Klimapsychologie - Stefan Ruf - E-Book

Klimapsychologie E-Book

Stefan Ruf

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Beschreibung

Wir müssen uns ändern, um die Klimakrise zu überwinden. Die Bedrohung durch die Klimakrise liegt offen vor uns, die meisten Fakten sind bekannt. Warum schaffen wir es trotzdem nicht, die nötigen Konsequenzen für unser Verhalten zu ziehen? Weil wir mit unserem Bewusstsein zutiefst verstrickt sind in das Paradigma der Moderne, das die Klimakrise hervorgebracht hat, sagt Stefan Ruf. Er analysiert die pathologische Struktur dieses Paradigmas und versteht die globale Krise gleichzeitig als Chance, ein neues „atmosphärisches Bewusstsein“ auszubilden. Dieses zeichnet sich in den Klimawissenschaften bereits ab und ist berufen, zur Basis einer künftigen Verbundenheit zu werden. „Wir müssen zu einem sphärischen Empfinden, Fühlen und Denken in uns finden, das in der Lage ist, das komplexe atmosphärische Geschehen außer uns lebendig abzubilden und in eine Beziehung mit ihm zu treten.“ , Stefan Ruf

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Seitenzahl: 321

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Für Christina und Silas und alle Klimaaktiven

ISBN eBook: 978-3-95779-116-0

ISBN print: 978-3-95779-109-2

Diesem eBook liegt die 1. Auflage 2019 der Printausgabe zugrunde.

Alle Rechte vorbehalten, © 2019, Info3 Verlagsgesellschaft Brüll & Heisterkamp KG,

Frankfurt am Main

www.info3.de

Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

Lektorat: Jens Heisterkamp, Frankfurt am Main

Korrektorat: Silke Kirch, Frankfurt am Main

Über dieses Buch

Die Bedrohung durch den Klimawandel liegt offen vor uns, die entscheidenden Fakten sind bekannt, das Pariser Klimaabkommen ist unterzeichnet. Warum schaffen wir es trotzdem nicht, die nötigen Konsequenzen für unser Verhalten zu ziehen? Weil wir mit unserem Bewusstsein zutiefst verstrickt sind in das Paradigma der Moderne, das die Klimakrise hervorgebracht hat, sagt Stefan Ruf. Er analysiert die pathologische Struktur dieses Paradigmas und versteht die globale Krise gleichzeitig als Chance, ein neues „atmosphärisches Bewusstsein“ auszubilden. Dieses zeichnet sich in den Klimawissenschaften bereits ab und ist berufen, zur Basis eines künftigen Paradigmas der Verbundenheit zu werden.

„Wir müssen zu einem sphärischen Empfinden, Fühlen und Denken in uns finden, das in der Lage ist, das komplexe atmosphärische Geschehen außer uns lebendig abzubilden und in eine Beziehung mit ihm zu treten.“

Stefan Ruf

Über den Autor

Dr. med. Stefan Ruf ist Facharzt für Psychosomatik/Psychotherapie. In Potsdam leitet er eine therapeutische Einrichtung für Jugendliche.

Inhalt

Vorwort

Prolog: Atmosphärisches Bewusstsein

I. Kapitel: Biosphäre

II. Kapitel: Außen und innen. Der weitere Kurs des Buches

III. Kapitel: Gegenwärtige Vergangenheit

IV. Kapitel: Die Atmosphäre reißt, der Mensch verkapselt sich

V. Kapitel: Intermezzo

VI. Kapitel: Der Mythos vom ewigen Wachstum Oder: Wenn man Entwicklung quantitativ denkt

VII. Kapitel: Unser gegenwärtiger Mythos

VIII. Kapitel: Warum tun wir nicht mehr? Innere Kipppunkte

IX. Kapitel: Bewusstseinsevolution Oder: Wenn man Entwicklung qualitativ denkt

X. Kapitel: Atmosphärisches Bewusstsein

XI. Kapitel: Nachwort als Antwort aufs Vorwort

Epilog

Danksagung

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

„Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.“Johann Wolfgang von Goethe

Vorwort

Dies ist ein ziemlich mutiges Buch – aber nicht, weil die Aussagen so provokant sind, dass man dazu viel Mut bräuchte. Nein, es ist mutig, weil es so viel Stoff umfasst und letztlich doch einen großen Anspruch hat, sodass ich mich in normalen Zeiten nicht an eine solche Aufgabe herangewagt hätte. Und wenn doch, dann hätte ich noch fünf weitere Jahre daran gearbeitet: abgewogen, verändert, hinzugefügt, gestrichen.

Wir leben aber nicht in normalen Zeiten. Wir leben in einer „Epoche der großen Transformation“. Das sagen keine esoterischen Spinner, das sagt der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung. Wir leben in einer Zeit, in der eine „neue Aufklärung“ (Ernst Ulrich von Weizsäcker) stattfinden müsste, in einer Epoche, die so etwas wie der „Flaschenhals“ zwischen zwei Epochen ist und in der „radikal das neue Normale“ sein müsste, was das Ausmaß der Veränderung angeht (so Bernd Ulrich in Die Zeit). Vergleichbare Begriffe wären vor ein paar Jahren als Weltuntergangsprophetie behandelt worden, heute werden sie von Vielen verstanden. Es hat sich also in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein, im „Zeitgeist“, etwas verändert, was der Autor dieses Buches zutiefst begrüßt. Namentlich in den letzten Monaten – in denen auch das Buch geschrieben wurde – ist in Deutschland durch die Fridays-for-Future-Bewegung und ähnliche Initiativen ganz viel ins Laufen gekommen. Wir leben also tatsächlich im Zeitalter der großen Transformation – und es ist These des Buches, dass diese sich in drei Bereichen abspielt.

Der erste ist der Bereich der Natur: hier treten momentan in einer beängstigenden Geschwindigkeit Veränderungen im globalen Maßstab auf, wie es sie selten in der Geschichte der Erde gab. Einmalig ist, dass diese Veränderungen zu einem großen Teil menschengemacht sind: die Erde verändert ihr Antlitz also, es wird menschlicher. Unsere Hinterlassenschaften finden sich überall, von der Atmosphäre bis zum Meeresgrund, von den Wüsten bis zu den Polen. Deshalb wird unsere Zeit zurecht bereits das Anthropozän genannt. Besonders drastisch und potenziell irreversibel sind diese Veränderungen im Klimabereich, auf den dieses Buch im Besonderen eingeht. Auch weil der Autor glaubt, dass die Veränderungen, die notwendig sind, um die Klimakrise zu lindern, für viele andere Problembereiche (seien sie ökologisch oder sozial) ebenfalls hilfreich sind.

