen und gelüfteten Ordensgewändern honoriert die erotische Kunst den Beitrag der Kirche zur Verfeinerung der Verbote wie der Lust. Wenn man also in Zeiten der Glaubenskrisen nach dem Fortbestand der Kirche fragt, so wird man in der erotischen Kunst, die sie am liebsten profaniert und schändet, starke Argumente für ihren Erhalt finden und in der Kirche, die den ungezügelten Unterschleif ächtet, einen heißen Ansporn zur Aufrechterhaltung des Erotischen im Allgemeinen und der Produktion von erotischer Kunst im Besonderen.

Beide, der kirchliche Moralismus und die verfeinerte Erotik der Blasphemie, sind in ihrer Existenz gefährdet. Wenn sie überleben, so nur symbiotisch, indem sie sich wechselseitig in ihrer Existenz bestätigen. So wird man eines Tages am Verschwinden der erregenden Lästerung das Siechtum christlicher Sexualvorschriften erkennen. Allerdings existiert diese innige uneingestandene Allianz in ihrem vorgetäuschten Streit schon seit vielen Jahrhunderten, leben doch beide recht gut auch aus der Substanz dessen, was sie bekämpfen. Es ist diese Substanz, die sich ebenfalls in sakralen Werken – psychologisch gesprochen: als der Inhalt des Verdrängten – bahnbricht, so wenn der tote Christus in einer spätgotischen ›Position‹ in den Schoß der Maria rutscht, wenn lüsterne Magdalenen vor den nackten Füßen des Herrn niederknien, wenn in der entgrenzten Trunkenheit scholastischer Ekstasen die Grimasse des Beischlafs die Verschmelzung mit Gott bezeugt, nur so Erregung ohne Schuld, Genuss ohne Reue versprechend.

Dieselbe Ausdruckssprache speist auch die edlen Lästerungen der erotischen Kunst. Doch die religiöse Kultur bringt das schon mit, was die erotische sucht: Heimlichkeit und exzessive Phantasie, Verherrlichung und Schändung, Glorie und antiidealistische Herabsetzung, Apotheose und Sadismus – viele Mittel, das Heiligste in das Profanste zu verwandeln.

Anders hat es beide nie gegeben, und da die Liebesliteratur voller Anrufungen an Gott ist im Augenblick, da den Sprechern die Sinne schwinden, und da die religiöse Kultur voller Hurerei, Buhlerei und Beiwohnerei ist, da also beide einander so inspirieren, verbieten und bedienen, hätte man den Esel ruhig in seiner enthemmten Form in die Ikonographie des Krippenspiels aufnehmen sollen. Man hätte sagen müssen, dass dieser historische und anscheinend unvergängliche Zusammenhang von Mystik und Eros, dass der Tatbestand ihrer Symbiose dem gelassenen Esel gerade wunderbar leiblich erfahrbar geworden, dass es wie das Licht der Erkenntnis über ihn gekommen sei … auch wenn sich am Ende herausstellen sollte, dass nur das Licht der Scheinwerfer zu heiß gewesen war für sein sensibles Gemächt.

Im Schatten des Körpers des Kanzlers

Wenn es wahr ist, dass der Mensch etwas Warmes braucht, dann hat der Deutsche seinen Kanzler auch aus gesundheitlichen Gründen. Zwar spricht mich die »Fünf-Minuten-Terrine« persönlicher an als die Regierungserklärung, in der Kälte der politischen Welt aber hat nichts so viel Kalorien wie ein gutes Kanzlerwort: die Übersetzung von ›Macht‹ mit ›Verantwortung‹, von ›Monolog‹ mit ›Dialog‹, von ›Randgruppe‹ mit ›Solidargemeinschaft‹.

Sprachlich abgespeckt laufen diese politischen Grundworte darauf hinaus, dass wir in Wahrheit nichts zu sagen haben, deshalb mögen wir sie lieber ein wenig unwahrer und aromatischer. Das politische Vokabular ist nicht auf der Höhe der politischen Realität, aber schließlich ist die Zeit insgesamt nicht auf der Höhe der Zeit, und es gibt ja schließlich auch immer noch Ehefrauen, die beim Duschen vom Postboten überrascht werden, und andere altmodische Dinge.

Für den Bürger besteht eine befriedigende Konsonanz zwischen dem Körper und der Sprache des Kanzlers. Hier wird der Antagonismus zwischen der Lyrik des Herzens und der Prosa der Verhältnisse versöhnt und der Zusammenhang von Sprache und Gesicht fast forciert vorgetragen. Entsprechend hat die Öffentlichkeit, intellektuell oft im Stich gelassen, eine besonders sensible Lesart für die Leiblichkeit des Kanzlers entwickelt – so als ließe sich diesem Charakterpanzer in ausdauerndem physiognomischen Studium doch noch das Geheimnis seiner Mitteilung und damit der Kraft, die unser Schicksal formt, entreißen.

Seit man die Gezeiten seiner Leiblichkeit überhaupt beobachten kann, beschäftigt sich die Nation – weit mehr als bei allen Vorgängern – mit dem Körper des Kanzlers. Das liegt nicht am Körper selbst, es liegt am Entwicklungstand des Politischen. Seit Jahren folgt die Nation ihrem Oberhaupt allsommerlich auf dem Leidensweg zur Waage, die Entwicklung des »Du-darfst-Bockwürstchens« fällt folgerichtig in seine Amtszeit. Wie fast alle Politiker hat er seine politische Karriere mit dem Verlust der Lippen bezahlt, sich aber sonst ein physisch derartig resistentes Image zugelegt, dass man bei seinem Anblick immer an den alten Taschentücher-Slogan denken muss: »49 Schneuzungen – keine Rötung«. Von seinen Bäuchen und Kinnen ist viel die Rede, schematische Karten haben uns ehemals fachkundig an der Entfernung seines eingewachsenen Fußnagels teilhaben lassen, und schon seine Vereidigung wurde in der Zeitung von einem Foto begleitet, das von fern wie die Ablichtung eines Voodoo-Knochens aussah, sich aber bei penibler Zusammensetzung der Rasterpunkte und unter Zuhilfenahme der Bildlegende als »die Schwurhand des Kanzlers« herausstellte. Als hätte sie sonst nichts zu tun!

