»Kleine rote Fische, die rückwärtsgehen« - Heinz-Dieter Franke - E-Book

»Kleine rote Fische, die rückwärtsgehen« E-Book

Heinz-Dieter Franke

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wussten Sie, dass Kamerun seinen Namen einem Krebs verdankt und Hummer in Amerika einst an Nutztiere verfüttert wurden? Dass Jean-Paul Sartre viele Jahre lang von schrecklichen Langusten träumte? Kennen Sie die Erzählungen, laut denen japanische Samuraikrieger als auffällig gemusterte Krabben wiedergeboren wurden? Nein? Dann wird es dringend Zeit, dass Sie sich zusammen mit Heinz-Dieter Franke auf eine Reise in die kuriose Welt der Krebse begeben. In seiner reich bebilderten Kulturgeschichte erzählt der Autor unterhaltsam und prägnant, wie die Krustentiere ihren Weg an den Sternenhimmel, in die Küchen der Ärmsten und der Reichsten sowie in internationale Sprichwörter und Legenden fanden. Und so viel sei verraten: Rückwärts ging es dabei nicht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 428

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



mare

Heinz-Dieter Franke

»KLEINE ROTE FISCHE, DIE RÜCKWÄRTS GEHEN«

Eine Kulturgeschichte der Krebse

Diese Publikation enthält Links auf Webseiten Dritter.

Wir übernehmen für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Alle Links wurden zuletzt abgerufen im Juni 2023.

© 2024 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann / mareverlag

Coverabbildung akg images

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-836-6

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-713-0

www.mare.de

INHALT

Einleitung

1 Kämpfer mit Achillesferse

2 Der Krebsgang

3 »Der krebs, das bekannte fluszthier«

4 Das Heimische und das Fremde

5 Kamerun – Land der Krebse

6 Unverhoffte kleine Lebensretter

7 Zwischen Armeleuteessen und Luxusspeise

8 Krebse – ein Beitrag zur Ernährung der Menschheit?

9 Mythen und Legenden

10 Darwin, Rankenfußkrebse und die Evolutionslehre

11 Asseln – Ehrenrettung eines »Ungeziefers«

12 Heil- und Allheilmittel

13 Von Nutzen und Schaden

14 Krebse und die akustische Kulisse der Meere

15Umi-hotaru

16 Der Krebs am Himmel

17 Die Farbe Rot

18 Von Dürer bis Dalí und Koons

Quellenangaben

Abbildungsverzeichnis

Dank

EINLEITUNG

Kaum entwirrbar sind die zahllosen Fäden, die alle Lebewesen mit ihrer belebten und unbelebten Umwelt verbinden. Geknüpft wurde dieses Beziehungsgeflecht in der langen Geschichte des Lebens, in der nur bestehen konnte, wem es gelang, sich den wechselnden Umständen ständig neu anzupassen oder diese zum eigenen Vorteil aktiv zu verändern. Mit der Kulturentwicklung des Menschen nahm diese Geschichte eine Wendung, die weit über alle bis dahin bekannten Formen existenzieller Abhängigkeiten und wechselseitiger Einwirkungen hinausführte. Ein wachsendes Verständnis naturgeschichtlicher Zusammenhänge machte es möglich, die – aus menschlicher Sicht – Übel der Natur zu mindern und ihre Wohltaten zu mehren. Und überall, wo Menschen der drängendsten existenziellen Sorgen enthoben waren, wurde die Natur auch Gegenstand von Betätigungen und Betrachtungen jenseits reiner Zweckmäßigkeit.

Das vorliegende Buch handelt von unseren Beziehungen zu einer bestimmten Gruppe von Tieren, den Krebsen. Auch wenn es im Wesentlichen aus der Sicht des Zoologen und Naturforschers geschrieben ist, geht es doch nicht vorrangig um die Biologie, also um Vielfalt, Bau und Lebensweise dieser Tiere. Eine solche Abhandlung gälte es noch zu schreiben, denn eine populäre deutschsprachige Darstellung der Biologie der Krebse in ihrer Gesamtheit fehlt bis heute. Thema dieses Buches sind vielmehr Natur- und Kulturgeschichte übergreifende Zusammenhänge – kurz: alles, was uns als Menschen mit Krebsen verbindet.

Warum gerade Krebse – die Crustacea der traditionellen wissenschaftlichen Terminologie? Der größte Teil meines Berufslebens war einer Forschung gewidmet, in der Krebse die Hauptrolle spielten. Ein Zoologe, der sich als Krebsforscher vorstellt, muss im selben Atemzug ein kaum vermeidbares Missverständnis aufklären. Er ist Crustaceologe, kein Onkologe, also kein Angehöriger jener angesehenen Zunft, die sich dem Kampf gegen die »Geißel der Menschheit« verschrieben hat und (anders als der Zoologe) niemals nach dem Sinn seiner Tätigkeit gefragt wird. Der Ursprung der irreführenden Namensgleichheit einer Tiergruppe und eines Krankheitsbildes, die in keiner erkennbaren Beziehung zueinander stehen, ist umstritten. Schon Hippokrates (460–370 v. Chr.) und später auch Galenos von Pergamon (129–199 n. Chr.) haben jedenfalls bösartige Gewebeveränderungen mit demselben griechischen Ausdruck karkinos (lat. cancer) bezeichnet, der auch für Krebstiere verwendet wurde.

Eine Reihe populärer Irrtümer ranken sich bis heute um Krebse. Davon handelt auch eine amüsante Anekdote über den großen französischen Naturforscher Georges Cuvier (1769–1832), die, sollte sie nicht wahr sein, doch gut erfunden ist. Eine Kommission der französischen Akademie der Wissenschaften hatte für die Herausgabe eines neuen Wörterbuchs die Krabbe als »einen kleinen roten Fisch, der rückwärtsgeht«, definiert. »Großartig, meine Herren!«, lobte Cuvier. »Aber mit Ihrer Erlaubnis möchte ich als Naturforscher eine kleine Bemerkung dazu machen: Eine Krabbe ist kein Fisch, sie ist nicht rot und geht auch nicht rückwärts. Davon abgesehen ist Ihre Definition absolut korrekt.«1

Noch viel weniger als etwa »den« Vogel oder »das« Insekt gibt es »den« Krebs. Keine vergleichbare Tiergruppe umfasst eine solche Fülle unterschiedlicher Bau- und Lebensformtypen wie die der Krebse. Das macht es unmöglich, Krebse mit wenigen Worten zu charakterisieren. Die wissenschaftliche Erforschung der Krebse, wie die wissenschaftliche Naturgeschichte überhaupt, begann im 4. Jahrhundert v. Chr. mit dem griechischen Naturforscher und Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.). Dessen empirische Untersuchungen der Meerestiere blieben nahezu zwei Jahrtausende unübertroffen. Wesentliche Fortschritte brachte erst wieder das späte 16. Jahrhundert, als man nach langer Zeit wieder begann, Tiere um ihrer selbst willen zu studieren. Im 18. Jahrhundert führte der Schöpfer der binären Nomenklatur Carl von Linné (1707–1778) in seiner Systema Naturae (10. Auflage von 1758) unter insgesamt 4590 Arten auch achtzig auf, die wir heute als Krebse ansprechen. Aktuell sind etwa 67 000 Arten von Krebsen beschrieben und viele vermutlich noch unbekannt.

Krebse (Crustacea, »verdeutscht« zu Crustaceen) bilden zusammen mit Insekten (Hexapoda), Spinnentieren (Chelicerata) und Tausendfüßern (Myriapoda) den Stamm der Gliederfüßer (Arthropoda), zu dem mit etwa 1,2 Millionen beschriebenen Arten etwa 80 Prozent aller bekannten Tierarten gehören. Die Geschichte der Gliederfüßer begann vor etwa 600 Millionen Jahren in den präkambrischen Meeren. Der Körper dieser Tiere setzt sich aus einer Anzahl aufeinanderfolgender Baueinheiten (Segmente) zusammen, die ursprünglich in gleicher Weise mit je einem Satz innerer Organe und einem Paar Extremitäten ausgestattet waren. Eine solche Modulbauweise ist dazu prädestiniert, eine Vielfalt unterschiedlicher Bautypen hervorzubringen: durch Vermehrung oder Reduktion der Anzahl der Segmente; durch eine arbeitsteilige Differenzierung der Segmente und ihrer Extremitäten; sowie schließlich durch die unterschiedliche Art und Weise, in der Segmente sich gruppenweise zu Körperabschnitten wie etwa Kopf, Thorax und Abdomen zusammenschließen.