Der zweite ist der gesellschaftliche Bereich. Um die dramatischen Veränderungen, die in der Natur gerade geschehen, kleinstmöglich zu halten, müsste sich in unserer Kultur – unserer Wirtschaftsweise, unserem Lebensstil, unserer Ethik, unserer Ästhetik – Grundlegendes verändern. Vielleicht könnte man es so ausdrücken: Je kleiner die Transformation in der Natur bleiben soll (und sie sollte möglichst minimal sein!), desto größer müsste die Transformation in unserer Gesellschaft aussehen. Die gute Nachricht ist, dass aus meiner Sicht national und global eine gesellschaftliche Transformation bereits stattfindet, die vor ein paar Jahren so noch nicht zu erwarten war. Die schlechte Nachricht ist: sie geschieht immer noch viel zu langsam und bei der Natur kommt auf quantitativer Ebene davon fast nichts an.

Über die beiden ersten Ebenen der Transformation wurden in den letzten Jahrzehnten viele sehr gute Studien verfasst und Bücher geschrieben: sowohl über die katastrophalen Vorgänge in der Natur (Klimakrise, Artensterben, Wasser, Plastik) als auch über die Frage, was das mit unserem Denken und Verhalten zu tun hat. Es gibt auch wunderbare Bücher darüber, was wir verändern können und müssen (individuell und als Gesellschaft), um unseren ökologischen Fußabdruck zu reduzieren.

Worüber es nach meiner Ansicht nach zu wenig Wissen gibt, ist die dritte Ebene der großen Transformation. Das ist die Ebene des menschlichen Bewusstseins. Um aber die zweite Ebene wirkungsvoll, nachhaltig und demokratisch zu gestalten, ist diese dritte Ebene aus meiner Sicht essenziell. Wenn wir nicht verstehen, was uns (in uns selbst) hindert, angemessen zu handeln und wenn wir das Potenzial (in uns) nicht erkennen, das uns hilft, angemessen zu handeln, werden wir wahrscheinlich nicht in der Lage sein, rechtzeitig zu handeln – was für viele nicht-menschliche Wesen furchtbare Konsequenzen hätte. Und auch für viele menschliche; nicht nur in von uns weit entfernten Weltgegenden, sondern auch für uns und unsere Kinder – ökologisch und gesellschaftlich.

So beschäftigt sich das Buch mit dieser dritten Ebene, der seelischen Ebene. Das ergibt auch vor dem Hintergrund Sinn, dass der Autor Arzt und Psychotherapeut ist, nicht Klimaforscher oder Soziologe. Ziel des Buches ist es, klarer das Hindernde und Hemmende in uns herauszuarbeiten, genauso aber die inneren Ressourcen – unser Potenzial –, um zu einem angemessenen Tun zu kommen. „Angemessen“ meint aus meiner Sicht ein Handeln, das durchaus verzichtet, aber nicht als Verzicht erlebt wird. Dass eine große gesellschaftliche Transformation (Ebene 2) nämlich ohne Verzicht gelingen soll, dass also acht Milliarden Menschen weiter voll auf Wachstum und Konsum setzen – diesmal aber ganzheitlich und irgendwie solar – erscheint mir als Lösung der globalen Natur-Krise genauso unrealistisch wie das andere Extrem: dass acht Milliarden Menschen (vor allem die mit einem westlichen Lebensstil) aus Einsicht freiwillig dauernd Verzicht leben, mit Büßermiene und zusammengebissenen Zähnen. Wenn wir also eine Chance haben wollen auf eine wirkliche gesellschaftliche Transformation, dann müssen möglichst viele Menschen eine innere Transformation durchmachen, die man zu Recht Bewusstseinswandel nennen kann. Hier zu helfen, wären eigentlich zuvorderst Psychologie und Pädagogik gefragt.

Erstaunlicherweise aber existiert im Mainstream nahezu keine Literatur dazu. Es gab in den letzten Dekaden einige Pioniere wie Joanna Macy oder Arne Naess, aber ihre Überlegungen haben es nie in den Fokus der anerkannten Wissenschaft oder der Medien geschafft – was gar nicht gegen sie sprach. Jedenfalls besteht in diesem Bereich weiterhin ein großer Bedarf an Erkenntnissen, was eigentlich die Art des Problems ist, an dem wir leiden und wie und warum es sich so stabilisiert. Ersteres würde man in der Psychologie Diagnose, zweiteres Störungsmodell nennen. Und dann braucht es natürlich die Therapie, die immer auch mit den Ressourcen des Leidenden zu tun haben sollte.

Nun ist die Problematik aber viel zu komplex und zu groß, als dass sie unter bestehenden psychologischen beziehungsweise psychiatrischen Kriterien zu beschreiben wäre. Das wäre eine Anmaßung, die überhaupt nicht weiterhilft. Zumal die ganze Psychologie mit ihren Kriterien ja ein Kind eben jener Zeit ist, die die globale Krise durch ihr Denken hervorgebracht hat. Und trotzdem brauchen wir angesichts der Problematik auch Psychologie. Wie also bin ich vorgegangen?

Ich habe versucht, mich von den aktuellen äußeren Phänomenen in Natur und Gesellschaft leiten zu lassen und sie in eine Wechselwirkung mit unserem Innenleben zu bringen. Nur so kann ein Dialog entstehen. Und aus dem Dialog ein Verstehen und aus dem Verstehen eine Antwort, die mit Ver-Antwortung zu tun hat. Diese Methode beruht letztlich auf Goethes Ansatz, Naturforschung zu betreiben. Er nannte das ein „anschauendes Denken“ und meinte damit ein ganzheitliches lebendiges Denken, das immer vom Phänomen auszugehen versucht. Und dabei abwartet, welche „Organe“ im Seelen-Inneren es anspricht. Letztlich hat seine Haltung das ganze Buch in einem Maße durchdrungen, das mich selbst überrascht hat.

Mit dieser Methode also liegt der Fokus in den ersten zwei Kapiteln auf dem Reich der Natur (Ebene I) und ihrer krisenhaften Transformation. Hilfreiche Literatur dazu war mir unter anderem Capras Verständnis der Systemtheorie, Gleicks Verständnis der Chaostheorie, Lovelocks Gaia Theorie, Schellnhubers Verständnis der Klimaproblematik und Sloterdijks Raumbegriff. In den dann folgenden drei Kapiteln geht es mehr um die gesellschaftlichen Phänomene (Ebene II). Wie wurde unsere globale Gesellschaft, wie sie wurde? Hierbei blieb Sloterdijk wichtig, aber auch der französische Soziologe Bruno Latour, der deutsche Soziologe Hartmut Rosa sowie, neben vielen anderen, auch Harald Welzer waren für mich prägend.