So ließen sich zahlreiche Beispiele dafür aufführen, welch hochentwickelte Intelligenz es inzwischen für die Lesarten des Kanzlerkörpers gibt, der wie ein erratischer Block aus der Gesellschaft ragt, entziffert wird wie ein bretonischer Findling und unser Kraftzentrum ist, jedenfalls wenn man die physikalische Definition ›Kraft gleich Weg durch Masse‹ zugrunde legt. Zur Bestätigung dieser anspruchslosen Beobachtungen hat Gilles Deleuze davon gesprochen, die Maschine des Staates werde ›übercodiert‹ durch ein Gesicht, und so ist es hier gewissermaßen das Gesicht des ›Chefs‹, der seinen physischen Körper dem sozialen Körper leiht. Dieser Körper wird vom Wahlvolk abonniert und als lebende Fahne aus jeder Staatsführer-Konferenz gelöst und gegrüßt – worin sich ein ganz anderes Verhältnis manifestiert als wenn wir beispielsweise Hoss Cartwright in seiner Männergesellschaft agieren sehen.

So darf man den Kanzler nie in Konkurrenz zu anderen Männer seines Scharfsinns und Umfangs bringen, muss ihn vielmehr durch das Prisma des Nationalen betrachten, und während man den Normalmenschen daran erkennt, dass man ihn in eine Fernsehserie beliebig integrieren könnte, wäre allein der Versuch im Falle des Kanzlers unpatriotisch. Seinen schutzmantelartig ausgebreiteten Körper überhöht die Macht des Patronats.

Der Kanzler ist Hausvater und Steuermann, das hat er mit Gott und Pharao gemeinsam. Außerdem aber distinguiert er sich vom modernen Möllemann-Typus – dem Politiker als lebender Jukebox – durch das Ärzte-Charisma aus dem Sylvia-Roman. Den Kanzler stimuliert das Vorbild des sorgenden Hausvaters, der Tag und Nacht über den Seinen wacht und selbst von Morpheus überwältigt, stets gleich so sehr Staatsmann sein wird, wie in der Nacht der Bombardierung von Tripolis und Bengasi: »Ich war sofort hellwach, aber ich bin, nachdem ich mir das anhörte und ein, zwei Anweisungen gab, wieder eingeschlafen.«

Die Idee der Sorge und Obhut ist also in seiner Gestalt derart fleischern festgemeißelt, dass der Kanzler eher Allegorie ist denn psychologisches Individuum. Seinen Körper hat er uns nur gewissermaßen zu unserer Beschäftigung zurückgelassen, während er dabei ist, nicht sich selbst, sondern unser Glück zu verwirklichen, und gerade weil er das tut, werden wir, bei aller Körperkonturkritik, seine Kräfte zuletzt doch an seinen Taten messen müssen, und nicht »nach den Ochsen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegessen und die ihm die Kräfte gegeben« (Goethe).

Politik als Körperkultur zu beschreiben ist also nicht unpolitisch und beschleunigt den Prozess der sich ins Unsichtbare und Unüberprüfbare zurückziehenden Politik keineswegs, sondern im Gegenteil: nichts ist politischer als der Kanzlerkörper, das Medium abstrakter Macht. Würde Politik nämlich nicht in altmodischem Phlegma vermittelt von der in einen Hautsack eingenähten Existenz von Menschen, sondern wäre zeitgemäß digitalisiert und ein Produkt künstlicher Intelligenzen, wer wollte sich für sie interessieren? Wer wollte wissen, ob sie sich für uns interessiert?

Vorurteile

(nach Peter Handke)

Dass die Fanpost in Waschkörben kommt und es Heiratsanträge hagelt; dass das erste Filmangebot nicht lange auf sich warten lässt, ja, dass sich die süße Bianca, kaum hatte sie sich für ein Herrenmagazin entblättert, vor Filmangeboten kaum retten konnte; dass wir unsere Reiseflughöhe von 18000 Fuß erreicht haben, und Sie das DSG-Team im Speisewagen gerne erwartet; dass die Moral in der zweiten Halbzeit nachließ und sich der Unparteiische unbequeme Wahrheiten sagen lassen muss; dass der Roman schonungslos erzählt, entlarvt, die Maske runterreißt und den Spiegel vorhält; dass die Naturkatastrophen die Rache der Schöpfung sind und die Galapagos-Inseln das letzte Paradies; dass die Behörden geschlafen haben, der Staat schlank werden muss, der Abgeordnete, Steuerzahler, Patient, das Ehebett, dass sie alle gläsern werden müssen; dass der Flugzeugabsturz auf menschliches Versagen zurückzuführen ist und das unpersönliche Sterben auf die Apparatemedizin; dass im Augenblick des Todes nochmal ein Film vor unseren Augen abläuft; dass die Witwen immer noch weinen, dass Bargeld lacht und die Kurse freundlich sind; dass die Familie Geborgenheit gibt, Geld die Welt regiert, Dummheit sie zugrunde richtet und unser Egoismus sie zerstört; dass es zu spät ist; dass Hitler der verabscheuungswürdigste Mensch war und Richard von Weizsäcker der verehrungswürdigste ist; dass die Zukunft schon begonnen hat, auch wenn die Mauer in den Köpfen und Herzen noch steht; dass die Formel 1 ein Wahnsinn und die Oper tot ist; dass jeder Mensch Streicheleinheiten braucht und Diktatoren Phantasie-Uniformen tragen; dass ertrunkene Neger wieder weiß werden und ungelüftete Anzüge Rheuma erzeugen; dass mein Freund Ausländer ist und eine Stadt ›Nein‹ sagt; dass totalitäre Staaten ihre Exekutionen als zynisches Medienspektakel inszenieren und demokratische nur ihre Geiseldramen – das alles ist alles nicht wahr. Denn in Wirklichkeit kann sich der Steuerzahler vor Heiratsangeboten kaum retten, und die Witwen richten die Welt zugrunde; die Formel 1 ist das letzte Paradies, der schlanke Staat schläft im Speisewagen, und im Augenblick unseres Todes läuft noch einmal die zweite Halbzeit der Naturkatastrophe vor unseren Augen ab. Da lacht der gläserne Unparteiische und lüftet die toten Diktatoren.

