Klinische Psychologie und Psychotherapie des Alters - Meinolf Peters - E-Book

Klinische Psychologie und Psychotherapie des Alters E-Book

Meinolf Peters

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Beschreibung

Psychische Störungen sind in allen Altersgruppen weit verbreitet. In diesem Buch werden die Besonderheiten der Klinischen Psychologie des Alters erläutert, im historischen Kontext Deutschlands reflektiert und die wichtigsten psychischen Störungen vorgestellt. Psychodynamische und kognitiv-behaviorale Behandlungsansätze, deren Effektivität auch bei älteren Menschen wissenschaftlich belegt ist, werden beschrieben sowie Aspekte der Versorgung erörtert.

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Seitenzahl: 323

Veröffentlichungsjahr: 2009

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Psychische Störungen sind in allen Altersgruppen weit verbreitet. In diesem Buch werden die Besonderheiten der Klinischen Psychologie des Alters erläutert, im historischen Kontext Deutschlands reflektiert und die wichtigsten psychischen Störungen vorgestellt. Psychodynamische und kognitiv-behaviorale Behandlungsansätze, deren Effektivität auch bei älteren Menschen wissenschaftlich belegt ist, werden beschrieben sowie Aspekte der Versorgung erörtert.

Prof. Dr. Susanne Zank leitet den Lehrstuhl für Klinische Psychologie an der Universität Siegen. Dr. Meinolf Peters ist Mitinhaber und Geschäftsführer des Instituts für Alternspsychotherapie und Angewandte Gerontologie in Marburg und leitender Psychologe im Funktionsbereich Gerontopsychosomatik und -psychotherapie der Klinik am Hainberg in Bad Hersfeld. Prof. Dr. Gabriele Wilz ist Professorin für Klinisch-Psychologische Intervention an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Grundriss GerontologieBand 19

eine Reihe in 22 Bänden herausgegeben von Clemens Tesch-Römer, Hans-Werner Wahl, Siegfried Weyerer und Susanne Zank

Diese in sich geschlossene Taschenbuchreihe orientiert sich konsequent an den Erfordernissen des Studiums und der professionellen Praxis. Knapp, übersichtlich und verständlich präsentiert jeder Band das Grundwissen eines Teilbereichs.

Band 1 H.-W. Wahl/V. HeylGerontologie – Einführung und Geschichte

Band 15 T. Gunzelmann/W. D. OswaldGerontopsychologische Diagnostik und Assessment

Band 3 M. Martin/M. KliegelPsychologische Grundlagen der Gerontologie

Band 5 F. Schulze-NieswandtSozialpolitik im Alter

Band 12 J. Werle/A. Woll/S. TittlbachGesundheitsförderung

Band 13 J. Werle/C. Ding-Greiner/ U. Marwedel/T. KaufelerEpidemiologie körperlicher Erkrankungen und Ein schränkungen im Alter

Band 14 S. Weyerer/H. BickelEpidemiologie psychischer Erkran- kungen im höheren Lebensalter

Band 17 H. Gutzmann/S. ZankDemenzielle Erkrankungen

Band 18 O. Dibelius/C. UzarewiczPflege von Menschen höherer Lebensalter

Band 19 S. Zank/M. Peters/G. WilzKlinische Psychologie und Psychotherapie des Alters

Band 21 A. KruseDas letzte Lebensjahr

Band 22

Susanne Zank Meinolf Peters Gabriele Wilz

Klinische Psychologie und Psychotherapie des Alters

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrofilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © 2010 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

Print: 978-3-17-018650-7

E-Book-Formate

pdf:

epub:

978-3-17-028034-2

mobi:

978-3-17-028035-9

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil I: Gerontologische Grundlagen und psychische Störungen im Alter

1 Gerontologische Grundlagen

1.1 Einführung

1.2 Das dritte und vierte Alter sowie die Hochaltrigkeit

1.3 Die Psychologie der Lebensspanne

1.3.1 Das Modell »Selektive Optimierung mit Kompensation (SOK) «

1.4 Körperliche Erkrankungen und Multimorbidität

1.4.1 Funktionelle Einbußen

1.5 Altern im historischen Kontext Deutschlands

1.5.1 Lebenszeit der Betroffenen

1.5.2 Langfristige physische und psychosoziale Konsequenzen

1.5.3 Transgenerationale Weitergabe von Belastungen und Traumatisierungen

2 Psychische Störungen im Alter

2.1 Demenz

2.1.1 Symptomatik und diagnostische Kriterien

2.1.2 Diagnostische Methoden und Differenzialdiagnostik

2.1.3 Prävalenz und Bedeutung im Alter

2.2 Depressionen

2.2.1 Symptomatik und diagnostische Kriterien

2.2.2 Diagnostische Methoden und Differenzialdiagnostik

2.2.3 Prävalenz und Bedeutung im Alter

2.2.4 Depressionen und chronisch körperliche Erkrankungen

2.2.5 Depressionen und chronische Schmerzen

2.3 Angsterkrankungen

2.3.1 Symptomatik und diagnostische Kriterien

2.3.2 Generalisierte Angststörung (GAS)

2.3.3 Prävalenz und Bedeutung im Alter

2.3.4 Angst und Depression

2.3.5 Angstsymptome und kognitive Beeinträchtigungen

2.4 Anpassungs- und Belastungsstörungen

2.4.1 Anpassungsstörung

2.4.2 Symptomatik und diagnostische Kriterien

2.4.3 Prävalenz und Bedeutung im Alter

2.4.4 Posttraumatische Belastungsstörung

2.5 Somatoforme Störungen

2.5.1 Symptomatische und diagnostische Kriterien

2.5.2 Prävalenz und Bedeutung im Alter

2.6 Substanzmissbrauch, Abhängigkeit und Sucht

2.6.1 Symptomatik und diagnostische Kriterien

2.6.2 Prävalenz und Bedeutung im Alter

2.7 Persönlichkeitsstörungen

2.7.1 Symptomatik und diagnostische Kriterien

2.7.2 Prävalenz und Bedeutung im Alter

Teil II: Psychotherapie im Alter

3 Psychodynamische Verfahren

3.1 Was ist psychodynamische Psychotherapie?

3.2 Freud und die Last des Alterns

3.3 Psychodynamische Annahmen zum Altern

3.3.1 Von der Deflzit- zur Konfliktperspektive

3.3.2 Die Zeitlosigkeit des Unbewussten

3.3.3 Altern als narzisstische Krise

3.3.4 Die existenzielle Dimension des Alterns

3.3.5 Das Ich und die Abwehrmechanismen

3.3.6 Die Bedeutung der Affekte

3.3.7 Gelingendes Altern aus psychoanalytischer Sicht

3.4 Äthiopathogenetische Modelle

3.4.1 Überlegungen zur Äthiopathogenese im Alter

3.4.2 Das Modell der Symptombildung nach Heuft

3.5 Grundzüge psychodynamischer Psychotherapie

3.5.1 Vorbemerkung

3.5.2 Erstgespräch und Eingangsdiagnostik

3.5.3 Unbewusster Konflikt und Therapieziele

3.5.4 Indikation und Behandlungsmotivation

3.5.5 Eigenübertragung und Widerstand des Therapeuten

3.5.6 Entwicklung einer hilfreichen Beziehung

3.5.7 Die psychoanalytischen Regeln

3.5.8 Zur Dynamik der therapeutischen Beziehung – Übertragung und Gegenübertragung

3.5.9 Die Deutung im therapeutischen Prozess

3.5.10 Weitere Interventionsformen und die psychoanalytische Haltung

3.5.11 Träume – die via regia zum Unbewussten

3.5.12 Zwei Ebenen – krankheitsspezifisch und altersspezifisch

3.6 Therapieformen und -settings

3.6.1 Einzelpsychotherapie

3.6.2 Psychoanalytische Langzeittherapie

3.6.3 Gruppenpsychotherapie

3.6.4 Stationäre Psychotherapie

3.7 Qualitätssicherung bei psychodynamischen Verfahren

3.7.1 Vorbemerkung

3.7.2 Psy-BaDo

3.7.3 Operationalisierte psychodynamische Diagnostik (OPD)

3.7.4 Psychologische Testverfahren

4 Kognitiv-behaviorale Verhaltenstherapie mit Älteren

4.1 Theoretische Grundlagen und Grundprinzipien der kognitiv-behavioralen Verhaltenstherapie (KVT)

4.1.1 Multifaktorielle Erklärungsmodelle der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen

4.1.2 Die Verhaltensanalyse und das kognitive Fallkonzept

4.1.3 Standardmethoden der KVT

4.1.4 Das Erstgespräch

4.2 KVT bei Depressionen

4.2.1 Der Aktivitätsaufbau

4.2.2 Die Veränderung dysfunktionaler Gedanken

4.2.3 Wirksamkeit der KVT bei Depressionen im Alter

4.2.4 Weitere Therapieformen für ältere depressive Patienten

4.2.5 Therapieansätze für ältere depressive Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen

4.3 KVT bei Schlafstörungen

4.4 KVT bei Angsterkrankungen

4.4.1 KVT bei der Generalisierten Angststörung (GAS)

4.4.2 KVT bei sozialer Phobie

4.4.3 KVT bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)

4.4.4 Zusammenfassung zur Wirksamkeit der KVT bei Angststörungen

4.5 KVT bei chronisch körperlichen Erkrankungen und Schmerzen

4.6 KVT bei demenziellen Erkrankungen

4.7 KVT bei pflegenden Angehörigen

5 Versorgungsrealität und Desiderate

5.1 Behandlungsbedarf bei Älteren

5.2 Psychotherapeutische Versorgung

5.3 Antrag- und Gutachterverfahren

Literatur

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Durch die demographische Entwicklung rücken vermehrt Fragestellungen der Klinischen Psychologie in den Blick von alten Menschen, ihren Angehörigen sowie Ärzten, Psychologen, Sozialpädagogen und professionell Pflegenden. Etwa 25 % der Menschen über 65 Jahren leiden an einer psychischen Störung. Diese Prävalenz (Auftretenshäufigkeit) ist nicht höher als in anderen Altersgruppen, allerdings spielen bei alten Menschen demenzielle Erkrankungen eine herausragende Rolle, die bei Jüngeren kaum auftreten.

Im ersten Teil des Buches werden die gerontologischen Grundlagen der Klinischen Psychologie des Alterns und die häufigsten psychischen Störungen dargestellt. Im zweiten Teil werden zwei Psychotherapieschulen eingehend beschrieben, die psychodynamischen Verfahren und die kognitiv-behaviorale Verhaltenstherapie. Wir beschränken uns auf diese Psychotherapieformen, weil ihre Wirksamkeit gut belegt ist und sie deswegen von den Krankenkassen bezahlt werden.

Psychische Störungen werden bei alten Menschen in der Primärversorgung vielfach nicht richtig diagnostiziert und behandelt. Bestenfalls werden Psychopharmaka verordnet, obwohl die Effektivität von Psychotherapie auch bei alten Menschen mittlerweile gut dokumentiert ist. Die Autorinnen und der Autor dieses Buches sind alle approbierte Psychologische Psychotherapeuten, die erfolgreich mit älteren Patienten gearbeitet haben. Wir wünschen uns, dass alte Menschen vermehrt ihren Weg in psychotherapeutische Behandlung finden werden, und hoffen, mit diesem Buch einem breiten Leserkreis entsprechende Behandlungsmöglichkeiten nahezubringen.

Bedanken möchten wir uns bei Dipl.-Psych. Sonja Heidenblut, Dipl.-Psych. Ilga Opterbeck, Katy Schleicher und Denise Stein für ihre sorgfältige Unterstützung bei der Erstellung des Literaturverzeichnisses. Einen besonderen Dank schulde ich (SZ) Dipl.-Psych. Ingrid Heimbach für ihre außerordentlich engagierte Hilfe bei der Manuskripterstellung. Danken möchten wir auch Frau Reutter, Frau Merkel und Herrn Dr. Poensgen vom Kohlhammer Verlag, die geduldig, beruhigend und konstruktiv die Entstehung dieses Buches begleitet haben.

Siegen, Marburg und Jena im September 2009 Susanne Zank, Meinolf Peters und Gabriele Wilz

Teil I:Gerontologische Grundlagen und psychische Störungen im Alter

1 Gerontologische Grundlagen

1.1 Einführung

Alter, Altern und alte Menschen werden zunehmend als zentrales Thema der Weltbevölkerung begriff en. So hat Kofi Annan, der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, die demographischen Veränderungen bereits 1999 als stille Revolution bezeichnet. Die weltumspannende Gemeinsamkeit liegt darin, dass der Anstieg der Lebenserwartung ein nahezu universales Phänomen ist. Eine Ausnahme bilden manche schwarzafrikanische Länder, in denen die mittlere Generation weitgehend an AIDS verstorben ist.

Für die Bundesrepublik lag die durchschnittliche Lebenserwartung neugeborener Mädchen im Jahr 2007 bei 82,3 Jahren, die von Jungen bei 76,9 Jahren (Statistisches Bundesamt, 2008). Der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts von unter 7 % auf heute (2009) etwa 16 % gestiegen. Die Politik sieht sich demzufolge großen Herausforderungen gegenüber, denn die demographischen Veränderungen werden weitreichende Konsequenzen für den Generationenvertrag, das Renten-, Gesundheits- und Pflegesystem sowie für den Arbeitsmarkt haben.

Der Begriff Alter bezieht sich zum einen auf das chronologische Alter, also die Zeit zwischen der Geburt und dem aktuellen Datum. Zum anderen handelt es sich um eine wichtige soziale Kategorie wie z. B. Geschlecht oder Hautfarbe. Die gesellschaftliche Relevanz sozialer Kategorien lässt sich u. a. daran ablesen, dass sich der Gesetzgeber veranlasst sah, 2006 ein allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (umgangssprachlich Antidiskriminierungsgesetz) zu verabschieden, welches Benachteiligungen z. B. aufgrund des Alters, des Geschlechts, der Religion, der sexuellen Identität oder der Rasse verhindern soll. Der Begriff Altern zielt darauf ab, den Prozess des Altwerdens zu fokussieren. Alternsprozesse begleiten uns ein ganzes Leben, überspitzt formuliert beginnt das Altern bereits ab der Geburt. In der Gerontologie wird zwischen dem normalen, dem pathologischen und dem positiven Altern unterschieden. Das normale Altern orientiert sich an statistisch durchschnittlichen Alternsverläufen. Es wird häufig als das Altern ohne chronische Erkrankungen wie die Alzheimer-Demenz oder Diabetes definiert, um den reinen Alternsprozess von Krankheitsprozessen abzugrenzen. Das pathologische Altern ist demzufolge der Alternsprozess mit entsprechenden chronischen Erkrankungen. Positives Altern bezeichnet ein relativ hohes Maß an objektiver Gesundheit verbunden mit subjektivem Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit. Die subjektive Komponente ist hierbei entscheidend.

Die Forschungsergebnisse der Gerontologie belegen diese differenzielle Sicht der Alternsprozesse. Eine ressourcenorientierte Sichtweise des Alterns untersucht dabei die Wechselwirkung zwischen den Ressourcen einer Person, ihren individuellen Zielsetzungen, den von ihr eingesetzten Prozessen zur Zielerreichung und den Kontextbedingungen (Martin & Kliegel, 2008).

1.2 Das dritte und vierte Alter sowie die Hochaltrigkeit

In einer Systematik für den gesamten menschlichen Entwicklungsprozess hat der einflussreiche deutsche Psychologe Paul B. Baltes versucht, das Alter als Interaktion von menschlicher Entwicklung (Humanontogenese) und biologischer Evolution zu verstehen. Baltes’ Überlegungen basieren auf der Annahme, dass die menschliche Entwicklung unvollständig ist. Diese Unvollständigkeit wird für die biologische und kulturelle Koevolution hauptsächlich durch zwei Argumente belegt: Zum einen ist die biologische und kulturelle Koevolution nicht beendet, sondern es handelt sich hierbei um einen fortlaufenden Prozess. Zum zweiten ist die biologische und kulturelle Entwicklung für das mittlere und hohe Erwachsenenalter wenig fortgeschritten, da das Alter als allgemeines Phänomen historisch jung ist. Weiterentwicklungen sind also in beiden Bereichen möglich. Die Dynamik zwischen kultureller und biologischer Entwicklung wird durch drei Prinzipien erklärt, die während der Ontogenese interagieren: evolutionäre Selektion, Bedarf an kulturellen Leistungen und Effizienz kultureller Leistungen (P. Baltes, 1997; P. Baltes & Smith, 1999).

Die evolutionären Selektionsvorteile nehmen mit zunehmendem Alter ab. Die wichtigste Funktion biologischer Selektion liegt in der Sicherstellung der Reproduktionsfähigkeit. Da die Reproduktion eine Aufgabe des jüngeren Erwachsenenalters ist und bis vor kurzem nur wenige Menschen alt wurden, liegt die Vermutung nahe, dass das Genom älterer Menschen heutzutage schädigende und dysfunktionale Gene enthält. In der Folge kommt es zu Störungen, da die biologisch determinierten Ressourcen abnehmen. Ein Beispiel für die Schwächung der Selektion mit zunehmendem Alter ist die Alzheimer’sche Erkrankung, die sehr stark alterskorreliert ist.

Die kulturelle Bedürftigkeit nimmt mit dem Alter zu. Zur Kultur gehören psychologische, soziale, materielle (ökologische und technologische) und symbolische (wissensbasierte) Ressourcen, die die Menschheit entwickelt und über Generationen weitergegeben hat. Aufgrund biologisch bedingter Abbauprozesse werden kulturbasierte Kompensationen (materielle, soziale, ökonomische, psychologische) mit zunehmendem Alter wichtiger.

Die Effizienz kultureller Leistungen nimmt mit zunehmendem Alter ab. Bereits ab dem mittleren Erwachsenenalter nimmt die Effektivität psychologischer, sozialer oder materieller Ressourcen ab, so dass insbesondere im hohen Alter kulturelle Hilfsmittel nur begrenzt wirksam sind.

Aus diesen drei interagierenden Prinzipien der Ontogenese ergibt sich die Konsequenz, dass Alter und Altern nicht gleichbedeutend mit Abbau und Verlust sind. Dies wäre nur dann zutreffend, wenn ausschließlich biologische Faktoren den Altersprozess bestimmten. Zudem lässt sich zeigen, dass die Weiterentwicklung kultureller Leistungen biologische Abbauprozesse alter Menschen bereits nachhaltig beeinflusst haben.

P. Baltes leitet aus den drei Prinzipien eine Einteilung des Alters in zwei Gruppen ab. Im dritten Alter (65 bis 80 Jahre) sind in der Regel genügend kulturelle Ressourcen vorhanden, um die auftretenden biologischen Abbauprozesse auszugleichen und ein gelingendes Altern zu ermöglichen. Im vierten Alter der über 80-Jährigen zeigt sich die nachlassende kulturelle Wirksamkeit von Kompensationsmöglichkeiten bei gleichzeitiger Zunahme von physischen und psychischen Verlusten.

Aufgrund der ungebrochenen Zunahme der Lebenserwartung allgemein und der Lebenserwartung alter Menschen, die sehr alt werden, werden seit kurzem die über 100-Jährigen als eigenständige Gruppe der Hochaltrigen definiert. Bei genauerer Betrachtung dieser Unterscheidungen ins dritte und vierte Alter sowie die Hochaltrigkeit wird deutlich, dass alte Menschen zwangsläufig sehr verschieden sind: Wir sprechen über eine Lebensspanne von 40, gar 50 Jahren (die bisher älteste Frau der Welt, die Französin Jeanne Calment, wurde nachweislich 122 Jahre alt).

1.3 Die Psychologie der Lebensspanne

Ein einflussreicher theoretischer Ansatz der Entwicklungspsychologie sieht ihren Gegenstandsbereich in der Entwicklung von der Geburt bis zum Tode. Diese Lebensspannenpsychologie (»life-span-development psychology«) ist nicht nur in Deutschland mit den Namen Paul. B. und Margret M. Baltes sowie Hans Thomae und Ursula Lehr verbunden (Martin & Kliegel, 2008; Wahl & Heyl, 2004).

Grundlage der Lebensspannenpsychologie ist die Auffassung, dass Entwicklung nicht nur eine biologisch determinierte Entfaltung von genetischen Anlagen, sondern ein lebenslanger Prozess mit Gewinnen und Verlusten ist. P. Baltes (1990) entwickelte sieben Leitsätze, die das Konzept der Lebensspannenpsychologie näher erläutern.

1.Altern als biographischer Prozess. Alternsprozesse sind unlösbar mit der biographischen Entwicklung verbunden. Dieser Zusammenhang lässt sich in nahezu allen Lebensbereichen nachweisen. So ist die Art der Auseinandersetzung alter Menschen mit Belastungen und Einschränkungen von bisherigen Erfahrungen und im Laufe der Biographie erworbenen Wahrnehmungs- und Auseinandersetzungsformen geprägt. Ungelöste Konflikte früherer Entwicklungsabschnitte können die Auseinandersetzung mit den spezifischen Entwicklungsaufgaben des späten Erwachsenenalters, z. B. die Akzeptanz des nunmehr unveränderbaren Lebens und der eigenen Endlichkeit, zusätzlich erschweren. Lebenslang gepflegte Interessen und Lebensstile finden in der Regel im Alter ihre Fortsetzung, obwohl starke Veränderungen der Lebenssituation auch Veränderungen im Lebensstil bewirken können (Heuft, Kruse & Radebold, 2006). Kognitive Leistungen im Alter sind nicht nur vom kognitiven Ausgangsniveau eines Menschen beeinflusst, sondern auch von der kontinuierlichen Nutzung kognitiver Kapazitäten (Schaie, 1996). Lebenslang eingesetzte soziale Techniken und Kompetenzen beeinflussen die Fähigkeit, im Alter Freundschaften zu pflegen und neue Kontakte aufzunehmen. Schließlich hat der gesundheitliche Lebensstil im Lauf des Lebens (Nikotin/Alkoholkonsum, Übergewicht) Einfluss auf die Entwicklung von Erkrankungen wie beispielsweise Arteriosklerose.

2.Plastizität im Alter. Ein zentraler Begriff ist die Plastizität, also intraindividuelle Veränderbarkeit in verschiedenen Lebensbereichen im Alter (P. Baltes, 1990). Vor allem im Bereich kognitiver Fähigkeiten konnte in einer Reihe von Trainingsstudien zu Gedächtnisleistungen nachgewiesen werden, dass sich Leistungen auch noch im hohen Alter erheblich steigern lassen (M. Baltes & Sowarka, 1995; Kliegl, Smith & P. Baltes, 1989). Das Wiedererlernen von selbstständigen Eigenpflegetätigkeiten bei institutionalisierten alten Menschen ist ebenso dokumentiert wie die erfolgreiche Rehabilitation von Schlaganfallpatienten. Der Wiedererwerb motorischer Fertigkeiten gehört wie die Adaptation des Lebensstils an veränderte Lebenssituationen oder erfolgreiche Psychotherapien zum Nachweis des Veränderungspotenzials im Alter.

In der Neuropsychologie werden unter Plastizität die folgenden Prozesse beschrieben: durch Lernvorgänge verursachte Reorganisation von Subsystemen im Zentralnervensystem, die Übernahme von Funktionen eines geschädigten Subsystems durch ein anderes Subsystem, die Ausbildung neuer Subsysteme, die Nutzung neuer Leitungsbahnen und die Möglichkeit der Veränderung sensomotorischer und psychomotorischer Leistungen. Diese Prozesse sind bei der Rehabilitation z. B. von Schlaganfallpatienten von größter Bedeutung.

Eine Reihe von Studien belegt Entwicklungspotenziale alter Menschen selbst bei schweren Einschränkungen, Verlusten und Behinderungen (Zank, 2002b).

3.Multidimensionalität und Multidirektionalität gehören zu den Kernkonzepten der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne (P. Baltes, 1990). Sie bedeuten zum einen, dass Entwicklung auf verschiedenen Dimensionen (z. B. Kognition, Emotion, Persönlichkeit) stattfindet. Zum anderen können die Entwicklungsverläufe bereichsspezifisch divergieren und in unterschiedlichen Richtungen verlaufen. Ein Beispiel hierfür sind die Entwicklungsverläufe verschiedener Formen der Intelligenz. Während die fluide Intelligenz mit zunehmendem Alter abnimmt, kann die kristallisierte Intelligenz mit dem Alter zunehmen (P. Baltes, 1990; M. Baltes & Sowarka, 1995). Weitere, konkretere Beispiele wären ein geistig reger Mensch mit vielfältigen Interessen, der gesundheitlich durch eine Osteoporose stark beeinträchtigt sein kann, oder ein demenziell Erkrankter, der noch Sport treibt.

Multidimensionalität und Multidirektionalität lebenslanger Entwicklung erklärt die große interindividuelle Variabilität älterer Menschen. Dies gilt für alle Bereiche der psychosozialen Entwicklung, wie Forschungsergebnisse zu Kognitionen, Persönlichkeitsentwicklung oder soziale Beziehungen zeigen (Martin, Lehr, Ettrich, Roether, Martin & Fischer-Cyrulies, 2000; Mayer & P. Baltes, 1996).

4.Altern als dynamischer Prozess. Die Dynamik des Alternsprozesses ist durch ein gleichzeitiges Auftreten von entwicklungsbedingten Gewinnen und Verlusten, Kontinuität und Diskontinuität über die gesamte Lebensspanne gekennzeichnet. Allerdings wird die Gewinn-/Verlustbilanz mit zunehmendem Alter negativer. Lebenslange Bewältigungsstrategien bestimmen den Umgang mit Verlusten und Herausforderungen auch im Alter, so dass aktive und problemorientierte Herangehensweisen bei psychisch gesunden Älteren häufig vorkommen.

5.Altern im Kontext. Hiermit ist gemeint, dass Entwicklung eine Interaktion von altersbedingten, geschichtlich bedingten, biologischen und umweltbezogenen Einflüssen darstellt. Beispielsweise ist die herausragende Bedeutung der Umwelt alter Menschen in der Gerontologie seit langem anerkannt. Lawton und Mitarbeiter formulierten die »Environmental Docility Hypothese«, die besagt, dass alte Menschen mit chronischen Erkrankungen und den daraus resultierenden funktionellen Einbußen besonders auf eine angepasste Umwelt angewiesen sind (Lawton, 1982). Die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Autonomie im Alltagsleben hängt ganz wesentlich von der architektonischen Gestaltung der Umgebung und verfügbaren prothetischen Hilfsmitteln ab. Die Herstellung der Passung von Person und Umwelt (person-environment-fit) ist deshalb eine entscheidende Herausforderung rehabilitativer Bemühungen.

6.Historische Einbettung. Ontogenetische Entwicklung variiert in Abhängigkeit von historisch-kulturellen Bedingungen. So lag um die Jahrhundertwende die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt für Frauen bei 44,0 Jahren und für Männer bei 40,6 Jahren. Im Jahre 1985 hatten Frauen in der Bundesrepublik eine Lebenserwartung von 78,4 Jahren und Männer von 71,8 Jahren. In der Deutschen Demokratischen Republik betrugen die entsprechenden Zahlen 75,5 Jahre für Frauen und 69,5 Jahren für Männer (Dinkel, 1994). Die unterschiedliche Sterberate in Ost- und Westdeutschland ist hauptsächlich auf die höhere kardiovaskuläre Erkrankungsrate in der ehemaligen DDR zurückzuführen. Die beeindruckende Verlängerung der Lebenserwartung insgesamt ist den Erfolgen der Medizin bei der Bekämpfung infektiöser Erkrankungen, dem Rückgang der Säuglingssterblichkeit, der Verbesserung der Hygiene und der Erhöhung des Lebensstandards zu verdanken (Häfner, 1994). Auf den besonderen historischen Kontext der Altenbevölkerung Deutschlands wird in Kapitel 1.7 gesondert eingegangen.

7.Multidisziplinäre Betrachtung. In der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne wird gefordert, psychologische Entwicklung multidisziplinär zu betrachten. Dies gilt besonders für die Gerontologie, die sich als genuin interdisziplinäre Wissenschaft versteht:

»Gerontologie beschäftigt sich mit der Beschreibung, Erklärung und Modifikation von körperlichen, psychischen, sozialen, historischen und kulturellen Aspekten des Alterns und des Alters, einschließlich der Analyse von alternsrelevanten und alternskonstituierenden Umwelten und sozialen Institutionen« (P. Baltes & M. Baltes, 1994, S. 8).

Diese Interdisziplinarität ist für die Klinische Psychologie des Alters essenziell. So sind in stationären, teilstationären und zunehmend auch in ambulanten Einrichtungen multiprofessionelle Teams (Ärzte, Psychologen, Sozialpädagogen, Pflegekräfte, Logopäden, Physio- und Ergotherapeuten) selbstverständlich.

1.3.1 Das Modell »Selektive Optimierung mit Kompensation (SOK) «

Im Rahmen der Lebensspannenpsychologie wurde ein Modell positiven Alterns entwickelt, das Modell der »Selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK)« (P. Baltes, 1997; P. Baltes & M. Baltes, 1990; M. Baltes & Carstensen, 1996). Die Komponenten Selektion, Kompensation und Optimierung werden als fundamentale Prozesse oder Strategien bezeichnet, die adaptive Entwicklung ermöglichen.

Selektion bezieht sich auf zielgerichtete Entscheidungen, die persönliche Motive und Umweltbedingungen vereinbaren sollen. Im Alter besteht Selektion häufig darin, vorhandene Potenziale und Ressourcen in Anbetracht zunehmender Verluste zu kanalisieren, indem Ziele und Funktionsbereiche aufgegeben werden, die für das Individuum weniger wichtig oder nicht mehr erreichbar sind. Bei schweren Einbußen – z. B. als Konsequenz gravierender Erkrankungen – kann Selektion auch eine reaktive Strategie sein.

Unter Optimierung werden zielgerichtete Verhaltensweisen verstanden, Fähigkeiten und Kapazitäten zu verbessern. Hierzu sind kulturelles Wissen, zielgerichtetes Handeln, Anstrengung, Übung und Ausdauer erforderlich. Optimierungsstrategien können die Effekte von zunehmenden Defiziten reduzieren oder verlangsamen, z. B. Gedächtnistraining oder das Erlernen neuer Mnemotechniken.

Kompensation wird erforderlich, wenn bisherige Strategien die Verluste nicht mehr ausgleichen können und neue Ressourcen oder Mittel zur Zielverfolgung genutzt werden, z. B. Hörgeräte bei Hörverlust.

Eine zentrale Annahme der Lebensspannenmetatheorie der Ontogenese besteht darin, dass jeder Entwicklungsprozess durch das Zusammenspiel der Strategien Selektion, Optimierung und Kompensation bestimmt wird. Aufgrund der Unvollständigkeit der biologischen und kulturellen Koevolution werden im Alter Selektions- und insbesondere Kompensationsstrategien zunehmend wichtiger (P. Baltes & Smith, 1999).

Die Entwicklung des dritten Alters wird mitunter als Erfolgsgeschichte der Gerontologie bezeichnet, die sich nachdrücklich um eine positive Sicht des Alterns bemühte und deren Daten eindrucksvolle Verbesserungen in der psychologischen Funktionstüchtigkeit und Gesundheit dieser Altersgruppe im Vergleich zu früheren Kohorten Älterer in den Industrienationen nachweisen konnte. Für das hohe Alter ab dem 80. Lebensjahr ist die Bilanz weniger positiv.

Rehabilitative Anstrengungen in der klinischen Gerontologie, der Geriatrie (Altersmedizin) und der Gerontopsychiatrie sind wesentlich davon abhängig, dass sowohl grundlagen- als auch anwendungsorientierte Forschungsergebnisse reflektiert und berücksichtigt werden. Da Altern ein lebenslanger Prozess ist, kommt der entwicklungspsychologischen Perspektive der Lebensspanne hierbei entscheidende Bedeutung zu (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2002).

Zusammenfassung

Die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland ist von einem deutlichen Zuwachs der Lebenserwartung gekennzeichnet, der weiterhin anhält. Aufgrund der demographischen Entwicklung stellen das vierte Alter und die Hochaltrigkeit die entscheidende Herausforderung für die zukünftige Gesellschaft dar. Gerontologische Forschungsergebnisse zu den interindividuellen Unterschieden sowie zur Entwicklungsfähigkeit alter Menschen ermutigen eine verhalten optimistische Einstellung, dass die Gestaltung einer altersfreundlichen Gesellschaft gelingen könnte. Hierzu sind weitere Forschungsanstrengungen insbesondere zu den über 80-Jährigen essenziell.

Fragen zur Selbstüberprüfung (Kapitel 1.1 bis 1.3)

Wie hoch ist die Lebenserwartung bei Geburt für Mädchen und Jungen?Worin unterscheiden sich das dritte und das vierte Alter?Zählen Sie die sieben Leitsätze der Lebensspannenpsychologie auf.Was bedeutet Plastizität?Erläutern Sie das Modell »Selektive Optimierung mit Kompensation«.

Weiterführende Literatur

Martin, M. & Kliegel, M. (2008). Psychologische Grundlagen der Gerontologie (2. Aufl., Grundriss Gerontologie, Bd. 3). Stuttgart: Kohlhammer.

Oswald, W., Lehr, U., Sieber, C. & Kornhuber, J. (Hrsg.). (2006). Gerontologie. Medizinische, psychologische und sozialwissenschaftliche Grundbegriffe (3., vollst. überarb. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.

Wahl, H.-W. & Heyl, V. (2004). Gerontologie – Einführung und Geschichte (Grundriss Gerontologie, Bd. 1). Stuttgart: Kohlhammer.

1.4 Körperliche Erkrankungen und Multimorbidität

Der Gesundheitszustand vieler alter Menschen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten entschieden verbessert. Die 60-Jährigen von heute sind körperlich erheblich gesünder als vor 30 Jahren, und diese Tendenz ist dank erfolgreicher Präventionsarbeiten zunehmend. Die meisten Menschen wissen, dass vernünftige Ernährung, Bewegung und normales Körpergewicht für die Gesundheit unabdingbar sowie zuviel Fett und Alkohol schädlich sind. Dass Rauchen die Gesundheitsgefährdung Nummer 1 ist, weiß vermutlich jedes Kind in Deutschland. Dennoch hat diese positive Bilanz auch ihre Schattenseiten. Die Menschen insbesondere im vierten Alter sowie die Hochaltrigen leiden in der Regel nicht nur objektiv an chronischen Erkrankungen, sondern diese haben auch subjektiv einen erheblichen Stellenwert.

In der interdisziplinären Berliner Altersstudie wurde eine repräsentative Stichprobe von (West-)Berlinern im Alter von 70 bis 100 Jahren intensiv untersucht (Mayer & Baltes, 1996). Die Erhebungen umfassten internistische und psychiatrische Untersuchungen durch Fachärzte, zusätzlich wurden Blut- und Urinanalysen sowie Computertomographien vorgenommen. Anhand der verschiedenen Informationsquellen konnten die Projektärzte Diagnosen der Probanden festlegen.

98 % erhielten zumindest eine internistische Diagnose, 88 % der Untersuchungsteilnehmer waren multimorbid, d. h., sie litten unter fünf und mehr internistischen Erkrankungen (Steinhagen-Thiessen & Borchelt, 1996). Allerdings war bei zwei Drittel der Erkrankungen der Schweregrad leicht. Bei Hinzunahme der psychiatrischen Störungen ergab sich ein Mittelwert von 7,4 Erkrankungen.

Die häufigsten Erkrankungen mit mittlerem bis hohem Belastungsgrad waren Osteoarthrosen (Rheumatische Erkrankungen, Polyarthritis) mit 32 %, Herzinsuffizienz (24 %), Dorsopathien (Rückenschmerzen) mit 21 %, Koronare Herzkrankheit (18 %) und Osteoporose mit 10 %. Die Krankheiten des Bewegungsapparates und des Herz-Kreislauf-Systems werden subjektiv als besonders belastend erlebt. Chronische Schmerzzustände lassen sich bei 49 % der über 70-Jährigen finden. In Tabelle 1.1 sind die häufigsten Erkrankungen aufgeführt. 87 % der Probanden der Berliner Altersstudie erhielten eines oder mehrere Medikamente. Allerdings stellten die Projektärzte fest, dass bei 24 % der Untersuchten die Medikation nicht optimal bzw. unzureichend war (Steinhagen-Thiessen & Borchelt, 1996).

Tab. 1.1: Diagnoseprävalenzen, objektiver Schweregrad und subjektiver Beschwerdegrad. Angaben in % (modifiziert nach Steinhagen-Thiessen & Borchelt, 1996)

Körperliche Krankheit nach ICD 9

1

2

3

1. Gesamtprävalenz

2. Mittlerer bis höherer Schweregrad

3. Beschwerdeprävalenz (subjektiv mittel bis höhere)

Hyperlipidämie (Fettstoffwechselstörung, z. B. Cholesterin)

76,3

36,9

Varikosis (Venenleiden)

72,1

36,2

9,7

Zerebralarteriosklerose (z. B. Schlaganfall)

65,0

15,2

6,1

Herzinsuffizienz

56,5

24,1

25,1

Qsteoarthrosen (Gelenkverschleiß)

54,8

31,6

32,1

Dorsopathien (Rückenschmerzen)

46,0

20,6

20,4

Hypertonie (Bluthochdruck)

45,6

18,4

0,8

Harninkontinenz

37,2

7,6

6,8

Herzerregungsleistungsstörungen

35,7

16,7

0,6

Arterielle Verschlusskrankheit (Durchblutungsstörungen)

35,6

18,4

10,4

Herzrhythmusstörungen

33,0

13,4

2,2

Chronisch obstruktive Lungenerkrankung

25,3

12,6

7,8

Qsteoporose

24,1

10,3

12,3

Koronare Herzkrankheit

23,3

17,6

10,4

Periphere Nervensystemerkrankung

20,0

9,2

6,0

Zustand nach Myokardinfarkt (Herzinfarkt)

19,3

11,4

0,4

Diabetes mellitus

18,5

11,3

2,9

Gicht/Hyperurikämie

15,2

4,6

1,2

Chronische Obstipation (Verstopfung)

13,4

5,8

6,5

Stuhlinkontinenz

11,3

3,0

4,1

Malignome (bösartige Tumore)

10,8

2,5

3,0

Gesamt

Mindestens eine Diagnose

97,9

96,0

71,3

Fünf und mehr Diagnosen

87,7

30,2

6,0

1.4.1 Funktionelle Einbußen

Chronische Erkrankungen führen häufig zu funktionellen Einbußen. Damit sind zum einen Einschränkungen in den basalen Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) wie z. B. Duschen/Baden, WC-Benutzung, Anziehen oder selbstständiges Essen gemeint. Zum anderen können auch die instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (IATL) betroffen sein. Hierzu zählen beispielsweise Einkaufen, Kochen, Haushaltsführung und die Regelung finanzieller Angelegenheiten. Die IATL sind bei vielen demenziellen Krankheitsprozessen frühzeitig beeinträchtigt.

In Tabelle 1.2 sind die Hilfebedürftigkeit in den ATL sowie der Hilfsmittelgebrauch der Teilnehmer der Berliner Altersstudie aufgeführt. 30 % der Untersuchten benötigen Unterstützung bei den IATL (z. B. beim Einkaufen), aber nur 1 % bei den basalen ATL (Baden, Anziehen). Der Hilfebedarf nimmt mit dem Alter zu und steigt ab dem vierten Alter deutlich an. Betroffen sind insbesondere die Frauen.

Aufgrund der Bedeutsamkeit von Funktionseinbußen und Behinderungen hat die World Health Organisation (WHO) 2005 eine neue Klassifikation herausgebracht, die ergänzend zum bekannten Krankheitsklassifikationssystem ICD (International Classification of Diseases) funktionale Beeinträchtigungen besser beschreiben lässt (International Classification of Functioning, Disability, and Health [ICF], vgl. Tab. 1.3). Da diese mit fortschreitenden chronischen Erkrankungen und Alter verbunden sind, ist die ICF besonders für Psychotherapie und Rehabilitation im Alter bedeutsam (Forstmeier & Maercker, 2008).

Die Komponenten der ICF können mit positiven und negativen Begriffen beschrieben werden, d. h., die Funktionsschwächen und -stärken lassen sich genau bestimmen. Die funktionelle Gesundheit eines Menschen lässt sich mithilfe dieses Systems als Ergebnis einer Wechselwirkung von einer Person, ihrer Krankheit (ICD) und verschiedenen Kontextfaktoren (ICF) definieren.

Viele der Erkrankungen im Alter sind chronisch, d. h., sie sind in der Regel behandlungsbedürftig, können nicht geheilt werden und verschlimmern sich häufig. Zudem beeinflussen sich chronische Krankheiten wechselseitig (z. B. Bluthochdruck, koronare Herzkrankheiten und Schlaganfall). Die Wechselwirkung von körperlichen und psychischen Erkrankungen wird in Kapitel 2 aufgegriffen.

Tab. 1.2: Hilfsbedürftigkeit und Hilfsmittelgebrauch. Angaben in % (modifiziert nach Steinhagen-Thiessen & Borchelt, 1996)

Altersgruppe

70–84 Jahre

85+ Jahre

Hilfsbedürftigkeit

Männer

Frauen

Männer

Frauen

Gesamt

IATL

Einkaufen

18,6

27,1

59,7

80,6

33,7

Transport

17,8

22,5

62,0

83,7

31,2

ATL

Baden/Duschen

9,3

8,5

31,8

60,5

16,0

Treppensteigen

3,1

8,5

22,5

42,6

11,4

Spazierengehen

5,4

6,2

27,1

42,6

10,6

Anziehen

5,4

3,1

11,6

24,0

5,9

WC benutzen

0,8

2,3

6,2

15,5

3,2

Transfer aus dem Bett/Hinlegen

1,6

1,6

4,7

15,5

2,7

Körperpflege

0,8

3,1

6,2

1,3

Essen

0,8

0,8

2,3

0,9

Hilfsmittel

Brille

99,2

96,9

86,6

85,5

95,6

Lupe

14,3

15,0

39,7

28,0

16,9

Hörgerät

18,3

14,1

24,4

14,3

15,5

Gehstock

14,3

14,8

56,7

44,4

20,9

Gehstütze

4,8

3,1

10,2

7,9

4,6

Deltarad (Rollator)

2,3

3,9

14,3

2,4

Rollstuhl

1,6

2,3

5,5

15,9

3,1

Sensorik

Sehbehinderung (Visus unter 0,2)

18,6

20,9

56,6

65,9

26,6

Hörbehinderung (≥ 55 resp. ≥ 75 dB)

14,0

15,5

45,3

43,4

18,6

Tab. 1.3: Zwei Hauptteile der International Classification of Functioning, Disability, and Health (ICF) (aus Forstmeier & Maercker [2008])

Funktionsfähigkeit und BehinderungKörperfunktionen (Physiologische und psychische Funktionen von Körpersystemen) und Körperstrukturen (anatomische Teile des Körpers)Aktivitäten (Durchführung einer Handlung) und Teilhabe (Einbezogensein in eine Lebenssituation)KontextfaktorenUmweltfaktoren (Merkmale der materiellen, sozialen und einstellungsbezogenen Umwelt), z. B. Produkte und Technologien, Unterstützung und Beziehungen, Einstellungen anderer DienstePersonenbezogene Faktoren (persönliche Eigenschaften)

Zusammenfassung

In diesem Abschnitt wurde dargelegt, dass die Belastung durch chronische Erkrankungen im höheren Alter hoch ist. Die Berliner Altersstudie belegt bei 98 % der über 70-Jährigen eine internistische Diagnose, 88 % waren multimorbid. Es ist zu vermuten, dass in diese Morbidität auch Auswirkungen der Kriegs- und Mangeljahre miteinfließen. Wichtig für die Lebensqualität ist das Ausmaß der funktionellen Einbußen, die durch chronische Erkrankungen verursacht werden. Deshalb hat die Weltgesundheitsbehörde ein neues Klassifikationssystem herausgebracht, das ICF. Zunehmende Präventionsbemühungen vom Kindergartenalter an über die gesamte Lebensspanne werden hoffentlich zu einer weiteren Verbesserung des Gesundheitszustandes im Alter beitragen.

Fragen zur Selbstüberprüfung (Kapitel 1.4)

Welches sind die drei häufigsten körperlichen Erkrankungen im Alter?Erläutern Sie den Begriff Multimorbidität.Was sind Activities of daily living (ADL)?Welche Hauptteile unterscheidet das ICF?Welche Risikofaktoren gibt es für die Entstehung von chronischen Erkrankungen?

Weiterführende Literatur

Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (2004). Gesund altern. Prävention und Gesundheitsförderung im höheren Lebensalter. Berlin.

Mayer, U. & Baltes, P. B. (Hrsg.). (1996). Die Berliner Altersstudie. Berlin: Akademie Verlag.

Weyerer, S., Ding-Greiner, C., Marwedel, U. & Kaufeler, T. (2008). Epidemiologie körperlicher Erkrankungen und Einschränkungen im Alter (Grundriss Gerontologie, Bd. 13). Stuttgart: Kohlhammer.

1.5 Altern im historischen Kontext Deutschlands

»Wir haben eine Geschichte, wir sind Geschichte und wir verkörpern Geschichte. Sie begleitet uns – auch in ihren leidvollen Anteilen – lebenslang. Hoffentlich haben wir nicht zuviel davon an die nächste Generation weitergegeben« (Radebold, 2006, S. 25). Mit diesen Worten schließt der 1935 geborene Psychoanalytiker Hartmut Radebold seinen Eröffnungsvortrag zum internationalen Kongress »Die Generationen der Kriegskinder und ihre Botschaft für Europa 60 Jahre nach Kriegsende«, der 2005 in Frankfurt am Main durchgeführt wurde. In wenigen Sätzen ist hier zusammengefasst, weshalb die deutsche Geschichte nicht nur für ältere, sondern auch für jüngere Menschen hoch bedeutsam ist.

Deutschland war hauptverantwortlich an der Auslösung von zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert beteiligt, die unvorstellbares Leid über Europa und Russland bzw. die ehemalige Sowjetunion, aber auch die USA, Afrika, den Nahen Osten und Ostasien gebracht haben. Schon der Erste Weltkrieg bedeutete eine Zäsur in der Geschichte des Krieges, da er der erste hochgradig industrialisierte Krieg war, in dem mit massivem Aufwand neue Waffen zum Einsatz kamen (Panzer, Flugzeuge, Luftschiffe) und in dem durch Massenvernichtungswaffen (Giftgas) verheerende Verluste bei den Soldaten eintraten. Die weitgehende Industrialisierung der Kriegsführung, die rücksichtslos umfassende Ressourcen an die Front warf, hatte erhebliche Konsequenzen für die Zivilbevölkerung.

Die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland bis 1923 (verbreitete Unterernährung, Hyperinflation) waren zum erheblichen Teil Spätfolgen dieser Kriegspolitik. Gegen Ende des Krieges befanden sich 25 Staaten und ihre Kolonien im Kriegszustand. Etwa 17 Millionen Menschen verloren ihr Leben. Dieser Krieg gilt bei vielen Historikern als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (Mommsen, 2002).

Entsetzlicherweise wurde diese Katastrophe noch übertroffen vom Zweiten Weltkrieg, dessen Grausamkeit alles bisher Gekannte in den Schatten stellte. Der Zweite Weltkrieg forderte ca. 55 bis 60 Millionen Menschenleben. Am stärksten betroffen war die ehemalige Sowjetunion mit ca. 13,6 Millionen getöteten Soldaten und 6 Millionen Zivilisten. In Deutschland waren ca. 3,2 Millionen Soldaten und 3,6 Millionen Zivilisten zu beklagen (van Mourik, 1978). Zahlreiche Kriegsverbrechen wurden verübt, und es fanden gewaltsame, zumeist systematische Übergriffe auf die Zivilbevölkerung oder auf Kriegsgefangene statt. Mit dem Zweiten Weltkrieg untrennbar verbunden ist auch die Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten während des Holocausts. Die Zivilbevölkerung war im Vergleich zum Ersten Weltkrieg noch stärker von den Kampfhandlungen direkt betroffen, insbesondere durch die großflächige Bombardierung ganzer Wohngebiete in Europa und Asien. Unmittelbar nach Kriegsende begannen in der Tschechoslowakei und Polen die Vertreibungen, da für die Potsdamer Konferenz 1945 Fakten geschaffen werden sollten. So führten denn auch die Beschlüsse der Siegermächte auf der Potsdamer Konferenz zur Vertreibung von etwa 12 bis 14 Millionen Deutschen (Sudetendeutsche, Schlesier, Pommern, Polen und Ostpreußen) aus ihrer Heimat.

Es gibt nicht mehr viele Menschen, die die Jahre des Nationalsozialismus bewusst erlebt haben, aktiv daran beteiligt waren oder diese Zeit als Erwachsene erlitten haben. Sie gehören heute dem vierten Alter oder den Hochaltrigen an. Im dritten Alter befinden sich mittlerweile diejenigen, die als Kinder Bombardierungen, Flucht und Vertreibung durchlebten. Dennoch handelt es sich um eine Vielzahl von Menschen, denn die Gruppe der über 60-Jährigen umfasst derzeit 24 % der Gesamtbevölkerung und ein Drittel aller derzeit lebenden Erwachsenen in Deutschland, also etwa 20 Millionen Menschen (Statistisches Bundesamt, 2007). Empirische Daten belegen, dass eine beträchtliche Anzahl von Menschen im dritten und vierten Lebensjahr kriegsbedingte Traumata erlitten haben und diese sich in ihren negativen Auswirkungen mitunter erst später im Leben manifestieren. Darüber hinaus belegt eine Vielzahl von Studien die transgenerationale Weitergabe von Traumata, da »keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen« (Freud, 1960, S. 191). Die Wahrscheinlichkeit ist daher groß, dass Professionelle in Beratung, Psychotherapie, Pflege oder Seelsorge den anhaltend beschädigten, traumatisierten Menschen begegnen werden und somit Kenntnisse und Offenheit benötigen, um die häufig versteckt gegebenen Hinweise auf kriegsbedingte Belastungen zu verstehen. Im Folgenden wird versucht, die möglichen Erfahrungen der betroffenen Jahrgänge zu veranschaulichen.

1.5.1 Lebenszeit der Betroffenen

In Tabelle 1.4 sind Eckdaten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert aufgeführt. Welche Bedeutung können diese Ereignisse für Menschen über 60 Jahre haben? In Tabelle 1.5 sind die unterschiedlichen Geburtskohorten und ihr Alter an zwei entscheidenden Daten des Nationalsozialismus dargestellt. Aufgrund der äußerst komplexen Sachverhalte wurde hier eine feinere Untergliederung der Geburtskohorten als die Einteilung ins dritte und vierte Alter vorgenommen.

Die Geburtskohorten 1909 bis 1919 erlebten ihre frühe Kindheit im Kaiserreich, im Ersten Weltkrieg oder in der Nachkriegszeit. Die folgenden Ausführungen bedeuten nicht, dass jede Person dieser Jahrgänge die aufgeführten Risiken auch erlebte. Durch die mangelhafte Versorgung bestand das Risiko, dass sie als Kinder Hunger und Unterernährung erlitten. Etwa 2 Millionen Soldaten fielen im Ersten Weltkrieg, so dass viele Kinder ohne Vater oder mit psychisch und physisch versehrten Vätern aufwuchsen. Die Erziehungsmethoden waren ungleich strenger als heute, allerdings steigerte sich dies noch zur Erreichung der Erziehungsideale im Nationalsozialismus. Die Jugend dieser Kohorten fällt in die Zwischenkriegszeit mit Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit. Die 1919 Geborenen waren in ihrer Jugend in der Schule massiver nationalsozialistischer Propaganda ausgesetzt, wenn sie eine höhere Schulbildung durchliefen. Bei Kriegsende waren sie mindestens im jungen Erwachsenenalter. Das bedeutet, dass die Jungen und Männer, die zu Kriegsbeginn 1939 zwischen 20 und 30 Jahren alt waren, Gefahr liefen, den gesamten Krieg an der Front zu verbringen. Bei den kämpfenden Soldaten fielen »von den 20- bis 25jährigen 45 %, von den 25-30jährigen 56 %, von den 30-35jährigen 36 % und von den 35-40jährigen 29 %. Die Geburtskohorten ab 1920 (bezogen auf die Rekrutenzahlen) weisen in der Regel Todesquoten von mehr als 30 % auf« (Radebold, 2005, S. 21). Die Frauen wurden zu Arbeitsdienst und kriegsbedingten Arbeiten in der Waffenproduktion dienstverpflichtet, erzogen ihre Kinder allein, durchlitten Bombardierungen, Vertreibungen, Vergewaltigungen und betrauerten je nach Alter ihre gefallenen Männer, Väter, Brüder oder Söhne. Nach dem Krieg repräsentierte diese Gruppe die Aufbaugeneration. 2009 leben noch 3,4 Millionen Menschen dieser Geburtskohorten in Deutschland. Es handelt sich in hohem Maße um Frauen, die überwiegend hilfs- und pflegebedürftig sind. Etwa 40 % von ihnen leiden unter einer demenziellen Erkrankung.

Eine Ausnahmeerscheinung in vielfältiger Hinsicht ist der 1918 geborene Altbundeskanzler Helmut Schmidt, dessen 90. Geburtstag in allen Medien ausgiebig gefeiert wurde und der in einer Umfrage von den männlichen Befragten zum »coolsten« Deutschen 2008 gekürt wurde. Schmidt ist zutiefst von seinen Kriegserfahrungen geprägt, die ein äußerst produktives Leben bis ins hohe Alter nicht verhinderten. Ob er in nächtlichen Albträumen den Krieg weiterhin durchleidet, entzieht sich unserer Kenntnis.

Tab. 1.4: Eckdaten deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert

1914

Beginn des Ersten Weltkriegs im Kaiserreich

1918

Ende des Ersten Weltkriegs

1919

Gründung der Weimarer Republik

1923

Hyperinflation

1929

Weltwirtschaftskrise

1933

Machtübernahme der Nationalsozialisten

1939

Beginn des Zweiten Weltkriegs

1941

Beginn des Russlandfeldzugs

1945

Kriegsende mit bedingungsloser Kapitulation

1949

Gründung der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik

1953

17. Juni. Arbeiteraufstand in der DDR

1961

Mauerbau

1989

Mauerfall

1991

Wiedervereinigung Deutschlands

Tab. 1.5: Geburtskohorten und Alter bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten und bei Kriegsende

Alter 2009

Geburtskohorten

Alter 1933

Alter 1945

90–99

1909–1919

14–24

26–36

80–89

1920–1929

4–13

16–25

70–79

1930–1939

0–3

6–15

60–69

1940–1949

0–5

Kasuistik 1.1: Ein Frauenschicksal aus diesen Jahren

Die 1919 geborene Frau erlitt eine harte Kindheit, da ihre Mutter äußerst lieblos war und sie vielfach heftig schlug. Als Jugendliche gehörte sie dem Bund deutscher Mädel an (BDM) und wurde BDM-Führerin. 1941 beging ihr sehr geliebter, depressiver Vater Selbstmord, im selben Jahr fiel ihr Verlobter in Russland. Als blutjunge Ärztin vertrat sie eine Landarztpraxis, zu deren Aufgaben auch die medizinische Betreuung eines Lagers mit russischen Kriegsgefangenen gehörte. Den Anblick dieser gequälten, verhungernden Männer, denen sie nicht helfen konnte, vergaß sie nie. Sie heiratete einen Soldaten und bekam einen Sohn, die Ehe zerbrach u. a. an der ungebrochenen nationalsozialistischen Einstellung ihres Mannes wenige Jahre nach Kriegsende. Sie heiratete erneut und bekam zwei weitere Kinder. Für ihre Generation ungewöhnlich, übte sie ihren Beruf erfolgreich aus. Die entsetzlichen Verbrechen der Nationalsozialisten und die Kriegsgräuel beschäftigten sie lebenslang, diese Auseinandersetzung nahm im Alter nochmals deutlich zu, begünstigt durch viele Dokumentationssendungen zum Nationalsozialismus seinerzeit im Fernsehen, von denen sie keine versäumte. Sie entwickelte eine depressive Symptomatik, die vermutlich durch eine Parkinson-Erkrankung verstärkt wurde. Ihre fortgesetzte, im mittleren Erwachsenenalter durch Beruf und Familie relativ gut kompensierte Traumatisierung zeigte sich auch in ihrem Geständnis, dass sie jeden einzelnen Tag in ihrem Leben an den gefallenen Verlobten gedacht habe, an dessen Seite sie sich ein glücklicheres Leben erträumte.

Die Geburtskohorten 1920 bis 1929 waren während ihrer Schulzeit alle den nationalsozialistischen Erziehungszielen ausgesetzt und mussten den Jugendorganisationen beitreten. Dem Jungvolk gehörten die 10- bis 14-jährigen, der Hitlerjugend (HJ) die 14-bis 18-jährigen Jungen an (»hart wie Kruppstahl, flink wie Windhunde und zäh wie Leder« hatten deutsche Jungen zu sein). Dem Jungmädelbund gehörten entsprechend die 10- bis 14-jährigen, dem Bund deutscher Mädel (BDM) die 14- bis 18-jährigen Mädchen an. Alle 10- bis 18-jährigen Mädchen und Jungen hatten seit 1939 an den Veranstaltungen der HJ, gesetzlich geregelt, teilzunehmen. Die älteren Jungen wurden Soldaten, die jüngeren Jahrgänge dienten als Flakhelfer. Infolge der fortgesetzten Bombardierungen der Städte erlebten Millionen Kinder dieser Jahrgänge die Kinderlandverschickung. Getrennt von ihren Müttern und jüngeren Geschwistern lebten sie monatelang im Klassenverband mit ihren Lehrern und Erziehern, und in den Wirren der letzten Kriegsmonate mussten sich nicht wenige von ihnen völlig allein nach Hause durchschlagen.

Die Geburtskohorten 1930 bis 1939 wuchsen nahezu vollständig in der Zeit des Nationalsozialismus auf. Von der Kinderlandverschickung waren nur noch wenige betroffen, sie erlebten möglicherweise Bombardierungen und die Zerstörung der Städte. Die betroffenen Familien wurden größtenteils evakuiert (zu Verwandten oder fremden Menschen), und manche Kinder wurden auf der Flucht und während der Vertreibung Augenzeugen grauenvoller Ereignisse. Von den Geburtskohorten 1940 bis 1949 erlebten manche als Säuglinge oder Kleinkinder noch die Verheerungen der letzten Kriegsjahre, die seit 1945 Geborenen verbrachten ihre frühen Jahre immerhin im Frieden, wenngleich Hunger und große Not herrschten und viele Väter nicht nach Hause kamen. Die Erlebnisse dieser Generation der Kriegskinder werden erst seit kurzer Zeit wissenschaftlich thematisiert (Radebold, Heuft & Fooken, 2006).