Meine Aufgabe dabei lag neben einem Zusammendenken vieler wichtiger Einsichten (und dem schmerzhaften Weglassen vieler anderer) und dem eigenen Weiterdenken dieser Einsichten, immer wieder in psychologischen Dimensionen: wie also wirkten und wirken diese Phänomene des Außen auf das Innen? Um das bestmöglich beschreiben zu können, habe ich unter anderem auf zwei bestehende Konzepte aus der Entwicklungspsychologie und der Psychotherapie zurückgegriffen, die mir sehr hilfreich scheinen: das Schema-Modell und ein Modell der inneren Anteile. Ich habe damit versucht, innere Phänomene, die sich als Reaktion auf Transformationen in der Natur und der Gesellschaft in uns gebildet haben – körperlich, emotional, gedanklich – zu beschreiben. Ich hoffe, dass diese Sicht helfen kann, besser zu verstehen, warum wir oft eine verzerrte oder von unseren Gefühlen abgespaltene Wahrnehmung haben. Und wie man das schrittweise verändern kann. Das wäre also so etwas wie ein Verständnis- oder auch „Störungsmodell“.

Das reicht aber aus meiner Sicht nicht aus – nicht für eine Transformation im Sozialen. Zum einen, weil es viel zu viel nach Verzicht und Defizit schmeckt, zum anderen, weil wir unsere Wahrnehmungsfähigkeit für unsere Mitwelt und ihre Grenzen wirklich noch deutlich steigern müssen, wenn wir die Gesellschaft intensiv und nachhaltig verändern wollen. Dazu müssen wir ein Sensorium entwickeln, das uns begegnungsfähiger macht: mit uns, mit unserer lokalen Mitwelt und – vermutlich wird das die größte Herausforderung: mit unserer globalen Mitwelt, denn viele der Probleme sind lokal nicht zu lösen. Begegnung bedeutet: den Anderen und das Andere spüren und fühlen, nicht nur denken. Individuell und lokal gibt es schon Methoden, wie wir da weiterkommen – aber was die Beziehung zum Globalen angeht: Wie soll das gehen?!

Wie in jeder Krise eine Chance liegt, könnte auch hier eine liegen. Vielleicht könnte uns ein wirkliches Bewusstsein unserer Atmosphäre, die in einer tiefen Krise steckt, dabei helfen, solch eine „globale Beziehungsfähigkeit“ zu entwickeln. Aber in jedem Fall ist diese Entwicklung der Beziehungsfähigkeit etwas, das man in sich ausbilden muss – sie entsteht nicht von alleine. Woher aber die Ressourcen und das Potenzial dafür kommen können, darum geht es im dritten Teil des Buches: einige der Wahrnehmungsfähigkeiten, der Antennen dafür, haben wir nämlich schon aus unseren früheren Entwicklungsstadien als Menschen. Wir müssen unsere „indigenen“ Fähigkeiten (im Buch werden sie magisch und mythisch genannt) wieder wahrnehmen und praktizieren. Wir brauchen aber auch Seelenfähigkeiten, die eher aus der Zukunft kommen als aus der Vergangenheit, eher aus dem Überbewusstsein als aus dem Unterbewusstsein.

Hierzu habe ich im dritten Teil des Buches diese Phänomene mit Entwicklungsmodellen von Philosophen und Bewusstseinsforschern zusammengebracht, die eine evolutionäre Sicht auf das menschliche Bewusstsein haben. Eine Sicht, die das Bewusstsein (und damit das Erleben der Welt) als wandelbar ansieht und insofern die gegenwärtige Sicht der Welt nicht als die einzig mögliche versteht. Prägend für dieses Buch waren in erster Linie Jean Gebser und C. G. Jung, aber auch Rudolf Steiner und der amerikanische Autor Ken Wilber. Wieder habe ich versucht, aus ihren Einsichten eine psychologische Beschreibung der inneren Fähigkeiten, die wir heute brauchen, zu gewinnen und weiterzuentwickeln – so gut mir dies möglich war. Diese zu entwickelnden Seelenfähigkeiten nenne ich atmosphärisches Bewusstsein. Es kann unser Welterleben sehr intensivieren und bereichern und hat mit Verzichtskultur nichts zu tun – mit Konsumverzicht aber durchaus.

Dieser gerade beschriebene innere Prozess würde auf ein verändertes Erleben der inneren und äußeren Welt herauslaufen: mit einem anderen Raum- und Grenzerleben, einem mehr sphärischen Erleben. Deshalb ist es aus meiner Sicht ein Bewusstseinswandel. Und ich will im Buch immer wieder versuchen, dieses andere Erleben sprachlich darzustellen. Das ist natürlich ein unmögliches Unterfangen. Solche Räume sprachlich zu erschließen, dazu müsste man ein Dichter wie Rilke sein, – und, ja: er hat bereits vor hundert Jahren solche Räume sprachlich erschlossen. Auch Sloterdijk hat das auf vielen tausend Seiten versucht. Wir leben aber in extremen Zeiten, und so habe ich mein Bestes getan, Sprachräume zu kreieren, die dieses veränderte Raum- und Grenzerleben ein wenig erlebbar machen können. Wenn das in Ansätzen gelungen wäre, freute es mich. Aber das Erleben ist die eine Sache. Wir wünschen und brauchen auch Klarheit, die uns hilft, die nächsten Schritte auf der zweiten Ebene, der gesellschaftlichen Transformation, zu tun. Deshalb habe ich mich auch immer wieder um eine Zusammenfassung und Klarstellung bemüht. Beides braucht unterschiedliche Sprachstile: der erste ist eher zirkulär und intuitiv, der letztere eher kausal und rational.

Ich habe das Buch hauptsächlich für Menschen geschrieben, die sich in dieser Transformationszeit tiefer mit der darin enthaltenen psychologischen Problematik auseinandersetzen wollen. Aus meiner Sicht könnte es gerade auch für jene hilfreich sein, die in sich viel Hilflosigkeit und Lähmung angesichts der alarmierenden Nachrichten verspüren. Hilfreich könnte es auch für KlimaaktivistInnen sein, weniger für ihren eigenen bewundernswerten Prozess (da sind viele schon deutlich weiter als der Autor!), sondern um noch besser erkennen zu können, was sie von ihren Mitmenschen – zu Recht – verlangen. Wer Klimaskeptiker ist, wird dieses Buch sehr wahrscheinlich nicht lesen – und doch fände ich gerade das sehr gut. Weil es ja viel mehr von der psychischen Dimension der Problematik handelt, könnte daraus vielleicht ein Austausch entstehen. Und wir brauchen den Dialog ganz dringend, um nicht weiter in eine soziale Spaltung der Gesellschaft zu rutschen.