Der ewige Ilja

Es ist Friede.

Die Kinder dürfen wieder länger draußen spielen, die Zeit der Knechtschaft ist vorbei. Denn die Russen sind weg. Nur einer bleibt. Nur einer muss wachen. Seit Jahrzehnten hilft sein Porträt, deutsche Illustrierte mitzufinanzieren, immer auf den hinteren Seiten, immer bescheiden, immer zwischen Mitteln gegen Darmträgheit, Zimmeraufzügen für Alte und Haartransplantationsangeboten.

Hier ist Ilja Rogoff, der gute Kaukasier, ein Star, hier überlebt der Sinatra unter den Kapseln. Ilja Rogoff sieht Reginald Rudorf zu ähnlich, um attraktiv genannt zu werden. Dem Absatz hat das nicht geschadet. Niemand will ausschauen wie er, aber sein Alter wollen sie alle haben.

Da ist es faszinierend zu denken: Genauso also muss Knoblauchwerbung wirken, will sie erfolgreich sein. Ein weißhaariges Kopfbild, die grüne Ödnis der Tundra, der blaue Streifen ferner Hügel, zwei fortstrebende Ohren vor dem opalisierenden Himmel Tadschikistans – fertig ist die Langlebigkeit!

Und damit es so wirkt, als hätte Rogoff seine Heilkräfte auf die eigene Anzeige übertragen, ist dieses wohl die langlebigste Kampagne im deutschen Zeitschriftenwesen. Ja, steter Rogoff höhlt das Herz. Wir alle müssten, wenn es mit rechten Dingen zuginge, einmal von diesen Augen gemustert worden sein. Glückwunsch, Ilja!

Ilja Rogoff ist der ewige Zeitgenosse, er hat Tschernobyl begleitet, zu Watergate geschwiegen und das Papst-Attentat verfolgt. Was immer sonst auf der Welt geschah, er fand gleichzeitig Menschen, die ihm glaubten. Er war nie alt, nie neumodisch, nie gestrig, nie out, inzwischen sollte er Kult sein, und wenn es je wieder heißt, »der Russe kommt«, heißt das nur: Ilja Rogoff (130).

Er ist älter als Kohl, er wird älter als Kohl werden, und das ohne »Deutschland«, sondern mit dem einzigartigen Halbsatz: »Wenn Sie mehr als Knoblauch wollen …« »Ja«, sagt der Manager, »ja«, die Serviererin, »yes«, flüstert Molly Bloom, »I will«. Es sind nun Jahrzehnte, dass die Rogoff-Menschen unter uns still ihre Antwort geben: »Ja, mehr als Knoblauch!« Und hat Rogoff Berater? Pfuschen junge Chefredakteure an seinem Äußeren herum? Trägt er Lidstrich auf?

»Wenn Sie mehr wollen als Deutschland …« »Original Helmut Kohl – geruchlos.« Wäre das denn so schwer gewesen?

Die Pieta auf dem Strich

Der Held wird enthauptet. Die Geliebte stürzt hinzu, ergreift den Kopf und begießt ihn mit Tränen. Der Dichter Stendhal kommentiert: »Welche Frau, die heute lebt, empfände nicht ein Grauen bei dem Gedanken, den Kopf ihres enthaupteten Geliebten anzufassen?«

Fast hundertsiebzig Jahre nach der Entstehung von »Rot und Schwarz« ist das Grauen noch unverbraucht, nicht aber das Bild vom Grauen, schließlich hat es einen Gebrauchswert erhalten.

»Die Welt« lebt wie alle Zeitungen davon, dass was los ist auf der Welt. Für ihre Art, die Welt zu sehen, wirbt sie unter anderem mit einem ganzseitigen Foto aus dem Balkankrieg: Eine Greisin presst, überwältigt vom Schmerz, ihre runzeligen Wangen gegen einen Totenschädel, den sie in beiden Händen hält. Mit dieser Momentaufnahme aus dem Intimstleben eines Kriegsopfers macht uns »Die Welt« ihre Sicht der Dinge schmackhaft: Ja, es stecken in diesem zu Ende gehenden Krieg immer noch unerhörte, nie gesehene Bilder, geradezu Ursituationen menschlicher Zerrüttung. Früher hätten wir gesagt, es handele sich um Bilder des traumatischen Schocks, heute erkennen wir eher: Dies sind Bilder aus dem Kriegsmarketing, Motive, mit denen sich Kriege immer noch bewerben lassen. Es sind jene Bilder, in denen sich der Fortschritt der letzten hundert Jahre vollendet als Vernichtung des Reizschutzes. Es sind Bilder, durch die sich ein müdes öffentliches Interesse immer noch einmal zu einem Seitenblick auf Sarajevo stimulieren lässt. Es sind Bilder, die eine Zeitung verkaufen, eine Zeitung, die ihren »Chefreporter Peter Schmalz« neben das Bild dichten lässt: »Der Krieg auf dem Balkan hinterlässt unbeschreibliches Leid und Verzweiflung.« Ja, und er hinterlässt einen Journalismus, der immer noch keine Worte und keine Bilder gefunden hat, der aber das, was er nicht sagen und nicht zeigen kann, für seine Kunden zum Verkaufsargument veredelt: Mit Pieta und Totenschädel auf dem Strich. Wenn aber einer abgehärteten westlichen Öffentlichkeit nicht mehr anders von Sarajevo berichtet werden kann als mit kulinarischen Schreckensbildern und Phrasen, dann lasse man die Stadt lieber im Stich oder bediene sich gleich des Slogans: »Hinter dieser Zeitung steckt immer ein Totenkopf«.

Rauchende Rackets

Von der privaten Steffi Graf wissen wir nicht viel, und das ist gut so. Denn das wenige, das wir doch erfahren, zeichnet das Bild einer allein stehenden jungen Frau, die eine ungesunde Beziehung zu ihren Spaghetti unterhält und deren berufsbedingte Transpirationsenergie nach einem Deodorant verlangt, mit dem man das Mururoa-Atoll sprengen könnte.