Molekulargenetische Methoden der Verwandtschaftsanalyse haben in den letzten Jahrzehnten allen Zoologinnen und Zoologen zahlreiche Überraschungen bereitet. Dazu gehört auch die heute in Fachkreisen allgemein akzeptierte Pancrustacea-Hypothese, die Vorstellung, dass Krebse und Insekten nicht wie Geschwister genealogisch gleichrangig nebeneinanderstehen. Vielmehr bilden die Insekten eine weiter oben am Stammbaum der Krebse entstandene Entwicklungslinie und müssen daher im Sinne einer Systematik, die sich konsequent an den Verwandtschaftsverhältnissen der Lebewesen orientiert, den Krebsen zugeordnet werden.2 Während noch bis in das 19. Jahrhundert Krebse als »flügellose Insekten« (insecta aptera) geführt wurden (im Mittelalter auch als »Muscheln mit Füßen«, conchae crura habentes), käme nach heutiger Kenntnis die Charakterisierung von Insekten als »geflügelte Krebse« der Wirklichkeit wohl näher. Im Folgenden wird jedoch – wie es nicht nur umgangssprachlich noch weithin üblich ist – von Krebsen in deren traditioneller, also die Insekten ausschließender, Bedeutung die Rede sein.

Wie die Stammform der Gliederfüßer insgesamt, so lebte auch jene der Krebse im Meer. Heute finden wir die Nachfahren der »Ur-Krebse« aber nicht nur in allen marinen Lebensräumen von den Küsten bis hinab zu den Tiefseeböden, sondern auch in allen Arten von Süßgewässern. Und ähnlich den Insekten, wenngleich weit weniger erfolgreich, haben manche Krebse schließlich sogar das feste Land erobert.

Die populäre Vorstellung von Krebsen ist geprägt von ihren großen und auffälligen Vertretern wie Hummern, Flusskrebsen, Krabben, Garnelen und Langusten – also von Arten, die auch auf unseren Speisekarten stehen. Sie alle gehören zur Gruppe der Zehnfußkrebse (Decapoda). Und sie sind es auch, die in einer Kulturgeschichte der Krebse die Hauptrolle spielen. Die meisten Krebse sind jedoch eher kleine Formen im Zentimeter- oder sogar nur Millimeterbereich. Letztere sind es, die die Masse des tierischen Planktons bilden, in unvorstellbar hohen Individuenzahlen Meere und Süßgewässer besiedeln und eine kaum zu überschätzende Rolle in den Nahrungssystemen spielen, an deren Spitze unsere Speisefische stehen. Im Meer sind es vor allem Vertreter der Ruderfußkrebse (Copepoda), in Süßgewässern daneben auch Blatt- oder Kiemenfußkrebse (Branchiopoda) wie die Wasserflöhe: Diese filtrieren jeden Tag eine Menge des winzigen pflanzlichen Planktons aus dem Wasser, die etwa ihrer eigenen Körpermasse entspricht, überführen die von Mikroalgen produzierte pflanzliche in tierische Biomasse und machen sie so auch für größere Tiere verwertbar. Aber nicht nur an der Basis des tierischen Teils des Nahrungssystems, sondern auch bei der Rückführung der Nährstoffe in einen neuen Produktionszyklus spielen Krebse eine bedeutende Rolle.

Es ist ein kurioser Umstand, dass die einzigen Krebse, die wohl jeder Mensch häufiger zu Gesicht bekommt, von nur wenigen überhaupt als solche angesprochen werden. Es sind die in unseren feuchten Kellern, Garagen und Gartenhäusern allgegenwärtigen Keller- und Mauerasseln. Verborgen bleiben den meisten Menschen nicht nur die Vielfalt der Krebsarten und deren herausragende Bedeutung im Haushalt der Natur, sondern auch die zahlreichen direkten Berührungspunkte von Krebsen mit menschlichen Belangen. Ein dafür sensibilisierter Beobachter wird Krebsen in einer Vielzahl völlig unterschiedlicher und oft unerwarteter Zusammenhänge begegnen – und keineswegs nur auf seinem Teller.

Manche Problemlösungen, die Krebse in einer langen Evolutionsgeschichte gefunden haben, konnten technisch nutzbar gemacht werden. Krebse und aus ihnen bereitete Produkte haben eine lange Geschichte in der Medizin als (vermeintliche) Heilmittel. Eine prosperierende Aquakulturindustrie produziert heute mehr Krebse für unsere Ernährung als die traditionelle Fischerei. Eine für den Menschen nützliche Rolle spielen Krebse auch als Rohstofflieferanten und Bioindikatoren. Als Erreger oder Überträger von Krankheiten sowie als Parasiten schädigen sie andererseits in großem Umfang unsere aquatischen Nutztiere und in einigen wenigen Fällen sogar uns Menschen direkt. Weitere unerwünschte Wirkungen gehen von Krebsen aus, die Schiffsrümpfe und maritim-technische Anlagen bewachsen, die Stabilität von Deichen gefährden, in Reisfeldern die junge Aussaat bedrohen oder hölzerne Hafenanlagen zerstören.

Nahezu unübersehbar ist schließlich die Bedeutung von Krebsen in kulturellen Belangen jenseits der reinen Schaden-Nutzen-Perspektive: Wir begegnen Krebsen in Astronomie und Astrologie sowie in der Mythologie und den religiös-kultischen Ritualen mancher Völker. Von der Antike bis in die Gegenwart sind Krebse häufige Akteure in Fabeln, Märchen, Sagen, Legenden und Schwänken. Von alters her spielen Krebse eine bedeutende Rolle in Symbolik und Allegorik sowie in Sprichwörtern und Redewendungen. Auch die Musik hat den Begriff »Krebs« adaptiert. Bildliche Darstellungen von Krebsen finden wir schon in der Antike als Reliefs an assyrischen Palastwänden und altägyptischen Obelisken, als Töpferornamente im alten Griechenland, auf griechisch-römischen Gemmen und Münzen sowie in altrömischen Mosaiken. Krebse waren wichtige Anreger der künstlerischen Produktion von Albrecht Dürer über die flämisch-niederländischen Stillleben-Maler bis zu Picasso und Salvador Dalí. In der Wissenschaftsgeschichte waren Arbeiten an Krebsen mehrfach an entscheidenden Weichenstellungen beteiligt. So hätte etwa Charles Darwins langjährige Beschäftigung mit einer speziellen Krebsgruppe (den Seepocken und Entenmuscheln) fast dazu geführt, dass die von ihm schon lange zuvor ausgearbeitete, aber noch nicht publizierte Theorie der natürlichen Auslese heute nicht mit seinem Namen, sondern mit dem von Alfred Russel Wallace verbunden wäre.

Diese Fülle von Bezügen zwischen Krebsen und Menschen überrascht, verlief doch die Entwicklung zum Menschen, nachdem unsere Fisch-Vorfahren vor etwa 400 Millionen Jahren in Gestalt urweltlicher Amphibien den Schritt zum Leben auf dem Land vollzogen hatten, in einer völlig anderen ökologischen Welt als die der Krebse, die (nach der frühen Abspaltung der Insekten) mit wenigen Ausnahmen dem aquatischen und insbesondere dem marinen Milieu verhaftet blieben. Die Einstellung des Menschen zum Meer war bis in die Neuzeit von Unbehagen, ja Angst geprägt. Die alten Ägypter hassten das Meer, berichtet der griechische Schriftsteller Plutarch (45–127 n. Chr.); es galt ihnen als »ein Element, das mit uns in gar keiner Verbindung steht, sondern der Natur des Menschen fremd, oder vielmehr äußerst feind und zuwider ist«3. Selbst das Inselvolk der alten Griechen betrachtete das Meer überwiegend als eine feindliche Macht. Es war die natürliche Scheu eines Landlebewesens vor einem Element, das kaum Orientierung bot, jederzeit alles zu verschlingen drohte und dessen unergründliche Tiefe man von Ungeheuern bewohnt glaubte. Einen mentalen Wandel brachte erst das 18. Jahrhundert, als Ehrfurcht vor seiner Größe und Erhabenheit das Bild des Meeres zu bestimmen begann. Im 19. Jahrhundert schwärmte der Dichter Charles Baudelaire (1821–1867): »O freier Mann, du liebst für alle Zeit das Meer!«4

Über die Naturphilosophie führte der Weg zur wissenschaftlichtechnischen Erforschung und heutigen kommerziellen Nutzung selbst der entlegensten Regionen des marinen Lebensraums. Neben der Eroberung der Lüfte wurde jene des Meeres zu einer der großen Unternehmungen in der neueren Geschichte des Menschen. Nach und nach zeigte sich die ganze Vielfalt des marinen Lebens jenseits des Meeresufers – und damit auch die Rolle der Krebse als die (neben den Fischen) ökologisch bedeutendste Tiergruppe dieses Großlebensraums.

1 KÄMPFER MIT ACHILLESFERSE

Vielen Menschen sind Krebse fremd und unheimlich. Eine harte, tote Hülle umgibt als Außenskelett die Tiere. Starre Gesichtszüge und ausdruckslose Augen geben keine Hinweise darauf, was – wenn überhaupt – ein solches Tier denkt oder fühlt. Der gegliederte Panzer und oft auch mächtige Waffen in Form zupackender Scheren vermitteln zudem den Eindruck von Unverwundbarkeit und Kampfbereitschaft. Für manche Menschen sind Krebse ein Gegenstand von Wahnvorstellungen. Der Philosoph Jean-Paul Sartre (1905–1980) sah sich viele Jahre in seinen Träumen von Langusten und Krabben gepeinigt. Das Fleisch von Krebsen und Muscheln (der »Schalentiere« der Gastronomie), das aus einem »Versteck« unter Schalen herausgezogen werden muss, war ihm zutiefst zuwider: »Wenn ich ein Schaltier esse, esse ich Dinge aus einer anderen Welt. Dieses weiße Fleisch ist nicht für uns, man stiehlt es einem anderen Universum.«1 Für den katalanischen Maler und Surrealisten Salvador Dalí (1904–1989) waren Krebse Symbole seiner paranoiden Ängste vor Kastration und weiblichem Kannibalismus. Und auch in Mythen und Legenden fanden Krebse Eingang.