Wer aber auch immer das Buch liest: Ich hoffe, dass daraus Dialoge entstehen. Denn wir sind alle Pioniere in dieser Umbruchepoche und die nächsten zehn Jahre zählen. Insofern hätte sich das Buch dann am meisten gelohnt, wenn daraus ein weiterführender Prozess entsteht, der uns allen, Ihnen und mir, weiterhilft, in Richtung Vertiefung und Verbreiterung. Vor allem aber in ein Zukunft-schaffendes Handeln!

Berlin, im Herbst 2019

Prolog

Atmosphärisches Bewusstsein

Ist es nicht ein merkwürdiges Phänomen: Wir leben unter einer Atmosphäre, einer Hülle um unseren Planeten, die schützt, die nährt, die wärmt, die Leben gibt. Und obwohl wir alle wissen, dass sie da ist, sehen wir sie nicht. Insofern ist die Atmosphäre in unserem alltäglichen Erleben überhaupt kein bewusstes Phänomen. Sie ist in unserem Erleben das, was ein Teil ihres Namens ausdrückt: Atmos bedeutet Hauch. Ein unsichtbarer Hauch ist diese Sphäre! Sie bildet mit ihrer hauchzarten und gleichzeitig gewaltigen Membran eine Hülle, eine Grenze, die das irdische Reich vom kosmischen trennt. Und damit eine Sphäre kreiert, was so viel wie Kreis oder Kugel bedeutet. Aber – halt! Das ist das nächste Paradox. Das, was sie bildet, ist überhaupt keine Kugel (und auch kein Kreis). Weder aus unserer Perspektive noch von außen betrachtet ist es das. Es ist vielmehr ein gekrümmter Raum, den sie schafft, zwischen zwei Grenzen gelegen: der irdischen Grenze des Erd-Bodens, auf dem wir stehen und aus dem wir sind, und der kosmischen Grenze.

Aber mit dieser Art von Grenze werden wir, die wir so gerne logisch und klar denken, noch unsere liebe Not haben. Denn unsere Atmosphäre ist nach oben hin ein sehr komplexes Gebilde: vier Schichten (plus Magnetosphäre), alle durchsichtig (und so für den realistischen Blick scheinbar gar nicht vorhanden), die sich, Schicht um Schicht, ausdehnen über dem Erdkreis. Es gibt zwar so etwas wie Grenzregionen zwischen den einzelnen Schichten, aber die variieren in Größe und Höhe. Die für uns wichtigste Grenze zwischen Troposphäre und Stratosphäre, in der sich auch das CO2 konzentriert, schwankt beispielsweise zwischen zehn und 16 Kilometern Höhe. So folgt Schicht um Schicht mit einer kurzen Übergangszone als Grenzregion, die jedoch für das Auge unsichtbar ist (siehe Skizze und Erklärung im Kasten). Die letzte – die Magnetosphäre – dehnt sich bis zu 600000 Kilometer hinaus in den Kosmos und bildet immer wieder ein Resonanzorgan – wie eine riesige kosmische Pauke –, in dem beispielsweise die Sonnenwinde vibrieren und zum Teil zurückgestoßen werden. Wo bitte ist hier die Grenze?

Abbildung 1 (Grafik: Olaf Bandini)

Atmosphärenanatomie

Die unterste Schicht ist die Troposphäre: in ihr findet alles Leben statt, deshalb deckt sie sich fast völlig mit der Biosphäre. Es ist die Schicht, in der wir leben. Die unsichtbare Grenze oder Übergangszone zur nächsten Schicht schwankt zwischen zehn Kilometern Höhe (polare Regionen) und 16 Kilometer Höhe (Tropen). Bei uns ist sie ungefähr zwölf bis vierzehn Kilometer hoch. Es ist die Höhe der Kondensstreifen der Flugzeuge. Darüber beginnt die Stratosphäre, in der extreme Winde (die Jetstreams) peitschen und in der es bis zu minus 70 Grad kalt sein kann. In rund 50 Kilometern Höhe kommt die nächste Grenze: die Stratopause und das Tor zur Mesosphäre öffnen sich. Die Temperatur kann hier grenznah auf minus 100 Grad sinken, aber je höher es geht, desto wärmer wird es. Am Ende, im Übergang zur Thermosphäre auf etwa 90 Kilometern Höhe sind es etwa null Grad. In der Thermosphäre findet schon der Übergang in den Kosmos statt, hier zieht beispielsweise die ISS ihre Kreise. Aber immer noch ist kein vollständiges Vakuum erreicht, denn es kommen noch einige Gase vor. In der Exosphäre, die ab 500 Kilometern Höhe beginnt, gibt es bald nur noch Wasserstoffatome. Hier ist nach der NASA-Definition der fließende Übergang in den Weltraum; hier befindet sich auch die Magnetosphäre. Diese hat aber genauso eine Schutzfunktion im elektromagnetischen Bereich wie es die tiefere Atmosphäre im stofflichen Bereich hat.

Wenn wir unseren Blick aber gen Erdboden richten (um scheinbar mit dem Leichteren anzufangen, denn hier stehen wir „auf dem Boden der Tatsachen“) dann entpuppt sich auch diese Grenzregion als völlig diffus. Erstens besteht „der Boden“ zu zwei Dritteln aus Wasser oder Eis. Und zweitens ist auch diese Grenzregion nicht dicht, sondern durchlässig für tiefere Schichten, aus denen beständig Stoffe wie CO2 oder Methan, Mineralien oder Lava in die Atmosphäre gelangen, um an ihr zu gestalten. Genau betrachtet ist auch dieser Boden nur eine Sphäre, also wieder ein gekrümmter Raum zwischen zwei anderen. Denn in der Tiefe der Erde gibt es weitere davon: unter der Krustensphäre, von der wir gerade sprachen, liegen verschiedene Mantel- und Kernsphären.

Und als wäre das nicht schon schwer genug zu imaginieren, gehört zu dem vollständigen Bild selbstverständlich dazu, dass sich alle Sphären, ob dichter oder weniger dicht, beständig bewegen, innerhalb ihres Raumes und im Verhältnis zueinander.