Außerdem aber setzt sich Steffi Graf für die Arterhaltung des Opel Calibra und »unter der Schirmherrschaft von Dr. Helmut Kohl« für »ein Leben ohne Drogen« ein. Marihuana ist eine solche Droge, und ihr Genuss ist legal. Steffi Graf und Dr. Kohl haben also eine genaue Vorstellung von einem Leben, das noch legaler ist als legal, und auch wenn sie beide nicht im Verdacht stehen, selbst vom grünen Grase je probiert zu haben, formieren sie sich doch gerne zur Koalition der Rauschmittelexperten. Solche Experten treiben junge Menschen dem Haschisch in die Arme!

Für ihren ganz persönlichen Legalitätsrausch aber hat Steffi Graf eine ganz persönliche Begründung: »Jede Droge ist ein Schlag gegen dich selbst.« Das glaubt man ihr, denn mit Schlägen kennt sie sich aus, und es ist ja auch wahr: wer einen Longline gegen sich selbst schlagen kann, der muss ja so was von bekifft sein, dass ihm der Return im Schlagarm verkümmert.

Den zweiten Satz ihrer Botschaft hat Steffi Graf ihrer Schwester in Nüchternheit Nancy Reagan zu verdanken: »Sag nein zu Drogen«. Dieser Satz aber wurde im Rexona-Rausch empfangen, gemeint war ursprünglich »Sag nein zu Steuern«, denn »jede Steuer ist ein Schlag gegen dich selbst«. Auch wahr.

Da sich im Zuge der Ermittlungen aber herausstellte, dass Menschen, die solche Aufforderungen herstellen oder in Umlauf bringen, zunächst mit Werbegeld-Verlusten nicht unter vielen Millionen Mark bestraft werden, könnte es dazu kommen, dass Steffi Graf unter der Schirmherrschaft von Dr. Helmut Kohl bald nicht einmal mehr vor den Schlägen der Drogen warnen darf, sich doch noch vom Tennis zurückzieht, ganz den Nudeln hingibt und endlich herausfindet, dass ein unsicherer Mensch, der bekennt, dass ein Körperdeo ihm »24 Stunden Sicherheit« gibt, längst in jenem Zustand lebt, für den der Kiffer mindestens zehn Inhalationen oder einen Schlag gegen sich selbst braucht.

Der gute Hirte

Michel Foucault sprach von der Herrschaft als von einem »Pastorat«, in dem das Oberhaupt wie ein guter Hirte über die Seinen wacht, auch wenn sie schlafen, und sogar wenn sie in ihrem Schlaf Feuer fangen sollten.

Roman Herzog schien diese Hirten-Position lange vakant zu lassen und den Staat eher zu kommentieren als ihn zu repräsentieren. Jetzt aber hat er mit einem rhetorischen Wurf sein Pastorat in beide Hände genommen und zum Lübecker Brand die Aussage getroffen, sollte dieser Brand auf ein fremdenfeindliches Attentat zurückzuführen sein, dann sei seine, des Präsidenten, Geduld erschöpft.

An diesem Satz ist vieles, aber nichts so bemerkenswert wie die starke, durchwegs zustimmende Reaktion, die er auslöste. »Ich verliere die Geduld«, sagt der Lehrer, wenn der Schüler dreimal ohne Hausaufgaben zum Unterricht erschienen ist, sagt die Lehrerin, der gleich die Hand ausrutschen wird. Es handelt sich um einen Satz für Bagatelldelikte, formuliert von Menschen mit der Lizenz zu strafen.

Rassistische Attentate sind keine Bagatelldelikte, und der Bundespräsident besitzt laut Verfassung nicht nur keine Lizenz zu strafen, er ist sogar von allen direkten Maßgaben politischer Einflussnahme abgeschnitten. Herzog hat sich also mit einer autoritären Geste eine Macht zugeschrieben, die er de iure nicht hat, und darüber hinaus nahe gelegt, allen vorangegangenen rechtsextremen Attentaten mit der Toleranz des Hausvaters zugesehen zu haben.

Rechtsradikale Attentate kosteten in Deutschland weit mehr Todesopfer als die RAF in ihrer ganzen Geschichte. »Geduld« ist mit schuld an dieser Situation und an der Liebe des Volkes zu jener starken Geste, mit der jemand die politische Zuständigkeit an sich zieht, der nur für Geduld zuständig ist. Entsprechend verlängerte denn auch Herzog seine Gebärde, rief zum Schutz der »inneren Sicherheit« auf und damit den Hirtenhund, Minister Kanther auf den Plan – auch ein Ungeduldiger, allerdings ohne Fahndungserfolge im rechten Milieu.

Helmut Kohl sagte einmal, Ex-Jugoslawien zu helfen, »das ist eine moralische und eine tatsächliche Pflicht«. Wieder hat niemand gelacht. Aber heute wissen wir wenigstens: Ausländische Mitbürger zu schützen, ist offenbar nur eine moralische, keine tatsächliche Pflicht.

Der Kanzlerdarsteller

Heinz Klaus Mertes – Sie wissen schon, der Denunzio der Stolpe-Forschung, der jetzt bei SAT1 die Einfaltsquote im Ressort Politik verwaltet – Heinz Klaus Mertes hat neulich etwas Revolutionäres schriftlich in Umlauf gebracht. Er hat formuliert, das Schielen auf Quoten dürfe beim Programm-Machen nicht ein und alles sein. Damit wurde nicht die 33-teilige Verfilmung des »Kapital« angekündigt, sondern das Desinteresse des Publikums an Dr. Kohls SAT-1-Sprechstunde abgestraft.

Also: mehr Kohl kommt auf uns zu. In einer Fernsehdemokratie, muss sich Mertes gesagt haben, fährt der Kanzler die besten Quoten ein. Fehlschluss. Mag Kohls historische Bedeutung noch so gravierend sein, seine Attraktivität als Werbeträger liegt kaum über der von Hoss Cawtright. Folglich kriegen wir Kohl nun als Teil eines Verlustgeschäfts, das sich der Sender im Interesse der Volksbildung leistet. Aber was lernen wir aus Kohl?