Am südwestlichen Zipfel der japanischen Hauptinsel Honshu liegt die Stadt Shimonoseki, die heute Heimathafen der berüchtigten Walfangflotte des Landes und das Mekka der Liebhaber des kulinarisch hochgeschätzten Fugu-Fisches ist. Im Jahr 1185 haben sich hier in der kleinen Bucht von Dan-no-ura zwei Samurai-Familien eine Seeschlacht geliefert, deren Ausgang das Schicksal Japans für viele Jahrhunderte geprägt hat. Die Flotte des herrschenden Heike-Clans mit dem noch unmündigen Kaiser Antoku wurde dabei von der Seemacht der Genji vernichtet. Um der Schmach der Niederlage zu entgehen, sollen sich die überlebenden Verlierer in den Fluten ertränkt haben. Eine der Attraktionen Shimonosekis ist der Akama-Schrein, der dem glücklosen Antoku geweiht ist; ein traditionsreiches Festival (Sen-tei-sai) erinnert dort jährlich mit farbenprächtigen Prozessionen an das Ereignis. Mit dem Untergang des Heike-Clans begann das jahrhundertelange Militärregime der Shogune; erst die Meiji-Revolution im Jahr 1868 beendete das Shogunat und erneuerte die traditionelle Herrschaft des Kaisers.

Einer alten Legende nach haben die Seelen der toten Heike-Krieger am Grunde des Meeres im Körper von Krabben eine neue Heimstatt gefunden. Inspiriert wurde die Legende vermutlich durch das lokale Vorkommen einer sonderbaren Art der allgemein für ihre Aggressivität bekannten Krabben; deren Rückenpanzer zeigt ein Muster aus Furchen und Gruben und erinnert an die drohend-grimmigen Gesichtszüge von Masken, die von Samurai-Kriegern getragen wurden (vgl. Abb. 1). Sie werden Heikegani (Heike- oder Samurai-Krabben) genannt. Ihr gültiger wissenschaftlicher Name ist Heikeopsis japonica; der große Natur- und Japanforscher Philipp Franz von Siebold (1796–1866) hat die Art wissenschaftlich beschrieben. Als »Krabben mit menschlichem Antlitz« spielen sie eine wichtige Rolle in der japanischen Folklore und sind im heutigen Japan ein beliebtes Tattoo-Motiv.2

Mit Reizkonstellationen konfrontiert, die uns unvollständig erscheinen, versuchen wir, diese zu bekannten Mustern zu ergänzen. Ein Sonderfall dieses Phänomens ist unsere Neigung, Gesichter in etwas »hineinzulesen« (Pareidolie), sei es in Wolkenbilder, in die Oberfläche des Mondes oder auch in das Furchenmuster eines Krebspanzers. Der Evolutionsbiologe Julian Huxley (1887–1975) hat vermutet, das Muster der Heike-Krabbe sei Ergebnis einer unbeabsichtigten Auslese durch Krabbenfischer.3 Aus Respekt vor den Seelen der Heike-Krieger könnten Tiere mit Mustern, die besonders stark menschlichen Gesichtern ähnelten, von den Fischern zurück ins Meer geworfen worden und dadurch dem Verzehr entgangen sein. Da Krabben in der Region seit Jahrhunderten intensiv befischt werden, könnte so im Lauf der Zeit nicht nur der Anteil der Tiere stetig zugenommen haben, deren Rückenmuster an ein menschliches Antlitz erinnert, sondern dieses könnte dem eines zornigen Samurais auch immer ähnlicher geworden sein. In diesem Sinne hat Carl Sagan (1934–1996) in seinen populärwissenschaftlichen Fernsehsendungen und Büchern der 1980er-Jahre das »Gesicht« der Heike-Krabbe einem Millionenpublikum als Paradebeispiel einer künstlichen Auslese präsentiert.

Aber wie so oft in der Wissenschaft muss wohl auch hier eine »schöne« Hypothese einer prosaischeren Erklärung weichen.4 Mit einer Rumpfbreite von höchstens drei Zentimetern sind die Tiere eigentlich zu klein, um jemals als Speise begehrt gewesen zu sein. Vermutlich wurden sie schon immer als nutzloser Beifang ins Wasser zurückgeworfen. Zudem findet man Furchenmuster, die einem menschlichen Gesicht ähneln, auch auf dem Rücken verwandter Krabbenarten in anderen Meeresgebieten.

Als unerschrockene Kämpfer begegnen uns Krabben auch in der griechischen Sagenwelt.5 Herakles, ein unehelicher Sohn des Göttervaters Zeus, wurde zeitlebens vom Hass seiner Stiefmutter Hera verfolgt. Während er mit der vielköpfigen Hydra kämpfte, der die Köpfe schneller nachwuchsen, als man sie ihr abschlagen konnte, sandte Hera einen großen Krebs zur Unterstützung des Ungeheuers. Hinterrücks attackierte dieser den bedrängten Herakles und wurde von ihm im Zorn zerschmettert. Zum Dank versetzte Hera ihren mutigen, wenngleich erfolglosen Helfer posthum an den Himmel, wo der Krebs seither eines der Sternbilder darstellt (vgl. Kapitel 16).

Um einen Krieg zu beenden, soll Zeus einmal eine ganze Armee von Krebsen rekrutiert haben. Berichtet hat dies ein unbekannter späthellenistischer Autor (»Pseudo-Homer«) in seinem Werk Der Frosch mäusekrieg. In einem kuriosen eintägigen Krieg zwischen Fröschen und Mäusen fallen die auf groteske Weise hochgerüsteten Kombattanten aus eher nichtigem Anlass gnadenlos übereinander her. Das kleine Werk parodiert die homerische Schlachten-Epik, indem es die großsprecherischen Deklamationen der griechischen und trojanischen Helden kleinen, des Heldentums eher unverdächtigen Tieren in den Mund legt. Zum Gespött gemacht werden aber auch die Bewohner des Götterhimmels, die das Spektakel zunächst amüsiert verfolgen. Als den Fröschen jedoch die Vernichtung droht, befiehlt Zeus seinem zuständigen Fachpersonal, einzuschreiten. Doch weder der Kriegsgott Ares noch die für Kriegstaktik zuständige Athene sehen sich imstande, dem martialischen Gemetzel Einhalt zu gebieten. So muss Zeus selbst, Blitze und Donnerkeile schleudernd, in den Kampf eingreifen. Aber auch dem obersten der olympischen Götter gelingt es nicht, die Mäuse aufzuhalten. Erst im allerletzten Augenblick hat Zeus die rettende Idee. »Da kamen sie plötzlich heran: Mit gepanzertem Rücken, mit krummen Scheren bewaffnet, schräg liefen sie und schielten, auch ihr Mund glich einer Schere, ihre Haut war wie gebrannter Ton, knöchern, mit plattem Rücken, ihre Schultern glänzten, krummbeinig waren sie und breitmäulig, ihre Augen saßen gleich auf den Schultern, acht Füße hatten sie, zwei Köpfe, keine Hände: Krebse hießen sie. Die kniffen mit ihren Mäulern die Mäuse in die Schwänze, die Füße und die Hände: die Lanzen aber verbogen sich an ihnen. Da bekamen es die feigen Mäuse mit der Angst zu tun, sie hielten nicht mehr stand und wandten sich zur Flucht. Schon ging die Sonne unter, und der ganze eintägige Kriegszauber war aus.«6 Eine Söldnertruppe aus Krabben hatte im Auftrag des Göttervaters die Kriegsposse beendet und die Frösche vor der Vernichtung bewahrt.

Als Menschen können wir schon unseres Größenvorteils wegen den meisten Krebsen gelassen gegenübertreten, auch wenn die mächtigen Scheren eines Hummers oder eines Palmendiebs, der die Schalen von Kokosnüssen aufbrechen kann, zur Vorsicht mahnen. Der auf pazifischen Inseln lebende Palmendieb (Birgus latro) ist mit bis zu fünf Kilogramm Masse und vierzig Zentimeter Körperlänge der größte landlebende Gliederfüßer. Er kann mit einer Kraft von bis zu 3300 Newton zugreifen, was etwa der doppelten Beißkraft eines Löwen und der vierfachen eines Menschen entspricht. Gegenstände von bis zu dreißig Kilogramm kann dieser Krebs mit seiner Schere heben. Als Allesfresser können Palmendiebe die Kadaver auch viel größerer Tiere in kurzer Zeit verzehren. Typische Fraßspuren, die man an menschlichen Knochen gefunden hat, deuten darauf hin, dass dieses Schicksal manchen Schiffbrüchigen und vielleicht auch der US-amerikanischen Luftfahrtpionierin Amelia Earhart widerfahren ist. Bei dem Versuch, als erster Mensch die Erde am Äquator zu umfliegen, musste sie 1937 nahe der pazifischen Insel Nikumaroro notlanden und ist dort wohl nach kurzem Einsiedlerdasein ums Leben gekommen.

Der niederländische Naturforscher Georg Eberhard Rumpf (1627–1702) berichtete folgende kuriose Begebenheit von der Molukken-Insel Ambon: Einen lebenden Palmendieb hatte man an einem Strick aufgehängt, nicht weit entfernt von der Stelle, an der eine junge Ziege angebunden war. Dem Krebs war es gelungen, mit seiner Schere die Ziege an einem Ohr zu packen, sie zu sich heranzuziehen und sogar vom Boden hochzuheben, als die Umstehenden auf den Vorgang aufmerksam wurden. Nur dadurch, dass man dem Krebs mit Gewalt die Scheren zerbrach, ließ sich die Ziege aus dem festen Griff des Tieres befreien.7

Wenn schon Hummer und Palmendieb zumindest Respekt einflößen, welche Gefühle löste erst ein Krebs aus, der uns an Körpergröße gliche oder sogar überträfe? Manche Horrorfilme wie Roger Cormans Attack of the Crab Monsters (1957) schöpfen ihren Nervenkitzel aus der Begegnung mit einer solchen »Kampfmaschine«, die äußerlich kaum angreifbar und uns an Kraft weit überlegen wäre. Auch in der Walt-Disney-Adaptation (1954) von Jules Vernes Science-Fiction-Roman 20 000 Meilen unter dem Meer hat eine gigantische Krabbe von nahezu zehn Meter Größe einen Auftritt. Selbst naturgeschichtliche Werke zeigten bis in das 17. Jahrhundert hinein monströse Krebse. Sebastian Münsters Cosmographia (1544) präsentiert beispielsweise unter den Meeresungeheuern einen deutlich mehr als menschengroßen Krebs, der sich einen Schiffbrüchigen gegriffen hat (Abb. 2).8 Münster bezog sich hierbei auf die 1539 in Venedig erschienene Carta marina des schwedischen Bischofs Olaus Magnus (1490–1557), die das Vorkommen riesiger menschenfressender Krebse in der Nähe der Hebriden zeigt. Doch Krabben stehen nicht nur für Angriffslust und Kampfesmut – »ein Volk des Kampfes« hat Jules Michelet (1798–1874) sie in seiner poetischen Naturgeschichte des Meeres genannt9 –, sondern als typische Einzelgänger auch für gegenseitige Unverträglichkeit bis zum Kannibalismus. Die französische Redewendung un panier de crabes (ein Korb voller Krabben) und das vergleichbare englische crabs in a barrel beschreiben die Situation eines ständigen Streits, aus dem niemand unbeschadet hervorgeht.

Während Krebsgiganten als Ausgeburten menschlicher Fantasie keine Grenzen gesetzt sind, bewahren uns in der realen Welt physikalische Gesetze vor einem solchen Horrorszenario. Um einen monströsen Krebs zu tragen, müsste dessen Außenskelett überproportional verstärkt werden. Ein Krebs von unserer eigenen Größe träte uns auf dem Land mit der Schwerfälligkeit eines Menschen entgegen, dem ein zentnerschwerer Mühlstein um den Hals gelegt wurde. Ein solcher Krebs wäre nahezu unbeweglich und liefe Gefahr, unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen. Unter Wasser sähe die Situation etwas anders aus: Da dort das Gewicht um den Auftrieb vermindert ist, können wasserlebende Tiere größer werden als vergleichbare Formen auf dem Land. Der größte Krebs – und zugleich größter lebender Gliederfüßer überhaupt – ist die Japanische Riesenkrabbe (Macrocheira kaempferi), die im Nordpazifik vor Japan in Tiefen von etwa 300 bis 400 Metern lebt. Zwar ist ihr Rumpf mit bis zu vierzig Zentimeter Länge auch nicht größer als der des Palmendiebs, die Beine erreichen jedoch eine Spannweite von mehr als drei Metern und tragen wesentlich zur Gesamtmasse der Tiere von bis zu zwanzig Kilogramm bei. In Japan bilden die Tiere die Hauptattraktion in fast jedem öffentlichen Aquarium; als Präparate sind sie auch hierzulande beliebte Ausstellungsstücke in naturhistorischen Sammlungen. Doch so beeindruckend sie auch sind, für den Menschen geht keine Gefahr von ihnen aus: In majestätischem Gang schreiten sie auf ihren stelzenförmigen Beinen über den Meeresboden und ernähren sich von Aas sowie bodenlebenden Tieren wie Muscheln, die nicht vor ihnen fliehen können.

Skelette verleihen einem weichen Körper eine konkrete Gestalt und erleichtern die Fortbewegung, indem sie den Körper mit Extremitäten über den Boden erheben können. Als mechanisches Widerlager von Muskelkontraktionen sind sie zudem unentbehrlich für rasche und kräftige Bewegungen. Alle »höheren« Tiere (mit Ausnahme der Tintenfische) bedienen sich dabei gegliederter Skelette aus Hartsubstanzen. Schließlich erlauben harte Skelettteile eine Zerkleinerung und Nutzung von Nahrung, die sonst schwer zugängig ist. Schon Aristoteles erkannte als erster vergleichender Anatom den grundsätzlichen Unterschied zwischen Krebsen (Gliederfüßern) und Menschen (Wirbeltieren): Während bei Ersteren »das Weiche« innen und »das Harte« außen liegt, ist es bei Letzteren umgekehrt.10 Diese Besonderheit des Bauplans der Gliederfüßer wird uns spätestens dann bewusst, wenn wir einen Krebs zum Verzehr vor uns haben.

Die Ausbildung so unterschiedlicher Skeletttypen bei den beiden bedeutendsten Gruppen des Tierreichs hatte tiefgreifende Konsequenzen für deren gesamte Organisation. Ein Außenskelett erfüllt nicht nur die allgemeinen Aufgaben eines Skeletts, sondern schließt zugleich die Weichteile eines Körpers wie in eine Rüstung ein und schützt sie so vor äußeren Einwirkungen. Eine Bewegung einzelner Körperteile wird dadurch möglich, dass das Skelett nicht überall gleich dick und hart ist. Dickere, härtere Teile in Form von Platten und Röhren sind untereinander durch dünnere, flexible Teile verbunden. Während auf der Grundlage von Innenskeletten Kugelgelenke ausgebildet werden können, die es erlauben, einen größeren Aktionsraum in verschiedenen Richtungen zu bestreiten, erhalten die Extremitäten der Gliederfüßer ihren Aktionsraum dadurch, dass sie in eine größere Zahl kleiner Glieder unterteilt werden, die über Scharniergelenke mit gegeneinander versetzten Bewegungsebenen miteinander verbunden sind. Dennoch bleibt der Aktionsraum solcher Extremitäten stark eingeschränkt, sodass wir einen Flusskrebs oder Hummer am Rücken greifen können, ohne einen schmerzhaften Zugriff der Scheren befürchten zu müssen.

Die Schutzwirkung eines Außenskeletts ist prinzipiell umso wirksamer, je dicker und härter ein solcher Panzer ist. Da dies aber mit erhöhtem Gewicht und verminderter Beweglichkeit einhergeht, kommt es zu einem klassischen Optimierungsproblem. Gefordert war ein Skelettmaterial, das geringes spezifisches Gewicht mit hoher Festigkeit verbindet. Die Entwicklung eines solchen Baustoffs, des Chitins, hat entscheidend zum Evolutionserfolg der Gliederfüßer beigetragen.11 Es ist eine kuriose Situation, dass viele Krebse die ihnen durch das Chitin gegebene Möglichkeit, das Gewicht ihres Panzers bei gleichbleibender Schutzwirkung gering zu halten, dadurch konterkarieren, dass sie große Mengen von schwerem Kalk in das Außenskelett einlagern. Es ist diese Eigenschaft, die der Gruppe den Namen Crustacea (Krustentiere) gegeben hat. »Leisten« konnten sich eine starke Inkrustierung allerdings nur die ausschließlich am Boden lebenden Krebse wie Hummer, Flusskrebse und die meisten Krabben, bei denen Kalk die Hälfte des Panzergewichts ausmachen kann. Vielschwimmer und erst recht Dauerschwimmer wie manche Garnelen und die Krillkrebse haben hingegen wohlweislich auf eine solche gewichtserhöhende Kalkeinlagerung verzichtet.

Der Mensch hat sich das Chitin zunutze gemacht. Mit seinem Derivat Chitosan hat es aufgrund zahlreicher erstaunlicher Eigenschaften eine Karriere als Werkstoff mit vielfältigen und längst noch nicht ausgeschöpften Einsatzmöglichkeiten in Biomedizin, Landwirtschaft, Pharmazie und Abwassertechnik gemacht. Viel Erfindergeist wurde auch darauf verwandt, den schützenden Effekt eines Außenskelettes nachzuahmen. Wie im Tierreich ging es auch hier stets um einen möglichst günstigen Kompromiss zwischen den gegensätzlichen Anforderungen nach wirksamem Schutz einerseits und geringem Gewicht sowie möglichst wenig eingeschränkter Beweglichkeit andererseits. Vom antiken Griechenland bis in die frühe Neuzeit wurden metallische Rüstungen (vor allem der Brustharnisch) als Krebs bezeichnet. Martin Luther verwendete den Begriff in seiner Bibelübersetzung wiederholt auch im übertragenen Sinne, etwa wenn es in der Weisheit Salomons (5,19) heißt: »Er wird Gerechtigkeit anziehen zum Krebs.« (Revidierte Übersetzungen haben später den Begriff Krebs durch Panzer ersetzt.) Krebse nannte man auch Belagerungsmaschinen, die zum Brechen von Mauern und Toren verwendet wurden: Unter einer gegen Steinwürfe und Pfeile schützenden, mit Eisenplatten bewehrten Holzkonstruktion rückten manchmal mehrere Hundert Kämpfer mit einem Baumstamm als Rammbock gegen Befestigungsanlagen vor.

Jede mittelalterliche Burg zeigt heutigen Besucherinnen und Besuchern eine reichhaltige Sammlung von schweren Eisengebilden wie Helmen, Harnischen und Schienen, mit denen Kämpfer ihren Körper schützten. In Peru stießen die spanischen Konquistadoren jedoch auf Inka-Krieger, die extrem fein gewebte, wattierte Textil-Rüstungen einem metallischen Schutz vorzogen. Viele spanische Soldaten übernahmen diese Art der Schutzkleidung, die – bei wesentlich geringerem Gewicht und hoher Flexibilität – den Körper fast genauso gut schützte wie die schweren Brustharnische, mit denen sie zuvor in den Kampf gezogen waren.

Mit dem Aufkommen durchschlagskräftiger Feuerwaffen verlor der metallische Körperschutz mehr und mehr an Bedeutung. Bereits aus der Zeit gefallen waren die London lobsters (engl. lobster, Hummer), eine gepanzerte Kavallerie-Einheit, die im Englischen Bürgerkrieg (1642–1649) für das Parlament gegen die Royalisten um Charles I. kämpfte. Auf dem Kontinent, auf dem der Dreißigjährige Krieg zu Ende ging, schützten die meisten Kombattanten ihren Oberkörper nur noch mit einer einfachen Lederbekleidung. In den Armeen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wurde sogar ganz auf einen besonderen Schutz für Soldaten verzichtet. Bunte »Waffenröcke« prägten das Bild der Schlachtfelder des Siebenjährigen Kriegs und der napoleonischen Zeit. Bewegliche Truppenteile sollten nun den Gegner in Zangenbewegungen einschließen und so Schlachten schnell beenden.

Das 20. Jahrhundert brachte wieder Rückgriffe auf traditionelle Schutzmaßnahmen für Soldaten. »Wir empfingen Stahlhelme. Der Stahlhelm verleiht dem Soldaten ein wüstes Aussehen«, notierte Ernst Jünger als Kompanieführer in der Somme-Schlacht in seinem Kriegstagebuch (24. August 1916).12 Im Dolomitenkrieg (1915–1918) wurden auf italienischer Seite sogenannte Farinaharnische eingesetzt. Diese mehr als fünfzig Kilogramm schweren, den Körper bis fast zu den Knien bedeckenden Panzerplatten ließen Soldaten fast wieder wie antike Kämpfer aussehen. Feindliches Feuer sollte solchen Angreifern, die wie eine stählerne Lawine gegen Stellungen des Gegners vorrückten, nichts anhaben können. Die Kriegsrealität sah jedoch anders aus. Als junger Soldat war der spätere italienische Politiker Emilio Lussu Augenzeuge solcher Unternehmungen, die mit der vollständigen Vernichtung der Angreifer im Feuer des Gegners endeten, das die Harnische zerfetzte »wie dünne Baumwollhemden«13. Moderne Verbundwerkstoffe, die Leichtigkeit und hohe Festigkeit miteinander verbinden, haben schließlich zu immer effektiveren Lösungen uralter Probleme geführt. Dies gilt sowohl für die moderne Arbeitsschutzkleidung als auch für alle Formen der Schutzkleidung, zum Beispiel kugelsichere Westen, wie sie heute bei Polizei und Militär zum Einsatz kommen.

Angesichts der offenkundigen Vorteile von Außenskeletten stellt sich die Frage, warum Wirbeltiere ein Innenskelett bevorzugt haben. Oberflächlich betrachtet scheint es wider alle Vernunft, die empfindlichen Weichteile ungeschützt der Außenwelt auszusetzen. Aber wie raffiniert ein Außenskelett auch konstruiert ist, es mindert zwangsläufig die Beweglichkeit seiner Träger. Zudem kommen seine Vorteile aus mechanischen Gründen vor allem bei geringen Körpergrößen zur Geltung.

Schließlich gilt es in der Frage der Abwägung von Vor- und Nachteilen der beiden Skeletttypen einen Punkt zu beachten: die Achillesferse aller, die von einem schützenden Außenskelett profitieren. Dieses ist nämlich nur sehr begrenzt dehnbar. Um wachsenden Organen Platz zu schaffen, muss der Panzer immer wieder abgeworfen und durch einen neuen, etwas weiteren und aufwendigeren ersetzt werden. Das Wachstum der Gliederfüßer ist somit kein kontinuierlicher Prozess wie das der Wirbeltiere, sondern vollzieht sich in Sprüngen. Viel Energie muss in Häutungen investiert werden und geht damit dem eigentlichen Wachstum verloren. Die meisten Krebse häuten sich und wachsen während ihres gesamten Lebens, auch wenn die Abstände zwischen den Häutungen mit dem Lebensalter immer länger und die damit verbundenen Wachstumssprünge immer geringer werden. Ungewöhnlich alte Individuen fallen daher bei Krebsen – ganz anders als bei Wirbeltieren – durch eine weit überdurchschnittliche Körpergröße auf.

Der unter dem alten Skelett angelegte neue Panzer ist zunächst noch völlig weich; er muss nach dem Abwurf des alten rasch auf seine neue Größe gedehnt werden – in der Regel geschieht dies durch Wasseraufnahme – und dann in dieser Form aushärten. Dieser Prozess kann je nach Art und Größe eines Krebses wenige Stunden, aber auch mehrere Wochen dauern. Mit jeder Häutung verlieren Tiere daher vorübergehend ihren äußeren Schutz und auch ihre Beweglichkeit, da Muskelkontraktionen ohne festes mechanisches Widerlager wirkungslos bleiben. Ihrer weichen Oberfläche wegen werden frisch gehäutete Krebse als Butterkrebse (soft crabs) bezeichnet; sie sind beliebt als Angelköder, aber auch in der Gastronomie, da Tiere in diesem Zustand komplett verzehrt werden können. Je größer ein Krebs ist, desto größer ist auch die Gefahr, dass er als frisch gehäutetes Individuum unter seinem eigenen Gewicht kollabiert. Diese höchst gefährdeten Lebensphasen, in denen Krebse leicht Opfer von Raubfeinden oder kannibalischen Artgenossen werden, verbringen die Tiere meist an gut geschützten Orten. Erst mit dem Aushärten des neuen Panzers kehren der gewohnte Außenschutz, die Stabilität des Körpers und die frühere Beweglichkeit zurück.

Einen raffinierten Weg, die mit einer Häutung verbundenen Probleme zu mindern, hat die Krebsgruppe der Asseln (Isopoden) gefunden: Ihre Häutung erfolgt in zwei Etappen, wobei zunächst die hintere und erst einige Zeit später auch die vordere Körperhälfte gehäutet wird. Auf diese Weise sind die Tiere zu keinem Zeitpunkt völlig schutzlos und bewegungsunfähig.

Die komplexen Vorgänge der Häutung sind anfällig für Störungen vielerlei Art. Probleme bei der Häutung sind eine der häufigsten Todesursachen von Krebsen. Andererseits bieten Häutungen aber auch die Möglichkeit, sich immer wieder von lästigem Bewuchs zu befreien, Verletzungen der Körperoberfläche zu reparieren, ja selbst verloren gegangene Körperanhänge vollständig zu ersetzen. Der sichtbare Häutungsvorgang eines großen Krebses, der sich nach langer, äußerlich kaum erkennbarer Vorbereitung unter meist erheblichen Anstrengungen von seinem alten Panzer befreit, ist ein beeindruckendes Schauspiel. Als Mönche im Mittelalter begannen, Flusskrebse als Fastenspeise in Teichanlagen zu züchten, ist ihnen dieses Phänomen nicht entgangen. Wegen seiner Häutung, bei der eine alte, tote Hülle zurückbleibt und ein scheinbar neues Tier in frischer, vergrößerter Form entsteht, diente der Krebs in der mittelalterlichen christlichen Ikonografie denn auch lange Zeit als Symbol der Auferstehung.

Eine ganz andere »Erklärung« für die Häutung von Krebsen gab der britische Autor Rudyard Kipling (1865–1936) in seinem Kinderbuch-Klassiker Nur so Geschichten (1902). Diese Sammlung fantasievoller Kurzgeschichten handelt davon, wie Tiere zu ihren besonderen Eigenschaften kamen. In der Erzählung Die Krabbe, die mit dem Meer spielte weigert sich die riesige Krabbe Pau Amma, die ihr vom Schöpfer zugewiesene Rolle zu erfüllen. Es gelingt ihr zunächst, sich im Meer zu verstecken, wo sie immer dann, wenn sie auf Nahrungssuche geht, Verderben bringende Flutwellen auslöst. So verrät sie sich selbst, wird zur Strafe ihres Panzers beraubt und sieht sich nun weich und schutzlos (gleichsam als ständiger Butterkrebs) ihren Feinden ausgeliefert. Doch vermag die Krabbe ihren Schöpfer milde zu stimmen; dieser lässt sie so klein werden, dass sie ihren verletzlichen Körper unter Steinen verbergen kann. Schließlich erhält die Krabbe aber doch ihren harten Panzer zurück. Zur Warnung davor, wieder in ihre frühere Selbstherrlichkeit zu verfallen, muss sie diesen aber einmal im Jahr abwerfen und so für eine kurze Zeit erneut ungeschützt durchs Leben gehen. Bedarf es doch auch bei uns Menschen oft erst der Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit, um uns vor Selbstüberschätzung und Hochmut zu bewahren.

2 DER KREBSGANG

Sind Metaphern doppeldeutige Trugbilder, ungeeignet, Dinge zu begreifen, und daher eine Quelle sinnloser Streitereien? Als solche galten sie dem englischen Philosophen und rigorosen Metapherngegner Thomas Hobbes (1588–1679).1 In unserer Alltagssprache jedoch, in der es nicht darum geht, Sachverhalte wissenschaftlich präzise darzustellen, sind Sprachbilder als rhetorische Mittel für eine anschauliche und lebendige Kommunikation unverzichtbar. Es scheint sogar, dass unser Denken selbst im Kern metaphorisch organisiert ist.2 Sofern Metaphern nicht schlechthin falsch sind, werden nur Pedanten an ihnen Anstoß nehmen. Viele häufig benutzte Sprachbilder beruhen jedoch auf grundverkehrten Deutungen. Dies gilt etwa für die Herz-Metaphorik, die aus einer Zeit stammt, in der das Herz als Sitz unserer Empfindungen galt. Und fast ein halbes Jahrtausend nach Kopernikus herrscht in unserer Sprache immer noch das geozentrische Weltbild, wenn wir vom Lauf der Sonne sowie ihrem Auf- und Untergang sprechen. Mit altvertrauten Vorstellungen verbundene Bilder trotzen in der Sprache hartnäckig einem Wandel des Wissens. Auch die Krebsgang-Metapher, der die falsche Vorstellung zugrunde liegt, »der Krebs« gehe rückwärts, wird aus unserem Sprachgebrauch kaum mehr zu tilgen sein.

Inflationär verwendet, wird eine Metapher »abgegriffen« und zum Klischee. Im Wörterbuch der Gemeinplätze hat Gustave Flaubert (1821–1880) seiner Wut auf rhetorische Dummheiten freien Lauf gelassen. Unter dem Stichwort Krebs heißt es dort: »Krebse gehen rückwärts. Reaktionären immer Krebsgang nachsagen.«3 Flaubert hoffte, Leserinnen und Lesern seines Werks verschlüge es die Sprache aus Angst davor, sich durch die unbedachte Verwendung solcher Gemeinplätze lächerlich zu machen.

Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Flusskrebse nahezu allgegenwärtig in der europäischen Fauna und als Speise begehrt; ihr Fang, das Krebsen, wurde als eine Art Volkssport betrieben. Wenn von Krebsen und deren angeblichem Rückwärtsgang die Rede war, bezog sich dies bei Binnenländern auf Flusskrebse. Im gesamten europäischen Sprachraum begegnen sie uns in Fabeln, Märchen und Redensarten. So hieß es von etwas lächerlich Unmöglichem: Der Tor bessert sein Leben wie der Krebs seinen Gang. Und von einer Bemühung, die – weil gegen die Natur gerichtet – zum Scheitern verurteilt ist, sagte man: Du lehrst den Krebs vorwärtsgehen. Eine bekannte Fabel warnt vor der Macht des schlechten Vorbilds und zeigt die Unsinnigkeit, eine Forderung an andere zu stellen, die man selbst nicht gewillt oder imstande ist zu erfüllen: Eine Krebsmutter tadelt ihr Junges dafür, rückwärtszugehen, und wird von diesem darauf hingewiesen, dass sie es doch genauso mache.

Heute sind Flusskrebse zwar fast vollständig aus unserer Alltagswelt verschwunden, die Krebsgang-Metapher zur Bezeichnung jeglicher Form von Rückläufigkeit oder Rückwärtsgewandtheit hat dennoch weiter Konjunktur. Ironischer Höhepunkt ist der Titel eines Berichts, der die schrumpfenden Bestände heimischer Flusskrebse zum Thema hat: Krebse auf Krebsgang.4 In der Essaysammlung Im Krebsgang voran deutet Umberto Eco aktuelle kulturell-politische Tendenzen als Rückfall in voraufklärerische Zeiten, und Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang handelt von einer Gesellschaft, die von lange tabuisierten Aspekten ihrer Vergangenheit eingeholt wird.

In der deutschen Literatur ist die Vorstellung einer rückwärtsgerichteten Fortbewegung der Krebse seit dem Hochmittelalter vielfach belegt. In einer mittelhochdeutschen Pergamenthandschrift des 14. Jahrhunderts spricht der Fuchs zum Krebs: »an iuwerm gange ich mich verstan, ir kunnet wol hinder iuch gan, michel baz denne vor« (An eurem Gang erkenne ich, dass ihr gut rückwärtsgehen könnt, besser als vorwärts).5 Martin Luther hat die Krebsgang-Metapher wiederholt in seinen Schriften verwendet, und der Reformator Nikolaus Selnecker prägte 1566 den viel bemühten Sinnspruch: »Ohne Gott geht alles den Krebsgang.«6

Wegen ihres angeblichen Rückwärtsgangs umgab Krebse lange Zeit etwas Sinisteres oder gar Diabolisches, waren doch manche Theologen davon überzeugt, auch der Teufel bewege sich rückwärts oder gehe zumindest rückwärts zur Tür hinaus, weil es ihm zwar erlaubt sei, menschliche Gestalt anzunehmen, dieser aber der Rücken fehle.7

Eine bildliche Umsetzung der Krebsgang-Metapher ist die allegorische Figur des Krebsreiters. Sie zeigt einen Menschen, der auf einem überdimensionalen Krebs einem bestimmten Ziel entgegenzureiten scheint, während er sich von diesem doch in Wirklichkeit entfernt. Die kunstgeschichtlich wohl bedeutsamste Krebsreiter-Darstellung findet sich in Sebastian Brants (1458–1521) zeitkritischer Moralsatire Das Narrenschiff aus dem Jahr 1494.8 Texte und begleitende Holzschnitte zeigen das menschliche Streben als einen eitlen Narrenzug gegen Vernunft und göttliche Ordnung. Viele der Holzschnitte hat vermutlich der junge Albrecht Dürer (1471–1528) in seinen Wanderjahren geschaffen, darunter den als Krebsreiter mit Narrenkappe dargestellten Menschen, der ohne eigenes Verdienst damit rechnet, belohnt zu werden (Abb. 3): »Wer on verdienst will han den Lohn / und uff eym schwachen ror will ston / des anschlag wurt uff krebsen gon.« In vielen Emblem-Büchern, einer beliebten literarischen Gattungsform der frühen Neuzeit9, sind auch Krebse dargestellt, die nicht einen einzelnen verblendeten Menschen, sondern die ganze Erdkugel auf ihrem Rücken tragen – und dies unter dem Motto: So ist heute der Lauf der Welt (Abb. 4). Es handelt sich um eine merkwürdige Verkehrung jener üblichen Klage der Altvorderen, nach der früher doch eigentlich alles besser gewesen sei.

Das Motiv des Krebsreiters diente immer wieder auch dazu, die Verfehlungen der Mächtigen anzuprangern. Ein Flugblatt aus der Mitte des 16. Jahrhunderts stellt Kaiser Karl V. (1500–1558) als hilfloses Kind in stürmischer See auf einem Krebs dar; während er unter seinem Wahlspruch Plus ultra (Immer weiter) für Spanien Anspruch auf die Weltherrschaft erhebt, versinkt das ihm anvertraute Heilige Römische Reich im Chaos.10 Ein in der Zeit der deutschen Befreiungskriege um 1813 bei Karikaturisten beliebtes Motiv zeigt Napoleon als Krebsreiter mit Moskau im Blick, aber schon auf erzwungenem Rückzug nach Paris.11 Und auf einer italienischen Propaganda-Postkarte aus dem Weltkriegsjahr 1915 reitet der greise Franz Joseph (1830–1916), Kaiser von Österreich und König von Ungarn, auf einem Krebs gegen den Kriegsgegner Italien (Abb. 5).

Aus heutiger Sicht ausgesprochen beklemmend, weil sie die weitere historische Entwicklung so völlig falsch einschätzte, ist eine Karikatur Adolf Hitlers als Krebsreiter, die am 28. April 1931 im Vorwärts, dem Parteiorgan der SPD, erschien (Abb. 6). Bei der Wahl des Deutschen Reichstags am 14. September 1930 wurde die NSDAP im Schatten der Weltwirtschaftskrise unerwartet zweitstärkste Fraktion. Nach absurden Auftritten im Parlament schien es, als hätte die Partei auch bei ihren eigenen Wählern jede Glaubwürdigkeit verspielt und ihren Zenit überschritten. Der Vorwärts bringt diese Haltung in der Karikatur Hitlers Vormarsch zum Ausdruck. Sie zeigt Hitler, der auf einem riesigen Krebs, eine Reitpeitsche schwingend, dem Ziel »Diktatur« entgegenreitet, sich aber (an einer Wasserspur erkennbar) längst wieder auf dem Rückzug befindet. Die Karikatur trägt den ironischen Untertitel »Wie seit dem 14. September 1930 die Nationalsozialistische Partei ihrem Ziel ständig näher kommt!«. Diese Einschätzung sollte sich bekanntlich bitter rächen, denn nicht einmal zwei Jahre später hatte Hitler sein Ziel erreicht; der Krebs war nicht rückwärts-, sondern mit Riesenschritten vorwärtsmarschiert. Am 28. Februar 1933, dem Tag nach dem Reichstagsbrand, der Hitler den Vorwand lieferte, die Grundrechte im Deutschen Reich außer Kraft zu setzen, wurde auch der Vorwärts verboten.

Die Vorstellung von sich natürlicherweise rückwärtsbewegenden Krebsen gab auch Anlass zu einer figürlichen Verwendung des Begriffs in anderen Zusammenhängen. Als Krebse galten früher die fehlerhaften und unverkauften Bücher und Zeitschriften, die vom Handel an die Verlage zurückgingen. »Büchlein, glänzend im roten Gewand wie gesottene Krebse, kauft euch jeder wie ich, geht ihr wie Krebse retour«, heißt es in den Liedern und Sprüchen Friedrich Rückerts (1788–1866).12 In der Musik bezeichnet der Begriff ein rückwärts gespieltes (vertikal gespiegeltes) Thema. Eine zusätzliche horizontale Spiegelung (Vertauschung von auf- und absteigender Tonfolge) führt zum Spiegelkrebs. Man findet diese Bearbeitung musikalischen Materials insbesondere in der kontrapunktischen Kunst der Barockzeit. Das Musikalische Opfer, in dem Johann Sebastian Bach ein ihm vom Preußenkönig Friedrich II. gegebenes Thema bearbeitet und variiert hat, enthält einen Canon cancrizans, in dem das Thema und sein Krebs sogar gleichzeitig erklingen. Eine solche kunstvolle Verzahnung eines vorwärts- und rückwärtsgelesenen Themas mit sich selbst hat der niederländische Grafiker und Künstler M. C. Escher (1892–1972) unter dem Titel Krebskanon auch bildlich kongenial umgesetzt (Abb. 7). Mit der Zwölftonmusik des 20. Jahrhunderts gewann der Krebs erneut an Bedeutung; in der Lehre ihres Schöpfers Arnold Schönberg (1874–1951) repräsentieren Krebs und Spiegelkrebs zwei der vier möglichen Erscheinungsformen (Modi) einer Zwölftonreihe.

Worauf beruht die Vorstellung, »der Krebs« gehe rückwärts? Und wie lassen sich überhaupt vorwärts und rückwärts definieren, ohne einem Zirkelschluss zu erliegen? Im Dialog Timaios entwickelte Platon (427–347 v. Chr.) eine spekulative Kosmologie, nach der der göttliche Weltbaumeister den Kosmos in Gestalt einer Kugel, des nach pythagoreischer Lehre vollkommensten aller geometrischen Körper, geschaffen hat. Als Abbild des Kosmos erhielten auch alle beseelten Geschöpfe eine kugelförmige Gestalt. Allerdings musste der Schöpfer zur Kenntnis nehmen, dass solch reinen Kopfwesen die Tauglichkeit für das Leben in einer materiellen Welt fehlte, denn wie sollte ein solcher Körper Einfluss auf seine Lage nehmen? Damit er »nicht auf der Erde mit ihren mancherlei Erhöhungen und Vertiefungen herum rollen müsse und in Schwierigkeiten gerate, wie er diese übersteigen und aus jenen wieder herauskommen könne«, musste er sich strecken und Bewegungsorgane erhalten.13

Später sollte sich auch in anderen Zusammenhängen zeigen, dass in der Realität wenig Platz für metaphysische Vorstellungen von geometrischen Idealen ist. Überall herrscht »schmutzige« Unvollkommenheit: Die rotierende Erde ist keine exakte Kugel, sondern an den Polen abgeplattet; die Sonne hat »Flecken«; und die Planeten folgen nicht kreisförmigen, sondern elliptisch »deformierten« Bahnen – und das auch noch mit sich ständig ändernder Geschwindigkeit.

Nicht jeder konnte sich damit abfinden, dass ausgerechnet der Mensch die ideale Gestalt aufgeben sollte, um lebenstauglich zu werden. Für den Schöpfer der Anthroposophie, Rudolf Steiner (1861–1925), war die menschliche Gestalt »eigentlich« eine Kugel, wenn auch in ihren unteren Teilen »gewissen Modifikationen unterworfen«14. Andere hofften auf eine ideale Gestalt zumindest im jenseitigen Leben. Das Beharren der christlichen Religion auf einer nicht nur rein ätherischen, sondern leiblichen Auferstehung der Toten provozierte schon früh die Frage, in welcher Gestalt dies geschehe. Nach dem Kirchenvater Origines (185–254 n. Chr.) mochte Menschen im diesseitigen Leben eine Existenz in Kugelgestalt aus praktischen Gründen versagt bleiben, in der vollkommenen Welt des Jenseits sollten unsere Körper aber von allen Einschränkungen befreit sein. Die Leiber der Auserwählten könnten daher in Kugelgestalt auferstehen und so durch die Himmelspforte in die ewige Seligkeit einrollen.15 Diese Idee scheint lange über Origines’ Tod hinaus ihre Anhänger gehabt zu haben, sodass sie im 6. Jahrhundert zum Thema kirchlicher Synoden und Konzile wurde. Durch ein Edikt des Kaisers Justinian auf der Synode des Jahres 543 wurden die Lehren des Origines als Ketzerei verdammt, was auf dem Konzil von Konstantinopel im Jahr 553 noch einmal bekräftigt wurde: »Wenn jemand sagt oder meint, dass in der Auferstehung die Leiber der Menschen kugelförmig auferstehen, und nicht bekennt, dass wir in aufrechter Gestalt auferstehen, so sei er Anathema.«16

In der Tat könnte das Leben auf der Erde mit annähernd kugelförmigen Gestalten begonnen haben, so wie dies näherungsweise auch für das aus einer befruchteten Eizelle hervorgehende individuelle Leben gilt. Formen, die einer Kugelgestalt sehr nahe kommen, gibt es auch unter den heute lebenden Organismen. All diese Lebewesen aber waren oder sind mikroskopisch kleine, passive Schweber in einem ausgedehnten und weitgehend homogenen Wasserkörper. Vor etwa 550 Millionen Jahren vollzog sich jedoch einer der folgenreichsten Evolutionsschritte auf der Erde: Die ersten vielzelligen Tiere, die zu einer gerichteten Bewegung fähig waren, betraten die Bühne des Lebens. Partner sowie Nahrung und andere Ressourcen konnten nun aktiv aufgesucht, Feinde und ungünstige Lebensbedingungen gemieden werden. Eine solche aktive Fortbewegung war nahezu zwangsweise mit der Ausbildung eines zweiseitig-symmetrischen Körpers verbunden, an dem vorne und hinten, oben und unten sowie rechts und links unterschieden werden konnten. Der Teil des Körpers, der bei der Fortbewegung vorangeht, muss Reize schnell erfassen, integrieren und in Handlungen umsetzen können. Gemäß dem Sparsamkeitsprinzip der Natur wurde nur eine der Körperseiten entsprechend ausgestaltet und dadurch definitiv als Vorderpol festgelegt. An ihm befinden sich typischerweise der Mund, die Organe für Nahrungserwerb und -aufnahme sowie oftmals Waffen zur Verteidigung. Hier wurden die Fernsinnesorgane (Augen, Geruchsorgane) konzentriert und die wichtigsten Strukturen der Informationsverarbeitung zu einem Zentralorgan (Gehirn) zusammengefasst. Die Gesamtheit dieser Konzentrationsprozesse wird als Kopfbildung (Cephalisation) bezeichnet. Sobald diese einmal vollzogen war, gab es eine natürliche Bewegungsrichtung – nämlich vorwärts, und das bedeutete: mit dem Kopf voran.

Für manche Lebensformen, etwa für Tiere, die als Minierer in engen Fraßgängen leben, hätte es durchaus Vorteile, wenn beide Körperenden Kopfstrukturen aufwiesen. Dies entspräche jenen Eisenbahnzügen, die einen Sackbahnhof ohne Umstellungen wieder verlassen können. In Hugh Loftings Kinderbuch-Klassiker Doktor Dolittle und seine Tiere (1920) begegnet uns ein Stoßmich-Ziehdich, das an beiden Enden des Körpers einen Kopf trägt. An beiden Enden des Körpers mit einem Kopf ausgestattet war auch die Amphisbaena der griechischen Mythologie, die noch in den mittelalterlichen Bestiarien zum Stammpersonal gehörte. Ein afrikanisches Fabelwesen, von dem der französische Arzt Ambroise Paré (1510–1590) berichtete, war sogar für eine Fortbewegung in vier Richtungen ausgestattet – mit einem Auge, einem Ohr und sechs Beinen an jeder der vier Körperseiten (Abb. 8). Die Evolution, die kaum eine Möglichkeit ausgelassen hat, die unterschiedlichsten Baupläne zu erproben, hat auf die Realisation solcher Modelle aus sicher guten Gründen verzichtet. Dies gilt auch für einen Konstruktionstyp, den der Baron von Münchhausen auf seinen Abenteuerreisen bei einigen Meeresfischen beobachtet haben wollte: Deren Kopf befand sich in der Mitte des Körpers.

Die Vorstellung eines sich entgegen seiner Konstruktion natürlicherweise rückwärts fortbewegenden Tiers ist ebenso absurd wie die eines Kraftfahrzeugs, das nur im Rückwärtsgang gefahren wird, oder eines Pfeils, der mit nach hinten gerichteter Spitze abgeschossen wird. »Kein Lebewesen vollzieht seine normale Bewegung nach hinten«, schrieb schon Aristoteles in seinem Buch über die Bewegungen der Tiere.17 Dies schließt nicht aus, dass sich Tiere in bestimmten Situationen auch rückwärtsbewegen: Viele wie zum Beispiel Rinder können dies, viele andere wie etwa die Raupen der meisten Schmetterlinge aber nicht. Schon in der Antike als unglaubhaft galt allerdings die auf Herodot (5. Jahrhundert v. Chr.) zurückgehende und von Alexander von Myndos (1. Jahrhundert n. Chr.) wiederholte Behauptung, in Nordafrika gäbe es Rinder, die man »Rückwärtsgraser« nenne. Weil ihre Hörner entgegen der üblichen Weise gebogen wären, könnten die Tiere nur im Rückwärtsgehen weiden.18

Aus der offenkundigen Absurdität von Bewegungen gegen die von uns intuitiv als natürlich erfasste Richtung beziehen manch scherzhafte Ausgeburten der menschlichen Fantasie ihre Komik. Regelrechte Brutstätten skurriler Wesen waren die Holzfäller-Lager zur Pionierzeit im amerikanischen Westen. Der argentinische Autor Jorge Luis Borges (1899–1986) hat diese Gestalten als »Fauna der Vereinigten Staaten« in sein Buch der imaginären Wesen19 aufgenommen: Der Goofang ist ein Fisch, der nur rückwärtsschwimmt, damit ihm kein Wasser in die Augen dringt. Ausschließlich rückwärts fliegt auch der Goofus-Vogel, weil er sich nur für die Vergangenheit interessiert (dafür, woher er kommt) und nicht für die Zukunft (dafür, wohin er fliegt). Der wüstenbewohnende Philly Lou Bird hat durch einen kurzen Auftritt in der surrealen Filmkomödie Never Give a Sucker an Even Break (1941) Berühmtheit erlangt. Die Hauptfigur, gespielt von dem US-amerikanischen Komiker W. C. Fields, wird darin von ihrer Nichte gefragt: »What kind of bird is that, Uncle Bill?« »It’s a Philly Lou Bird, dear. Flies backwards.« »Flies backwards?« »Yes. It lives in the desert. Flies backwards to keep the sand out of its eyes.«

Und wie steht es um die Bewegungsrichtung des Menschen? Wenn eine Filmsequenz Menschen zeigt, die rückwärtsgehen, weiß der Betrachter, dass der Film verkehrt herum läuft. Ohne dazu gezwungen zu sein, werden Menschen kaum jemals rückwärtslaufen, es sei denn, sie machen einen Sport daraus. Seit 2006 werden alle zwei Jahre Weltmeisterschaften im RetroRunning veranstaltet. Wegen unseres aufrechten Gangs wäre die richtige Bezeichnung eigentlich nicht vorwärts bzw. rückwärts, sondern mit der Bauch- bzw. der Rückenseite voran. Unter den höchst wundersamen menschlichen Wesen, denen Reisende in der Antike und im Mittelalter in fernen Ländern begegnet sein wollten, gab es auch einen Menschen-Typ mit verkehrt herum orientierten Füßen.20 Wie gewöhnliche Menschen sollen sich diese »Antipoden« vorwärts (also mit der Bauchseite voran) bewegt haben. Wer aber ohne Kenntnis ihrer Eigentümlichkeit in der üblichen Weise ihren Fußspuren folgte, musste dorthin gelangen, woher sie gekommen, und nicht dorthin, wohin sie gegangen waren.

Wie konnte sich trotz der offenkundigen Absurdität die Vorstellung festsetzen, dass Krebse rückwärtsgehen? In einer Natursage, die in ganz Mittel- und Osteuropa über Jahrhunderte hin verbreitet war, wurde das Problem gleichsam wegdefiniert. Danach hat der Schöpfer dem Krebs zur Strafe für Aufsässigkeit die Augen an das Hinterende gesetzt.21 Damit wäre der scheinbare Rückwärtsgang in Wirklichkeit eine Vorwärtsbewegung. Wir werden diese Lösung des Problems als wenig befriedigend empfinden. Glaubwürdigkeit war niemals oberstes Ziel volkstümlicher Erklärungen, für die eine gut erfundene Geschichte immer mehr galt als eine wahre.

Auf den entscheidenden Punkt zum Thema Krebsgang hat schon Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr. hingewiesen. Speziell zu Flusskrebs und Hummer heißt es bei ihm: »Ihre Natur ist es, vorwärtszuschreiten, wenn sie sich nicht bedroht fühlen. Wenn aber in Furcht versetzt, fliehen sie im Rückwärtsgang.«22 Wer Flusskrebse oder Hummer in einer für die Tiere nichtbedrohlichen Situation beobachtet, wird feststellen, dass sie sich selbstverständlich ihrer ganzen Konstruktion entsprechend vorwärtsbewegen. Ihr Gang ist aber ausgesprochen schwerfällig. Der lange, massige Hinterkörper – zoologisch: Pleon, die umgangssprachliche Bezeichnung »Krebsschwanz« ist anatomisch inkorrekt, weil der Hinterkörper in seiner ganzen Länge vom Darm durchzogen wird – wird anders als der Vorderkörper – zoologisch: Cephalothorax, ein Verschmelzungsprodukt aus dem eigentlichen Kopf und dem Brustabschnitt – nicht von Extremitäten gestützt und muss daher mühsam nachgezogen werden (Abb. 9 links). In einem Sprichwort wird etwas Unmögliches mit den Worten ausgedrückt: »Der Krebs will einen Hasen erlaufen.«23 Wenn Menschen einem Flusskrebs oder Hummer gegenübertreten, muss dies auf den Krebs bedrohlich wirken. Unfähig, sich der Gefahr durch rasches Davonlaufen zu entziehen, richtet das Tier seine Scheren zur Abschreckung und Verteidigung gegen den Urheber der vermeintlichen Bedrohung und entfernt sich in dieser Haltung langsam rückwärtsschreitend aus dem Gefahrenbereich. Der Rückwärtsgang der Krebse ist also – wenn sie sich nicht gerade in enge Verstecke zurückziehen, in denen sie nicht wenden können – schlicht der sichernde Rückzug des Unterlegenen aus einer für ihn bedrohlichen Situation. Für den Fall sehr massiver oder sehr plötzlicher Bedrohung verfügen die Tiere zusätzlich über einen besonderen Fluchtreflex, den »Schwanzschlag«: Dabei wird das mächtige, mit kräftiger Muskulatur nahezu vollständig ausgefüllte Pleon ruckartig und kraftvoll nach unten und vorne ausgeschlagen, wodurch sich das Tier nach dem Rückstoßprinzip ein Stück weit rückwärts aus der Gefahrenzone herauskatapultiert. Die ausgestreckten Scheren dienen dabei als Steuer.

Die Krebsgang-Metapher hat ihren Ursprung also darin, dass Menschen Flusskrebse und Hummer fast immer nur in einer für die Tiere bedrohlichen Situation erlebt und die dabei gemachte Beobachtung zur Aussage »Krebse gehen rückwärts« verallgemeinert haben. Angesichts des scheinbar grenzenlosen Erfindungsreichtums der Evolution wäre es aber erstaunlich, wenn sich nicht auch innerhalb der großen Gruppe der Krebse Abweichungen von der typischen Vorwärtsbewegung fänden. Andere Tiere machen es vor: Elegante Rückwärtsschwimmer nach dem Rückstoßprinzip sind zum Beispiel die Kalmare, die in den Weiten der Meere nicht befürchten müssen, auf Hindernisse zu stoßen. Und der im alten Ägypten als Gottheit verehrte Pillendreher (Scarabaeus sacer)