Abbildung 2: Außau der Atmosphäre (Quelle: Dreamstime.com)

Wir leben also – wie alles Leben – in diesem gekrümmten Raum im untersten Teil unserer Atmosphäre, der Biosphäre oder Troposphäre. Eingegrenzt von zwei anderen Sphären: der festen Erdkruste und der Stratosphäre.

Zwischen diesen beiden Grenzregionen, mit denen beständig Materielles und Nicht-Materielles ausgetauscht wird, bildet sich also dank der Atmosphäre eine „Atmosphäre“, in der wir leben können. Aber wieder geht unser rationales Denken in die Irre: diese Biosphäre wird nicht von „ihr“ gebildet. Sie wird von allem gebildet, was in ihr lebt: das Wasserstoffatom, die Holzkohle, das Great Barrier Reef, der Eukalyptusbaum, das Hochmoor in den Anden, die Milchkuh, Sie, ich – wir alle bilden diese Atmosphäre zusammen. Und so landen wir bei einem weiteren Paradox: einerseits gibt uns die Atmosphäre den Raum zum Leben – hier sind wir also Empfangende. Und andererseits bilden wir mit an diesem Lebensraum – hier sind wir also Mitschöpfer.

So leben wir in diesem gekrümmten Raum zwischen zwei durchlässigen Grenzen, die Tore sind zu anderen Sphären und meinen (wenn wir überhaupt darüber nachdenken), dass wir auf einer festen Kugel leben, die nach oben hin offen ist – wenn nicht gerade die Wolken den Blick verhängen. Offen hin zu den unendlichen Weiten des Kosmos. Und dabei vergessen wir oft – das war ja unser Ausgangspunkt – dass wir eine Atmosphäre haben, die uns umhüllt und versorgt. Sie ist das einzige Medium, das uns global verbindet: Land ist unterbrochen, Wasser ist unterbrochen, Eis ist unterbrochen: alleine die Troposphäre (Biosphäre), mit ihren staubförmigen, wässrigen, wärmenden und abkühlenden Komponenten ist wirklich global. Sie könnte uns – genau betrachtet – ein Bewusstsein geben von unserer globalen Verbundenheit. Wenn wir uns ihrer bewusst wären …

So aber treibt uns die Atmosphäre erst um, seit sie sich mehr und mehr verkapselt. Seit sie also dichter wird, als es uns allen guttut. Aber, wir haben es ja gerade gesehen: wir alle bilden die Atmosphäre und es ist wissenschaftlich unbestritten, dass wir an dem Verdichtungsprozess großen Anteil haben. Höchste Zeit also, mehr Bewusstsein von ihr und diesen Vorgängen zu erlangen. Zeit also, an einem „atmosphärischen Bewusstsein“ zu arbeiten, das uns hilft, mehr von diesen wechselwirkenden Prozessen wahrzunehmen und zu erkennen – und nicht nur intellektuell zu wissen.

I. Kapitel

Biosphäre

Hier wird die Erde als lebendiger Organismus beschrieben, dem Begriffe wie organisch-anorganisch nicht gerecht werden. Und es ist vom Menschen die Rede als Teil dieses lebendigen Organismus, der aber die „Fühlung“ verloren hat für seine Atmosphäre, sei es die äußere, in der die CO2-Konzentration steigt, sei es die innere, von der er sich mehr und mehr entfremdet. Am Ende werden zwei unterschiedliche Kurven gegenübergestellt: eine dynamische Wachstumskurve und eine zyklische vom Werden und Vergehen. Und es werden zwei Fragen gestellt, die uns im weiteren Verlauf beschäftigen werden: Was blockiert uns in unserem Handeln? Und welche Seelenfähigkeiten brauchten wir, wenn wir nicht mehr blockiert wären, um angemessen zu handeln?

„Die Menschheit hat ein großangelegtes geophysikalisches Experiment begonnen, das es in dieser Form weder in der Vergangenheit gab noch in der Zukunft ein zweites Mal geben wird.“Roger Revelle1

Wann fängt eine Sache an zu existieren? Das ist in den meisten Fällen selbst im Nachhinein schwer zu sagen. Was den Klimawandel anbelangt, ist es dreifach schwer.

Denn wie sieht Klimawandel denn aus? Der Hauptverursacher, ein chemisches Molekül, die Kohlenstoffverbindung CO2, ist ein natürliches Gas – willkommener „Sauerstoff“ für Billiarden von Pflanzen: unsichtbar, riecht nicht, schmeckt nicht, lärmt nicht, tut nicht weh. Sein Anstieg ist, prozentual gesehen, minimal: von 0,028 Prozent auf 0,04 Prozent in der Atmosphäre. Und der Konzentrationsprozess, der das Problem ist, findet rund 16 Kilometer über unseren Köpfen statt – hier entsteht eine minimal dichtere Atmosphäre, die dazu führt, dass Sonnenstrahlen zwar weiterhin problemlos eindringen können, nach ihrer Reflexion auf der Erde aber nicht mehr so gut abstrahlen können. Dadurch erwärmt sich, wie in einem Treibhaus, die Erde, peu à peu – eigentlich ganz unspektakulär. Wenn man also irgendeine chemische Verbindung konstruieren müsste, die sich dazu eignet, ein dramatisches Geschehen über eine längere Zeit möglichst undramatisch in die Wege zu leiten – hier hätte man sie.

Eine Sache fängt auf Erden an zu existieren, wenn sie sich zeigt – das ist die eine Bedingung. Aber sie muss auch wahrgenommen werden – das ist die andere. Wahrgenommen von einem Wesen, das wahrnehmen kann, das also ein Bewusstsein hat. Damit aber eine Sache wie der „Klimawandel“ (wir werden noch sehen, dass „Klimakrise“ das deutlich angemessenere Wort ist) wahrgenommen werden kann, braucht es mehr als ein paar Augen oder eine Nase und einen passenden Begriff, denn wir haben ja schon gehört, dass sie durch die primären Sinne nicht wahrnehmbar ist. Neben dem, dass sie erstmal da sein muss, braucht es also Geräte, die Konzentrationen messen können. Es braucht Einheiten und Maßstäbe für diese Geräte. Und es braucht zähe Wissenschaftler, die an etwas dranbleiben, das erst mal ziemlich unspektakulär anmutet. Das ist die zweite Bedingung.