Ungeübt im Umgang mit dem Fernsehen, präsentiert er sich in der linkischen Form des Saalkandidaten, der aus dem Stegreif etwas Telegenes aus sich machen muss, lieber aber nur sein Zuhause grüßen würde.

Gleichzeitig weiß Kohl, dass er im Fernsehen nicht Kanzler ist, sondern Kanzlerdarsteller, also spielt er sich redlich durch jenes Spektrum von Eigenschaften, das ein Pubertierender mit der Würde Bismarcks verbindet. Da er aber nicht spielen kann, ist er nicht abgeklärt, er sagt es nur, ist nicht gelassen, sagt es nur, ist nicht unberührt, sondern sagt es.

An jeder dieser selbst gewählten Facetten hängt ein Preisschild dran, auf dem sich der Kanzler selbst beschreibt, flankiert von einer Mimik, die das Gesicht beherrscht, so weit die Nerven tragen. Die Beobachtung dieses Schauspiels hat mich süchtig gemacht. Es bildet die reinste Umsetzung des Brecht’schen Verfremdungseffekts im deutschen Fernsehen und unterhält besser als der Gottschalk der reifsten Periode: das Phantom einer Macht, die nur abwesend gegenwärtig ist und sich im Fernsehen als die Kraft entpuppt, alles unwahr zu machen – die Macht im Zauber der Schmiere.

Das große Moderatorensterben

Es hätte ein ganz normaler Donnerstag werden können. Doch alles kam anders. Harry Wijnvoord (»Der Preis ist heiß«) hatte sich an einer reißfesten Gardisette-Gardine für 44-fuffzig aufgeknüpft und konnte von Ilona, die auf ein Tässchen Ariel vorbeigekommen war, gerade noch abgeschnitten werden. Werner Schulze-Erdel (»Familienduell«) gestand acht Bottropper Reihenhäuslern die Sinnlosigkeit seiner Existenz und starb den Gnadentod in der Studio-Deko, Maren Gilzer (»Unglücksrad«) schließlich löste ein großes A aus der Buchstabenwand und erschlug sich selbst.

Der Grund: »Nase voll von Gaga-TV« hatte der »Stern« seine große »Forsa«-Umfrage betitelt, und während mancher noch klugerweise fand, es müsse »Nase vorn mit Gaga-TV« heißen, studierten die Kollegen die Hochrechnungen und gingen, sich in den Kulissen aufzuknüpfen.

Weh! Der Zuschauer hat gesprochen. Er will weniger Gewalt, weniger Gameshows und Serien, weniger Krimis, seriösere Nachrichten, mehr Tierfilme-süüüß und weniger Werbung. Mit einem Wort: Er will ›Artes‹ Marktführerschaft, und das auf allen Kanälen. Und wer sieht nun den ganzen Serien- und Gameshow-Schrott? Wer treibt die Einschaltquoten der »guten« wie der »schlechten Zeiten« in die Höhe? Offenbar nicht der Zuschauer, den der »Stern« befragt hat, und den er nicht hätte zu befragen brauchen, denn was das Magazin nicht weiß: seine »Forsa«-Umfrage wird täglich durchgeführt. Mit seiner Fernbedienung sagt der Zuschauer: mehr Serien, mehr Gameshows und Verrecke Arte! Seine Erfolgsorientierung macht das Programm der Privaten zum treuen Spiegel der Publikumswünsche.

Der »Stern« will ein besseres Fernsehen? Dann hätte er seinen Befragten die Kategorie »Dokumentation« oder »Dokumentarfilm« wenigstens anbieten sollen, und künftig könnte er in seiner Fernsehkritik darauf verzichten, erst die Quote einer Sendung abzulesen, um dann nach ihr sein Urteil auszurichten. Mit einem Wort: er könnte auch die weniger gagaisierte TV-Geschichte im eigenen Blatt berücksichtigen.

Warum er das nicht tut? Weil sich auch der »Stern« mit den Publikumslieblingen aus »Gaga-TV« besser verkauft als ohne. Und weil das so ist, deshalb schnäuzt man sich in eine Umfrage, damit alle denken, man hätte »die Nase voll von Gaga-TV«. Erstens wird diese Nase nie voll und zweitens lebt man von ihr.

Die Dämonen der Idylle

Diese privaten Fotos haben Sie noch nie gesehen! Beim Zähneputzen, beim Rudern im Trachtenanzug, im Kornfeld. Ja, Stefanie Hertel denkt immerzu an Stefan Mross, ihre erste große Liebe.

Er singt. Sie singt. Das Leben ist ein C-Dur-Dreiklang.

Vreni und Rudi drücken wieder die Schulbank, die Zillertaler Schürzenjäger haben Heimweh, auch Judith und Mel zeigen die schönsten Bilder aus ihrem privaten Fotoalbum. Selbst um ›Rößl‹-Wirtin Waltraud Haas ist es nie ganz still geworden, und Cindy und Bert geben bekannt: Unsere Wunden sind verheilt! Wir haben Fehler gemacht! Wir freuen uns auf einen Neubeginn!

Worauf freut sich Gottfried Würcher vom Nockalm Quintett: »Auf mein Essen«. Was ist das Lieblingslied von Ex-Nabtal-Duo-Interpret Willi Seitz? »Aber nicht mit meiner Frau«. Mit wem kuschelt Patrick Lindner? Mit seinem Westhighland-Terrier namens Amadeus. Wie will Hitparadensiegerin Mara Kayser den Sommer verlängern? Mit roten Farben. Und mit Ernst Mosch. Im Herzen jung. Im Herzen lustig. Von Herzen in Ihrem Magazin »Die lustigen Musikanten«.

