KLEINER DRACHE - Norbert Stöbe - E-Book

KLEINER DRACHE E-Book

Norbert Stöbe

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Beschreibung

China schottet sich hinter der Großen Mauer nach außen hin gegen Klimaflüchtlinge und Arbeitsmigranten, nach innen gegen ausreisewillige Staatsbürger ab. Die achtundzwanzigjährige Wei Xialong, ausersehen, eines Tages die Leitung des Roboterkonzerns Jiqiren zu übernehmen, wähnt sich auf der Seite der Privilegierten. Doch dann nimmt eine Doppelgängerin ihren Platz im Konzern ein und trachtet ihr nach dem Leben. Sie begreift, dass sie und die Unbekannte illegale Klons ihrer beider Mutter sind. In Begleitung des Sexbots Litse flieht Xialong zur Grenze und wird nach dem Grenzübertritt als Arbeitssklavin nach Bangladesch verkauft. Sie flüchtet erneut in den Space Market des nahen Raumhafens, wo alles zu haben ist, was für Geld zu kaufen ist: illegale Augmente, Designerdrogen aus den Mondkolonien und Sex. Xialong schwingt sich zur Anführerin eines Aufstands auf. Doch sie hat noch einen anderen Plan: Rache zu nehmen und um ihren Platz im Konzern zu kämpfen. Vor dem Hintergrund eines isolationistischen Chinas der Zukunft erzählt "KLEINER DRACHE" von einer außergewöhnlichen Freundschaft und der Konkurrenz unter Klonschwestern.

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Norbert Stöbe

Kleiner Drache

AndroSF 121

Norbert Stöbe

Kleiner Drache

AndroSF 121

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: November 2020

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Andreas Schwietzke

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 220 1

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 876 0

Einst träumte Zhuang Zhou, er sei ein Schmetterling, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Zhuang Zhou. Plötzlich wachte er auf: Da war er wieder wirklich und wahrhaftig Zhuang Zhou. Nun weiß ich nicht, ob Zhuang Zhou geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Zhuang Zhou sei, obwohl doch zwischen Zhuang Zhou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.

Zhuang Zi

Erstes Buch

Prolog

Sechzehn Jahre zuvor

Wie alle fünf Jahre leuchtete der Platz des Himmlischen Friedens blutrot. Zweitausenddreihundertzwanzig Fahnenmasten ragten in den wolkenlos blauen Himmel über Beijing, für jeden Delegierten einer. Niemand, der auf dem Weg zur Großen Halle des Volkes den Fahnenwald durchschritt, konnte sich der Wirkung des heroischen Knatterns und Flatterns entziehen. Gerüchten zufolge hatte man am Vorabend der Parteitagseröffnung in den Nebenstraßen gewaltige Maschinen aufgestellt, die im Falle einer Windflaute für Luftzug sorgen sollten. Wenn das stimmte, so hatte sich die Vorsichtsmaßnahme der Partei als überflüssig erwiesen, denn es wehte ein kräftiger, aber nicht zu kräftiger Wind. Das windbewegte rote Wogen beschwor die gewaltige Größe des Landes und seine ruhmreiche Geschichte herauf, und wer es durchmessen hatte und vor der breiten Eingangstreppe stand, fühlte sich erhoben und gestärkt für den Eintritt in die Große Halle. Während die Angehörigen des Politbüros und die Generäle über die Tiefgarage in das Gebäude geschleust und die Gebrechlichen an einem treppenlosen Nebeneingang in Empfang genommen wurden, stiegen die gesunden Delegierten jeder für sich, niemals in Gruppen, würdevoll und ein wenig beklommen die Treppe hinauf und nahmen nach Passieren der Sicherheitsschleuse am Eingang von einer der lächelnden Hostessen ihre Ausweiskarte, das Namensschild und das Huawei-Tablet in Empfang, auf dem die Tagesordnung und die zahlreichen Anträge und Änderungsvorschläge mitsamt des empfohlenen Abstimmungsverhaltens vorgespeichert waren. Erst im Vorsaal, wo an langen, mit bunten Blumengestecken geschmückten Tischen grüner Tee, Frühlingsrollen und Hühnersalat ausgeteilt wurden, fanden sich die ersten Grüppchen, und ihr aufgeregtes Geplauder mischte sich mit dem Gesang des Revolutionschors aus den Lautsprechern.

Wie alle, die zum ersten Mal die Ehre hatten, am Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas teilzunehmen, war auch Tsu Dongfeng vor lauter Ergriffenheit ganz warm ums Herz. Staunend musterte er die vielen fremden Gesichter und nippte ehrfürchtig am Tee, als habe er noch nie im Leben eine solche Köstlichkeit geschmeckt. Er war Landwirtschaftstechniker bei der Kooperative Pflug und Traktor und hatte seine Heimatstadt in der Provinz Shaanxi noch nie zuvor verlassen. Dass man ihn zum Delegierten bestimmt hatte, war eine unverdiente Ehre, die über ihn gekommen war wie ein Geschenk des Himmels. Bei seinen Kollegen stand er im Ruf, mehr als nur ein wenig wunderlich zu sein.

Dies verdankte er seinem Einfühlungsvermögen bei Kühen. Unter Menschen fühlte er sich fremd, doch bei den Tieren im Stall fühlte er sich aufgehoben. Er war überzeugt, dass sie alle eine Sprache hatten, doch verstehen konnte er nur die Sprache der Kühe. Mit den Jahren hatte er gelernt, dass ihr Muhen all die Gefühle ausdrücken konnte, die auch er bei sich empfand: Ungeduld, Angst, Zufriedenheit und bisweilen auch Glück. Er imitierte gern ihre Laute und unterhielt sich mit ihnen. Seine Arbeitskollegen lachten ihn dafür aus.

Doch sein Verständnis für das sanftmütige Wesen der Kühe blieb nicht ohne praktische Konsequenz. Es war ihm ein Anliegen, ihr Los zu verbessern, und das gelang ihm mit kleinsten Mitteln; er gab ihnen Namen, befestigte bunte Fahnen an der Wand, stellte ein Radio auf, das Musik spielte, und besorgte weichere Saugaufsätze für die Melkmaschine. Die Kühe dankten es ihm damit, dass sie mehr Milch gaben, seltener erkrankten und weniger Medikamente benötigten. Das blieb bei seinen Vorgesetzten nicht unbemerkt.

Während die Sticheleien seiner neidischen Kollegen immer spitzer und schmerzhafter ausfielen, suchten andere bei ihm Rat und gewährten ihm Unterstützung. So kam es, dass Pflug und Traktor als erste landwirtschaftliche Kooperative in ganz China den Laufstall einführte. Aus Lautsprechern in den Ecken in angenehmer Lautstärke beschallt, wanderten die Kühe zwischen Tränke und Futterstelle hin und her, suchten sich zum Wiederkäuen und Schlafen ein Lagerpodest aus und begaben sich selbstständig zur Melkmaschine, wenn der Euter sie drückte. Auch den traurigen Weg zum Transporter hatte Tsu Dongfeng verändert, nachdem er ihn viele Male zusammen mit den ausgemusterten Tieren abgeschritten hatte, sodass sie nun ohne Angst und beinahe von selbst in den Wagen gingen, der sie zum Schlachthof brachte.

Immer öfter schauten Besucher aus anderen Betrieben bei Pflug und Traktor vorbei, und alle wollten sie mit Dongfeng sprechen, was ihm gar nicht recht war. Dennoch beantwortete er mit stockender Stimme ihre Fragen, so gut er es vermochte, und als der Parteisekretär mit seiner großen schwarzen Limousine vorfuhr und von der großen Ehre sprach, die es bedeute, dem Vaterland zu dienen, nickte er bereitwillig, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Als das Lokalfernsehen den Parteitagsdelegierten von der Landwirtschaftskooperative interviewen kam und wissen wollte, wie er es zum Delegierten geschafft habe, lautete seine Antwort: »Ich wollte doch nur den Tieren helfen!«

Es dauerte zwei Stunden, bis alle Delegierten im großen Saal Platz genommen hatten. Sie legten ihre Tablets vor sich hin und packten aus ihren dicken Aktentaschen, Modell »Großer Elefant«, Aktenordner, Proviantdosen und Thermoskannen aus. Dies alles stapelten sie vor sich auf dem Ablagebord zu einem Sichtschutz, die »Kleine Mauer«, die ihnen während der einwöchigen Sitzungsperiode das eine oder andere verstohlene Nickerchen erlauben würde. Als alles gerichtet war, nahmen die Angehörigen des Politbüros unter tosendem Applaus ihre Plätze auf dem Podium ein. Präsident Xi Wenteng begrüßte die Delegierten, dann folgte der dreieinhalbstündige Rechenschaftsbericht, worauf die Sitzung vertagt wurde.

Der Parteitag nahm seinen Lauf, exakt im Zeitplan wurde die lange Liste der Tagesordnungspunkte abgehakt, und je länger der Sitzungsmarathon währte, desto kleiner wurden die Delegierten hinter ihrer kunstvoll errichteten Kleinen Mauer. Sie sanken in sich zusammen, betteten den Kopf auf die verschränkten Arme und dösten mit offenen und immer öfter auch mit geschlossenen Augen. Doch immer dann, wenn eine Abstimmung anstand, waren sie mit einem Schlag hellwach, orientierten sich blitzschnell im Raum, warfen einen Blick auf das Tablet, wo die gewünschte Abstimmungshaltung – ja oder nein – blinkte, und betätigten den roten oder den weißen Abstimmungsknopf, je nachdem, ein choreografiertes Ballett der Arme und Hände, das nonstop in alle Landesteile übertragen wurde. Es war, als hätten sie den Zeitplan des Parteitags verinnerlicht und als tickte ihre Körperuhr im Einklang mit Partei und Politbüro.

So war es auch am vorletzten Tag des Parteikongresses. Die Abstimmungsmaschine lief wie geplant, und die Delegierten, ermüdet von den Reden und der Monotonie der Tage, begannen sich nach ihrem Zuhause zu sehnen, nach ihrer Familie und ihren Freunden, die sie mit fantasievoll ausgeschmückten Berichten aus dem Zentrum der Macht in Erstaunen zu versetzen gedachten. Aufgerufen wurde Gesetzesvorlage dreihundertsiebzehn, eingebracht vom Kreisverband von Hulun Buir, einer Stadt weit im Norden, deren Bewohner als konservativ und eigensinnig galten. Nach hitzigen Diskussionen und ausgiebigem Studium der Schriften des Großen Vorsitzenden waren sie zu dem Schluss gelangt, dass ihr geliebtes großes China noch größer werden müsse. Um dieses Ziel zu erreichen, solle es sich auf seine eigenen Kräfte besinnen, zersetzende westliche Einflüsse abwehren und sich vor den Flüchtlingshorden schützen, die das Land zu überschwemmen drohten – kurzum, sie forderten eine neue Große Mauer. Aus Rücksicht auf die bekannte Befindlichkeit der Nordlichter und in der Absicht, Toleranz und Offenheit der Partei für Vorschläge aus dem Volk zu demonstrieren, passierte der abstruse Vorschlag alle Gremien, die mit der Vorauswahl der Anträge befasst waren, und landete schließlich auf den Tablets der Delegierten des Parteikongresses. Die Abstimmungsempfehlung – Nein! – war eindeutig, doch als es so weit war, setzte sich eine erschöpfte Motte auf die Wange des Vorsitzenden.

Auch der Vorsitzende war von dem Reden- und Abstimmungsmarathon ermattet. In Gedanken versunken, hob er in dem Moment die Hand und streifte die Motte weg, als Tsu Dongfengs Finger zum weißen Abstimmungsknopf wanderte, der für Ablehnung stand. Er hielt inne. Der Präsident hatte mit Ja gestimmt. Nacheinander hoben die Mitglieder des Politbüros die Hand. Dongfengs Zeigefinger wanderte nach links, zum Ja-Knopf – und mit ihm die Zeigefinger von zweitausendzweihunderteinundneunzig anderen Delegierten, was eine Zustimmungsquote von nahezu neunundneunzig Prozent ergab.

Beifall brandete auf. Offenbar traf der Gesetzesvorschlag eine patriotische Ader. Eine Stunde nach der Abstimmung formierten sich die ersten spontanen Demonstrationszüge. Die rote Fahne der Volksrepublik wurde geschwenkt. Es war ein historischer Moment. Und Tsu Dongfeng, der Kuhflüsterer, war dabei gewesen.

Teil 1

1

Der Schatten des Gingkobaums war unvergleichlich: dicht und kühl in der Nähe des Stamms, lichtdurchbrochen und flirrend wie das vielgestaltige Leben am Rand. Onkel Wus Lieblingsbank hatte frühmorgens und abends die perfekte Lage. Dann war es auf der Bank weder zu heiß noch zu kühl. An diesem Morgen hatte er seine Zikade dabei, eine ausdauernde Sängerin, deren Lied ihm das schwere Herz leichter machte. Den Holzkasten mit den dünnen Gitterstäben hatte er an einen Ast gehängt. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem unermüdlichen Zirpen, das von anderen Zikaden im Park erwidert wurde. Er neigte den Kopf, das weiße Haar fiel ihm auf die Schulter, ein zartes Gespinst, nicht mehr. Die altersfleckige Haut spannte sich über den Gesichtsknochen. Er lächelte und lauschte. Die anderen Zikaden gehörten anderen alten Männern, auch ein paar Frauen waren darunter. Schon kurz nach Sonnenaufgang trafen die Ersten ein und vollführten auf dem Rasen mit dem Brunnen in der Mitte ihre Tai-Chi-Formen, bevor sie sich niederließen, um zu tratschen, zu spielen, zu warten. Einige ließen kleine bunte Drohnen steigen und klinkten, wenn sie den höchsten Punkt erreicht hatten, einen Wunschzettel aus, den der Wind davonwehte. Alles wurde in diesem Park ein wenig leichter; das Alter, die Trauer, die Einsamkeit der Entwurzelten.

Hinter Onkel Wu, dem Eisenzaun des Parks und der angrenzenden Straße ragten die elf fünfundzwanzigstöckigen Türme der Wohnanlage Glückliche Familie auf. In einem dieser Türme, die an der einen Seite an eine umzäunte Reichensiedlung grenzten, waren die Bewohner eines der letzten Hutongs untergebracht, das der Entfesselung des Drachen zum Opfer gefallen war, zusammen mit Umgesiedelten aus anderen Vierteln, die anderen Neubauprojekten hatten weichen müssen. Nach den verheerenden Kettenexplosionen der Dunklen Zwei Jahre waren große Geldmittel bewilligt worden, die es der Stadtverwaltung von Beijing erlaubten, nicht nur die Schäden zu beheben, die der Terrorismus angerichtet hatte, sondern es ihr ermöglichten, eigene, ganz neue Verwüstungen anzurichten.

Die Bewohner der Glücklichen Familie waren überwiegend alt, denn die Jungen zogen dorthin, wo es Arbeit für sie gab oder wo sie welche vermuteten. Diejenigen, die geblieben waren, hatten sich in Geister verwandelt, mit einem Bein in der Vergangenheit, mit dem anderen in der fadenscheinigen Gegenwart verhaftet.

Heute war Dschungelwoche, das hieß, die Fassaden der Wohnblocks waren von dichter grüner Tropenvegetation überzogen. In dem Pflanzengewirr waren Frösche, Affen und Faultiere versteckt. Karawanen von Blattschneideameisen wanderten umher. Die Blüten der exotischen Pflanzen hatte alle die Form von Future-Cola-Flaschen. Sie schwankten sachte und lockten, als wären sie Früchte, die man nur zu pflücken brauchte. Doch sie waren meterlang, und Onkel Wu fand, dass die schiere Größe ihnen etwas Bedrohliches verlieh. Allerdings konnte er der Fassadenillustration eine gewisse wohltuende Wirkung nicht absprechen. Der Fantasiedschungel der Colaflaschen linderte sein Fernweh, so als färbten die Wandbilder auf die Vorstellung ab, die er selbst sich von den Tropen machte, und ließe sie weniger verlockend erscheinen. Nein, der Dschungel war nichts für ihn – dieser nicht, und der echte auch nicht, falls es ihn überhaupt noch gab.

Ein helles Klingeln ließ ihn den Kopf heben und sich zur Straße wenden. Durch die Sträucher sah er nur einen hellen Schemen, doch er erkannte sie trotzdem – Wei Xialong auf dem Weg zur Arbeit. Sie fuhr eines dieser surrenden elektrischen Zweiräder, welche die Fahrräder abgelöst hatten. Bei diesen Gefährten waren die Räder seltsamerweise nebeneinander angeordnet. Xialong hatte sich auf dem Sitz kerzengerade aufgerichtet und winkte ihm zu, die andere Hand am Lenker. Er winkte zurück, und dann war sie auch schon vorbei.

Als er sich umdrehte, begegnete er dem Blick von Tschoulao, einem der elf Nachbarschaftswächter. Tschoulao musterte ihn forschend, langsam mit den Kiefern mahlend. Onkel Wu nickte ihm freundlich zu, dann schloss er die Augen und lauschte wieder dem Gesang seiner Zikade.

»Guten Morgen, Wei Xialong! Guten Morgen!« Der Chor der Angestellten war wunderbar synchron heute, keiner hatte Zhang Sammos Einsatz verpasst. Sie verneigten sich tief und warteten, bis Xialong sie passiert hatte, erst dann richteten sie sich mit ernster, gesammelter Miene wieder auf. Zhang Sammo, der stellvertretende Leiter des Beijing-Premiumstores Himmlische Geschöpfe, trat Xialong einen halben Schritt entgegen und schüttelte ihr lächelnd die Hand. Er trug keine Uniform, sondern einen etwas zu knapp sitzenden dunklen Anzug mit Namensschild und eine dezente, durchsichtige AR-Brille. Sein runder Schädel glänzte, seine dunkelbraunen Augen waren blank wie polierte Steine. Wieder einmal dachte sie daran, ihn zu fragen, weshalb er keine Kopfhaare habe, aber vermutlich hatte sie den passenden Zeitpunkt längst verpasst. Was bei der ersten Begegnung als statthafte Neugier gegolten hätte, wäre jetzt unhöflich und aufdringlich erschienen.

»Ist das neue Modell schon da?«, fragte Xialong.

»Wird gegen zehn angeliefert. Wenn Sie möchten, erkundige ich mich, ob der Liefertermin auch tatsächlich eingehalten wird.« Er hatte eine sonore, männliche Stimme.

»Das ist nicht nötig«, sagte Xialong. »Aber geben Sie mir Bescheid, sobald es da ist.«

Als er sich verneigte, bemerkte sie ein winziges Zögern im Bewegungsablauf. »Ist noch etwas, Zhang?«

»Nein, Xialong. Es ist alles in Ordnung.«

Xialong nickte und ging zum Lift. Er hatte sie bereits identifiziert, die Tür hatte sich einladend geöffnet.

Von ihrem Büro im ersten Stock aus konnte Xialong den Verkaufsraum überblicken. Die Modelle standen auf unterschiedlich großen Podesten, unter den Staubschutzhüllen in gleichförmigen Posen des Wartens erstarrt. In diesem Moment hatten sie etwas Unheimliches an sich und glichen weder Maschinen noch den Menschen, die sie verkörperten, sondern einem Dritten – einer archaischen Art von Gespenst, die hier nicht nur ausgestellt, sondern gleichzeitig gebannt und daran gehindert wurde, anderswo ihr Unwesen zu treiben. Erst als die Angestellten die Plastikhauben entfernten, verflog der verstörende Eindruck. Die Bots erwachten inmitten ihrer Miniaturmilieus nach und nach zum Leben und nahmen die monotonen Tätigkeiten auf, die sie erst dann unterbrechen würden, wenn ein Kunde Interesse an ihnen zeigte und eine erweiterte Demonstration ihres Funktionsspektrums verlangte. Ein Altenbetreuer hob eine leblose Puppe vom Bett in einen Rollstuhl, schob sie einmal im Kreis und legte sie wieder zurück. Eine klassische Gesellschafterin im Wickelgewand arrangierte Kunstblumen zu einem kunstvollen Gesteck. Ein Kind unbestimmten Geschlechts spielte mit Plastikfiguren und schaute immer wieder mit großen, traurigen Augen auf, als erwarte es das Erscheinen seiner geliebten Eltern. Eine Begleiterin, kopfunter an einer Chromstange hängend, vollführte einen zeitlupenhaften Salto, der ihre langen Beine zur Geltung brachte.

Xialong setzte sich hinter den Schreibtisch und rief den Tageskalender auf. Während sich der Monitor aus dem Schlitz in der Tischplatte entrollte, dachte sie flüchtig an Choum, mit dem sie in dieser Nacht das Bett geteilt hatte, nicht zum ersten, sondern schon zum dritten Mal. Er war Ingenieur und arbeitete für eine Softwarefirma in Hongkong. Kennengelernt hatte sie ihn auf der Robotikmesse in Beijing, an einem Stand für extrem geländegängige Kampfroboter. Dass er allein aus kindlichem Interesse die Ausstellung besuchte und den Tötungsmaschinen eine abstrakte, ganz und gar unschuldige Bewunderung entgegenbrachte, hatte sie fasziniert. Er war wichtig genug, um sie nicht zu kompromittieren, und unwichtig genug, um nicht aufzufallen. Sie konnte sogar hoffen, dass ihre Mutter nicht von ihm erfahren würde, denn schon morgen musste er wieder abreisen. Sie mochte sein herzhaftes Lachen und seinen Geruch, der ihr aus irgendeinem Grund raubtierhaft vorkam. Dass er ein großer Junge aus dem Süden war, machte das Ganze nur noch reizvoller. Vielleicht würde sie sich heute mit ihm zu einem späten Abendessen treffen. Vielleicht …

Sie stutzte. Sie hatte sich den Tag für die auf zwei Uhr anberaumte Videokonferenz frei gehalten. Vorher brauchte sie nur noch das neue Modell zu begutachten, falls es denn termingerecht angeliefert wurde. Die übrige Zeit wollte sie fürs Studium der Standort- und Marktanalysen, den Friseur und einen kleinen Imbiss im Büro verwenden. Vielleicht war das alles ein wenig übertrieben, doch sie hatte sich zu lange auf die Übernahme der Verantwortung für die vierzehn Premiumstores vorbereitet, um irgendetwas dem Zufall zu überlassen. Dieser Posten war der nächste und vorletzte Schritt vor der Übernahme der Leitung des Dachkonzerns Jiqiren, der auf Arbeits- und Militärroboter sowie autonome Drohnen spezialisiert war. Wenn alles nach Plan verlief, würde es in zwei Jahren so weit sein. Dafür hatte sie gelernt, studiert, gearbeitet. Ihr ganzes Leben war eine Gleichung gewesen, deren Ergebnis von vorneherein festgestanden hatte. Für Zufälle war da wenig Raum gewesen. Sie hatte ihre Rolle gespielt, weil ihr nichts anderes übrig geblieben war, und die kleinen Lücken im großen Plan zu nutzen gewusst. Umso größer war ihr Erstaunen darüber, dass der Zwei-Uhr-Termin in der Tagesübersicht fehlte.

»Ken?«, sagte sie.

»Womit kann ich dir helfen, Xialong?«, tönte die Stimme ihres körperlosen PA aus den Tischlautsprechern.

»Ich habe heute um zwei einen Termin, aber ich sehe ihn nicht.«

»Ich weiß von keinem Termin um zwei, Xialong.«

»Aber gestern war er noch in der Wochenübersicht aufgeführt!«

»Das kann ich leider nicht bestätigen. Handelt es sich möglicherweise um einen Irrtum?«

Ken konnte so verdammt höflich sein. Mit seiner rhetorischen Frage deutete er an, sie selbst könne sich geirrt haben, aber das war ausgeschlossen. Die ersten Vorbesprechungen hatten schon vor anderthalb Monaten stattgefunden. Seit Wochen bereitete sie sich auf ihre neuen Aufgaben vor, und seit Tagen nahm sie unter der Haut ein elektrisches Vibrieren wahr, das von einer Mischung aus Beklommenheit und freudiger Erwartung herrührte. Der Fehler musste bei Ken liegen. Aber Ken machte keine Fehler.

»Hast du heute oder gestern eine Terminlöschung vorgenommen?«, fragte sie.

»Die Frage kann ich eindeutig mit Nein beantworten.«

Erst gestern hatte sie den Dienstagtermin für die Massage abgesagt, weil sie sich den Abend hatte frei halten wollen. Ken aber hatte das vergessen – falls man in diesem Fall von »vergessen« sprechen konnte. Sie blickte in den Showroom hinunter. Alle Verkaufsmodelle waren ausgepackt und hatten ihre Routinen aufgenommen. Zwei Angestellte nahmen beiderseits des Eingangs Aufstellung, um die ersten Kunden zu begrüßen, und jeden Moment würde Zhang Sammo von seinem Büro aus die Doppeltür entsperren. Dann würde für das Himmlische Geschöpfe ein ganz normaler Arbeitstag beginnen.

»Ken, verbinde mich mit Hosenga in Shenyang.« Hosenga leitete die dortige Filiale, und es war sicherlich kein Zufall, dass sie in diesem Moment ausgerechnet an diesen Langweiler dachte, der das Wort Überraschung vermutlich schon im frühen Kindesalter aus seinem Vokabular gestrichen hatte. Auf einmal hatte sie das Gefühl, die Luft aus der Klimaanlage sei mindestens zwei Grad kühler geworden.

»Hosenga ist derzeit nicht im Büro«, meldete Ken.

»Dann ruf Dadei in Chongqing an.«

»Dadei ist nicht erreichbar«, meldete Ken nach wenigen Sekunden.

»Wer sagt das?«

»Ihre Sekretärin.«

»Ist sie noch in der Leitung?«

»Nein, aber ich kann sie gerne noch einmal anrufen. Soll ich mich erkundigen, wo Dadei sich aufhält?«

»Tu das.«

Während sie wartete, betraten die ersten Besucher den Ausstellungsraum, von den Empfangsdamen mit tiefen Verneigungen begrüßt. Es waren zwei Männer in dunklen, teuren Anzügen. Nach einem kurzen Blick in die Runde steuerten sie das Podium mit der Sternballerina an, die laut Funktionsbeschreibung auch für Küche und Haushalt geeignet war. Sie tauschten ein paar Bemerkungen aus, dann lupfte der eine ihr Kleid, und der andere zog ihr das Höschen herunter, wohl um zu prüfen, ob sie auch noch für andere Zwecke zu gebrauchen war.

Xialong wandte sich angewidert ab. Sie hielt nichts vom Ab-achtzehn-Konzept der Premiumstores. Eine noch so geschmackvolle Präsentation konnte nicht verhindern, dass immer wieder Leute ohne Manieren den Weg in die Läden fanden. Wenn sie die Konzernleitung innehatte, würde sie die Sexbots aus den Läden herausholen und ganz ins Internet verbannen. Anstatt geiler Geldsäcke würden dann lachende Kinder die Läden bevölkern und sich zusammen mit ihren Eltern ihren neuen Spielkameraden aussuchen. Um diese Neuausrichtung durchzusetzen, musste sie jedoch erst die Konzernleitung übernehmen. Und dieses Ziel, die große Konstante ihres Lebens, schien auf einmal ohne ersichtlichen Grund zu wanken. Vielleicht war ihre Reaktion aber auch vorschnell und allein der enttäuschten Erwartung geschuldet – denn was bedeutete schon ein geplatzter Termin, ein Fehler im Programm? In diesem Moment meldete Ken sich zurück und verkündete, Dadei sei beim Tennisspiel und wolle nicht gestört werden.

»Ruf Kowun in Harbin an.«

»Kowun ist nicht erreichbar«, meldete Ken zwei Minuten später.

»Roy Chen, Tianjin«, sagte Xialong.

»Befindet sich derzeit im Urlaub.«

Sie verzichtete darauf, weitere Teilnehmer der geplanten und auf geheimnisvolle Weise von ihrem und offenbar auch von allen anderen Terminplänen verschwundenen Videokonferenz anrufen zu lassen, und verharrte unentschlossen neben dem Schreibtisch, den Verkaufsraum im Rücken. Ihr Blick verschwamm. Ihre Gedanken mäanderten umher, beschrieben Spiralen im leeren Raum, verdunsteten wie Nebelschwaden in der Sonne. Sie richtete die Augen auf ein gerahmtes, fast einen Meter hohes Foto an der Wand. Es zeigte eine Frau um die sechzig, bekleidet mit einem hellen Kostüm. Der Schnitt des Kostüms wirkte zeitlos. Umso größer war der Gegensatz zu ihrem Gesicht, das die Erfahrungen eines langen Lebens aufgespeichert hatte. Die erschlafften Wangen und das dick gepolsterte Kinn zeugten von einem starken Hang zum Genuss, die harten, kleinen Augen von Selbstbeherrschung und Geschäftssinn. Doch es lag auch etwas Verstörendes darin, eine Art Traurigkeit, gepaart mit etwas Unberechenbarem, mühsam Gebändigtem. Vielleicht lag es auch an der unkorrigierten winzigen Fehlstellung der Augen, dem schwach ausgeprägten Silberblick.

Xialong nahm nichts davon wahr, als sie sich mit langsamen, träumerischen Schritten dem Foto näherte. Der Rahmen hing so hoch, dass ihre beiden Köpfe sich auf einer Höhe befanden. Als sie unmittelbar davorstand, neigte sie sich dem Glas entgegen, lehnte ihren Kopf an den Kopf der Frau und schmiegte sich mit dem Oberkörper an das Foto, als wollte sie damit verschmelzen. Sie erschauerte, ein Stöhnen kam aus ihrem Mund. Ihre Hände öffneten und schlossen sich. Es dauerte eine Weile, bis sie Ken hörte, der sie vom Schreibtisch aus mit sanfter Stimme auf sich aufmerksam zu machen versuchte.

»Xialong, ich soll dir mitteilen, dass das neue Modell angeliefert wurde.«

Widerwillig löste sie sich von der Glasscheibe und streifte mit der Hand an sich hinunter, als entferne sie unsichtbare Klebstofffäden, die sie mit dem Foto verbanden.

»Ich komme«, sagte sie.

Tsema, der Lagerverwalter, der die Palette hereingefahren hatte, war beiseitegetreten, hatte respektvoll die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete nun, wie Zhang Sammo den Karton schlitzte und aufklappte. Er hob den Deckel der sarkophagähnlichen Styroporverpackung ab und trat zurück, damit Xialong den ersten Blick auf das neue Modell werfen konnte.

Sie trat neben die Palette, beugte sich vor und zog die Schutzfolie ab. Der Bot hieß Dali, was Große Kraft bedeutete, sein Spitzname lautete Die Herrin. Xialong aktivierte das Modell mit einem Griff in die Achselgrube. Es richtete geschmeidig den Oberkörper auf, schwenkte den Kopf, um sich zu orientieren, kletterte aus der Transportverpackung und nahm daneben Aufstellung.

Dali war ein SM-Modell. Ihr langes Haar war zum Pferdeschwanz gebunden, ihre Augen wirkten durch die dunklen Augenschatten groß und unergründlich. Bekleidet war sie mit einem schwarzen Lederkorsett, schwarzem, geschlitztem Slip und schwarzen Strümpfen, die bis zur Mitte der Oberschenkel reichten. Die Strumpfhalter waren aus rot gefärbtem geflochtenem Echthaar. Die untere Gesichtshälfte und den Hals verbarg eine Gummimaske mit Nasenlöchern und runder Mundöffnung. Xialong hatte an der Entwicklung des Modells keinen Anteil gehabt und hätte auch nie zugelassen, dass es in die Premiumstores gelangte. Jetzt galt es, gute Miene zum geschmacklosen Spiel zu machen.

»Sammo, was meinen Sie?«

Jetzt, da die rituelle Inbetriebnahme hinter ihnen lag, entspannte sich Sammo und zeigte sich von seiner neugierigen Seite – vielleicht war es auch die männliche. Mit breitem Grinsen näherte er zwei Zeigefinger dem Mundloch in der Maske. Die spitz angefeilten Zähne zogen sich zurück, die Lippen wurden dicker und weicher, der Mund runder. Zhang schob die Finger hinein und bewegte sie vor und zurück. Eine Art Schmatzen war zu hören.

»Obszön!«, sagte er anerkennend.

Xialong lag ein Tadel auf der Zunge, doch sie beherrschte sich. »Ist das nicht ein wenig … zu explizit?«, sagte sie stattdessen. »Ich meine, diese … Frau mit ihrer … prägnanten Ausstrahlung hat das Zeug, die Atmosphäre des ganzen Ladens zu ändern. Sie ist eine ausgesprochen dominante Erscheinung, finden Sie nicht?«

»Sie ist eine Domina«, sagte Zhang, als wäre das ein Argument. »Und sie ist vielseitig. Ich bin sicher, sie macht nicht nur im Schlafzimmer eine gute Figur, sondern auch als Eventbegleiterin oder als Beraterin bei geschäftlichen Gesprächen. Ihre exzellente Datenbankanbindung und ihre unübertroffene Reaktivität rechtfertigen den außergewöhnlichen Preis. Wir sollten sie entsprechend in Szene setzen. Sie könnte sich zum Beispiel ständig umziehen und zwischen verschiedenen Rollen wechseln.«

Xialong kannte den Preis, und sie konnte sich denken, dass er bestimmt nicht wegen der Small-Talk-Qualitäten der Herrin so hoch angesetzt worden war. Vor ihrem geistigen Auge versammelten sich Scharen von Männern vor dem violett ausgeleuchteten Verkaufspodest. Mit gerötetem Gesicht lockerten sie sich den Hemdkragen und johlten immer dann, wenn es ans Umziehen ging.

»Darüber müssen wir uns noch unterhalten«, sagte sie mit mühsamer Beherrschung. »Aber nicht jetzt. Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun.«

Doch sie hatte nichts zu tun. Sie hatte sich die Zeit für einen Termin frei gehalten, der anscheinend nie verabredet worden war. Sie fuhr zu ihrem Büro hoch, schenkte sich am Kapselautomaten grünen Tee ein, setzte sich an ihren Schreibtisch und beobachtete mit leerem Kopf das Kommen und Gehen der Besucher. Immer wenn ein Verkauf abgeschlossen wurde, eilte eine uniformierte namenlose Frau herbei und reichte dem Käufer ein Getränk, das der Eingangsscanner aus der persönlichen Cloud des Betreffenden herausgelesen hatte. Xialong wusste, dass bereits bei Betreten des Geschäfts ein Wust von Daten analysiert und die relevanten Ergebnisse in Stichwortform an den Verkäufer weitergeleitet wurde, den das System für die Beratung auswählte. So war es immer; jeder, der etwas verkaufen wollte, machte das so, doch jetzt, in diesem seltsamen schwebenden Moment der Orientierungslosigkeit, kam es ihr auf einmal zudringlich und unangemessen vor.

Sie hätte gern ihre Mutter angerufen, auch wenn es ihr schwergefallen wäre, sich ihr in diesem Moment der Verunsicherung anzuvertrauen, sei es aus Angst vor Zurückweisung, aus Scham über ihr nichtverschuldetes Versagen oder schlicht und einfach Ehrfurcht. Doch ihre Mutter hatte ihren jährlichen Zweiwochenurlaub angetreten und nahm während dieser Zeit keine Gespräche entgegen. Niemand wusste, wo sie die Urlaubszeit verbrachte, ob in einem Kloster, beim Glücksspiel oder bei einem heimlichen Geliebten. Trotzdem überlegte Xialong, ob sie es nicht wenigstens versuchen sollte, doch dann schüttelte sie den Kopf, ging zur Tür, trat auf den Gang, fuhr hinunter in die Tiefgarage und setzte sich auf ihr SegBike.

2

Eigentlich hatte sie nach Hause gewollt, doch stattdessen kurvte sie ziellos durch die Gegend, vorbei an Lebenden Fassaden, Geschäften, Bürohäusern, Horden von Fußgängern und Strömen von Verkehr. Sie wartete darauf, dass sich der Nebel in ihrem Kopf lichtete, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen. Die unerklärliche Wendung des Tages, der sie ihrem großen Ziel einen entscheidenden Schritt hätte näherbringen sollen, hatte sie stärker erschüttert, als sie sich zunächst eingestanden hatte. Auf einmal merkte sie, dass sie fast wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt war. Einen Straßenblock entfernt ragte der Glaspalast der Himmlischen Geschöpfe auf, ein Eckgebäude mit einem kleinen Vorplatz und einem überdachten Eingang, an dem die mit dem eigenen Fahrer oder dem Bottaxi eintreffenden Kunden auch bei Regen aussteigen konnten, ohne nass zu werden. Heute war mit Autokunden kaum zu rechnen, denn auf der Straße der Goldenen Chrysanthemen herrschte seit dem Morgen Stau, da half auch keine noch so intelligente Fahrzeuginteraktion mehr weiter, und die Luftstraße, die Ebene für die Schwebfahrzeuge, die unsichtbar über der Straße verlief, war den Behörden, Politikern und einigen wenigen VIPs mit Sondergenehmigung vorbehalten.

Mobile Händler auf wendigen SegBikes versorgten die Insassen der Fahrzeuge mit Getränken und Speisen. Einige hatten Gasflaschen mit Wasserstoff für die Brennstoffzellenautos auf den Rücken geschnallt. Junge Burschen schoben schwere Karren mit Austauschbatterien über den Gehsteig.

Xialong stieg ab und setzte sich in zweihundert Metern Entfernung auf eine Bank. Sie fühlte sich eigentümlich losgelöst von ihrer Umgebung, so als schwebe sie einen halben Meter über dem Erdboden. Die durch die Geschäftsstraße wimmelnden Menschen kamen ihr vor wie Aliens. Etwa die Hälfte trug eine AR-Brille, bei den Jungen war der Anteil noch höher. Eingesponnen in eine Zwischenwelt aus Realem und Virtuellem, staksten sie wie Cyborgs einher. Sie gestikulierten, bewegten die Münder, machten Ausfallschritte, ohne dass ein Hindernis zu sehen gewesen wäre. Wenn sie einander anrempelten, erwachten sie für einen Moment aus ihrer Halbtrance, entschuldigten sich mit der Dreifingergeste und machten da weiter, wo sie aufgehört hatten, was immer es war. Die zahlreichen Einkaufs- und Transportbots, die summend und sirrend auf dem breiten Gehsteig unterwegs waren, hatten Mühe, Zusammenstößen auszuweichen, und verharrten immer wieder in Wartestellung, bis sich vor ihnen eine Lücke auftat.

Xialongs Blick fiel auf einen Mann mittleren Alters mit orangefarbenem Haar. Er trug einen schlecht sitzenden grauen Anzug, den er offenbar in einem Secondhandladen erstanden hatte, einen dunkelroten Rucksack und Sandalen. Wie ein Bot mit defektem Sensorium hatte er sich an einer Straßenlaterne festgelaufen. Immer wieder machte er Anstalten weiterzugehen und drückte seinen Bauch gegen den Mast. Als ihm das nicht gelang, wich er einen Schritt zurück und schlug mit bloßen Fäusten auf die Laterne ein, die er wohl mit dem imaginären Gegner eines Overlayspiels identifizierte. In Wirklichkeit hatte er es mit dem metallenen Hohlmantel des Laternenmasts zu tun. Seine Hände waren aufgeplatzt, und das Blut tropfte auf den Boden. Entweder nahm er den Schmerz nicht wahr, oder er ordnete ihn der virtuellen Realität zu, in der er gefangen war.

Eine Gruppe von Schaulustigen hatte sich um ihn versammelt. Die Menschen gafften und lachten, und es wurden immer mehr. Sie feuerten den Mann an. Kinder und Erwachsene drückten sich im Straßenstau die Nase an den Fensterscheiben platt. Plötzlich schoss in drei Meter Höhe über dem Stau ein dunkelgraues Schwebfahrzeug heran und senkte sich neben der Laterne auf den Gehsteig ab. Die Gaffer machten ihm Platz und schlossen sich unwillig den strömenden Fußgängerscharen an. Männer in Jeans und weißen Hemden sprangen aus dem Fahrzeug. Da es keine Kennzeichnung trug, war nicht zu erkennen, ob sie dem Geheimdienst, der Polizei oder einem mobilen Greiftrupp für AR-Opfer angehörten. Sie legten dem Verwirrten Handfesseln an und zogen ihn ins Fahrzeug, das gleich darauf emporstieg und wie ein augenloser Tiefseefisch davonglitt.

Xialong wurde bewusst, dass ihr Com heute noch nicht geklingelt hatte. Ihr Armreif zeigte keine einzige Nachricht an, Ken hatte kein einziges Gespräch angenommen oder abgelehnt. Auf einmal kam sie sich vor wie eine Ausgestoßene. Alle Menschen hatten sie vergessen, die Welt drehte sich ohne sie weiter. Sie hob den Arm und flüsterte ins Com: »Ken, hörst du mich?«

Sein freundliches Gesicht baute sich vor ihr auf, eine zehn Zentimeter hohe holografische Projektion. »Ich höre dich klar und deutlich, Xialong«, sagte er.

»Dann sag mir, ob das Com defekt ist.«

»Das Gerät funktioniert einwandfrei.«

»Das ist unmöglich.«

»Dein Misstrauen verletzt mich.«

»Du bist nicht wirklich hilfreich, Ken«, sagte sie. »Und wenn ich’s mir recht überlege, bist du in dieser Situation sogar nutzlos.« Sie senkte den Arm, die Projektion erlosch. Eine winzige Version davon verweilte noch auf der kupferfarbenen Schuppenhaut des Armbands; sie schnippte das Ken-Icon weg. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie ein zweites Schwebfahrzeug, das sich über der Fahrbahn der Straßenecke näherte. Es war eine teure Limousine, ein schwarzer Rochen mit getönten Fenstern. Auch die Rotorelemente waren schwarz. Das Schwebfahrzeug bog auf den kleinen Eckplatz vor dem Himmlische Geschöpfe ein und senkte sich ab. Die Türen öffneten sich, zwei Männer in dunklen Anzügen sprangen heraus und nahmen neben dem Fahrzeug Aufstellung. Eine junge Frau mit schulterlangem Haar stieg aus, bekleidet mit einem dunkelgrauen Kostüm. Sie hielt eine dunkelgelbe Schultertasche in der Hand und schritt, flankiert von den beiden Bodyguards, zum Eingang des Geschäfts. Xialong hatte die Frau noch nie im Verkaufsraum gesehen. Sie sah sie nur schräg von hinten, doch etwas an ihren Bewegungen veranlasste sie, ihr gebannt mit den Augen zu folgen, bis sie im Gebäude verschwunden war.

Xialong wohnte in einem Neunzig-Quadratmeter-Apartment im Wohnturm EwigerFrieden, nicht weit vom Park der Glücklichen Familie gelegen. Ausschlaggebend für die Wahl waren die durch keine höheren Türme verstellte Aussicht sowie das Schwimmbad im höchsten, dem einundsiebzigsten Stock gewesen. Während sie, eingehüllt in die vertraute Enge der Expresskabine und die Geräusche der Belüftungsanlage und des Seilzugs, zu ihrem Apartment hochfuhr, stellten sich beruhigende Bilder ein, welche die verstörenden Ereignisse des noch jungen Tages relativierten. Ken – eine andere, fehlerfrei funktionierende Version von Ken – würde sie begrüßen. An der Wand hinter dem Esstisch würde die Überraschungslandschaft des Tages leuchten, und in den Himmel eingebettet wären die wichtigsten Nachrichten, darunter ein kleines Videoselfie von Choum, der ihr mitteilte, dass er das nächste Treffen gar nicht erwarten könne. Sie würde die Antwort hinauszögern und sich stattdessen die Entschuldigungen der Regionaldirektoren vorlesen lassen, die aufgrund eines Softwarefehlers in der firmeninternen Terminverwaltung die Videokonferenz versäumt hatten. Auch mit diesen Antworten würde sie sich Zeit lassen. Irgendwann aber würde die Konferenz stattfinden, sie würde die neue Strategie festlegen und am Ende die ganze Firma übernehmen, wie ihre Mutter es wollte.

Mit leisem Fauchen glitt die Kabinentür auf. Als sie auf den Gang trat, streifte etwas ihr Gesicht. Sie schlug es mit Hand weg, dann erst hörte sie das Sirren, Schwirren, Brummen. Der Flur war voll Insekten: blaue und gelbe Schmetterlinge, braune und graue Motten mit dicken Leibern. Sie saßen auf den mit klassischen Pflanzendarstellungen geschmückten Wänden und krabbelten über die Decke, flogen umher und umtanzten die Leuchtfelder. Der Anblick war grotesk und beängstigend, als hätte sich ein Teil des virtuellen Coladschungels, der diese Woche auf den Fassaden vieler Gebäude wucherte, verselbstständigt und in dieser modernen Wohnmaschine mit den hermetisch geschlossenen Fensterflächen materialisiert.

Sie hob den Arm, damit ihr PA die Bescherung sehen konnte.

»Ken?«, flüsterte sie. »Was hat das zu bedeuten?«

»Ich weiß nicht, wie die Frage gemeint ist.«

»Woher kommen die?«

»Es könnte sein, dass ein Flurnachbar eine Schmetterlingszucht betreibt und die Brutschränke und die Wohnungstür offen gelassen hat.«

Sie wandte sich nach rechts zu ihrer Wohnung und achtete darauf, auf keines der Tiere zu treten. Als sie den Kirschblütenzweig neben ihrer Tür erreicht hatte, schaute sie hoch. Ihr Blick fiel auf eine besonders dicke Motte, die sich mit ihren sechs Beinen an die Wand klammerte. Ihr dicker, behaarter Leib bewegte sich sachte auf und ab, die gefiederten Antennen zitterten. Sie wirkte größer als alle anderen Motten, der Rüssel war stark ausgeprägt und glich dem Saugorgan einer Mücke, was ihr einen Anstrich von Gefährlichkeit verlieh. Als Xialong die automatisch entriegelte Tür öffnete, hob die Motte ab und schwirrte durch den Spalt, noch ehe Xialong die Wohnung betreten konnte. Sie folgte ihr rasch, damit nicht noch mehr Tiere nachkamen, und schloss die Tür hinter sich.

Die Motte hatte sich auf den Rahmen des Bildes ihrer Mutter gesetzt, das identisch war mit dem Foto in ihrem Büro. Während Xialong sich nach einem Gegenstand umsah, mit dem sie das Insekt erschlagen konnte, bewegte die Motte die Antennen, als ob sie sich im Raum orientierte. Xialong legte die Tasche ab, lief ins Bad und kam mit einem Handtuch zurück. In diesem Moment hob die Motte vom Rahmen ab und drehte langsam eine Kurve durchs Zimmer. Von der Seite war der Saugrüssel deutlich zu erkennen. Die Flugbahn wirkte unnatürlich gleichmäßig.

»Ken?«, flüsterte Xialong, zog das InEar vom Armband ab und drückte es sich ins Ohr. »Was ist das für eine Motte?«

»Das ist keine Motte. Das ist eine …«

Xialong war stehen geblieben, folgte der Motte mit den Augen und verdrehte das Handtuch zu einem festen Strang. Als sich die Motte seitlich hinter ihr befand, kam sie näher.

»… Drohne.«

Xialong fuhr herum, holte aus und schlug zu. Der Hieb ging daneben. Die Motte wich zurück und versuchte erneut, in ihren Rücken zu gelangen. Xialong aber drehte sich mit, machte plötzlich einen Ausfallschritt, stolperte über den Staubsaugerbot und schlug im Fallen erneut mit dem Handtuch zu, diesmal begleitet von einem kleinen Schrei, der ihre Angst in Zorn verwandelte. Die Motte wurde gegen die Wand geschleudert, fiel zu Boden und drehte sich sirrend auf dem Teppich. Xialong schnellte hoch, setzte ihr nach und schlug immer wieder mit dem Handtuch zu, bis das Ding sich nicht mehr regte. Dann schaute sie sich keuchend im Zimmer nach weiteren Angreifern um, konnte aber keinen entdecken.

»Was war das, Ken?«

»Zeig mir das Gerät.«

Sie kroch zum Tisch und hielt das Com vor die Motte mit den zerknitterten Flügeln und dem verbogenen Rüssel.

»Das ist eine mir unbekannte Variante des Modells Sichere Heimat«, sagte Ken. Die Drohne Sichere Heimat wurde vor allem bei der Grenzsicherung und beim Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt.

»Bist du sicher, dass die Drohne in unserem Haus hergestellt wurde?«, fragte Xialong entgeistert. Mit »unserem Haus« meinte sie Jiqiren, den Mutterkonzern von Himmlische Geschöpfe, und das hatte Ken auch so verstanden.

»Die Flügel wurden modifiziert, damit die Drohne lebensechter wirkt. Aber sie basiert ohne jeden Zweifel auf dem Modell Sichere Heimat. Das lässt sich auch ohne eingehendere Untersuchung sagen.«

»Das war eine Killerdrohne.«

»Ja, Xialong. Leider.«

Sie blickte sich hektisch in ihrem Apartment um: hellgraue Wände, italienische Designermöbel, die Bildwand zeigte heute eine Fantasielandschaft von Img Kowloon an, bei der Rottöne dominierten. Ein Putzbot glitt im Schleichtempo die Fensterscheibe entlang. Alles schien wie immer, dabei hatte sich alles verändert.

»Hat jemand in meiner Abwesenheit versucht, in die Wohnung einzudringen?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Nein«, antwortete Ken. »Soll ich den Hausservice damit beauftragen, den Flur zu säubern?«

»Was? Ja, bitte tu das. Und sie sollen eine Bestätigung an dich senden, sobald sie fertig sind.«

Sie schaute auf das gerahmte Foto an der Wand. »Mutter«, flüsterte sie. »Was soll ich jetzt tun?« Mit großen Augen schaute sie in das so vertraute Gesicht, doch es gab keine Antwort.

Sie blieb auf dem Teppich sitzen, bis Ken sie informierte, dass der Flur von Insekten gereinigt sei. Dann richtete sie sich auf und begann zu packen. Lange brauchte sie nicht. Eine Reisetasche musste reichen.

3

Auf dem Potala-Platz vor dem verwaisten Winterpalast des letzten Dalai Lama standen siebzehn überdimensionale Gebetsmühlen, jede zweieinhalb Meter hoch. An der Ober- und Unterseite waren sie mit breiten Goldstreifen verziert, auf dem erdfarbenen Röhrenkorpus waren Mantras in ebenfalls goldener Farbe aufgemalt. Sechzehn der siebzehn Gebetsmühlen standen still, die siebzehnte drehte sich auf ihrem Podest stetig im Kreis. Vor elf Tagen hatten Glaubensbrüder die Mühle über dem ehrwürdigen Mönch Chogyal abgesenkt, und seitdem schob er unablässig die im Innern angebrachte Holzstange vor sich her und versetzte das Tongehäuse in Drehung. In der ganzen Zeit hatte er kein Wasser und keine Nahrung zu sich gekommen. Keiner der anderen sechzehn Mönche, die ihr Leben für den Protest gegen die chinesischen Unterdrücker geopfert hatten, hatte länger als drei Tage durchgehalten. Die siebzehnte Gebetsmühle aber drehte sich noch immer wie am ersten Tag, und wer sie ansah, dem trat unweigerlich die Gestalt des kleinen, hageren Chogyal vor Augen, der im finsteren Innern unermüdlich seine Kreise zog und das unsichtbare Licht der Mantras zu allen fühlenden Wesen aussandte.

Von Tag zu Tag strömten mehr Besucher herbei. Sie kamen aus Lhasa und aus anderen Orten Tibets, doch einige waren sogar aus dem chinesischen Kernland angereist. Sie alle standen reglos am Rand des Platzes, vereint in ehrfürchtigem Staunen, und starrten die sich drehende Gebetsmühle an. Einige hielten Ausdrucke mit dem Konterfei Chogyals in die Höhe, niemand sprach. Sie warteten auf den Moment, da die Drehung des Tongehäuses zum Stillstand kommen und der Kleine Mönch, wie er liebevoll genannt wurde, das Samsara, das Gefängnis des Leidens, hinter sich lassen und ins Nirvana eingehen würde.

Die staatlichen Vertreter, die Polizisten und Geheimdienstler in Zivil, schauten ebenso gebannt wie die Neugierigen, die Frommen und die Protestler. Erkennbar entweder an ihren grauen Uniformen oder ihrer gepflegten teuren Nachlässigkeit, waren sie in eine Art Lähmung verfallen. Die Vertreter der Staatsmacht, die es gewohnt waren zu prügeln, zu verhaften, zu verschleppen und die ohne Gerichtsprozess Verurteilten umzuerziehen, mit Bewusstseinsdrogen zu quälen und mit neuroaktiven Implantaten zu unterwerfen, wirkten unschlüssig, aller angemaßten Macht beraubt. Hatten sie Anweisung, sich zurückzuhalten, oder konnten auch sie sich der Ehrfurcht gebietenden Monotonie des Vorgangs auf dem Platz nicht entziehen? Fürchteten sie die Bilder, die von Drohnen, denen einfach nicht Herr zu werden war, über dunkle Kanäle ins ganze Reich übertragen wurden und sogar ihren Weg durch die Große Mauer ins Ausland fanden? Oder waren auch sie ergriffen von dem Wunder des seit elf Tagen andauernden Kreisgangs des unsichtbaren Mönchs in der Gebetsmühle? Es war, als habe er sich längst entmaterialisiert, und an seine Stelle sei eine unpersönliche Kraft getreten, die größer und wahrer war als alle Anweisungen, die in den Einsatzplänen standen, klarer und zwingender als die Worte, die über die InEars in ihre Köpfe drangen.

Ein kleiner Junge zwängte sich zwischen den Zuschauern hindurch und rannte auf den Platz. Offenbar wollte er Chogyals Gebetsmühle berühren. Der stillschweigende Waffenstillstand zwischen Zuschauern und Ordnungskräften war damit hinfällig geworden, der Bann gebrochen. Vier, fünf, sechs Männer stürmten auf die Freifläche und fingen den Jungen ab. Einer lähmte ihn mit einem Taser, einer trat ihm in die Seite, einer legte ihm Handfesseln an, zwei schwenkten Distanzwaffen, um die Zuschauer am Eingreifen zu hindern. Eine Kampfdrohne löste sich vom Befreiungsdenkmal und beschrieb langsam einen Kreis. Der bewusstlose Junge wurde zu einem grauen Wagen getragen.

Onkel Wu schaltete den Ton ab. Er schenkte sich grünen Tee nach und schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er von alldem halten sollte. Viele Menschen fürchteten sich in diesen bewegten Zeiten. Sie suchten nach einem Halt in den Fluten, die sie in den Strudel des Wandels zu ziehen drohten, und klammerten sich an vieles, das fragwürdig war. Sie sehnten sich nach Offenbarungen, Zeichen, Wundern und suchten Zuflucht bei den abstrusesten Überzeugungen. Aber wenn es nun stimmte, dass Chogyal seit elf Tagen in der Finsternis der Gebetsmühle seine Kreise zog? Was wäre, wenn der Tonzylinder sich auch morgen und übermorgen noch drehte? Was hätte es zu bedeuten? Er kannte die Dokumentaraufnahmen, welche die Regierung immer dann im Fernsehen zeigte, wenn es in Tibet zu Aufständen kam. Zu sehen waren zerlumpte Menschen, die zu Füßen der prachtvollen Klöster das Land bestellten, das ihnen nicht gehörte. Verstümmelte Bettler säumten die Straßen, manche Arbeiter trugen Fußfesseln. Bis zur Übernahme der Verwaltung durch die chinesische Regierung im Jahr 1959 hatte dort Leibeigenschaft geherrscht. Jetzt waren die Menschen angeblich frei – aber weshalb hingen sie dann an den alten Traditionen und verehrten die Mönche? Onkel Wu war kein Tibeter, sondern Chinese, doch die Bilder, die alten und die neuen, ließen ihn nicht kalt. Genau genommen wühlten sie ihn stärker auf, als in seinem Alter gut für ihn war.

An der Tür wurde geklopft; die Klingelanlage (mit konfigurierbarem Signalton und Videomonitor) hatte von Anfang an nicht funktioniert. Onkel Wu sah auf die Zeitanzeige an der Videowand. Es war bereits halb elf, spät für seine Verhältnisse. Wer konnte das sein?

Er schlurfte zur Tür und machte auf. Vor ihm stand eine junge Frau mit Kostümjacke und dunkelgrauem Rock, in der Hand eine Reisetasche, die ihre rechte Schulter nach unten zog. Sie lächelte verlegen.

»Onkel Wu, darf ich eintreten?«

Jetzt erkannte er sie wieder. Das war Xialong, das kleine Mädchen, dem er im Park Geschichten vorgelesen hatte, weil ihre Kinderfrau, eine Australierin, kein Chinesisch lesen konnte. Auch später noch, als sie nicht mehr von Privatlehrern unterrichtet wurde und die Universität besuchte, hatte sie ihn hin und wieder im Park besucht und ihm jedes Mal etwas mitgebracht: ein paar Süßigkeiten, eine Flasche Reiswein, eine gebratene Taube oder frisches Obst. Nie hatte sie ihn spüren lassen, dass sie, bewacht von Drohnen und schwer bewaffneten Sicherheitskräften, hinter dem Zaun im Kleinen Himmel lebte, wie die Leute sagten, einer streng bewachten geschlossenen Gesellschaft, die für Normalsterbliche so unzugänglich war wie dereinst der Kaiserpalast für einen Reisbauern aus der Provinz. Inzwischen wohnte sie außerhalb des Kleinen Himmels, das hatte sie ihm erzählt, und erst heute Morgen war sie auf dem Weg zur Arbeit am Park vorbeigefahren und hatte ihm zugewinkt.

Er verbeugte sich und geleitete sie durch den Flur in sein kleines Wohnzimmer. Während sie die Tasche abstellte, sich setzte und sich das Haar aus dem Gesicht strich, schenkte er ihr Tee ein. Er nahm ihr gegenüber Platz und betrachtete ihr schönes Gesicht, das aufgerissen war wie das Papier einer Tuschezeichnung. Verzweiflung und Angst lugten durch die Risse, trotzdem sagte sie kein Wort, sondern wartete höflich, bis er, der Ältere, sie ansprach. Onkel Wu aber schwieg.

»Das ist verboten«, sagte sie schließlich und deutete auf die Liveübertragung vom Potala-Platz in Lhasa. Eine Regierungsdrohne machte mit Fangnetzen Jagd auf die fliegende Kamera, und das Bild schwankte und ruckte, dass einem schlecht werden konnte.

»Ja«, sagte Onkel Wu. »Die Anlage hat ein junger Freund eingerichtet, und ich weiß nicht, wie man die illegalen Kanäle löscht.«

»Aber du könntest einen anderen Kanal einschalten.«

»Ja, das könnte ich«, sagte Onkel Wu, doch er tat es nicht. Eine Weile saßen sie einander schweigend gegenüber und lauschten der Zikade in ihrem Holzkäfig. Xialong kaute auf einem Teeblatt herum, dann begannen ihre Lippen, zu beben.

»Meine Termine sind verschwunden«, sagte sie. »Den ganzen Tag lang war niemand für mich zu sprechen. Meine Mutter ist nicht erreichbar. Zu Hause wollte mich eine Motte töten. Dann ist die Netzverbindung meines Coms ausgefallen. Ich kann niemanden mehr erreichen. Ich kann mir nicht mal mehr ein Taxi rufen. Ich komme an kein Geld heran. Und Ken ist so dumm geworden wie ein Stück Holz.« Sie hob den Arm. Der Ärmel ihrer Kostümjacke fiel herab und gab das Drachenband an ihrem schmalen Arm frei.

»Warum, mein Kind, gehst du nicht zur Polizei?«

Trotz der Wärme fröstelte Xialong. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich traue mich nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, es wäre nicht gut.«

»Ich verstehe«, sagte Onkel Wu, obwohl er nichts verstand. Er ergriff ihre Hand, zog sie sanft auf den Tisch nieder und drückte sie. »Vielleicht solltest du erst einmal schlafen. Du kannst dich hier auf das Sofa legen. Warte, ich hole dir eine warme Decke.« Er ging in die kleine Schlafkammer und holte eine Decke aus dem Schrank. Als er zurückkam, schlief Xialong bereits, ohne sich entkleidet zu haben. Nur die Kostümjacke hatte sie über die Stuhllehne gelegt.

Besorgt und fürsorglich deckte er sie zu.

4

 

Früher war alles besser, dachte Kung, obwohl er erst zweiundzwanzig war. Die Hacks waren besser und die Drogen auch. Vielleicht konnte er früher auch nur mehr davon vertragen. Jetzt sah er aus wie dreißig, ach was, wie vierzig, und wenn er mal eine Nacht durchmachte, zitterten ihm morgens die Hände so sehr, dass er kaum noch eine Flasche Wasser ansetzen konnte.

Wasser war die einzige Medizin, die ihn vom finalen Burn-out trennte. Klares, sauberes, kühles Wasser und das Sanktuar.

Hong Gezi hatte ihn darauf gebracht. Er hatte keine Ahnung, wer hinter diesem Fakeprofil steckte, aber irgendwas in der Art, wie sie ihren jämmerlichen Zustand und die Wohltaten der Drei Wahrheiten schilderte, hatte ihn veranlasst, dem Link zu folgen. Vermutlich lag es daran, dass die Selbstbespiegelung bei Hong Gezi so lang und die vermeintliche Problemlösung so knapp ausgefallen war.

Unbewusst setzte er »knapp« mit »effektiv« gleich.

Der Link brachte ihn auf eine Seite mit dem Schriftzug Die Drei Wahrheiten. Kein Darknet und keine Kryptoserver nötig, keine Verschlüsselung. Das war verdächtig. Egal, dachte er. Hong Gezi hat’s auch überlebt.Er setzte das VR-Gear auf, schob die rechte Hand in einen Datenhandschuh und gelangte in ein graues Nichts, in dem sich drei beschriftete Portale abzeichneten: Vertrauen, Verehrung, Versenkung. Während er noch überlegte, ob er sich wieder ausklinken sollte, öffnete sich das Vertrauenportal, und er schwebte hindurch – in einen leeren, großen Kugelraum, dessen Innenbegrenzung aus einer durchscheinenden Schicht scrollender, einander überlagernder Worte bestand. Die Worte waren deutlich zu erkennen und bildeten Sätze, doch es waren einfach zu viele, um einen herauszugreifen. Gleichzeitig vernahm Kung einen gewaltigen Flüsterchor, eine Art kosmisches Gesäusel. Waren die Worte und das Geflüster kongruent? Er konnte es nicht sagen. Dann vernahm er eine einzelne, laute, verständliche Stimme, und sie sagte: »Wähle deinen Vertrauten.« Gesichter tauchten vor ihm auf, Männer und Frauen, Junge und Alte, und nach einer Weile, als es ihm langweilig wurde, sagte er bei einer etwa dreißigjährigen Frau mit freundlichem Blick Halt. Ihr Gesicht lächelte und bekam einen Körper. Sie verneigte sich vor ihm und sagte: »Ich heiße Mei und bin jetzt deine Vertraute. Ich bin immer für dich da.« Dann verschwand sie.