Aber auch damit ist es nicht getan. Denn auch Werte und Konzentrationen, sagen wir die Temperatur- und CO2-Konzentrationskurven der letzten 50 Jahre, sind ohne weiteren Kontext ziemlich nichtssagend. Es braucht also drittens eine sehr komplexe Wissenschaftsmethode, die sich mit systemischen Vernetzungen, Wirbelbildungen, Transformationsvorgängen im Bereich der vier Elemente, also des Wässrigen, Luftigen, Erdigen, Feurigen beschäftigt. Und zwar nicht nur lokal, sondern global. Denn das Klima ist kein lokales Phänomen, sondern ein den Globus umspannendes: gigantische Flusssysteme in der Tiefe des atlantischen Ozeans wollen genauso mitbedacht werden wie Jetstreams (also Luftströme) in der Stratosphäre Euroasiens; Lavabewegungen unter kilometerdicken Eisschichten der Antarktis genauso wie riesige Methangasfelder, die in den (noch) gefrorenen Permafrostböden Sibiriens lagern. Sie alle hängen irgendwie miteinander zusammen; eine Veränderung des einen Systems verändert auch das andere.

Aber wenn man das Klima verstehen will, darf man es nicht nur als ein physikalisches Geschehen fassen. Das wäre, mit seinen komplizierten Strömungs- und Wirbelprozessen (mit denen sich die Chaosphysik in den letzten 50 Jahren beschäftigt hat) schon kompliziert genug. Auch Prozesse aus der Biosphäre selber, der Atem der Wälder, das Gewicht der Biomasse zu einem gewissen Zeitpunkt, die unterschiedlich intensive Reflexion von Sonnenlicht, abhängig davon, ob sich auf der Fläche Wüste oder eine Wiesenlandschaft befindet, spielen hier mit hinein. Und ebenso haben kosmische Faktoren, entstanden durch periodische Rüttelungen und Neigungsschwankungen unseres Planeten in seiner Bahn um die Sonne, ihren Einfluss. Überhaupt: Klima und Leben sind ohne die Wärme und das Licht, also ohne den Einfluss des Kosmos, nicht zu verstehen.

Und last but not least hat sich in diese Reiche der Natur und des Kosmos ein Akteur mit hineinvernetzt, der sich aus ihren Reichen schon so ziemlich verabschiedet wähnte: der Mensch! All das musste und muss in ein wissenschaftliches Konzept gebracht werden, mit dem gedacht, gemessen und gerechnet werden kann: das Konzept der Klimawissenschaft.

Drei Dinge mussten also zusammenkommen: das Phänomen, die Wahrnehmung mittels technischer Gerätschaften und ein Begriff davon mittels einer sehr komplizierten wissenschaftlichen Theorie/Methode. Erst dann begann der Klimawandel zu existieren. Und natürlich konnten sie nur zusammenkommen, weil es schon eine Geschichte davor gab, eine Vor-Geschichte, sowohl der Erderwärmung als auch der Klimaforschung. Erstaunlicherweise dauerten beide Vorgeschichten sogar ziemlich gleich lang: etwa rund 250 Jahre. Zusammengekommen aber sind sie im Jahre 1958 auf einem mächtigen Vulkan, dem 4000 Meter hohen Mauna Loa auf Hawaii. Zusammengebracht hat sie ein amerikanischer Chemiker, Edward Keeling. Vielleicht ist es nicht unwesentlich, dass Keeling kein ganz typischer Vertreter seiner Zunft war.

In seiner kurzen Autobiographie (Belohnungen und Bestrafungen beim Vermessen der Erde) nennt er das Kindheits-Kapitel Between Art and Science: 1928 in der Nähe von Chicago geboren, sah es lange Jahre so aus, als ob er eine Karriere als Konzertpianist einschlagen würde. Als 13-Jähriger verbrachte er die Samstagnachmittage in den Salons reicher Damen, für die er musizierte, um damit das Familieneinkommen aufzubessern. Dass das notwendig wurde, war im doppelten Sinne den Nachwehen der großen Depression von 1929 geschuldet und hatte mit seinem Vater zu tun. Der war nämlich bis zu eben jener Depression Investmentbanker gewesen und litt unter den Folgen des Finanzcrashs nicht nur materiell, sondern auch seelisch. Er hielt die sozialen Folgen des Finanzsystems für eine Katastrophe und – schlimmer noch – für eine vermeidbare Katastrophe. Keeling spricht in seiner Autobiographie bewundernd über das Engagement und das hohe Ethos seines Vaters; er war es, der das wissenschaftliche Element in seine Erziehung brachte, der ihn die Ehrfurcht vor Natur und Kosmos gelehrt hatte, indem er schon mit dem fünfjährigen Edward astronomische Modelle bastelte. Da in dieser sehr knappen Autobiographie kein Platz ist für Nebensächlichkeiten, wird es ihm wichtig gewesen sein – und uns auch: denn die Verknüpfung von Wirtschaft und Wissenschaft sind wichtiger Topos in diesem Buch, genauso wie der Mangel an Ehrfurcht und Staunen, was die Natur anbelangt. Beides also schien Keeling mitbekommen zu haben, zusammen mit einer hohen Musikalität.

Schließlich entschied sich Keeling doch für ein Chemiestudium und promovierte über Polymerverbindungen, konnte sich aber (was bei dieser Thematik schlüssig gewesen wäre) ein Leben im Labor nicht vorstellen. Immer wieder nutzte er freie Zeiten für wochenlange Exkursionen in die einsamen Bergwelten der Rocky Mountains, um zu klettern, aber auch, um geologische und astronomische Studien zu betreiben. Keeling war aber bei allem Freiheitsdrang ein sehr gewissenhafter Wissenschaftler, der mit dem damals neuesten Gerät sorgfältige und sehr komplizierte Messungen unternahm. Und er war offensichtlich mit einem starken Willen und großer Beharrlichkeit ausgestattet. Beides brauchte er: Beharrlichkeit, um über 40 Jahre an Messungen dranzubleiben, die erst einmal nicht besonders sensationell erschienen. Und einen starken Willen, um auch dann noch dranzubleiben, als die Messungen langsam sensationell wurden. Und damit für die eine oder andere Lobbygruppe auch sensationell bedrohlich.