Doch, die Welt ist schön, wenn sie von den »lustigen Musikanten« betrachtet wird, und schlicht ist sie auch, doch ihre Schlichtheit ist die von Furnier auf Folie, und ihre Schönheit ist die einer Manie, frisch ausgelebt und ganz privat. Denn das Gute und Gemütliche, sie drücken all diese Musikanten-Gestalten fest in ihre Lebensräume, und all das Private zuckt wie unter einer Zwangsvorstellung zusammen.

Das Gute ist nicht gut und das Gemütliche nicht gemütlich, aber es ist das Ambiente für den Artenschutz der Einfalt, und hochprofessionell in der Entfaltung der Einfalt muss sein, wer das Gesamtkunstwerk seiner eigenen Person musikalisch, textlich und in der Darstellung des Privaten auf die Bekämpfung alles Dissonanten abrichtet. Schließlich geht es ja nicht um die Bewahrung der heilen, sondern um den Schutz vor der realen Welt. Also vor Fremdwörtern, Steuererklärungen, Multipler Sklerose, Camilla Parker-Bowles und Anthropologie.

Man hat beobachtet, dass sich unmittelbar vor Ausbruch einer Katastrophe das Tierverhalten ändert: Der Vogel kann sein Nest nicht finden, der Fuchs verfehlt seinen Bau. Volksmusik ist ein vernünftiges Verhalten dieser Art. Sie hat etwas von organisierter Katastrophenpanik, ja, vermutlich gibt es keine zweite Kulturäußerung, die ähnlich vom Weltuntergang geleitet wird. Er ist es, den sie sich schön singt, der apokalyptische Verfall des Fühlens und der Sitten ist es, den sie verdrängt, und deshalb ist sie Ausdruck ohne Mitteilung.

»Sie sehen diese verstreuten Häuser«, sagt Sherlock Holmes einmal zu Doktor Watson, als sie mit der Eisenbahn durch eine ländliche Idylle reisen, »und sind von ihrer Schönheit beeindruckt. Ich schaue sie mir an, und das Einzige, das mich beherrscht, ist die Empfindung ihrer Abgeschiedenheit und der Gedanke an die Ungestraftheit, mit der hier ein Verbrechen begangen werden kann.« Ja. Die Schönheit der Volksmusik, das ist ihre Konträrfaszination, das ist das Erhabene ihres Drecks, das ist das Laster in ihren Augen, die Katastrophe unter ihren Füßen, der Horror vacui ihrer Welt.

Habemus papam

In Deutschland erkennt man das Desinteresse an allem, was Politik ist, nicht zuletzt am Interesse dem gegenüber, was wie Politik scheint.

Die Wahl des Bundespräsidenten ist keine Politik, aber weil sie sich leicht dazu stilisieren lässt, hält sie das Land stets monatelang in Bann mit den Viten sensibler Kandidaten, samt dekorativer Ehefrauen und patriotischer Wallungen. Man nennt dies eine ›Kandidatenkür‹ (Listen up, Tonya Harding!), obwohl man es besser als Synchronschwimmen für Herren bezeichnen sollte – so schwer ist es abzuweichen, so leicht unterzugehen.

Obwohl es sich also nicht eigentlich um eine Wahl handelt, sondern recht eigentlich um eine Farce, nämlich darum, dass die stärkste Fraktion ihren Kandidaten wie gewohnt bloß inthronisiert, wird mit höherer Zahlenrabulistik ein Moment von Suspense und letzter Unwägbarkeit erzeugt. Dadurch soll den im Grunde unbeteiligt Zusehenden ein Showdown zur Stunde der Entscheidung suggeriert werden. Die Entscheidung aber ist keine wirkliche, nur just another day in Bundestag.

Aber wäre uns der Präsident ohne Gegenkandidaten, ohne ›Wahl‹, ohne demokratischen Budenzauber, ohne diese ganze High-Noon-Klimax noch so wichtig? Nein, die Präsidentenwahl ist keine echte Wahl, sie heißt nur so, und ebenso wenig ist sie Politik, denn laut Verfassung hält sich der höchste Würdenträger raus, er repräsentiert, das heißt, er verdrängt und trägt fortan nur noch an seiner guten Figur. Wollte er wirklich einmal Politik machen, eingreifen, umgestalten, verändern, man würde ihm schnell genug zu verstehen geben, er sei ungeeignet für sein Amt.

In Wahrheit ist der Präsident des Staates erstes Fotomodell. Er repräsentiert das Land in aller Welt durch telegene Wirklichkeitsberührungen und rhetorische Figuren, die die Erde aus göttlichem Blickwinkel sehen – aber nur bei Bodennebel. Kein Elend, zu dessen Betrachtung er herbeifliegt, ist noch elend, wenn es mit ihm fotografiert wird, kein Unheil noch drückend, wenn erst mal ein Toast über ihm ausgebracht wurde.

Deshalb heißt es von einem guten Präsidenten zu Recht, mit ihm stehen wir gut im Ausland da: Die lässt er ungeschoren und uns nehmen sie nicht für das, was wir sind. Man kann das mögen, und Repräsentieren ist sicherlich ein schönes Hobby. Wenn aber Politik die Gestaltung des sozialen Lebens bedeutet, dann fängt sie eigentlich immer erst an, sobald die Wahl des ersten Mannes im Staat vorüber ist.

Generation Ungelöst

Der altmodische Jugendliche trug zu langen Haaren einen Parka, rauchte Mary Jane, lebte in Rebellion gegen Staat, Arbeit und Hygiene und löste Angst aus. Der neumodische Jugendliche trägt einen Nasenring zur Tätowierung, schmeißt Smart Drugs, lebt in Rebellion gegen Langeweile und löst Mitgefühl aus.

So etwa sehen die Generationen auf dem Objektträger ihrer Erforscher aus, die wiederum aus der Mutterlauge der Popper, No-Future-Kinder oder Baby Boomers in die Redaktionen aufgestiegen sind, um schreibend der guten alten Spaßoffensive nachzuhängen, die täglich irgendwie an ihnen vorbeigeht.

Der jüngste Schwung der Saisonkinder trägt das Label »Generation X«. Das ist so alt wie der Fransenlook und geht statt auf Douglas Coupland eher auf die Fotografin Gisèle Freund zurück und ihre Fotoreportage über die rebellische Nachkriegsjugend, erschienen unter dem Titel »Generation X«.

Damals hatte man ein Bild von der Jugend, das durch die Nouvelle Vague, die Carnaby-Street-Floosies, selbst durch Antonioni und Oshima konturiert wurde. An jener »Generation X«, die heute im Kino zu sehen sein soll, ist dagegen Jugend das Unauffälligste. Ihre Filme kommen als aktualisierte Historienschinken zur Welt und spiegeln statt der Jugend den dreißigjährigen Lebensherbst ihrer Macher und den zähen, kompromissfreudigen Weg bis zur Einnahme der Produktionsmittel.

Die Kindergreise aus »Reality Bites« und »Shopping« gehören eher zu Mama Walsh aus »Beverly Hills 90201« als zu Madonna. Winona Rider, Sadie Frost und Shannen Doherty sind so genannte »Stars« nicht dank, sondern trotz ihrer filmischen Arbeit. Auf Fotos schießt sich die erste mit zwei (Stinke-?)Fingern in den Mund (Glückauf, Curt Kobain!), die zweite räkelt sich in schwarzem Leder (Abgang, Julie Burchill!), die dritte sitzt nackt im Spielgeld (Farewell, Material Girl!). So weit, so eigen.

Erst die Lügen ihres filmischen Habitats aber machen sie zu wahren Artgenossinnen: Das Medium, das ihnen Bekanntheit verlieh, hat ihnen Ausdruck und Wirklichkeit verweigert. Deshalb ist das Beste und das Traurigste, das man über die »Generation X« sagen kann, nicht, dass es sie nicht gibt, sondern dass sie darüber hinaus auch noch sprachlos und unsichtbar ist.

Talk and Go

Wenn dereinst die Kulturgeschichte dieser Jahrhundertwende verfasst wird, dann muss ein futuristischer Dialektiker der alten Schule auftreten und sagen, die Menschheit habe sich zur Abschaffung des Menschen eben jenes Mediums bedient, das einmal zur Selbstreflexion des Menschlichen angetreten sei: des Fernsehens.

Der Forscher wird Kulturpessimist sein, sagen, man habe eine Chance vertan, und belegen, dass etwa Gesprächssendungen genau zu dem Zeitpunkt den Höhepunkt ihrer Popularität erreichten, als die Gesellschaft des Gesprächs insgesamt überdrüssig war. Es gab hier, wird er ermitteln, weder Sprecher noch Adressaten, eher ein kollektives Meinen und Bekennen, das elektronisch verstärkt in die mit Elektrosmog gesättigten und verödeten Wohnzimmer eingespeist wurde. Die Menschen dort waren längst gestorben, aus der Talkrhythmus-Maschine Fernsehen aber erklang immer noch der Sinuston des Palavers über jene Menschheitsfragen, die länger leben werden als die Menschheit selbst.

Alle hier auftretenden Personen, so wird der Forscher herausfinden, empfanden den Verlust ihrer eigenen Persönlichkeit nur noch als einen Phantomschmerz, der sie von Ferne an ihre verblichene ›Individualität‹ erinnerte. Die Leistung des Fernsehens bei der Einebnung von Charakteren ist magisch. Es macht Ernst mit der Überzeugung primigener Stämme und löscht mit jedem Auftritt Persönlichkeit aus, denn dies ist die kleinste Münze der Unterhaltung: Menschen reduzieren, in Nachthemden stecken, ins Scheißhaus sperren, hüpfen, greinen, grinsen lassen. Daran vergnügen sich die Betrachter. Schließlich macht jeder solche Akt aus dem Individuum »eine(n) von uns«, ein serientaugliches Talk- und Showvictim ohne Anspruch auf Besonderung.

Die Bereitschaft zur eigenen Infantilisierung, so der Forscher, wurde dabei rätselhafterweise nicht als obszön, sondern als Selbstironie noch dann verstanden, wenn kein Selbst mehr existierte, das ironiefähig gewesen wäre. Nach und nach wurden so Menschen aus dem Fundus der überlebensgroßen Figuren in der Fernsehunterhaltung verklappt, damit sie in einem sadistischen Akt der Erniedrigung das Geheimnis ihrer Persönlichkeit aushauchten und verrieten. Die Show, so wird der Forscher folgern, vollendete so das Weltbild des Drills.

Mach ihn platt!

Würden Sie jetzt lieber ein Bundesligator, einen Tennis-Matchball, einen Weltrekordversuch im Stabhochsprung sehen oder diese Glosse lesen? – Eben. Offensichtlich ist die Kultur nicht zu retten, aber die Körperkultur. Früher blickte man von Seiten der ernsten Künste missgünstig auf den Sport und seinen ungeschliffenen Enthusiasmus. Heute, da sein Wallungswert unbestritten über dem des ›2. Faust‹ liegt und er auch richtig in der Zeitung vor dem Feuilleton abgehandelt wird, wäre es altväterisch abzustreiten, dass man ihm Stunden von unbeschwertem und ungezügeltem Patriotismus verdankt und daneben beispielsweise auch das gedankliche Muster der Tabelle, des Rekords, des Punkt- oder K.o.-Siegs – lauter Dinge, die sich ja in der Welt des Geistes bewährt haben.

Die wichtigste Komponente aber bleibt dabei außer Acht. Während das, was die Zeitungen ›klassischen Kunstgenuss‹ nennen, nicht selten auf recht unzarte Handgreiflichkeiten und sittliche Fouls zurückgeht, verlangt die entsprechende Konditionierung als Empfangsbestätigung höflichen Applaus, moderates ›Bravo‹ und ein schmallippig herausgesäuertes Kritikerwort. Dagegen fliegt bei sportlichen Veranstaltungen schon mal ein Fernseher durch das Fenster, ein paar Anhänger der Gegner lassen ihr Leben, und der Rest der Menge liegt sich grölend und delirierend in den Armen. Wer zum Torschuss nicht pünktlich in katatonische Raserei verfällt, ist der Menge genauso suspekt wie wer im Tristan-Akkord nicht die höchste Sublimierung des eigenen Begehrens erfährt. ›Boris Jaaaaaa‹ gilt als durchschnittlich aufgeklärte abendländische Schlagzeile, während ›Wagner geilll!‹ zu Unrecht als nicht-adäquater Bayreuth-Kommentar angesehen würde. Kurz: man hat das Gefühl, der Sport ist im Grunde ernster als die ernste Kultur, es geht um mehr, nicht nur weil es manchmal ums Leben geht. Was aber ist so ernst, dass man sich das Überleben der ernsten Kultur nur noch als eine Befruchtung durch den Sport vorstellen kann?

Im Fernsehen konkurrieren auch die Kulturgattungen im sportlichen Wettbewerb um die heftigste Erregung. Als Erregungsmassiv nämlich ist der Sport fast ohne Konkurrenz. Dabei verdankt er seine Popularität – ähnlich wie alle anderen Kulturtätigkeiten – weniger dem Mitmachen als dem Zuschauen, und bei diesem Zuschauen muss es sich, gemessen an der freiwerdenden Aufregung, um etwas ganz Besonderes handeln, etwas, das Menschen spontan offenbar inniger freut als etwa Politik sie empört.

Die Attraktivität des Sports als Objekt des Zuschauens basiert – darin sind sich Wahrnehmungstheoretiker von jeher einig – auf Identifikationen. Längst weiß aber das Fernsehen, dass das simple Auftrumpfen mit Fahne, Hymne und Nation so wenig ausreicht wie die Verschmelzung mit der Person des Sportlers. Es müssen vielmehr verschiedene, selbst widerstreitende Identifikationsprozesse angestrengt und von Bildern gestützt werden.

Da ist zunächst der Körper des Sportlers, ein Bild der Gesundheit, wenn auch tatsächlich geflickt und zerschlissen. In dieser ›Kampfmaschine‹ symbolisieren sich Leistungsfähigkeit, Potenz sowie gebändigte Gewalt in vorbildlicher Weise. Vor allem männliche Sportler erlebt der Zuschauer häufig als den nur aufgeschobenen Eintritt der Katastrophe. (›Du Jeck, saach Aap für misch‹, der Boxer Peter Müller zum Studioreporter, nachdem ihn dieser mit ›Herr Müller‹ angeredet hatte.) Zwar wird der Betrachter, erlebt er den Sportler außer Dienst, meist feststellen, dass es an ihm ›irgendwie zu viel‹ Körper gibt, im Grunde aber hängt er der Idee an, dieser sei urmenschlich und zugleich das letzte Veredelungsprodukt des ›eigentlichen‹ Menschen, etwas, das abwärts zum blassbäuchigen Homo sapiens degeneriert sei. So kommt es, dass Sportler als vervollkommnete Menschen und ebenso als anthropomorphisierte Tiere gelten, außerhalb ihres Einsatzes dagegen eher uninteressant gefunden und vor allem als Anschauungsexemplare für die zoologische Vielfalt des Menschen oberhalb des Pongo Pygmaeus gezeigt und angesehen werden.

Die eine Seite dessen, was der Sportler psychologisch repräsentiert, ist dabei schön und erleichternd. Wer sein Leben mit dem Kampf gegen die Gravitation zubringt, beschneidet es ja zwangsläufig um andere Probleme. Deshalb geht von einem Leistungssportler immer mehr Beruhigung aus als von einem Fernsehkommissar, der auch mal die Zeitung liest oder sich mit seiner Frau streitet. Die andere Seite ist die gefährliche. Schönheit und Kostbarkeit des Sportlerkörpers nämlich sind die Voraussetzung dafür, dass Wettbewerb und Spiel immer noch eine zweite Suspense-Linie erhalten: die drohende Zerstörung des Körpers durch Bruch, Riss, Gehirntrauma oder offene Wunde. Die Arbeit des Fernsehens am Körper des Sportlers ist insofern nur teilweise in Bildern von Muskelbergen oder Zeitlupeneinstellungen rasanter Bewegungen nachvollziehbar. Daneben werden Trainingsberichte gegeben, ärztliche Informationen zitiert, sogar Versicherungssummen genannt – der Wettlauf gegen den Gegner und den Eintritt des Kollaps kann beginnen. Die Präsentation arbeitet an Stärke und Schwäche des Sportlers. Nur in dieser Dualität garantiert er das ganze Soll vorgesehener Unterhaltung.

Unterstellt sei nicht, Fernsehen oder Zuschauer wünschten sich die Zerstörung des Sportlers, sie wünschen jedoch die Bedrohung durch eine noch nicht ausgebrochene, aber vielleicht nur aufgeschobene Katastrophe. An ihre Möglichkeit lässt sich der Zuschauer gern erinnern. Verluste in Mannschaftsspielen rhythmisieren den eintönigen Spielverlauf, und gegen die physische Zernichtung des Gegners ist in der Regel wenig einzuwenden. Die Darstellung des Sports verlangt also nach einer Identifikation mit Partei und Gegenpartei. Es muss deshalb nicht Fairness sein, wenn das Fernsehen den Gegner als fast ebenbürtig herauspräpariert, es folgt den Prinzipien der notwendigen Spannungsbildung, wie sie jeder Spielfilm beachtet.

Michael Rummenigge berichtet in einem Buch, der bayerische Trainer Udo Lattek habe die Mannschaft auf Busfahrten vor ›Entscheidungsspielen‹ mit Video-Ausschnitten aus Gewaltfilmen berieselt, um die ›Killerinstinkte‹ der Spieler zu schärfen. Kriegsmetaphorik und kriegerische Strategie gelten nicht nur sportlichen Gegnern, Fernsehen und Publikum lernen sie auf den Sportler anzuwenden. In jedem Fall sind beide sich einig: der Sportler soll es schwer haben, er soll leiden, er soll fast daran zerbrechen, dass er den Gegner niederringt, dessen Zerstörung umso wertvoller ist, als auch er einen schönen, zerstörbaren Körper hat. Im Sport bündelt sich so viel Kraft, dass man in jedem Augenblick mit ihrem Ausbruch rechnet, als Aggression gegen andere oder als Selbstzerstörung. So soll es sein.