#klimaretten - Rainer Grießhammer - E-Book

#klimaretten E-Book

Rainer Grießhammer

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Beschreibung

Die Klimakrise ist da, auch schon in Deutschland zu spüren, und endlich kommt Bewegung in die satte und träge Gesellschaft. Fridays for Future sei Dank. Aber wie kann die Klimaerhitzung gestoppt werden? Ein radikaler ökologischer und zugleich sozialverträglicher Strukturwandel ist nötig – im Energiesektor, bei der Mobilität, bei Landwirtschaft und Ernährung, und im Gebäudebereich. Verhalten und Verhältnisse müssen geändert werden – das eine geht nicht ohne das andere. Rainer Grießhammer, Experte für Umweltpolitik und Konsum, beschreibt die wichtigsten politischen Forderungen, sowie Verhaltensmaßnahmen, die wirklich "was bringen" und Druck auf die Politik ausüben. Das gut strukturierte Buch enthält Fakten- und Infoboxen, die auch für sich allein gelesen werden können: Klimachecker-Grafiken, Klartexte zur missratenen Klimapolitik, positive Zukunftsvisionen, FAQs, Aktionsvorschläge und Prima-Klima-Tipps.

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Rainer Grießhammer

#klimaretten

Jetzt Politik und Leben ändern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020, Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau

2., durchgesehene Auflage 2020

www.lambertus.de

Umschlaggestaltung, Layout: Nathalie Kupfermann, Bollschweil

Fotonachweis: Adobe Stock

Satz: Astrid Stähr, Solms

Grafik: Bertram Sturm

Druck: Elanders GmbH, Waiblingen

ISBN: 978-3-7841-3203-7

ISBN pdf ebook: 978-3-7841-3204-4

ISBN epub: 978-3-784-3205-1

GUTE ARGUMENTE, FAKTEN UND CO2-WERTE – JETZT UND HIER!

Das Buch ist ungewöhnlich aufgebaut und leicht zu lesen. Es ist ein politisches Buch und zugleich ein Handbuch für Aktivist*innen und für Konsument*innen, die ihr Leben wirklich ändern wollen. Wer gegen die Klimaerhitzung kämpft, muss Bescheid wissen. „Fridays for Future“-Aktivist*innen finden hier schnell die wichtigsten Fakten, wie CO2-Werte und gute Argumente für die politische Debatte und Streitgespräche. Das Buch ist natürlich auch für die „Parents for Future“ und „Grandparents for Future“ eine echte Quelle, und selbst die „Scientists for Future“ haben damit ein gutes Nachschlagewerk. Die siebzig grün hinterlegten und mit einem #Hashtag markierten Sondertexte können getrennt vom restlichen Text gelesen und verstanden werden (Verzeichnis siehe Seite 252f.)

#klimaChecker: Viele Menschen glauben, dass sie sich „eigentlich“ klimafreundlich verhalten – von dem zu großem Auto und der zu großen Wohnung und den schönen Reisen mal abgesehen. Welch ein Irrtum!

#klimaKlartext: Zum politischen Betrug der EU-Flottengrenzwerte; der selbst verschuldeten Krise der Automobilindustrie, und zum Bürger-Boykott gegen Windkraft

#klimaPolitik: Zu den zentralen Diskussionen zu Fliegen, Tempolimits, Dienstwagenbesteuerung

#klimAktiv: Politische Initiativen (z.B. „Der Große Radschlag“), Gruppeninitiativen (z. B. „Keine Abi-Reise per Flugzeug“), konkrete Verhaltenstipps, Argumente, um andere zu überzeugen

#klimaStory: Visionen, Essays, überraschende Berechnungen, mit denen man Verhaltensänderungen oft besser auslösen kann als mit der Beschreibung von Katastrophen und Fehlverhalten

#klimaFAQ: Zu den kniffligen Themen wie etwa Atomkraft, Elektroautos, CO2-Kompensationen

Auch die Kapitel zu Mobilität, Ernährung, Wohnen und Strom können getrennt gelesen werden. Wer das ganze Buch liest, wird die Zusammenhänge von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik bei der Klimarettung besser verstehen. Ausführlich behandelt werden Klimapolitik, das Klimaprogramm der Bundesregierung, der Überflusskonsum, Konsumverhalten (mit den acht einmaligen großen Entscheidungen) und die alte Streitfrage: Verhältnisse oder Verhalten ändern? Das ausführliche Stichwortverzeichnis ermöglicht ein schnelles Auffinden von Themen (S. 254ff.) Im Glossar werden einige nicht jedem bekannte Abkürzungen wie EEG, ÖPNV erläutert sowie die für das Verständnis zentralen physikalischen Einheiten wie kW, kWh, GWh etc. Weiter werden die für die Berechnungen zugrunde gelegten Werte der CO2-Werte, der Kosten und Einsparungen aufgelistet.

VORWORT

Als Wissenschaftler, langjähriger Klimaschützer und Autor von Büchern zu Klimaschutz erlebe ich in den letzten Jahrzehnten ein Wechselbad der Gefühle. Zuversicht nach der ersten internationalen Vereinbarung, dem Kyoto-Protokoll (1997), Frust über die viel zu kleinen Fortschritte bei den zahlreichen weiteren Klimaverhandlungen, Freude über den riesigen Fortschritt und die Kostensenkung bei Photovoltaik und Windenergie, Ärger über den Ausstieg der USA aus dem internationalen Klimaschutz und über die vielen Windenergie-Gegner*innen in Deutschland.

Trotz zahlreicher Initiativen steigen die globalen CO2-Emissionen, wird das Klima weiter erhitzt und die Zeit immer kürzer, in der katastrophale Auswirkungen der Klimaerhitzung noch verhindert werden können. Während ich bei der älteren Generation oft den Eindruck hatte, dass die sich nach dem Prinzip „Nach mir die Sintflut“ zurückhält, war ich zunehmend erstaunt, dass sich in der Jugend kein wesentlicher Protest regte.

Mit dem begeisternden Weckruf von „Fridays for Future“ wird nun aber ein neues Zeitalter beginnen. Die riesige und positive Resonanz darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Widerstand gegen Klimaschutzmaßnahmen nach wie vor groß ist – in Politik und Wirtschaft, aber potenziell auch bei den mehreren Dutzend Millionen Autofahrer*innen, Eigenheimbesitzer*innen und Mieter*innen – die allesamt auch Wähler*innen sind.

Für die Überzeugung der Gegner*innen, Skeptiker*innen gegenüber der drohenden Klimakatastrophe und der großen Mehrheit der bewegungslos Verharrenden brauchen „Fridays for Future“-Aktivist*innen gute Argumente, Fakten und Zahlen. Damit sie souverän argumentieren können, habe ich dieses Buch geschrieben.

Das Wechselbad der Gefühle geht weiter. Am 20. September beteiligte ich mich wie viele Millionen Menschen weltweit und zusammen mit 30.000 Mitmarschierenden im kleinen Freiburg auf der Demo von „Fridays for Future“ und war von der Breite der Bewegung, der Aufbruchsstimmung und den Diskussionen begeistert. Am Nachmittag las ich dann mit Spannung die Erklärung der Bundesregierung zu ihrem Klimaschutzprogramm – und empfand wirklich körperliche Schmerzen beim Lesen dieser mutlosen Beschlüsse.

Ich war tief enttäuscht von dem Mangel an Visionen und dem fehlendem Glauben an eine Veränderbarkeit von Politik und Gesellschaft. Dabei hat engagierter Klimaschutz gleichzeitig mehrere positive Auswirkungen – auf die Gesundheit der Bevölkerung, die Reduktion von Lärm und Schadstoffen, auf die Innovationskraft der Wirtschaft, Arbeitsplätze in Zukunftsbranchen, die Senkung der hohen externen Kosten und der Abhängigkeit von Energieimporten. Einmal getroffene und gut begründete Entscheidungen werden von der Bevölkerung aber sehr wohl mitgetragen. Man denke nur an die Durchsetzung des zuvor heftig umstrittenen Rauchverbots in Gaststätten und öffentlichen Einrichtungen.

Bei Vorträgen und Diskussionen wird mir immer wieder die Frage gestellt, ob man Verhalten oder Verhältnisse bzw. Politik und Rahmenbedingungen ändern muss. Das beantworte ich im Buch gleich an mehreren Beispielen: Man muss die Politik ändern. Und das eigene Leben ändern. Das eine geht nicht ohne das andere.

Trotz vieler Studien und Informationen gibt es vielfach Fehleinschätzungen über die richtigen politischen und privaten Maßnahmen. Ja – in der Klimapolitik sind hohe CO2-Preise superwichtig, aber sie sind keinesfalls ausreichend. Genauso wichtig sind ordnungsrechtliche Verbote (z. B. Tempolimits) und Gebote (z. B. zur verpflichtenden Gebäudesanierung). Viele Konsument*innen glauben, dass ökologischer Konsum teuer ist und dass man den ganzen Tag an irgendwelche Verhaltenstipps denken muss. Das Gegenteil ist der Fall: Mit klimafreundlichem Konsum kann man deutlich Geld sparen; und mit wenigen wichtigen Einzelmaßnahmen legt man die Höhe des Konsums in den nächsten Jahren fest. Und der Konsum ist bislang leider viel zu hoch.

Mit den Klimachecker-Tabellen im Buch können Jugendliche in kurzer Zeit den eigenen Konsum und den der Eltern, Verwandten, Nachbar*innen oder Freund*innen einstufen – in der Regel ist der viel klimaschädlicher als gedacht! Tut mir leid, wenn das Ärger gibt.

Viele sind zufrieden, wenn sie den Müll trennen, ein paar LED einschrauben und Plastiktüten vermeiden. Das sollte man auf jeden Fall tun – aber man muss auch wissen, dass der Ferienflug nach Australien den gleichen Klimaeffekt hat wie die Produktion und Verbrennung von 500.000 Plastiktüten (fünfhunderttausend). Aber das besonders klimaschädliche Fliegen wird politisch gezielt befördert. Es gibt also noch viel zu tun!

Das Honorar für die erste Auflage des Buchs geht als Spende an „Fridays for Future“.

Für die große Unterstützung bei der Entstehung des Buchs danke ich Moritz Gartiser (Recherche), für das kritische Gegenlesen einzelner Kapitel Dieter Seifried (Ö-quadrat) und meinen Kolleg*innen vom Öko-Institut (Veit Bürger, Carl-Otto Gensch, Jenny Teufel, Christof Timpe und Wiebke Zimmer). Für die schnelle Erstellung von Grafiken und das Layout danke ich Nathalie Kupfermann und Bertram Sturm, für das sehr engagierte Lektorieren Sabine Winkler und für die gemeinsame Ideenfindung dem Verleger Thomas Becker.

Freiburg i.Br., im Dezember 2019

Rainer Grießhammer

INHALT

Einleitung

Die Politik im etablierten System gefangen

Die Wirtschaft schwenkt um

Die Konsumenten im Hamsterrad des Überflusskonsums

Ermutigende Entwicklungen

Die Grenzen der bisherigen Umwelt- und Klimaschutzpolitik

Was sind Transformationen?

Wie treibt man Transformationen voran?

Das Analysetool der Transformationsmatrix

Das Klimaschutzgesetz (Entwurf 2019)

Das Klimaschutzprogramm 2019

Gesamteinschätzung zum gesamten Klimaschutzprogramm

Der individuelle Beitrag zur Klimaerhitzung

Die großen Einmal-Entscheidungen

1Strom – immer noch aus der Steckdose

1.1Umwelt-, Gesundheitsprobleme und hohe Risiken

1.2Status und Perspektiven im Stromsektor

1.2.1Der Atomausstieg

1.2.2Der Kohleausstieg

1.2.3Die Erneuerbaren Energien

1.3Die Energiewende im Stromsektor als gezielte Transformation

1.4Leitbilder und Slogans mit Durchschlagskraft

1.5Soziale und zeitliche Strukturen

1.6Materielle Infrastrukturen

1.6.1Photovoltaik

1.6.2Biogasanlagen

1.6.3Windkraft

1.6.4Stromspeicher

1.6.5Netzausbau

1.7Märkte und Finanzsysteme

1.7.1Die Kostenstruktur bei Strom

1.7.2Externe Kosten der Stromerzeugung

1.7.3Förderung der Erneuerbaren Energien

1.7.4Große Kostensenkung bei den Erneuerbaren Energien

1.7.5Dezentralisierung der Stromerzeugung und neue Eigentümer

1.7.6Blind für Betriebskosten?

1.8Verhalten und Lebensstile

1.9Technologien, Produkte und Dienstleistungen

1.9.1Stand-by

1.9.2Strommessgeräte

1.9.3Digitale Produkte und Dienstleistungen

1.9.4Geräte und Dienstleistungen

1.9.5Smartphone

1.9.6Onlineshopping

1.9.7E-Book-Reader

1.9.8Fernsehgeräte

1.9.9Licht und Lampen

1.9.10Waschmaschinen

1.9.11Wäschetrockner

1.9.12Kühl- und Gefriergeräte

1.9.13Herde und Wasserkocher

1.9.14Spülmaschinen

1.9.15(Warm-)Wasser verbrauchende Geräte

1.9.16Heizungspumpe/Warmwasser-Zirkulationspumpe

1.9.17Photovoltaikanlagen

1.9.18Batteriespeicher

1.9.19Mobile Raumklimaanlagen

1.10Politikinstrumente

1.10.1EU-Emissionshandel

1.10.2Ökodesign-Richtlinie

1.10.3Verpflichtende Angabe der Stromkosten im Betrieb

2Geisterfahrer im Umweltschutz

2.1Die Autokalypse

2.2Die Verkehrswende

2.3Der Kampf der Leitbilder und Parolen

2.4Autos im Schnitt nur 20 km/h?

2.5Das Leben ändern

2.6Vom Auto zur multimodalen Mobilität

2.6.1Multimodale Mobilität

2.6.2Nicht zu vergessen: Einfach laufen

2.6.3Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV)

2.6.4Bahn frei für das Klima

2.6.5Sharing

2.6.6Die Verbrennungsmotoren in der Sackgasse

2.6.7Das Flugzeug im Steigflug

2.7Der Umbau der Infrastrukturen

2.8Der Automobilmarkt fährt an die Wand

2.9Lehrstühle ändern, Pkw-Label korrigieren

2.10Strategie und Politik

3Umwelt und gesundheitsbewusste Ernährung

3.1Hauptprobleme: qualvolle Tierhaltung und zu viel Fleisch

3.2Transformation Landwirtschaft und Ernährung

3.3Landwirtschaftliche Böden weitgehend nur für Tierhaltung

3.4Man ist, was man isst

3.5Besser essen

3.5.1Ernährungsstile

3.5.2Biolebensmittel

3.5.3Planet Health Diet – der Speiseplan der Zukunft

3.6Die Stulle der Postmoderne

3.7Carbon Footprint von Lebensmitteln

3.8Lebensmittel sind zu billig

3.9Integration von Ernährungsbildung in den Schulunterricht

3.10Politikinstrumente

3.10.1Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU

3.10.2Erhöhung des Ökolandbaus

3.10.3Reduktion des Tierbestands

3.10.4Höhere Fleischpreise

4Besser Wohnen

4.1Status und Probleme

4.2Transformationsmatrix

4.3Neue Wohnmodelle

4.4Energetisches Update

4.4.1CO2-Emissionen schnell reduziert

4.4.2Teilsanierung und komplette Sanierung

4.5Die richtige Zeit finden

4.6Zu viele große Wohnungen

4.7Günstige Sanierung durch Niedrigzinsen und CO2-Bepreisung

4.8Plusenenergiehäuser und „Erneuerbare Wärme“

4.9Fürs Leben lernen

4.10Politikinstrumente

Anhang

Glossar

Verzeichnis #Hashtags

Stichwortverzeichnis

Der Autor

Nachwort

EINLEITUNG

„Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“

Albert Einstein

Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. „Weil Ihr unser Klima killt“ – so steht es zu Recht auf den Transparenten der „Fridays for Future“-Bewegung. Nach diesen Freitagen ist es aus mit den Sonntagsreden und den Vertröstungen auf zukünftiges Handeln.

Im Stillen hatten noch viele Bürger*innen gehofft, dass die Klimaerhitzung erst in einigen Jahrzehnten kommt. Oder nur in irgendwelchen Inselstaaten und Afrika, aber doch nicht hier in Deutschland. Aber die Ereignisse überschlagen sich. „The Day after Tomorrow“ hat schon begonnen: Eine extreme mehrmonatige Trockenheit im Osten von Deutschland, Hagelstürme, Tornados, Starkregen, Schlammlawinen, „Jahrhundert“-Überschwemmungen, Waldbrände, beginnendes Waldsterben, Einnistung der asiatischen Tigermücke (die den gefährlichen Dengue-Virus übertragen kann), erste Infektionen mit dem West-Nil-Virus in Deutschland, der heißeste Juni seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, erstmals Höchsttemperatur von 42,6 Grad gemessen. Globaler Meeresspiegelanstieg, riesige Waldbrände in Kalifornien und Schweden, schwere Tropenstürme und Überschwemmungen, schnelles Abschmelzen der Gletscher am Südpol, Auftauen des Permafrosts in Sibirien und Alaska, Waldbrände am nördlichen Polarkreis, Hitzewellen, Dürren und Nahrungsmittelknappheit in vielen Ländern. Seit Beginn der Klimaaufzeichnungen die 20 heißesten Jahre in den vergangenen 22 Jahren.

Die Klimaerhitzung geht weiter, trotz vieler Klimaschutzkonferenzen und -beschlüsse steigen die CO2-Emissionen der Welt jedes Jahr höher, 2018 wieder um 1,7 % bzw. 550 Millionen Tonnen1 auf insgesamt 33.100 Millionen Tonnen. Wenn der Emissionstrend so beibehalten wird, wird die Erde schon bis etwa 2040 um 1,5 Grad heißer sein als in der vorindustriellen Zeit und dann noch viel heißer werden. „Plötzlich“ merken wir, dass die Klimaerhitzung uns selbst betreffen wird: Großeltern, Eltern, Kinder und Jugendliche. Wer heute jünger als 20 ist, ist in Gefahr, bis 2100 eine weitere, unglaubliche Erhitzung der Erde um insgesamt 4 Grad mitzuerleben und deren katastrophale Folgen zu erleiden.

Schon lange warnen Wissenschaftler vor der drohenden Klimaerhitzung, und seit Mitte der 1980er-Jahre ist das auch in der Öffentlichkeit bekannt. Und mit jedem der fünf Berichte des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) wurden die Vorhersagen präziser und schwerwiegender. In der deutschen Öffentlichkeit und Politik wurde die drohende Klimaerhitzung spätetens 1986 mit einer weit beachteten Titelgeschichte des Magazins „Der Spiegel“ bekannt2. „Was nützt eine Wissenschaft“, klagte Ozonforscher Sherwood Rowland, „die hinlänglich zuverlässige Vorhersagen machen kann, wenn alle nur herumstehen und warten, dass die Prognosen auch eintreffen?“ Politik, Wähler*innen und die meisten Konsument*innen verharren weitgehend satt und bewegungslos im selbstgefälligen „Ökobiedermeiertum“. Seit Jahrzehnten folgen sie der typischen Behauptung, es gäbe keine Alternative B. Das ist blanker Unsinn. Wahr dagegen ist: Es gibt keinen Planet B und schon gar nicht drei Planeten – so groß ist nämlich der derzeitige Ressourcenhunger.

Die Gesellschaft ist zersplittert in überwiegend egoistische Einzelpositionen. Widerstand gibt es meist nur, wenn die eigene Lieblingsposition gefährdet ist, z. B. durch ein Tempolimit, einen Veggieday oder ein Windrad in 900 Meter Entfernung. Gesellschaftlich gibt es kaum Visionen und Strategien, politisch wenig Führung, und die Integration gesamtgesellschaftlicher Interessen ist mangelhaft. Die Bürger*innen nehmen ihre unterschiedlichen Rollen wie Konsument, Wähler, Arbeitnehmer, Schüler, Lehrling, Studierender, Mieter, Eigentümer, Autofahrer und − ach ja − Eltern oder Großeltern zum Teil konträr wahr. Klimaschutz ist dabei eine dieser tausend Sachen, die man irgendwie auch noch erledigen muss. Oder die man besser auf morgen verschiebt. Und um es mal klar zu sagen: Vor Greta Thunberg waren die meisten Jugendlichen vor lauter Chillen auch nicht besser als ihre Eltern.

Das Hauptproblem ist aber, dass die Elterngeneration eine irre Angst vor Veränderungen ihrer Komfortzone hat und keine positiven Visionen für die Zukunft. Irgendwie merkwürdig: Gerade die Elterngeneration hatte doch wirklich Visionen und konnte viele umsetzen. Und sie hatte mit ihren Initiativen gerade im Umweltschutz viele Erfolge: die akute Vergiftung von Luft und Wasser der 1970er-Jahre beseitigt, die gefährlichsten Chemikalien verboten, den Ozonabbau gestoppt, das Waldsterben verhindert, den AKW-Ausstieg erzwungen und die Energiewende initiiert. Ohne diese Aktionen wäre es heute erst recht zappenduster. Da stellt sich natürlich die Frage, warum die bisherige Umweltpolitik nicht ausgereicht hat, um die Klimaerhitzung zu stoppen (S. 22ff.), und warum die Erwachsenen keine hitzigen Diskussionen mehr führen und nur noch schlaff im Sessel hängen.

Die Welt und mit ihr Deutschland befindet sich JETZT an einem Scheidepunkt. JETZT muss eine andere Politik her – eine hohe CO2-Steuer, der schnelle Kohleaustieg, das Tempolimit und viele andere Maßnahmen müssen JETZT kommen. Und JETZT müssen die Konsument*innen ihr Leben wirklich ändern − nicht nur ein bisschen Strom sparen, gelegentlich im Bioladen einkaufen und den Ferienflug mit Atmosfair kompensieren. Das sind nur erfolglose Entzugsversuche von der Konsumsucht.

Aber wie reagiert das reiche und wirtschaftlich stabile Deutschland, hochinnovativ und einstmals weltweiter Vorreiter in Umwelt- und Klimaschutz? Wie die Menschen in Deutschland, als Konsumenten und als Wähler, wie die Wirtschaft und wie die Politik?

DIE POLITIK IM ETABLIERTEN SYSTEM GEFANGEN

Wenn man Politikersprüche zu „Fridays for Future“ hört, wie etwa von FDP-Chef Christian Lindner („Das ist eine Sache für Profis“ − also nix für Jugendliche) oder von Verkehrsminister Andreas Scheuer zum Tempolimit auf Autobahnen („Gegen jeden Menschenverstand“ − die 750 Millionen Bürger in den anderen EU-Ländern und in den USA, alle mit Tempolimit, sind danach offensichtlich beScheuert) −, kann man als Klimaschützer verzweifeln. Dennoch ist es falsch, über „die Politiker“ oder „die Politik“ zu lästern. Wer es besser machen will und wer wirklichen Klimaschutz haben will, muss sich politisch engagieren und aktiv werden – wie „Fridays for Future“.

Wenn man sich als Jugendlicher mit seinen Eltern oder Verwandten streitet oder umgekehrt oder alle zusammen mit den Nachbarn, sollte man aber gute Argumente haben und beispielsweise wissen, welche Länder schon hohe CO2-Steuern haben, warum das Steuersparmodell Dienstwagenprivileg zu den vielen übermotorisierten Autos führt oder warum AKWs beim Klimaschutz nicht helfen. Und vor allem, warum Deutschland sein eigenes Klimaschutzziel 2020 nicht einhalten wird und warum das lang erwartete Klimaschutzprogramm der Bundesregierung mutlos ist und die zentralen Klimaschutzziele damit verfehlt werden.

Aber warum gibt es keinen wirklich durchgreifenden Klimaschutz, gerade in Deutschland, das seit Langem für „Klimaschutz und Energiewende“ (S. 23f.) bekannt ist und doch schon im Zeitraum 1990 bis 2011 die CO2-Emissionen um 26 % reduziert hat? Der wesentliche Grund für die erstaunlich hohe Reduktion waren aber vor allem der Zusammenbruch und das „Abwickeln“ der ostdeutschen Wirtschaft nach der Wiedervereinigung. Klimapolitisch gesehen sozusagen die „Gnade der späten Wiedervereinigung“. Hinzu kamen tatsächlich erste und erfreuliche Auswirkungen der von der Zivilgesellschaft geforderten Energiewende und entsprechende Gesetze, wie etwa das zur Förderung der Erneuerbaren Energien (EEG), sowie Fördermaßnahmen zur Gebäudesanierung.

Danach, also in den sieben Jahren seit dem historischen und weltweit beachteten Beschluss der Bundesregierung zur Energiewende im Jahr 2011 bis zum Jahr 2017, wurden die CO2-Emissionen aber nur um 1,5 % reduziert! Das von der Bundesregierung selbst gesetzte Klimaschutzziel für 2020 (40 % weniger Treibhausgase als 1990) wird deutlich verfehlt, wie die Bundesregierung selbst bekennt.

Der wesentliche Grund für den mangelhaften Klimaschutz ist, dass die Politik das lang etablierte und vorherrschende System aus Wirtschaftswachstum, Infrastrukturen, Lebensstilen und Machtverteilung nicht ändern, sondern nur ein bisschen optimieren möchte. Für einen erfolgreichen Klimaschutz sind jedoch vielmehr „strukturverändernde Transformationen“ erforderlich (S. 24ff.).

Diese Transformationen müssen vergleichbar umwälzend sein wie früher die industriellen Revolutionen (damals mit der Einführung der Dampfmaschine, der Nutzung von Kohle, Erdöl und Strom sowie der industriellen Massenproduktion). Die industriellen Revolutionen waren jedoch nur technologiegetrieben und hatten zu erheblichen sozialen Verwerfungen geführt. Für die anstehenden Transformationen (Energiewende, Verkehrswende etc.) gibt es dagegen gesellschaftlich gesetzte Ziele (vor allem Klimaschutz).

Mögliche negative Auswirkungen wie Arbeitsplatzverluste oder Mehrbelastungen für Haushalte mit geringem Einkommen können vermieden oder kompensiert werden. Die Energiewende im Strombereich ist dafür ein gutes Beispiel (S. 23ff.). Die Verkehrswende, die Wohnwende und die Landwirtschafts- und Ernährungswende müssen folgen (Kap. 1–4). Die Ziele dafür sind eigentlich jedem klar: Änderung der Wirtschaft durch die Internalisierung der externen Kosten und eine hohe CO2-Steuer, Reduktion des umweltschädlichen Überkonsums, Stromproduktion nur durch Erneuerbare Energien, weg von der Autofixierung, Tempolimits 120/80/30 km/h, systematische Sanierung des Gebäudebestands, Reduktion des hohen Fleischkonsums und eine wirklich gute Tierhaltung. Und allein mit der Rücknahme der absurden Steuerbefreiungen für den besonders klimaschädlichen Flugverkehr hätte man jedes Jahr 12 Milliarden Euro für den Ausbau der Infrastrukturen von Bahn, ÖPNV und Radverkehr.

DIE WIRTSCHAFT SCHWENKT UM

Die deutsche Wirtschaft hat überwiegend akzeptiert, dass die Klimaerhitzung durch die Menschheit verursacht wird und entsprechende Gegenmaßnahmen getroffen werden müssen. Die meisten Unternehmensverbände befürchten sogar, dass sie weltwirtschaftlich ins Hintertreffen kommen, wenn sie nicht durch strenge Klimaschutzauflagen zu Innovationen gezwungen werden, mit denen sie konkurrenzfähig bleiben. Die einzelnen Industrieverbände sind nur uneins, ob die Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80 oder 95 % reduziert werden sollen.

Das von der Bundesregierung im Oktober 2019 vorgelegte Klimaschutzprogramm wurde selbst von mehreren Industrieverbänden harsch kritisiert, darunter vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA), dem größten europäischen Wirtschaftsverband (der VDMA hatte übrigens einen CO2-Preis von 110 Euro pro Tonne CO2gefordert3; die Bundesregierung hat sich für einen Einstandspreis von 10 Euro pro Tonne CO2 entschieden − das ist kein Schreibfehler!). Innerhalb der Wirtschaft gibt es potenzielle Verlierer der Energiewende (z. B. die vier großen Energiekonzerne und die Automobilhersteller) und potenzielle Gewinner der Energiewende (z. B. Hersteller von Photovoltaik- und Windenergieanlagen oder energieeffizienten Haushaltsgeräten).

Ob Unternehmen zu den Verlierern oder Gewinnern einer Transformation wie der Energiewende gehören, hängt allerdings weniger von ihrer Stellung im alten System ab als davon, ob sie sich frühzeitig auf Veränderungen einstellen und entsprechende Innovationen vorantreiben. Die deutsche Automobilindustrie hat hier komplett versagt. Einerseits hat sie versucht, auf Teufel komm raus und mit kriminellem Betrug die Diesel-Technologie zu retten, und hat in Brüssel gegen die Verschärfung der CO2-Grenzwerte lobbyiert. Dabei konnte sie auf die Unterstützung der Bundesregierung vertrauen, die traditionell am Abschleppseil der Automobillobby in Brüssel gegen schärfere Grenzwerte auftritt. Andererseits verpasste die einst weltweit führende deutsche Automobilindustrie einen frühen Einstieg in neue Mobilitätskonzepte und in die Elektromobilität und überließ die Markteinführung der Elektromobilität ausgerechnet China.

Hinzu kommt, dass die deutsche Automobilindustrie nach wie vor auf große, schwere und übermotorisierte Autos mit hoher Spitzengeschwindigkeit bis 200 km/h und mehr setzt – offensichtlich rechnet sie weder mit einem Tempolimit noch mit einer CO2-Besteuerung und setzt auch hier aufs falsche Pferd bzw. auf zu viele Pferde-Stärken (PS). Nun steht die Automobilindustrie unter hohem wirtschaftlichem Druck, sowohl durch die chinesischen Auflagen für Importe wie auch durch die neuen und vergleichsweise scharfen CO2-Flottengrenzwerte der EU, die wenn überhaupt nur durch einen erheblichen Anteil an Elektrofahrzeugen eingehalten werden können. Insgesamt wird sich die Wirtschaft aber viel schneller umstellen, als viele denken, auch wenn sie sich lange gegen Veränderungen gesträubt hat.

DIE KONSUMENTEN IM HAMSTERRAD DES ÜBERFLUSSKONSUMS

Die meisten Deutschen denken, dass sie besonders umweltorientiert sind, schließlich trennen sie ja brav den Hausmüll. Pro Kopf sind das jährlich 565 Kilo. Die Pro-Kopf-Emissionen des klimaschädlichen CO2 liegen allerdings bei – ups! − 10.466 Kilo(!). Fast zwanzigmal so viel. Aber praktischerweise ist das CO2 ja ein Gas und entschwindet unsichtbar in die Luft − zur Klimaerhitzung.

Der Überflusskonsum nimmt in Deutschland seit Jahren massiv zu. Dazu muss man wirklich mal einige Zahlen anschauen: Die Wohnfläche lag 1960 bei 20 Quadratmeter pro Kopf, heute bei 47 Quadratmeter. Der Autobestand lag bei 4,5 Millionen (nur BRD), heute bei 47 Millionen. Die durchschnittliche Leistung der Autos hat sich von 32 PS auf 145 PS nahezu verfünffacht. Die Durchschnittsgeschwindigkeit der 2018 neu zugelassenen Autos ist 200 km/h. Im ersten Halbjahr 2019 waren 30 % der Neuwagen SUVs. Normalsterbliche konnten sich 1960 keine Flugreise leisten. Heute liegt der Schnitt bei 2,44 Flugreisen pro Einwohner und Jahr.4 Die Anzahl der privaten Flugreisen liegt dabei fast zehnmal höher (!) als die der beruflich bedingten Reisen.5

Die vielen Effizienzfortschritte (60 bis 90 % weniger Stromverbrauch bei Haushaltsgeräten und Beleuchtung; 3-Liter-Autos ab 1999; Passivhäuser ab 1999) wurden entweder nicht angenommen oder durch höheren Konsum und Reboundeffekte kompensiert.

Gerade die „umweltorientierten“ Akademiker haben einen besonders umweltintensiven Lebensstil: große Wohnung, zwei Autos und viele Reisen. Der Lebensstil der meisten Jugendlichen ist auch nicht besser: häufiger Gerätewechsel, angenehme Mitnutzung der großen Wohnung und Autos der Eltern, auch wenn man für Lehre oder Studium längst ausgezogen ist, viele Reisen und Flüge − Airbnb lässt grüßen! Mit den #klimachecker-Grafiken (S. 89, 127, 210, 231f.) kann man Eltern, Freunde, Verwandte und sich selbst glasklar einordnen.

Durch eine anspruchsvolle Klimaschutzpolitik und Nutzung effizienter Technologien könnte die Umweltbelastung des Konsums natürlich deutlich gesenkt werden, aber der Lebensstil und der Überflusskonsum Deutschlands können trotzdem nicht weltweit übertragen bzw. durchgehalten werden – nicht der Energieverbrauch, nicht die Zahl der Flüge, nicht die Zahl der Autos, nicht die Höhe des Fleischverbrauchs. Das traut sich keiner so richtig zu sagen, und die wenigsten wollen es auch hören. Aber die Klimaerhitzung lässt sich nicht ohne eine Reduktion des Überflusskonsums stoppen. Merkwürdigerweise sind die wenigsten Deutschen glücklich − trotz oder vielleicht gerade wegen des Überflusskonsums. Vor lauter Konsum haben sie vergessen, wie gut sie schon leben.

Trotz mehrerer Jahrzehnte mit Debatten und Aktionen für ökologischen und nachhaltigen Konsum ist dieser noch nicht im Mainstream angekommen. Der Anteil der Öko-Konsumenten liegt bei wenigen Prozent: Die für den Klimaschutz wichtige energetische Sanierungsrate von Häusern liegt bei jährlich rund 1 %, die der registrierten Carsharing-Nutzer bei 3,75 % der Führerscheininhaber*innen (2018), und der Marktanteil biologisch angebauter Lebensmittel lag 2017 bei 5,4 %. Würde man noch nach einer Kombination dieser Aktivitäten fragen (wer lebt in einem Niedrigenergiehaus und ist Carsharing-Nutzer*in und kauft biologisch angebaute Lebensmittel?), würde man sicher im Promillebereich landen. In der Breite wird es ökologischen Konsum erst geben, wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen geändert werden – CO2-Besteuerung, Streichung der Subventionen für Flugverkehr, starke Förderung des öffentlichen Verkehrs und des Fahrradverkehrs etc.

Und doch waren die Öko-Konsument*innen zusammen mit Umweltorganisationen und -initiativen höchst erfolgreich: Ohne sie gäbe es keine Energiewende, keinen Ökostrom, keinen Atomausstieg, keine hochenergieeffizienten Produkte, kein Carsharing, keine Biolebensmittel, keine fairen Produkte. Denn die Unternehmen reagieren eben doch auf die Nachfrage nach Produkten, und die Politiker reagieren durchaus sensibel auf das Verhalten und die Wünsche der Bürger*innen. Wie wird ein Abgeordneter zum Tempolimit abstimmen, wenn er auf dem Weg zur Abstimmung über ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen von den meisten Autos rasant überholt wird? Und umgekehrt: Wie wird ein Gemeinderat abstimmen, wenn Bürger*innen vehement Tempo-30-Zonen fordern, weil sie keinen Lärm, keine Luftverpestung und keine gefährlichen Unfälle wollen? Aber auch: Welches Beispiel geben die Schüler*innen, die sich für wenige Kilometer im Elterntaxi zur Schule kutschieren lassen?

Persönliche Änderungen im Leben fallen schwer, wenn die äußeren Rahmenbedingungen nicht stimmen. Wenn man auf dem Land wohnt und auf das Auto angewiesen ist, weil der öffentliche Nahverkehr und die Bahnanbindung schlecht sind. Wenn man ein Elektroauto fahren will und es nicht genug Ladestationen gibt. Wenn es 6.000 Euro staatlichen Zuschuss für den Kauf eines Elektroautos gibt, jedoch null Zuschuss für den Kauf eines Elektrofahrrads. Wenn die Bahn teurer ist als das Fliegen (u. a. wegen der Steuerbefreiungen für den Flugverkehr). Wenn es in der Betriebskantine, Ganztagsschule oder Kita nur ungesundes fleischreiches Essen gibt. Wenn die nächste Biometzgerei 15 km entfernt ist. Wenn der Eigentümer der Mietwohnung die Wohnung nicht energetisch sanieren will. Wenn die CO2-Emissionen der Stromproduktion zu hoch sind, weil zu spät aus Kohleverstromung ausgestiegen wird. Wenn konventionelle Produkte und Alternativen billiger sind, weil es keine CO2-Steuer gibt und dagegen hohe Subventionen für fossile Energien.

Dann wird deutlich, dass es nicht reicht, das eigene Verhalten oder das der Eltern oder Mitbürger*innen zu ändern. Dann müssen auch die Verhältnisse geändert werden, die Gesetze, die Subventionen, die Förderbedingungen für Innovationen.

Man muss Verhalten und Verhältnisse ändern

Das eine kommt nicht ohne das andere. Die philosophische Ablenkungsfrage, ob zuerst die Henne oder zuerst das Ei da war, kann man sich sparen. Wer nicht gackert, erreicht gar nichts. Und wer nicht selbst aktiv wird und keine Eier legt, überzeugt niemanden.

Bürger*innen haben mehrfache Rollen: Sie sind Konsument*innen, Wähler*innen, Mieter*innen/Eigentümer*innen, Arbeitnehmer*innen, oder sie sind noch in der Ausbildung, Bürger*innen können politisch aktiv sein, Anbieter*innen von Airbnb, Uber oder My Taxi sein, können eigene Photovoltaikanlagen installieren und als Anwohner*innen gegen oder für Windkraftanlagen kämpfen. In allen Funktionen können Bürger*innen Klimaschutz fördern – aber leider auch verhindern.

Aktivisten von „Fridays for Future“ und andere Klimaschützer*innen stehen hier vor mehreren Herausforderungen:

Sie müssen für wirklich wirksame klimapolitische Gesetze und bessere Rahmenbedingungen argumentieren (S. 37ff.) und andere Bürger*innen und Wähler*innen davon überzeugen können. Das ist nicht so leicht, wie die Diskussionen um Veggieday, Tempolimit, Benzinpreise oder die hohen Kaufzahlen von SUVs zeigen – aber auch die immer noch zugkräftigen Anti-Slogans (Freie Fahrt für freie Bürger etc.) und die vielen Fehlinformationen und Fehleinschätzungen.

Sie müssen dafür nicht nur demonstrieren, sondern die Änderungen auch durch kreative Initiativen unterstützen, wie etwa mit Schulsanierungen (S. 243), der „Fossil Free“-Initiative, der kirchlichen Initiative „Zukunft einkaufen“, der „Transition Town“-Bewegung u.v.a.m. Das geht am einfachsten in Kommunen − viele lokale Initiativen strahlen von dort auf die Landes- und Bundespolitik und auf die Medien und Öffentlichkeit aus.

Sie müssen anders leben und damit anderes Leben vorleben: Ridesharing statt eigenem Auto, vegetarische oder fleischarme Ernährung statt hohem und ungesundem Fleischkonsum, Gemeinschaftswohnen statt steigendem Wohnraumbedarf. Und generell bescheiden und umweltfreundlich konsumieren. Wer das nicht selbst vorlebt, kann in Diskussionen wenig überzeugen.

Um andere Konsument*innen von einem besseren Leben überzeugen zu können, müssen Aktivist*innen die Gründe kennen, warum die meisten Konsument*innen zwar von Umwelt- und Klimaschutz reden, aber gegensätzlich handeln.

Die Änderung von Verhalten und Lebensstilen ist für den weiteren Klimaschutz und die Klimaschutzpolitik extrem wichtig. Denn die Energiewende ist bislang nur im Strombereich wirklich vorangekommen. Da der „Strom unverändert aus der Steckdose“ kommt, musste niemand seinen Lebensstil ändern. Aber jetzt braucht es große Veränderungen in der Mobilität, bei den Gebäuden und in der Ernährung.

Gegen den Willen von 80 Millionen Hauseigentümer*innen und Mieter*innen, 45 Millionen Autobesitzer*innen und mehrere Dutzend Millionen Bürger*innen mit hohem Fleischkonsum macht die Politik keine Gesetze – also muss man auch überzeugend für andere Visionen, Lebensstile und alternatives Verhalten werben. Hinzu kommt: bei einem hohen CO2-Preis von 180 Euro Tonne CO2 (der kommen muss und kommen wird!) werden Benzin und Diesel, Heizenergie und Flugzeugkerosin zwar um einige Zehnerprozent teurer, aber die meisten Bürger*innen in Deutschland – vom Mittelstand aufwärts – können das trotzdem bezahlen. Damit sich ihr Konsum ändert, müssen die Alternativen so attraktiv und erprobt sein (Radinfrastruktur, ÖPNV, Bahn, Essensangebote etc.), dass die Bürger*innen freiwillig anders konsumieren.

Letztlich kann die Änderung der Konsumstile in Deutschland auch globale Auswirkungen haben. Deutschland exportiert nicht nur Autos und andere Produkte in die ganze Welt, sondern implizit auch Konsumstile. Die aufsteigenden Mittelschichten in den bevölkerungsreichen Schwellenländern wie China, Indien oder Brasilien versuchen einen ähnlichen Konsumstil zu erreichen. Die Deutschen fahren SUV, reisen und fliegen viel, haben große Wohnungen, essen viel Fleisch. Vieles von dem überträgt sich – trotz andersartiger Kulturen. Auch darum muss man den Überflusskonsum reduzieren.

ERMUTIGENDE ENTWICKLUNGEN

Zum Glück gibt es auch viele ermutigende Entwicklungen zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Im November 2015 wurde in Paris von den 196 Mitgliedsstaaten der Klimarahmenkonvention die Vereinbarung getroffen, die menschengemachte Klimaerhitzung auf deutlich unter 2 °C und auf möglichst 1,5 °C gegenüber den vorindustriellen Werten zu begrenzen („Paris Agreement“). Zwei Monate vorher wurde in New York von allen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen und mit breiter Beteiligung der Zivilgesellschaft die sogenannte Agenda 2030 verabschiedet.

Die Agenda 2030 erfordert eine Konkretisierung der nachhaltigen Entwicklung. Bis zum Jahr 2030 sollen 17 Ziele erreicht werden, darunter „Saubere Energie“, ausreichend „Maßnahmen zum Klimaschutz“ (Ziel 13) und „Nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produkte“ (Ziel 12), Ban Ki-moon, der damalige UN-Generalsekretär, sagte dazu: „Wir können die erste Generation sein, der es gelingt, die Armut zu beseitigen, ebenso wie wir die letzte sein könnten, die die Chance hat, unseren Planeten zu retten.“ Und selbst der Papst hat in seiner Enzyklika „Laudatio si“ (2015) einen engagierten Umwelt- und Klimaschutz und einen Ausstieg aus den fossilen Energieträgern gefordert.

In den letzten Jahren haben sich viele Länder, in den USA viele Bundesstaaten, zu einem ernsthaften Klimaschutz verpflichtet und CO2-Steuern eingeführt. Selbst China forciert den Klimaschutz und verändert durch seine Solarindustrie und durch die Elektromobilität die internationalen Märkte. Viele Städte haben anspruchsvolle Klimaschutzpläne und Umsetzungsmaßnahmen verabschiedet, in der Regel auf Druck der örtlichen Initiativen. Mittlerweile fordern auch viele Unternehmen Klimaschutz und die Einführung einer CO2-Steuer. Und vor allem macht die weltweite Initiative „Fridays for Future“ Hoffnung. Denn ohne Druck geht gar nichts.

Deutschland hat international eine große Verantwortung für den Klimaschutz. Als erstes Land weltweit hat Deutschland die Energiewende beschlossen, und bereits seit der Jahrtausendwende die Erneuerbaren Energien im Strombereich vorangetrieben. Es ist nicht übertrieben: Alle Länder der Welt schauen auf die deutsche Energiewende und Klimaschutzpolitik. Wenn das reiche und innovative Hightech-Deutschland die Energiewende und den Klimaschutz nicht hinbekäme – welches Land sollte es dann schaffen?

Durch die sehr frühe und umfangreiche Förderung von Photovoltaik und Windenergie hat Deutschland den Grundstein dafür gelegt, dass die Erzeugungskosten um über 90 % gesunken sind und erneuerbarer Strom heute schon günstiger als in AKWs oder Steinkohlekraftwerken erzeugt werden kann, erst recht in noch sonnigeren oder noch windreicheren Ländern als Deutschland. Das war die größte „Entwicklungshilfe“, die Deutschland je gegeben hat. Und so soll es weitergehen.

Nur CO2 reduzieren? Mit den im Buch gemachten Vorschlägen für Klimapolitik und Verhaltensänderungen kann sehr viel CO2 reduziert werden. Aber natürlich besteht der Sinn des Lebens nicht darin, CO2 zu sparen. Und auch die Politik sollte Maßnahmen nicht allein auf die Reduktion von CO2 reduzieren. Aber das Erfreuliche ist – fast alle Maßnahmen zur CO2-Reduzierung haben positive Paralleleffekte.

Gut für die Umwelt: Durch die Maßnahmen wird nicht nur CO2 reduziert, sondern auch Schadstoffe wie Stickoxide oder Feinstaub, die Gewässerbelastung durch Nitrat und der hohe Flächenverbrauch reduziert und die Biodiversität erhöht.

Gut für die Volkswirtschaft: Die hohen externen Kosten werden reduziert. Die Steuereinnahmen können für Sinnvolles eingesetzt werden. Die hohen Kosten für Energieimporte werden reduziert, die Abhängigkeit von Energieeinfuhren aus Russland und den arabischen Ölländern nimmt ab.

Gut für die Konsument*innen: Mit den Maßnahmen und Verhaltensänderungen leben sie deutlich gesünder, es gibt weniger Lärm und weniger Unfälle. Die Konsument*innen sparen Geld (!), haben mehr Zeit, ein angenehmeres Wohnumfeld und mehr Möglichkeiten für soziale Kontakte.

POLITIK ÄNDERN

Politik ändern „Wer etwas will, findet Wege.Wer nicht will, findet Gründe.“Albert Camus

Die Produktions- und Konsummuster Deutschlands und vieler Industriestaaten sind schon seit mehreren Jahrzehnten besonders umweltbelastend und ressourcenintensiv. Bei einer Verbreitung des westlichen Lebensstils auf alle Nationen und zehn Milliarden Menschen würde die ökologische Tragfähigkeit der Erde weit überschritten. Vor allem die sich verschärfende Klimaerhitzung, aber auch die Stickstoffbelastung der Umwelt, die hohen Biodiversitätsverluste oder das Plastik in den Weltmeeren lassen nicht mehr viel Zeit, um ein langfristig tragfähiges Lebens- und Wirtschaftsmodell durchzusetzen.

Beim Lesen dieser Zeilen.stellen sich damit zwei bohrende Fragen: Hat die Umweltbewegung in den letzten Jahrzehnten eigentlich überhaupt was bewirkt? Es gibt doch schon seit Jahrzehnten eine Umweltpolitik – was hat die eigentlich durchgesetzt?

DIE GRENZEN DER BISHERIGEN UMWELT- UND KLIMASCHUTZPOLITIK

Anfang der 1970er-Jahre gab es in Deutschland und anderen Industriestaaten eine massive akute Umweltbelastung. Wasser, Luft und Böden waren hoch belastet, es gab Zehntausende wilder Müllkippen, hochgiftiger Sondermüll wurde in Kiesgruben vergraben, hochrisikoreiche Anlagen wie AKWs, nukleare Wiederaufbereitungsanlagen in Hanau oder Wackersdorf waren in Planung oder Betrieb. Die Lebensmittel und sogar Muttermilch (!) waren mit einem Cocktail giftiger Chemikalien belastet. In den 1980er-Jahren zeichneten sich dann mit dem sauren Regen, dem beginnenden Waldsterben und der Zerstörung der stratosphärischen Ozonschicht (dem „Ozonloch“) die ersten chronischen Umweltkrisen ab. Einen traurigen Höhepunkt gab es 1986 mit dem Super-GAU des AKW in Tschernobyl. Die radioaktive Belastung verteilte sich über ganz Europa. Um Tschernobyl wurden mehr als 115.000 Menschen in mehr als 500 Dörfern heimatlos und Hunderte Quadratkilometer Heimat unbewohnbar. Wenige Monate später führte der Großbrand eines Chemielagers der Sandoz AG in Basel über das kontaminierte Löschwasser zu einer Komplettvergiftung des Rheins und all seiner Lebewesen.

Durch den Druck der Umweltbewegung entstanden in Deutschland und international viele Umweltgesetze. Auch wurden erstmals Umweltministerien in Bund und Ländern und Umweltdezernate in den Kommunen eingerichtet, an den Universitäten entstanden Umweltstudiengänge. Bis Anfang der 1990er-Jahre wurden viele akute Umweltprobleme gelöst oder zumindest wesentlich eingedämmt – ein großer Erfolg der Umweltbewegung! Die Gewässersituation hatte sich entspannt, die Emission von Luftschadstoffen war − außer im Verkehrsbereich − deutlich reduziert worden. Abfallentsorgung und Recycling waren etabliert, viele der besonders giftigen Chemikalien und Materialien (wie etwa Asbest, bleihaltiges Benzin, chlororganische Pestizide, Fluorchlorkohlenwasserstoffe [FCKW], Polychlorierte Biphenyle oder Pentachlorphenol) waren verboten oder von der Industrie schnell noch vorher vom Markt genommen worden. Mit dem Montreal-Protokoll als der ersten internationalen Umweltvereinbarung und dem Verbot der Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) konnte gerade noch die Zerstörung der stratosphärischen Ozonschicht und damit eine große globale Umweltkrise gestoppt werden. Trotzdem dauert die Regenerierung der Ozonschicht mehrere Jahrzehnte und wird wohl noch bis etwa 2050 dauern − weil die einmal in die Umwelt freigesetzten FCKW erst über mehrere Jahrzehnte abgebaut werden.

Das Verbot der FCKW war übrigens auch ein riesiger Schritt für den Klimaschutz, denn die FCKW haben nicht nur die Ozonschicht zerstört, sondern hatten auch einen sehr hohen Treibhauseffekt. Der Treibhauseffekt einzelner FCKW ist bis zu 22.900 Mal (!) höher als der von Kohlendioxid (CO2).

Die Eindämmung der akuten Umweltprobleme war allerdings im Wesentlichen durch technische und organisatorische Maßnahmen erreicht worden. Beispiele waren die Erhöhung der Energieeffizienz bei Haushaltsgeräten, der Einbau von Filtern, Katalysatoren oder Reinigungsanlagen in Autos und Kraftwerken, das Verbot von bleihaltigem Benzin, der Ersatz der FCKW durch andere Chemikalien (aber ohne wesentliche Änderung der Produkte), die Vorschriften zur Sammlung und Verwertung von Müll u.a.m. All dies war unbedingt notwendig, aber leider nicht ausreichend. Denn in keinem Fall gab es einen Strukturwandel – also grundlegende Änderungen bei den umwelt- und ressourcenintensiven Systemen (Energieversorgung, Wohnen, Verkehr, Landwirtschaft und Ernährung) und beim generell hohen Pro-Kopf-Konsum. Dies führte dazu, dass sich chronische und globale Umweltkrisen entwickelten. Ein solcher grundsätzlicher Strukturwandel in Wirtschaft und Konsum und eine entsprechende Wende in den wichtigsten Sektoren werden von der Umweltbewegung schon seit Langem gefordert und sind in Büchern oder Studien ausführlich dokumentiert: Ende oder Wende (Eppler 1975); Energiewende (Krause et al. 1980); Landbau-Wende (Bechmann 1987); Chemiewende (Grießhammer 1992); Verkehrswende (Hesse 1995); Ernährungswende (Eberle et al. 2005).

Das Paradebeispiel war die visionäre „Energiewende-Studie“ des Öko-Instituts, die bereits 1980 als Buch veröffentlicht wurde: „Die Energiewende – Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“.

In der Studie wurden der unnötig hohe Energieverbrauch in Deutschland und die Ausbaupläne für viele weitere Atomkraftwerke und Kohlekraftwerke kritisiert sowie eine Wende in der Energiepolitik gefordert. Der Energieverbrauch sollte durch Effizienzsteigerung und Energiesparen drastisch reduziert und durch Erneuerbare Energien gedeckt werden − bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Atomenergie. Damit wurde die Grundlage für die heutige Energiewende gelegt.

Die Energiewende-Studie des Öko-Instituts prägte die energiepolitische Diskussion der nächsten Jahrzehnte. Diese wurde noch verstärkt durch den AKW-GAU in Tschernobyl (1986), durch die jahrzehntelange politische Arbeit von 400 Energiewendekomitees und die ab etwa Mitte der 1980er-Jahre aufkommende Klimadiskussion.

Um die Jahrtausendwende gab es schon die ersten Gesetze und Förderprogramme. Wegweisend waren das 100.000-Dächer-Programm zur Förderung der Photovoltaik (1999 bis 2003) und im Jahr 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) zur Förderung von Photovoltaik und Windenergie. Ohne diese damals heftig umstrittenen Aktivitäten wäre in den nächsten Jahren weder ein Atomausstieg noch ein Kohleausstieg möglich. Richtig „offiziell“ wurde die Energiewende mit Beschluss von Bundestag und Bundesregierung aber erst nach dem nächsten atomaren Super-GAU in Fukushima (2011).

Die zielgerichtete Energiewende war und ist ein erstes Beispiel für einen grundlegenden Strukturwandel bzw. Transformation (wie man heute sagt). Aber erst seit zehn bis 15 Jahren versteht man besser, wie Transformationen entstehen und gefördert werden können.

WAS SIND TRANSFORMATIONEN?

Bereits im 19. und 20. Jahrhundert gab es große technologische und gesellschaftliche Umwälzungen, die als „industrielle Revolutionen“ bezeichnet wurden, weil sie von bahnbrechenden technologischen Innovationen in der Industrie ausgingen. Die erste industrielle Revolution war durch die Einführung von Dampfmaschine, Spinnmaschine und mechanischem Webstuhl charakterisiert, die zweite industrielle Revolution durch Einführung von Elektrizität, Öl als flexibler Energiequelle, Autos und Entwicklung der Massenproduktion. Vor allem die zweite industrielle Revolution hat zum Klimawandel geführt!

Abbildung: Eigene Darstellung modifiziert nach Geels 2002

Bei den industriellen Revolutionen kam es durch die technologischen Innovationen zu großen Umbrüchen mit Arbeitslosigkeit in alten Sektoren, Landflucht, Armut und miserablen Bedingungen bei den neu entstandenen Industriearbeitsplätzen.

Eine weitere industrielle Revolution hat in den letzten Jahrzehnten mit der Digitalisierung begonnen (ohne dass sie gesellschaftlich geplant oder vorhergesehen wurde). Die Digitalisierung hat übrigens schon Hunderttausende Arbeitsplätze vernichtet, aber auch Hunderttausende neue Arbeitsplätze geschaffen. Während die „industriellen Revolutionen ungeplant“ waren und sind und durch die Eigendynamik der technischen Entwicklungen getrieben werden, folgen Transformationen wie die Energiewende gesellschaftlichen und politischen Zielen. Die Ziele für die Energiewende sind – wie oben gezeigt − Reduktion des zu hohen Energieverbrauchs, Deckung des verbleibenden Energieverbrauchs durch Erneuerbare Energien und Klimaschutz. Die dazu erforderlichen Technologien werden bei Transformationen gezielt gefördert, bei der Energiewende im Strombereich sind dies die Photovoltaik und Windenergie.

Gewinner und Verlierer

Transformationen sind mit grundlegenden Veränderungen in der gesamten Gesellschaft verbunden – bei den Werteeinstellungen, den sozialen Strukturen und Lebensstilen, bei den Technologien und Produkten, in der Wirtschaft und bei den Eigentumsverhältnissen, beim Konsum, bei Forschung und Bildung, bei den materiellen Infrastrukturen, bei Politik und Gesetzen. Bei jeder Transformation gibt es potenzielle Gewinner und potenzielle Verlierer. Durch die Energiewende haben die vier großen Energieversorgungsunternehmen beispielsweise schon jetzt an Macht und Wirtschaftskraft verloren.

Die bisher errichteten Photovoltaik- und Windenergieanlagen gehören dagegen überwiegend Privatleuten, Landwirten und Fonds (S. 86). Die deutsche Autoindustrie wird voraussichtlich in eine schwere Krise kommen, weil sie zu lange auf große Autos mit Verbrennungsmotoren gesetzt hat und von chinesischen Elektroautoherstellern überholt oder gar überrollt werden wird. In den deutschen Braunkohleregionen gehen Zehntausende Arbeitsplätze verloren – es ist aber beschlossen, dies durch milliardenschwere Strukturhilfen zum Aufbau neuer Wirtschaftszweige und Arbeitsplätze auszugleichen. Besitzer*innen und Mieter*innen von großen, ungedämmten Häusern müssen höhere Energiepreise fürchten, Besitzer*innen und Mieter*innen von energieeffizienten Häusern brauchen dagegen keine Energiepreissteigerungen, Ölkrisen oder politisch motivierte Blockaden der Gasversorgung zu befürchten.

Wie wird eine Transformation ausgelöst?

Bei einer Transformation wird das bisher vorherrschende System in ein anderes gewünschtes System überführt. Bei der Stromversorgung ist das vorherrschende System beispielsweise ein Netzwerk von Institutionen, Akteuren, Infrastruktur und Gesetzen (konventionelle Großkraftwerke, Atomkraftwerke und Braunkohlekraftwerke, große Energieversorgungsunternehmen, Stromnetz, Überkapazitäten etc.). Ein solches „vorherrschendes System“ kann von zwei Seiten unter Druck kommen und verändert werden (s. Abbildung S. 24). Globale, politische und weltwirtschaftliche Entwicklungen können „von oben“ eine Veränderung des Systems herbeiführen oder befördern. Bei der Energiewende waren oder sind das beispielsweise: die atomaren Katastrophen in Tschernobyl und Fukushima, die Liberalisierung der Energiemärkte in den 1990er-Jahren, die Klimaerhitzung sowie die Klimaschutzkonferenzen (zuletzt die Paris-Konvention) und die Agenda 2030, im Automobilbereich die schnelle Entwicklung der Elektromobilität in China und der „Dieselgate“ und natürlich der Druck durch die globale zivilgesellschaftliche Entwicklung „Fridays for Future“!

Auch „von unten“ haben soziale oder technologische Nischenentwicklungen die Energiewende ausgelöst und unterstützt, z. B. die Antiatombewegung, die Energiewendekomitees (S. 34f.), die Entwicklung von Solarkollektoren, Photovoltaik und Windkraft, von Passivhäusern und Plusenergiehäusern, die Gründung von Carsharing und BlaBlaCar, die Fahrradinitiativen, der Boom der E-Bikes u.a.m.

Der Druck von beiden Seiten auf das vorherrschende System kann so eine Transformation auslösen und verstärken. Die Veränderungen in den verschiedenen Teilen des vorherrschenden Systems können gleichzeitig oder zeitlich versetzt ablaufen und sich gegenseitig erheblich beeinflussen, verstärken oder schwächen. Entscheidend für den Erfolg einer Transformation ist, dass sich die Prozesse im Lauf der Zeit verdichten und zu grundlegenden, unumkehrbaren Änderungen im vorherrschenden System führen (Paradigmenwechsel).

Wichtig zum Verständnis der gezielten Transformationen (z. B. der Energiewende in Deutschland) ist, dass Politik und Gesellschaft eine Transformation wesentlich in die gewünschte Richtung schieben und beschleunigen können, aber sie nicht im Detail steuern können. Eine zielgerichtete Transformation ist also nicht mit den Fünfjahresplänen der ehemaligen DDR oder Sowjetunion zu vergleichen. Beispiele für die Richtungsvorgaben der Energiewende sind die Förderung der Erneuerbaren Energien, der Gebäudesanierung, der Elektromobilität, das Klimagesetz und das Klimaschutzprogramm.

Wer startet eigentlich eine Transformation? Wer treibt sie voran?

Bisher hat es nur wenige gezielte Transformationen gegeben, sodass man das nicht sicher sagen kann. Aber wahrscheinlich kommen der Wunsch und der Druck für eine Transformation zuerst aus der Zivilgesellschaft und werden dann im Laufe der Zeit von Teilen der Politik unterstützt und irgendwann als Regierungsprogramm übernommen. So war es jedenfalls bei der Energiewende.

Den idealtypischen Verlauf einer Transformation zeigt die Abbildung. Die Transformation beginnt nicht mit einem „Startschuss“ oder einem einmaligen Beschluss, sondern mit einer „Vorentwicklungsphase“ mit vielen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Innovationen. Bei der Energiewende im Strombereich waren das beispielsweise die Anti-Atom-Demonstrationen, die Energiewendestudie des Öko-Instituts, die Entwicklung von Solarkollektoren, Photovoltaik und Windkraft. In der Startphase gibt es die ersten größeren Veränderungen, beispielsweise das 100.000-Dächer-Programm zur Förderung der Photovoltaik, das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) und einen steigenden Anteil erneuerbarer Energien bei der Stromproduktion. In der „Durchbruchsphase“ beginnt der kaum noch aufzuhaltende strukturelle Wandel mit vielen weiteren tiefgreifenden Veränderungen. Bei der Stromproduktion ist die Energiewende schon in dieser Durchbruchsphase: Die Erneuerbaren Energien haben bereits einen Anteil von rund 40 % an der Stromproduktion, der Kohleausstieg ist beschlossen, und 2022 werden die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet. In der „Stabilisierungsphase“ setzt sich dann das politisch gewünschte und geförderte System endgültig durch und wird zum neuen „vorherrschenden System“. Bei der Stromproduktion wird das voraussichtlich im Zeitraum von 2030 bis 2050 erfolgen. In der Regel dauern Transformationen mehrere Jahrzehnte. Für die Eindämmung der Klimaerhitzung ist das ein Riesenproblem – denn dafür ist nicht mehr lange Zeit!

Abbildung: Idealtypischer Verlauf von Transformationen (Quelle: KEMP & LOOBACH 2006, übersetzt)

Gegenwind gegen die Energiewende

In der Realität verlaufen Transformationen aber nicht so glatt wie in der Abbildung gezeigt. Denn es gibt viele Akteure, die das alte „vorherrschende System“ retten wollen − weil sie davon profitieren, nicht an den Erfolg des neuen Systems glauben oder dort keine eigene Rolle mehr sehen. Beispielsweise wurde der erste Beschluss zum Atomausstieg durch die rot-grüne Regierungskoalition im Jahr 2000 durch die schwarz-gelbe Regierungskoalition im Jahr 2010 mit der sogenannten Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke weitgehend aufgehoben. Nach dem atomaren Super-GAU in Fukushima (2011) gab es dann aber kurz darauf eine erneute Richtungsänderung zum zweiten Atomausstieg. Aber immer noch und aktuell gibt es Versuche, die Atomkraft zu retten, indem sie als Heilmittel für den Klimaschutz dargestellt wird.

Ein anderes Beispiel: Die Windkraft wird vielerorts bekämpft. Im „Klimaschutzprogramm 2030“ der Bundesregierung wurde den Windkraftgegnern entgegengekommen und 1.000 Meter als Standardabstand von Windkraftanlagen zur nächsten Siedlung festgelegt. Damit werden auf einen Schlag bis zu 50 % der möglichen Flächen für Windkraft ausgeschlossen. Das ist heftiger Gegenwind für die Windkraft!

Welche Transformationen laufen oder sind geplant?

In den 1980er-Jahren hat die „Digitalisierung“ als ungeplante Transformation bzw. dritte industrielle Revolution begonnen und ist bereits in der Durchbruchsphase. Im gleichen Zeitraum hat die „Energiewende“ begonnen. Genau genommen besteht die Energiewende aus mehreren gekoppelten Transformationen − aus der „Stromwende“ (S. 60–123), der „Verkehrswende“ (S. 124–187), der „Landwirtschafts- und Ernährungswende “(S. 188–219) und der „Wohnwende“ (S. 220–246).

Während die Stromwende bereits weit vorangekommen ist, befinden sich die Transformationen in den Bereichen Verkehr, Gebäude und Wohnen sowie Landwirtschaft und Ernährung noch in der Vorentwicklungsphase.

Die Digitalisierung betrifft alle Bereiche und Sektoren der Gesellschaft und ist damit eine „Querschnittstransformation“. Die Verkehrswende, die Wohnwende und die Landwirtschafts- und Ernährungswende sind sektorale Transformationen, also auf einzelnen gesellschaftliche Bereich begrenzt. Die Stromwende wird auch als sektorale Transformation gesehen, aber sie wird mehr und mehr zur Querschnittstransformation – weil perspektivisch alle Sektoren der Gesellschaft (auch die Chemieindustrie) mit erneuerbarem Strom versorgt werden und dadurch die jeweiligen Technologien, Produkte und Märkte völlig verändert werden. Über die genannten Transformationen hinaus gibt es noch Vorschläge für eine „Große Transformation“ (WBGU [Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltänderungen], Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, 2011), in der sich Wirtschaft, Gesellschaft und alle Sektoren ändern − hin zur klimaneutralen Gesellschaft.

Abbildung: Entwicklungsgrad der Transformationen (eigene Darstellung)

Parallel dazu gibt es seit den 1970er-Jahren (!) eine Reihe von zum Teil widersprüchlichen Vorschlägen für eine Umgestaltung der Wirtschaft (Qualitatives Wachstum, Ökologische Industriepolitik, Green Economy, Postwachstum/Degrowth, Sustainable Economy u.a.m. Das dahinterstehende Konzept einer allumfassenden, globalen, zielgerichteten Transformation ist eigentlich das der „Nachhaltigen Entwicklung“ und der „Agenda 2030“. Aber gerade die Vielzahl der höchst anspruchsvollen Ziele und die Übergröße der Herausforderung machen deutlich, wie schwer die Umsetzung ist.

Wenn schon die Stromwende in Deutschland mühsam vorankommt, wenn die Verkehrswende, die Wohnwende und die Landwirtschafts- und Ernährungswende erst am Anfang stehen − wie viel schwerer ist das bei den 195 Staaten der Welt − mit Unterschieden in Entwicklungsstand, unterschiedlicher Politik, unterschiedlichen Religionen und Kulturen, mit globalen Machtkämpfen, wirtschaftlicher Konkurrenz und Ausbeutungsverhältnissen.

WIE TREIBT MAN TRANSFORMATIONEN VORAN?

Lange Zeit hatte man gedacht, dass es eigentlich nur zwei Bereiche gibt, die zu großen Änderungen in Gesellschaft und Wirtschaft führen. Entweder gibt es wesentliche Veränderungen am Markt, und/oder es gibt neue Gesetze. Die Analyse von Transformationsprozessen hat aber gezeigt, dass es innerhalb des vorherrschenden Systems deutlich mehr Bereiche gibt, auf denen die Stabilität des Systems beruht.

Umgekehrt sind das die Bereiche, in denen Initiativen und Änderungen ansetzen müssen, um Transformationen voranzutreiben. Änderungen hin zu einer Transformation sind besonders dann erfolgreich, wenn sie in mehreren Bereichen erfolgen und sich gegenseitig verstärken. Die typischen (acht) Bereiche sind in der nachfolgenden Transformationsmatrix dargestellt. Die Bereiche sind nicht scharf abgegrenzt und gehen zum Teil ineinander über.

DAS ANALYSETOOL DER TRANSFORMATIONSMATRIX

Werte undLeitbilder

Verhalten undLebensstile

Märkte undFinanzsysteme

PolitikinstrumenteundInstitutionen

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