1957 wurde er also mit einem Forschungsprojekt beauftragt, das mit der Frage der unterschiedlichen Verteilung und zeitlichen Konstanz von CO2 zu tun hatte. Das war für Wissenschaftler aus unterschiedlichen Gründen interessant. Zum einen hatte es schon seit längerem von einzelnen Wissenschaftlern den Verdacht gegeben, dass unser auf fossilen Energieträgern basierendes Wirtschaftssystem etwas am CO2-Gehalt verändern könnte, was dann Einflüsse auf Klima und Erwärmung haben könnte. Es gab aber auch ganz andere Gründe, die CO2-Verteilung interessant zu finden, die von der Atomphysik bis hin zur C14-Datierungsmethoden reichten. Neu an der Forschung war, dass es nun technisch deutlich bessere Messgeräte als in der Vergangenheit gab, die überdies in der Lage waren, kontinuierlich, also durchgehend über das Jahr, zu messen. Gemessen wurde auf einer Station in der Antarktis und auf regelmäßigen Messflügen in der Stratosphäre. Hauptmesspunkt aber war eben jener Vulkan auf Hawaii, der Mauna Loa, Keelings Homebase.

Abbildung 3: Zwei Keeling Kurven

Schon nach wenigen Jahren zeigten sich erstaunliche Ergebnisse. Ergebnisse von ganz unterschiedlicher Qualität. Die einen hatten einen zyklischen Charakter, die anderen einen linearen. Die einen waren faszinierend, die anderen alarmierend (siehe Graphik).

Zyklische und lineare Kurven

Die zyklischen Kurven umfassen Qualitäten von Rhythmus und Wechselwirkung: die Erde als gesamter planetarer Organismus hat einen Rhythmus von Ein- und Ausatmen. Keeling fand nämlich heraus, dass der CO2-Gehalt in der Atmosphäre schwankt, aber nicht chaotisch, sondern in festen Rhythmen. Er ist morgens höher als abends, er ist im Frühjahr größer als im Herbst, die Konzentration ist auf der Nordhalbkugel etwas kleiner als auf der Südhalbkugel. Die Erde, sie atmet über ihre Biosphäre, über die Trilliarden von Wesen: Algen, Plankton, Farne, Bäume ein und aus (und weil es auf der Nordhalbkugel mehr Vegetation gibt, ist die CO2-Konzentration minimal kleiner). Die Erde, sie macht den Eindruck eines lebendigen Organismus, der atmet, ein und aus, der dabei sein „Zwerchfell“, das in der Biosphäre liegt, ein Stück weit verschiebt, je nach Jahreszeit, in der mehr Biomasse emporwächst oder abstirbt. Und diese Verschiebung hat sogar Auswirkungen auf ihre Rotation: sie führt zu leichtgradigen Unregelmäßigkeiten über die Unwucht der Masse, sodass die Erde gleichmäßiger oder ungleichmäßiger rotiert.

Bevor ich auf die andere Kurve zu sprechen komme, möchte ich gerne bei diesem Sachverhalt verweilen, den Blick weg von Mauna Loa und Keeling wenden und ihn etwas weiten – angereichert mit Erkenntnissen, die Keeling damals noch nicht haben konnte.

Die Erde atmet also über ihr „Zwerchfell“ ein und aus, was wiederum – erstaunlicherweise – (feine) Auswirkungen auf ihre Rotationsgeschwindigkeit hat. Und das hat Einfluss auf ihre Atmosphäre. Denn durch die biologischen Prozesse, die auf ihr stattfinden, verändert sich die Zusammensetzung ihrer Hülle. Die Konzentrationsverhältnisse in dieser feinen Hülle, in dieser Membran, die sich um ihre Kugelgestalt schmiegt – (oder ist sie Teil ihrer Gestalt, nur in etwas geringerer Verdichtung?) – sind nicht so, wie sie chemisch wären, wenn es keine Atmungsprozesse gäbe. Sie sind aus dem „natürlichen“ Gleichgewicht gebracht. Es ist verändert: weil da etwas atmet, weil da etwas lebt.

Man schreibt das und man liest das und man liest es vielleicht sogar mit einer gewissen Faszination – und doch. Man sollte kurz innehalten und darüber nachdenken:

Die Erde atmet ein und aus. Und sie hat eine Atmosphäre, die sie von allen anderen bisher bekannten Planeten, ob innerhalb oder außerhalb des Sonnensystems, unterscheidet: eine Atmosphäre, die, mit den Methoden der Physik oder der Chemie betrachtet, abnorm ist, weil die Konzentrationsverhältnisse von Stickstoff, Sauerstoff, Kohlendioxid aus dem natürlichen chemischen Gleichgewicht gefallen sind. Weil die Temperatur nicht stimmig ist. Weil der Salzgehalt ihres Meeres nicht stimmig ist. Sicher, auch die Atmosphären eines Mars und einer Venus sind komplizierte Gebilde, auch deren Prozesse sind so komplex, dass es einer besonderen Form der Physik bedarf, der Chaosphysik, sie zu berechnen. Aber ihre Atmosphären haben ein Konzentrationsverhältnis, das aus physikalisch-chemischer Sicht normal ist. Anders unsere Erde; sie ist gewissermaßen aus dem üblichen Gleichgewicht gefallen. Und dieses Gleichgewicht ist „gestört“, weil da etwas auf ihr atmet, weil da etwas auf ihr lebt. Und das was lebt, ist zutiefst verbunden mit dem was nicht lebt – weil sie lebt. Die Erde – ein lebendiger Organismus!

Das gleiche gilt nicht nur für die Atmosphäre, es gilt auch für die Hydrosphäre (das Wässrige) und die Lithosphäre (das Erdige), für den Boden, auf dem Sie gerade sitzen, er ist voller Leben: Milliarden von Mikroben bevölkern ihn, beleben ihn, machen, so Sie sich auf einem fruchtbaren Landstrich befinden, eine belebte Humusschicht. Organisches und Anorganisches formen einen Organismus, den Humus. Aber auch wenn Sie in der Wüste säßen oder auf einem Felsbrocken in den Kalkalpen oder auf einem Basaltbrocken am Meer – Sand, Fels, Lava sind durch einen Prozess gegangen, einen Stoffwechsel gegangen, durch den sich Lebendiges und Nichtlebendiges, Organisches und Anorganisches miteinander ausgetauscht, verwoben und verbunden haben, sodass es nicht mehr separiert zu denken ist. Nehmen wir, schließlich ist er ja einer der Protagonisten dieses Buches, erneut den Kohlenstoff – diesmal aber in einem Stoffwechselkreislauf, den Sie in drei Minuten gelesen haben werden, der aber als Vorgang viele Millionen Jahre gedauert hat oder in Zukunft dauern wird.2 Auch das ist eigentlich wieder eine Imagination:

CO2 wird in der Atmosphäre durch Wolken an Wasser gebunden; es bildet sich Kohlensäure. Regnet es, greift der leicht saure Niederschlag das mineralische Gestein des Bodens an – was zur Bodenverwitterung führt. Dabei wird die Kieselsäure herausgelöst (diese besteht aus Silikat) und es werden neue mineralische Verbindungen gebildet. In diesem Prozess nun wird Kalk (Kalzium und Hydrogencarbonat – da steckt das CO2 drin) ausgewaschen und freigesetzt. Die Kalkverbindungen gelangen nach und nach über Bäche und Flüsse ins Meer. Dort werden sie von unterschiedlichen Meerestieren (Muscheln, Krebsen, Garnelen) verwendet zum Aufbau ihrer Schalen und Skelette. Nach dem Ende ihres Lebens versinken sie auf den Grund des Meeres. Hier bilden sich mit der Zeit riesige Flächen von Karbonatsedimenten.

