Klimagerechtigkeit - Elias König - E-Book

Klimagerechtigkeit E-Book

Elias König

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Beschreibung

Unberechenbare Wirbelstürme, lodernde Waldbrände, Überschwemmungen und Heuschreckenplagen: Die Klimakrise ist längst mit voller Wucht in der Gegenwart angekommen. Sie konfrontiert die Gesellschaft mit entscheidenden sozialen Fragen unserer Zeit. Denn ausgerechnet diejenigen Menschen, die am wenigsten zur Entstehung des Klimawandels beigetragen haben, sind am stärksten von seinen Folgen betroffen. Gleichzeitig sind rund um die Welt dieselben Herrschaftssysteme und Ungerechtigkeiten dafür verantwortlich, dass eine derartige globale Krise überhaupt entstehen konnte. Ob in den Bergen Nordindiens, im städtischen England oder im brasilianischen Regenwald – stets sind Kolonialismus, Kapitalismus und Patriarchat untrennbar mit der Klimakrise verwoben. Aktivist*innen und Theoretiker*innen haben deshalb den Begriff ›Klimagerechtigkeit‹ geprägt, der darauf verweist, dass die Klimakrise nicht effektiv bekämpft werden kann, ohne auf die sozialen Ungerechtigkeiten einzugehen, die sie bedingen. Dieses Buch stellt einige ihrer spannendsten Gedanken, Geschichten und Argumente vor. Zugleich ist es ein Appell an die Klimabewegung, sich auf ihr radikales Erbe zu besinnen und unter dem Banner der Klimagerechtigkeit verschiedenste progressive Akteure in einem solidarischen Kampf zusammenzubringen.

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Seitenzahl: 190

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Elias König (*1997) forscht als Yenching Scholar an der Universität Peking zu Umweltphilosophie, sozialen Bewegungen und epistemischer Gerechtigkeit und engagiert sich in der Klimagerechtigkeitsbewegung. Seit 2015 verarbeitet er diese Themen auch journalistisch – u.a. für Medien wie The Ecologist, Truthout und analyse & kritik.

Elias König

Klimagerechtigkeit

Warum wir eine sozial-ökologische Revolution brauchen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Elias König

Klimagerechtigkeit

1. Auflage, März 2021

eBook UNRAST Verlag, Dezember 2021

ISBN 978-3-95405-105-2

© UNRAST-Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: cuore, Berlin

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Prolog: What do we want?

Kapitel 1: Von der Umwelt- zur Klimagerechtigkeit

Wessen Krise?

Die Geburt der Umweltgerechtigkeitsbewegung

Bali und die Erfindung der Klimagerechtigkeit

Akademiker*innen for Climate Justice?

Klimagerechtigkeit: Bewegung, nicht Zustand

Kapitel 2: Klima, Kolonialismus und Rassismus

Kolumbus und die kleine Eiszeit

Fossiler Kolonialismus

Schon wieder Deutschland: Kolonialismus und Rassismus made in Germany

Achtung: Grüner Kolonialismus

Die Revolution von Haiti

Crossroads

Kapitel 3: Fossiler Kapitalismus

Am Anfang war der Streik

Von der Kohle zum Erdöl: Ein Update für den fossilen Kapitalismus

Neoliberaler Klimasch(m)utz

Strategien der Entpolitisierung und Spaltung

Was tun? Vom Generalstreik zum Klimastreik

Kapitel 4: Klimafeminismus vs. toxische Männlichkeit

Frauen*streiks und Man Camps: Gender im fossilen Kapitalismus

Fliegende Schuhe und kaputte Schaufenster: Anekdoten des Widerstands

Bewaffnetes Rettungsboot? Zur Gefahr des Ökofaschismus

Kapitel 5: Der Knoten im Faden: Intersektionalität und Moderne

Hoch die intersektionale Solidarität!

Ein modernes Problem?

Auf dem Weg in eine neue Zeit

Kapitel 6: Die Zukunft zurückerobern

Staying With the Trouble: Jenseits des kapitalistischen Realismus

Green New Deal, Red Deal oder ökologische Zivilisation?

Von Chiapas bis Kerala: ¡Otro Mundo es posible!

Danksagung

Anmerkungen

Prolog:

What do we want?

Taipeh, Januar 2021

Auf den Kalender ist selbst in Krisenzeiten Verlass. Durch die Welt jedenfalls scheint mit dem Abschied aus dem Jahr 2020 ein erleichtertes Seufzen zu gehen, so als würde das neue Kapitel im gregorianische Jahresrhythmus die Gesellschaft schon irgendwie vor weiterem Unheil beschützen. Unter den Masken, hinter den Plexiglasscheiben und in den Wohnungen macht sich für einen Moment die Sehnsucht breit: zurück zum ›Normalzustand‹, das wäre schön. Ansteigende Infektionskurven, seltsame Mutationen und Donald Trump sorgen dann aber dafür, dass die Verschnaufpause nicht lange währt. Lange Zeit hinter dem Schleier der Pandemie verborgen, aber nie wirklich abwesend, macht sich auch die Klimakrise wieder bemerkbar. In Australien treibt Zyklon Imogen sein Unwesen. Im Sudan sind mehr als eine Million Menschen von starken Überschwemmungen betroffen, es droht eine Hungerkatastrophe. Während Familien in Europa ungeduldig auf die Weihnachtsbescherung warten, ertrinken vor den Augen der Weltöffentlichkeit an Heiligabend zwanzig Menschen im Mittelmeer.

Selbst auf den Kalender wird bald nicht mehr Verlass sein, das ist aus wissenschaftlicher Sicht klar. Auf unheimliche Weise verschieben sich die Jahreszeiten, jahrhundertealte Bauernregeln verlieren ihre Gültigkeit. Landwirt*innen und Indigene Menschen[1] überall auf der Welt teilen diese Erfahrung. Über Jahrtausenden hinweg haben ihre Kalender gute Dienste geleistet, indem sie mit großer Genauigkeit Wetterphänomene prophezeiten, die Bewegungen von Fischschwärmen und Tierherden vorhersagten und bei der Ernte halfen. Doch irgendetwas ist in den letzten Jahrzehnten außer Kontrolle geraten. Die Kalender funktionieren nicht mehr. Der Regen fällt nicht mehr, wann er fallen soll, und wenn er fällt, dann oft so heftig, dass es zu Überschwemmungen kommt. Auch in der Tierwelt hat sich vieles verändert: Laut einer Studie in der renommierten Wissenschaftszeitschrift Science sind inzwischen die Hälfte aller weltweiten Tierarten in Bewegung.[2] Migrierende Elche, krabbelnde Mikroben und summende Insekten sind Boten einer beklemmenden Zukunft. Wer nicht auswandert, stirbt aus: Seit dem Jahr 1970 ist die durchschnittliche Population vieler Tierarten um über 60 Prozent gesunken – das sechste Massenaussterben in der Geschichte des Planeten ist in vollem Gange.[3] Ohne dass viele Menschen es auch nur mitbekommen haben, ist die Welt, um es in den Worten der Anthropologin Juno Salazar Parreñas. auszudrücken, zu einem gigantischen Hospiz geworden.[4]

Das macht traurig und wütend! Einige kämpfen aus Überzeugung, andere haben gar keine andere Wahl. Im Dannenröder Forst, der noch vor wenigen Monaten zum Schauplatz der Zerstörungswut einer schwarz-grünen Landesregierung geworden war, gibt es erneute Besetzungsbestrebungen. Im von mehreren starken Wirbelstürmen zerstörten Honduras machen sich Tausende Menschen zu Fuß auf den Weg in Richtung USA. In Indien kampieren Zehntausende Bäuer*innen in klirrender Kälte vor den Toren der Hauptstadt Neu-Delhi. Sie protestieren gegen eine Reihe neuer Gesetzesreformen, die den krisengebeutelten Agrarsektor noch weiter deregulieren sollen. Schon jetzt sehen jährlich zehntausend indische Bäuer*innen angesichts des perfekten Sturms von Klimakrise und Schuldenbergen keinen Ausweg mehr und begehen Suizid.

Was wollen wir? scheint vor dem Hintergrund keine ganz unberechtigte Frage zu sein. Na, Klimagerechtigkeit! Noch immer hallt der Slogan der Klimaproteste von 2019 nach. Millionen Menschen waren damals überall auf der Welt auf die Straße gegangen, um für eine bessere, eine andere Welt einzustehen – eine Welt, in der das Schicksal des Planeten nicht länger Tag für Tag für den Profit der Wenigen geopfert wird. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten die Proteste am 20. September 2019. Riesige Demonstrationen brachten in Australien das öffentliche Leben zum Stillstand. In Singapur versammelten sich Hunderte Menschen in einem abgesperrten Bereich des Hong-Lim-Parks, dem landesweit einzigen Ort, an dem Demonstrationen erlaubt sind. Auf Kuba demonstrierten Fahrradfahrer*innen für bessere Radwege. Im afghanischen Kabul marschierten Kinder und Jugendliche unter Militärschutz durch die Innenstadt. Auf Malta veranstalteten Aktivist*innen ein Die-In vor dem Parlament in Valletta.[5] In Neu-Delhi forderten mehr als 2.000 Schüler*innen die indische Regierung auf, mehr für den Klimaschutz zu tun. In Brasilien protestierten Tausende gegen die im Land schwelenden Waldbrände. Schüler*innen in Bangladesch formten eine kilometerlange Menschenkette. Sogar in der Antarktis legten Forscher*innen die Arbeit nieder. Allein in Deutschland schlossen sich 1,4 Millionen Menschen den Protesten an. Die Demonstrationen haben viele Menschen berührt, aufgerüttelt und mobilisiert. Das Resultat: Die Passagiere im langen Zug der Geschichte sind besser informiert denn je über die gefährliche Route, die ihnen bevorsteht. Den Zug allerdings scheint das nicht zu beindrucken: Er beschleunigt einfach weiter. Selbst im Pandemiejahr 2020 stieg die Treibhausgaskonzentration in der Erdatmosphäre weiter an.[6]

Wie kann es nur sein, dass so viele Menschen sich für Klimaschutz engagieren und dennoch keine handfesten Resultate zu beobachten sind? Die bisher verabschiedeten Klimaabkommen, ausgerufenen Klimanotstände, Selbstverpflichtungen der Industrie, Emissionsobergrenzen und sonstige Trippelschritte der sogenannten ›Klimapolitik‹ scheinen die Klimakrise jedenfalls keineswegs aufzuhalten. Und wie kommt es eigentlich, dass in vielen Fällen ausgerechnet diejenigen Menschen mit Leib und Leben für die Klimakrise haften müssen, die am wenigsten zu ihrer Entstehung beigetragen haben? Aktivist*innen und Theoretiker*innen aus dem Kreis der Klimagerechtigkeitsbewegung beschäftigen sich schon seit Langem mit diesen Fragen. Sie untersuchen und diskutieren beispielsweise, was die Klimakrise mit unserem Wirtschaftssystem zu tun hat und wie Herrschaftsformen wie Kolonialismus und Patriarchat mit dem Thema Klimagerechtigkeit zusammenhängen. Im Mittelpunkt steht bei diesen Überlegungen aber letztendlich immer auch die Fragen des Handelns: Was sollen wir tun?

Einige ihrer Ideen will dieses Buch vorstellen. Es soll ein Buch von Aktivist*innen für Aktivist*innen sein – ein Buch, das die Wichtigkeit der theoretischen Reflexion würdigt, aber nicht um des Theoretisierens selbst willen, sondern um eine emanzipatorische Praxis zu inspirieren. Es soll ein Buch sein, das nicht nur zum Weiterlesen, sondern auch zum Aktivwerden anregt. Ein Buch für Kohlegrube, Bagger- oder Baumbesetzung – aber auch für die Diskussion mit Familie, Freund*innen und Mitstreiter*innen.

Entstanden sind die Texte im Laufe der vergangenen Jahre – auf Klimacamps, beim Wandern in den verschneiten Alpen und auf philosophischen Konferenzen. Die vorgestellten Passagen sind also in den wenigsten Fällen das Produkt meiner eigenen Fantasie, sondern vielmehr ein Mosaik aus gesammelten Anekdoten, Argumenten und Ideen, die meines Erachtens einen guten Einstieg in das Thema Klimagerechtigkeit bieten. Ganz ohne Flugzeug werden wir im Laufe der nächsten Kapitel die Orte besuchen, an denen die Klimakrise entstanden ist und an denen sie bereits die unterschiedlichsten Spuren hinterlässt. Von den Bergen Nordindiens bis ins isländische Reykjavik, von den US-amerikanischen Südstaaten bis in den brasilianischen Regenwald: Überall begegnen uns die immer selben Verhältnisse der Ausbeutung von Mensch und Natur, die es erlaubten, dass eine derartige globale Krise überhaupt entstehen konnte, und die gleichzeitig dazu führen, dass diejenigen, die am wenigsten zu dieser Krise beigetragen haben, am schwersten von ihr betroffen sind. Denn um die Klimakrise wirklich verstehen zu können, reicht es nicht aus, sich lediglich mit ihrer meteorologischen Funktionsweise zu befassen. Wir müssen die Klimakrise auch als eine historische Krise verstehen und ihren sozialen Ursachen auf den Grund gehen.

Das Buch ist so aufgebaut, dass sich je nach Interesse munter zwischen den unterschiedlichen Kapiteln hin- und herblättern lässt. Das erste Kapitel gibt einen Einblick in die Geschichte der Klimagerechtigkeit: Wie ist dieser Begriff überhaupt entstanden? Wie wurde er zur Kernforderung einer wachsenden globalen Bewegung? In den anschließenden Kapiteln werden wichtige Dimensionen der Klimagerechtigkeit thematisiert: Kolonialismus und Rassismus (Kapitel 2), Neoliberalismus und die kapitalistische Produktionsweise (Kapitel 3) sowie Patriarchat und Ökofaschismus (Kapitel 4). Der letzte Teil des Buches ist der Frage gewidmet, wie sich diese Dimensionen am besten zusammendenken lassen (Kapitel 5) und wie eine progressive Vision einer klimagerechten Welt aussehen könnte (Kapitel 6). Denn eines zeigt die lange Geschichte sozial-ökologischer Bewegungen und Kämpfe: Eine andere Welt ist durchaus möglich!

Kapitel 1:

Von der Umwelt- zur Klimagerechtigkeit

If you know your history, then you would know where you’re coming from.

Bob Marley

Wessen Krise?

Oft wird die Klimakrise in deutschen Zeitungen oder Talkshows diskutiert, als handele es sich um ein Problem, das in erster Linie Naturwissenschaftler*innen und Politiker*innen etwas angeht. Der Klimawandel, so formulierte es der selbsternannte Klimaexperte Christian Lindner einmal, sei eben »eine Sache für Profis«. Regelmäßig endet die Debatte deshalb im gewohnten Patt. Auf der einen Seite warnen renommierte Wissenschaftler*innen, die an millionenschweren Forschungsinstituten mit komplizierten Modellen meteorologische Phänomene erforschen, eindringlich vor den katastrophalen Folgen einer immer mehr außer Kontrolle geratenden Erderhitzung. Auf der anderen Seite versichern um Schlagzeilen besorgte Politiker*innen verschiedener Parteien, sie würden die Herausforderung sehr ernst nehmen, es sei doch bereits vieles erreicht worden und außerdem dürfe man ja auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht aus dem Blick verlieren.

Im Internet ziehen dann anschließend einige frustrierte User*innen übereinander her. Die allermeisten Menschen aber werden die Diskussion ohnehin verpassen. Die Klimakrise ist ihnen zwar nicht egal – Umfragen zufolge handelt es sich um eines der wichtigsten politischen Themen für die Menschen in Deutschland[7] –, aber im Alltag gibt es dann doch zumeist dringendere Angelegenheiten zu regeln. Der Gedanke, die erschreckende Akkumulation von Treibhausgasen fernab in den äußeren Schichten der Erdatmosphäre könnte die gewohnte Lebensweise in irgendeiner Form fundamental infrage stellen, muss sich erst einmal hinter Liebeskummer, Arbeitsstress und Einkaufsplanung einreihen.

Dabei gibt es gute Gründe, an der Erzählung von der rein atmosphärischen Krise zu zweifeln. Ist die ›Klimakrise‹ nicht auch eine soziale Krise, die schon längst alle Aspekte unseres Lebens berührt? Hinter den Zahlen der Wissenschaftler*innen verbergen sich schließlich reale Schicksale: Bäuer*innen, die seit Jahren mit dürrebedingten Ernteausfällen zu kämpfen haben, Menschen im Rheinland oder in der Lausitz, die aus ihrer Heimat vertrieben werden, um Platz für Braunkohletagebaue zu schaffen oder Geflüchtete aus Dürreregionen wie Syrien und der Sahelzone, wo Wassermangel und Ernteausfällen den Boden für blutige Bürgerkriegen bereiteten.[8]

Die Art und Weise, wie wir die Klimakrise verstehen, beeinflusst auch, wie wir mit ihr umgehen. Wenn wir sie nicht mehr nur als ein atmosphärisches, sondern auch als ein soziales Problem begreifen, dann ist die Klimakrise plötzlich nicht mehr davon zu trennen, wie unsere Gesellschaft organisiert ist – wie etwa unser Essen produziert wird, wie unser Transportwesen organisiert ist oder wie unser politisches System funktioniert. Wir müssen uns fragen, wie es eigentlich sein kann, dass etwa ein Dutzend Milliardäre die Hälfte des gesamten Weltvermögens besitzen, während gleichzeitig jedes Jahr Millionen an den Folgen der Klimakrise sterben (wobei einige der genannten Milliardäre ihren gigantischen Reichtum sogar gezielt dafür einsetzen, aktiv Klimaschutz zu verhindern und Milliardenbeträge in Desinformationskampagnen zu investieren).

Nach dieser Lesart ist die Klimakrise vor allem eine Klimaungerechtigkeitskrise. Denn während einige wenige Menschen noch immer enorm von der Zerstörung des Planeten profitieren, sind diejenigen Menschen, die am wenigsten zur Erderhitzung beigetragen haben, von ihren Folgen oft am schwersten betroffen. Im philosophischen Jargon nennt man einen solchen Fall ein Problem der Verteilungsgerechtigkeit. Menschen mit geringem Einkommen, People of Color, Frauen*, Indigene Menschen und andere marginalisierte Gruppen gehören schon jetzt zu denjenigen, die am meisten an der Klimakrise und ihren Auswirkungen leiden.[9] Viele Einführungstexte zum Thema Klimagerechtigkeit brechen an dieser Stelle ab. Bei ihnen klingt es dann so, als hätten einige Menschen in den reichen Industrieländern ›aus Versehen‹ die größte Erhitzung des Planeten in der Menschheitsgeschichte verursacht, und dann seien auch noch, wie durch eine unglückliche Schicksalsfügung, ausgerechnet diejenigen Menschen am meisten davon betroffen, die am wenigsten dazu beigetragen haben.

Doch diese Verteilungsungerechtigkeit ist eben kein Zufall. Hier kommt die zweite wichtige Dimension der Klimagerechtigkeit ins Spiel: Ungerechtigkeit ist nämlich nicht nur eine Folge, sondern auch eine der Hauptursachen der Klimakrise. Wie der Klimagerechtigkeitsforscher Kyle Powys Whyte in seinen Aufsätzen aufzeigt, sind es oft sogar genau dieselben Mechanismen, die die Erhitzung des Planeten befeuern und marginalisierte Bevölkerungsgruppen noch stärker gefährden.[10] Überall auf der Welt werden beispielsweise Menschen durch große Konzerne von ihrem Land vertrieben, um Platz für Kohle-, Öl- oder Gasinfrastruktur zu schaffen, und dadurch gezwungen, in Küstenregionen oder in urbane Slums zu ziehen, wo sie den Gefahren der Klimakrise besonders schonungslos ausgesetzt sind.

Eine Klimagerechtigkeitsperspektive betont deshalb, dass Gerechtigkeit ein essenzieller Bestandteil einer politischen Antwort auf die Klimakrise sein muss. Nicht, weil sich das besser anfühlt, sondern weil die Klimakrise schlicht nicht effektiv bekämpft werden kann, ohne auf die sozialen Ungerechtigkeiten einzugehen, die sie bedingen.

Der Begriff Klimagerechtigkeit ist zwar noch verhältnismäßig jung. Die Idee, ökologische Krisen und Gerechtigkeitsfaktoren zusammenzudenken, ist jedoch alles andere als neu. Schon seit Jahrhunderten kämpfen Menschen auf allen Teilen des Planeten gegen den Raubbau an der Natur, gegen Ausbeutung von Menschen und Tieren und gegen Ideologien, die diese Ungerechtigkeiten legitimieren. Unter dem Banner der Umweltgerechtigkeit fanden sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele dieser Bewegungen auf einer globalen Ebene zusammen. Wie genau aus der Umweltgerechtigkeitsbewegung heraus eine Klimagerechtigkeitsbewegung entstand und welche Folgen diese Entwicklung bis heute hat, wollen wir uns im Folgenden näher anschauen.

Die Geburt der Umweltgerechtigkeitsbewegung

Memphis, USA, 1968

Die US-Südstaatenmetropole Memphis ist wohl in erster Linie für ihr musikalisches Erbe bekannt. Bedeutende Gospel-, Jazz-, Blues- und Soul-Interpret*innen fanden hier eine künstlerische Heimat. Doch die Stadt, in der Elvis Presley den Rock’n’Roll neu erfand, war im 20. Jahrhundert auch eine Hochburg der Bürgerrechtsbewegung. Eine der bedeutendsten sozialen Bewegungen der Stadt formierte sich hier, nachdem am 1. Februar 1968 zwei Angestellte der lokalen Müllabfuhr von einer defekten Müllpresse erdrückt wurden und starben. Die beiden Männer, Echol Cole und Robert Walker, hatten sich vor einem Regenschauer schützen wollen. Bereits vier Jahre zuvor waren zwei Müllmänner durch die defekte Anlage ums Leben gekommen, doch die Stadtverwaltung hatte sich damals geweigert, die Anlage auszutauschen.

Derart unsichere Arbeitsbedingungen waren das direkte Resultat der Politik der Rassentrennung in den US-amerikanischen Südstaaten, die dazu führte, dass die Mitgliedschaft in großen Gewerkschaften weißen Arbeiter*innen vorbehalten war.[11] Schwarze Müllarbeiter*innen in Memphis hatten hingegen fast keine arbeitsrechtlichen Garantien.[12] Sie konnten jederzeit durch ihre (zumeist weißen) Vorarbeiter*innen gefeuert werden. Die Gehälter waren gering und reichten oft nicht zum Überleben, sodass viele der Arbeiter*innen zusätzlich auf Sozialhilfe und sozialen Wohnungsbau angewiesen waren. Arbeitskleidung und Toiletten wurden nicht zur Verfügung gestellt, unbezahlte Überstunden hingegen waren an der Tagesordnung.

Der Tod der beiden Männer brachte das Fass zum Überlaufen. Innerhalb weniger Tage organisierten die Mitarbeiter*innen der Müllabfuhr einen historischen Streik, um für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz, bessere Arbeitsbedingung und die Anerkennung ihrer Gewerkschaft zu kämpfen. Mehr als 1.300 Streikende marschierten am ersten Streiktag zur Stadtverwaltung und konfrontierten den rassistischen Bürgermeister Henry Loeb mit ihren Forderungen. Als dieser sie ignorierte, beschlossen die Arbeiter*innen, ihren Arbeitskampf zu intensivieren.

Insgesamt hielt der Streik 64 Tage lang an. Bereits nach wenigen Tagen stapelten sich Tausende Tonnen Müll auf den Straßen von Memphis. Die Streikenden organisierten tägliche Demonstrationen mit Zehntausenden Teilnehmer*innen. Am 28. März schwänzten 22.000 Schüler*innen die Schule, um an der Demonstration teilzunehmen. Die Polizei reagierte mit brutaler Gewalt, Tränengas und scharfer Munition. Den neunzehnjährigen Larry Payne kostete die Teilnahme an der Demonstration an diesem Tag das Leben. Er wurde durch den Polizisten Leslie Jones erschossen. Nur eine Woche später wurde Memphis durch eine weitere Schreckenstat erschüttert: Der berühmte Bürgerrechtler Martin Luther King Jr., der in die Stadt gekommen war, um den Streik zu unterstützen, wurde in seinem Hotel ermordet. In der folgenden Woche spitzten sich die Proteste noch weiter zu, mit knapp 50.000 Teilnehmenden, bis endlich ein Abkommen mit dem Stadtrat getroffen wurde, welches die Anerkennung der Gewerkschaft vorsah.

Der Streik von Memphis gehörte zu den ersten namhaften Kampagnen in den USA, die den Kampf gegen Rassismus und für bessere Arbeitsbedingungen mit einem der damals populärsten Umweltthemen, der Müllentsorgung, verbanden. Denn wie in Memphis waren es an vielen Orten in den USA überproportional Schwarze und People of Color, die mit der Entsorgung von giftigen Abfällen betraut wurden und somit mit ihrer eigenen Gesundheit und Sicherheit für die Umweltsünden des US-amerikanischen Kapitalismus haften mussten.

Warren County, USA, 1982

Vierzehn Jahre später diente der Streik von Memphis als Inspiration für eine weitere Welle von Bürgerrechtsbewegungen in den USA. In Warren County im US-amerikanischen Bundesstaat North Carolina plante die Lokalregierung die Einrichtung einer PCB-Deponie. Das Kürzel PCB steht für polychlorierte Biphenyle, höchst giftige Chlorverbindungen, die früher als Industriechemikalien zum Einsatz kamen, aber 1977 in den USA verboten wurden. Der Ort der Deponie, an dem bis zu 60.000 Tonnen PCB-kontaminierte Erde vergraben werden sollten, wurde jedoch nicht etwa nach wissenschaftlichen Kriterien wie der Bodendurchlässigkeit oder dem Grundwasserspiegel ausgewählt. Stattdessen richteten sich die Planer*innen bei der Standortsuche nach demografischen Kriterien, darunter unter anderem dem durchschnittlichen Einkommen der Anwohner*innen. In Warren County lebten zu diesem Zeitpunkt 18.000 mehrheitlich einkommensschwache afro-amerikanische Einwohner*innen. Die Regierung ging davon aus, dass diese Bewohner*innen den geringsten Widerstand gegen die Errichtung der giftigen Mülldeponie leisten würden. Doch sie hatten Warren County unterschätzt. Als 1982 die Anlieferung der toxischen PCB-Erde begann, legten sich Hunderte Menschen in einem Akt des zivilen Ungehorsams vor die Transporter. Zahlreiche bekannte Geistliche und Vertreter*innen der Bürgerrechtsbewegung unterstützten ihren Protest. Während der Auseinandersetzungen, die sechs Wochen andauerten, wurden mehr als 500 Menschen verhaftet. Schließlich willigte der verantwortliche Gouverneur Jim Hunt ein, die Deponie baldmöglichst zu entgiften – ein Prozess, der mehrere Jahrzehnte andauerte und 2004 endlich abgeschlossen wurde.

Die Proteste von Memphis und Warren County werden oft als Sternstunden der Umweltgerechtigkeitsbewegung verstanden, einer Bewegung, die die sozialen Aspekte der grassierenden ökologischen Krise der 1980er- und 1990er-Jahre in den Vordergrund rückte. Die Umweltgerechtigkeitsbewegung grenzte sich bewusst von der bis dato überwiegend weißen nordamerikanischen Umweltbewegung ab, die sich in vielen Fällen darauf beschränkte, die Umweltverschmutzung in den eigenen, wohlhabenden Communitys zu bekämpfen. Das führte aber dazu, dass viele der Probleme einfach in ärmere Gegenden ausgelagert wurden. Der Aktivismus der weißen Umweltbewegung bewirkte also häufig keine Lösung, sondern lediglich eine Verschiebung der Umweltprobleme. Die Umweltgerechtigkeitsbewegung hingegen hatte den Anspruch, die ökologischen Probleme ihrer Zeit an der Wurzel zu packen und nachhaltig zu lösen. Insbesondere kritisierten ihre Vertreter*innen den impliziten und expliziten Rassismus der Mainstream-Umweltbewegung in Nordamerika. Weiße Umweltorganisationen wie der Sierra Club setzten sich nämlich beispielsweise mit viel Engagement für die Errichtung von Nationalparks und die Erhaltung von Wildnis ein, billigten dabei aber wissentlich die Vertreibung und Enteignung der dort lebenden Indigenen Menschen.[13]

Während der Umweltschutz für viele in der Mainstream-Umweltbewegung also primär ein ästhetisches Anliegen war, machte die Umweltgerechtigkeitsbewegung ihn zur sozialen Frage, indem sie auf die überproportionale Belastung marginalisierte Bevölkerungsgruppen durch Umweltverschmutzung hinwies. Daran hat sich bis heute leider nur wenig geändert. Wie in Warren County werden toxische Abfälle auch heute noch oft in der Nähe von Schwarzen, migrantischen und Indigenen Communitys entsorgt. Luft- und Wasserverschmutzung sind ebenfalls ungleich verteilt. Das führt dazu, dass People of Color statistisch gesehen häufiger von Asthma und anderen Atemwegserkrankungen betroffen sind. Im Rahmen der Proteste von 1982 prägte der Bürgerrechtler Benjamin Chavis den bis heute geläufigen Begriff des Umweltrassismus, um dieser Ungerechtigkeit einen Namen zu geben.

Obwohl die US-amerikanische Umweltgerechtigkeitsbewegung weltweit Schlagzeilen machte, waren die Vereinigten Staaten bei Weitem nicht der einzige Ort, an dem soziale Bewegungen ökologische und soziale Kämpfe miteinander verbanden. Wie der indische Historiker Ramachandra Guha und sein spanischer Kollege Joan Martinez-Alier in ihrem, inzwischen zum Klassiker gewordenen, Buch zur Umweltgerechtigkeitsbewegung, Varieties of Environmentalism[14], beschreiben, gab es gerade im Globalen Süden viele vergleichbare Bewegungen.[15]

Uttarakhand, Indien, 1970er-Jahre

Als eine der erfolgreichsten und bekanntesten Umweltgerechtigkeitsbewegungen gilt die indische Chipko-Bewegung, eine Bewegung von Frauen* aus der nordindischen Bergregion Uttarakhand, die sich erfolgreich gegen die Zerstörung der Wälder ihrer Region einsetzte. Die Hauptaktionsform der Frauen* war dabei das Umarmen der gefährdeten Bäume, eine Proteststrategie, die in Indien Tradition hat. Schon seit Anbeginn der Kolonisierung des Subkontinents durch die britische Ostindien-Kompanie hatte sich die Bevölkerung auf diese Weise gegen die Abholzung ihrer Wälder gewehrt. Eine der frühesten dokumentierten Protesthandlung geht auf das Jahr 1730 zurück, als mehr als 300 Dorfbewohner*innen im heutigen Bundesstaat Rajasthan ihr Leben gaben, um einige lokale Khejri-Bäume zu beschützen. Beeindruckt von dieser jahrhundertealten Tradition des Widerstands gründete der indische Aktivist Chandi Prasatt Bhatt in den 1960er-Jahren in der Stadt Gopeshwar im nordindischen Uttarakhand die Nichtregierungsorganisation DGSS. Obwohl der Kolonialismus zu diesem Zeitpunkt längst der Vergangenheit angehörte, hatte sich an der Politik nur wenig geändert. Noch immer wurden die Wälder in Regionen wie Uttarakhand, im Rahmen des sogenannten Contractor-Systems[16] an große Firmen verpachtet, die weite Flächen roden ließen oder lokale Spezies durch importierte Baumarten ersetzten. Das Ökosystem geriet dadurch zunehmend aus dem Gleichgewicht, was zu Erdrutschen und Überschwemmungen führte. Insbesondere Frauen* waren von dieser ökologischen Krise betroffen, da sie oft allein für den Erhalt des Dorflebens verantwortlich waren, während die Männer aus den Dörfern in die Städte zogen, um Lohnarbeit zu finden.

Die Dorfbewohner*innen begannen, sich mit Unterstützung von Bhatt und DGSS zu vernetzen und zu organisieren, um die Wälder zu schützen, die ihre Lebensgrundlage bildeten. Zu einer ersten Aktion kam es 1972, als die SimonCompany