Alles, was ist, ist in Bewegung. Das gilt auch für die Kontinentalplatten, selbst wenn das aus menschlicher Perspektive kaum wahrnehmbar erscheint. Insofern bleiben auch diese „Kalkmeere“ nicht an Ort und Stelle, sondern verfalten sich, denn sie „ruhen“ auf den tektonischen Platten der Kontinente oder Ozeane, die sich jedes Jahr 1,5 Zentimeter voneinander weg beziehungsweise aufeinander zu bewegen. Sie bewegen sich auf dem feurigen Element, der oberen Mantelsphäre (siehe Abbildung). Bewegen sie sich aufeinander zu, wird irgendwann der mit Milliarden Tonnen Muschelkalk bedeckte Meeresboden hochgedrückt, wird zu Bergen, zu Kalkalpen. Oder wird wieder eingedrückt, zwischen den Kontinentalplatten zermalmt, kommt in Berührung mit der glutheißen Lava und wird irgendwo in einer Vulkaneruption wieder ausgespien, aus der Lithosphäre in die Atmosphäre, wo sich das CO2 wieder aus dem Vulkandampf löst und sich in 16 Kilometern Höhe anlagert. Dort wird es dann wieder durch Wolken an Wasser gebunden.

Also auch die Lithosphäre ist nicht nur anorganisch zu denken. Die Erde als Ganze ist ein lebendiges System. Dieser Gedanke lebt seit vielen Jahrtausenden in den unterschiedlichsten spirituellen Traditionen; und auch in der westlichen philosophischen und naturwissenschaftlichen Geschichte wurde er immer wieder von einzelnen großen Geistern gedacht.3 In den 1960er Jahren wurde er in die moderne naturwissenschaftliche Tradition hereingebracht von James Lovelock und Lynn Margulis. Wie Lovelock, ein Chemiker, Biochemiker, Geophysiker, Mediziner und Erfinder, auf die Idee kam, die ihm „plötzlich … wie eine Eingebung“, kam, beschreibt er in seinem 1992 erschienen Buch Gaia – die Erde ist ein Lebewesen.4 Er war Mitte der 1960er Jahre bei der NASA angestellt, um das Viking-Sondenprogramm zu entwickeln. Dabei ging es zu einem großen Teil um die Marsmission und die Frage, ob es auf unserem Nachbarplaneten Leben gibt. Lovelock und Lynn Margulis aber entwickelten in den nächsten Jahren die Organismustheorie der Erde weiter. Ein Nachbar von Lovelock, der Literaturnobelpreisträger William Golding (Lord of the flies) hatte die Idee, die Theorie nach der griechischen Erdgöttin Gaia-Hypothese zu nennen. Obwohl Lovelock von Anfang an betonte, dass seine Theorie überhaupt nicht esoterisch zu verstehen sei – Gaia sei kein beseelter, kein selbstbewusster Organismus, sondern ein komplexes lebendiges System ohne Steuermann – wurde die Theorie anfänglich heftig von der konventionellen Wissenschaft bekämpft, denn sein systemischer, ganzheitlicher Ansatz konnte einer reduktionistischen Biologie, Biochemie und Geologie nicht verständlich sein. Die Forschungsmethoden von Lovelock und seiner Kollegin Lynn Margulis waren aber immer vollständig kompatibel mit der konventionellen Naturwissenschaft (und nach meinem Wissen ist keine ihrer Grundtheorien widerlegt worden) – der einzige Unterschied war ihre Offenheit für neue Ideen und ihr fachübergreifender Ansatz. Lovelock beschreibt ihn so:

„Die herkömmliche Wissenschaft definiert ‚Ökosystem’ als stabiles, sich selbst erhaltendes System aus lebendigen Organismen und ihrer unbelebten Umwelt. Nach dieser Anschauung verändern die Organismen ihre Umwelt nicht, sondern passen sich ihr lediglich an. Aus der Gaia-Perspektive betrachtet sind die beiden Komponenten des Systems, das Lebendige und das Nichtlebendige, zwei eng gekoppelte und wechselwirkende Kräfte, die einander formen und beeinflussen.“5

Organisches und Anorganisches bilden also zusammen einen Organismus, ein System. Lovelock vergleicht das mit einem Mammutbaum: 97 Prozent des Mammutbaumes ist abgestorben: „Der massive Stamm ist tot, die dicke Rinde ist tot. Der einzige lebendige Teil des Baumes ist eine dünne Zellschicht (Kambium) zwischen Stamm und Rinde.“ Natürlich waren auch die 97 Prozent einmal lebendig. Und natürlich ist der Mammutbaum das Ganze und nicht nur die drei Prozent, in dem sich die lebendigen Prozesse abspielen. Der Mammutbaum, dieser mächtige, lebendige biologische Organismus, ist ein Ganzes, eine Gestalt: eine lebendige Gestalt! Genauso ist die Erde, Gaia, die aus organischen und anorganischen Anteilen besteht, ein Ganzes: eine lebendige Gestalt.

Bevor ich nun in Kürze wieder zurück zu Keeling und dem Mauna Loa und zu der angedeuteten zweiten Kurve komme, möchte ich unseren Blick noch einmal erweitern, quasi noch ein paar weitere Fenster öffnen, die Keeling so noch nicht zur Verfügung standen. Fenster, die in den letzten 60 Jahren in den unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen aufgegangen sind und die alle mit zwei Erkenntnissen zusammenhängen. Erstens: Dinge, ob lebendig oder nicht, hängen miteinander zusammen, sind vernetzt, teilen Räume miteinander. Sie sind isoliert gar nicht zu verstehen. Es gibt insofern keine Umwelt, sondern eine Mitwelt. Und das gilt, zweitens, auch für geistige Prozesse. Geist existiert nicht im luftleeren Raum

und nicht in einer völlig abgekapselten Innenwelt. Auch der Geist vernetzt sich mit dem Inneren und Äußeren.

Einige Beispiele: