Ressourcenorientierte Psychodynamische Psychotherapie im Alter - Meinolf Peters - E-Book

Ressourcenorientierte Psychodynamische Psychotherapie im Alter E-Book

Meinolf Peters

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Beschreibung

Die Zahl älterer Patienten in psychotherapeutischer Behandlung wächst - und mit ihr auch die Bedeutung einer fundierten psychodynamischen Alterspsychotherapie. Bislang basierte sie jedoch vor allem auf klinischer Erfahrung statt empirischen Grundlagen. Dieses Buch führt erstmals Erkenntnisse aus Gerontologie und Neuropsychologie mit modernen Ansätzen der strukturbezogenen und mentalisierungsbasierten Psychotherapie zusammen. Im Mittelpunkt steht dabei eine ressourcenorientierte Perspektive, die das wissenschaftliche Profil der Alterspsychotherapie schärft und ihr eine zukunftsweisende Ausrichtung gibt. Das Buch richtet sich an Psychotherapeuten, Psychologen sowie Fachleute angrenzender Berufsgruppen, die ihr Verständnis älterer Menschen vertiefen und dadurch Therapie und Beratung bereichern möchten.

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Seitenzahl: 339

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

1 Einleitung

1.1 Alter und Psychotherapie – Wandel und Annäherung

1.1.1 Die körperliche Vulnerabilität des Alters

1.1.2 Alter im Umbruch – Eine komplexe Lebensphase

1.1.3 Psychische Erkrankungen im Alter

1.1.4 Zur psychotherapeutischen Versorgung Älterer

1.2 Zur Entwicklung der Psychodynamischen Psychotherapie

1.2.1 Zur Krise der Psychodynamischen (Alters-)‌Psychotherapie

1.2.2 Neuere Ansätze in der Psychodynamischen Psychotherapie

1.2.3 Ressourcenorientierung in der Psychodynamischen Psychotherapie

1.2.4 Ressourcenorientierung in der Alterspsychotherapie

1.3 Zwischenruf – Zur Kritik der Positiven Psychologie

1.4 Zum Anliegen dieses Buches

2 Psychische Struktur und Mentalisierung – Grundlagen, Klinik, Therapie

2.1 Theory of Mind (ToM)

2.1.1 Gerontologische Grundlagen

2.1.2 Klinische Befunde

2.1.3 Therapeutische Überlegungen

2.2 Empathie

2.2.1 Gerontologische Grundlagen

2.2.2 Klinische Befunde

2.2.3 Therapeutische Überlegungen

2.3 Affektwahrnehmung

2.3.1 Gerontologische Grundlagen

2.3.2 Klinische Befunde

2.3.3 Therapeutische Überlegungen

2.4 Affektregulation

2.4.1 Gerontologische Grundlagen

2.4.2 Klinische Aspekte

2.4.3 Therapeutische Überlegungen

2.5 Körperwahrnehmung

2.5.1 Gerontologische Grundlagen

2.5.2 Klinische Befunde

2.5.3 Therapeutische Überlegungen

2.6 Soziale Interaktion und Beziehung

2.6.1 Gerontologische Grundlagen

2.6.2 Klinische Befunde

2.6.3 Therapeutische Überlegungen

2.7 Selbstreflexion und Metakognition

2.7.1 Gerontologische Grundlagen

2.7.2 Klinische Befunde

2.7.3 Therapeutische Überlegungen

2.8 Biografisches Mentalisieren

2.8.1 Gerontologische Grundlagen

2.8.2 Klinische Befunde

2.8.3 Therapeutische Überlegungen

2.9 Psychologische Funktionen im Alter – Gewinne und Verluste

2.10 Exkurs: Sind Weisheit und Mentalisierung verwandt?

3 Theoretische und transdiagnostische Perspektiven

3.1 Psychodynamische Konflikte

3.2 Theorie sekundärer Strukturdefizite

3.3 Ein Modell des Mentalisierens im Alter

3.4 Transdiagnostische Einflüsse

3.4.1 Neurokognitives Altern

3.4.2 Bindungstheorie

3.4.3 Stress und Trauma

3.4.4 Altersbild

3.5 Ist Entwicklung im Alter möglich? – Neurokognitive Plastizität

4 Ressourcenorientierte Therapie mit älteren Patienten

4.1 Ressourcenorientierung – Eine Frage der Haltung

4.2 Diagnostik – Konflikt- oder Strukturfokus?

4.3 Therapeutische Ziele

4.3.1 Hoffnung und Vertrauen

4.3.2 Gutes Mentalisieren als Ziel

4.3.3 Sich das Alter aneignen

4.4 Interventionsmöglichkeiten – Zwischen Problem- und Ressourcenaktivierung

4.4.1 Das Spektrum an Interventionsmöglichkeiten

4.4.2 Von der Intervention zum therapeutischen Gespräch

4.4.3 Von der Deutung zur Reflexion

4.4.4 Neuropsychodynamische Modifikationen

4.5 Facetten des therapeutischen Prozesses – Vom Erleben zum Reflektieren

4.5.1 Rahmenbedingungen, Resonanz und emotionale Begegnung

4.5.2 Vom Erzählen zum Reflektieren

4.5.3 Vom biografischen Narrativ zur »erarbeiteten« Identität

4.5.4 Die reflexive Aneignung des Alters

4.5.5 Ressourcen aktivieren und integrieren

4.6 Einige Besonderheiten der Therapie – Zwischen »Familiarität« und Fremdheit

4.6.1 Haben es ältere Therapeuten leichter als jüngere?

4.6.2 Zum Umgang mit einer reduzierten »personalen Distanz«

4.6.3 Existenzielle Grenzen und Beziehung

4.6.4 Langsamkeit und Kontemplation

4.7 Differenzielles Altern und Individualisierung der Therapie

4.7.1 Bindungsorientierung

4.7.2 Ältere Frauen, ältere Männer

4.7.3 Drittes und viertes Alter

5 Therapieformen und Behandlungssettings

5.1 Ambulante Einzeltherapie

5.2 Aufsuchende Psychotherapie

5.3 Gruppentherapie

5.3.1 Gruppentherapie mit Älteren

5.3.2 Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT-G)

5.3.3 ToM-Training in der Gruppe

5.3.4 Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT)

5.4 Stationäre Therapie

5.4.1 Struktur- und Mentalisierungsförderung in der Stationären Therapie

5.4.2 Altersheterogene oder altershomogene Stationen?

5.4.3  Psychoedukativ-geragogische Gruppe

5.5 Paartherapie

5.6 Angehörigenarbeit

6 Evaluation

7 Aus- und Fortbildung

8 Überlegungen zum gelingenden Alter

Literatur

Seitenangaben der gedruckten Ausgabe

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Cover

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

Inhaltsbeginn

Prof. Dr. phil. Meinolf Peters, geb. 1952, ist Diplom-Psychologe, psychologischer Psychotherapeut, Gesprächspsychotherapeut und Psychoanalytiker. Er war Honorarprofessor an der Universität Marburg sowie langjährig in leitender Funktion in psychosomatischen Kliniken tätig. Er ist darüber hinaus Mitinhaber und Geschäftsführer des Instituts für Alterspsychotherapie und Angewandte Gerontologie sowie Mitherausgeber der Zeitschrift »Psychotherapie im Alter«. Zudem ist er in eigener Praxis in Marburg/Lahn niedergelassen.

Meinolf Peters

Ressourcenorientierte Psychodynamische Psychotherapie im Alter

Strukturbezogene und mentalisierungsbasierte Ansätze

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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1. Auflage 2026

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Heßbrühlstr. 69, [email protected]

Print:ISBN 978-3-17-044794-3

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-044795-0epub: ISBN 978-3-17-044796-7

Vorwort

Mit den Themen Alterspsychologie und -psychotherapie befasse mich seit nunmehr über 35 Jahren. Während meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Entwicklungspsychologie der Universität Gießen (1981 – 1987) hatte ich bereits einen indirekten Kontakt mit diesen Themen. Ich war seinerzeit Assistent bei Prof. E. Olbrich, einem der damals führenden Gerontologen hierzulande, der aus der großen Bonner gerontologischen Schule stammte, die sich mit den Namen Hans Thomae und Ursula Lehr verbindet. Damals lag mein Schwerpunkt bei den Themen Kindheit und Jugend, passten sie doch eher zu meinen eigenen Lebensaufgaben. Erst als ich nach dem Ende der universitären Zeit in eine psychosomatische Klinik wechselte und mit meiner psychoanalytischen Ausbildung begann, lernte ich Prof. Hartmut Radebold kennen, der als Psychoanalytiker einst als Nestor der Alterspsychotherapie in Deutschland bezeichnet wurde. Ich ging damals auf die 40 Jahre zu, ein Alter, bei dem auch zahlreiche der großen Autoren1 begannen, sich mit Altersthemen zu befassen. Es scheint eine Zeit zu sein, in der man sich für diese Themen zu öffnen bereit ist.

Hartmut Radebold wurde mein Mentor und begleitete meine Entwicklung mehrere Jahrzehnte, und bis zu seinem Tod 2021 verband uns eine berufliche und freundschaftliche Beziehung2. Doch er hatte mehr Einfluss auf meine Identifikation mit dem Altersthema als mit der Psychoanalyse, der gegenüber ich eine gewisse Skepsis nie völlig abgelegt habe; das häufig ausufernde Theoretisieren, ohne einen empirischen Nachweis zu führen, war mir immer suspekt.

So ist es nicht überraschend, dass ich jetzt, selbst im höheren Lebensalter und mit einer jahrzehntelangen klinischen Erfahrung ausgestattet, wieder zurückblicke und aufzunehmen versuche, was mir auf vorherigen Wegstrecken begegnet ist. Da ist die Verhaltenstherapie im Studium und im Rahmen meiner Diplom-Arbeit bei Dr. R. Frank, die Gesprächspsychotherapie, in der ich eine Ausbildung absolviert und mit der ich mich eine Zeitlang stark identifiziert habe, und da ist auch die systemische Therapie, die ich im Rahmen einiger Fortbildungen bei Prof. P. Fürstenau kennen und schätzen gelernt habe. Alles das ist irgendwie immer präsent geblieben, auch wenn es nicht durchgehend von gleichbleibender Bedeutung war. Ich habe also in gewisser Weise die Psychotherapie durchwandert, und so bin ich auch neueren Entwicklungen immer wieder mit Interesse begegnet. Besonders angesprochen hat mich die strukturbezogene Psychotherapie, zu der ich selbst einige theoretische Überlegungen entwickelt habe, die ich vor Jahren einmal mit Prof. Gerd Rudolf diskutieren konnte, sowie die mentalisierungsbasierte Therapie, die ja laut Selbstbekundung gar kein neuer Therapieansatz ist, sondern lediglich der Versuch ist, Psychotherapie neu zu beschreiben. Auch wenn dahingestellt bleiben mag, ob dies zutrifft oder nicht doch ein Understatement ist, öffnet sich damit doch ein integratives Fenster. Und auch ich habe den Eindruck, in der mentalisierungsbasierten Therapie manches wiederzufinden, dem ich schon früher begegnet war; der Gesprächspsychotherapeut Jochen Eckert (2011) etwa sprach mit Blick auf Letztere sogar von »altem Wein in neuen Schläuchen«.

In meinem ganzen Berufsleben bin ich zweigleisig gefahren, und neben der Psychotherapie war es die wissenschaftliche Arbeit, die mich immer beschäftigt hat. In der letzten Phase meiner Berufstätigkeit habe ich diesen Faden sogar wieder verstärkt aufgenommen, und der Grund dafür ist auch in der kritischen Situation der Psychoanalyse zu suchen, die sich bis heute schwertut, sich für die empirische Forschung zu öffnen und im wissenschaftlichen Diskurs kaum noch präsent ist. Für mich ist diese Weigerung immer ein Grund für die fortbestehenden Zweifel an der Psychoanalyse gewesen, zumal auch die Psychodynamische Alterspsychotherapie durch diese wissenschaftliche Abstinenz in einen Abwärtssog geraten ist. Im Sommer 2024 habe ich zusammen mit meinem befreundeten Kollegen Reinhard Lindner ein Netzwerk Empirische Forschung in der Psychodynamischen Alterspsychotherapie ins Leben gerufen, in dem sich eine Reihe namhafter Vertreter unseres Faches zusammengeschlossen haben, um weitere Forschungsaktivitäten anzustoßen und zu koordinieren. Ich bin überzeugt, dass die Psychodynamische Alterspsychotherapie nur eine Zukunft hat, wenn sie sich für die empirische Forschung öffnet und sich mit ihrer Hilfe weiterentwickelt.

So werden denn die gerontologischen und neuropsychologischen Grundlagen in diesem Buch eine größere Rolle spielen, und ich werde versuchen zu zeigen, dass sie die Psychotherapie nicht hemmen oder einengen, wie es Kliniker manchmal annehmen, sondern bereichern. Dennoch erschöpft sich Psychotherapie natürlich nicht in der Anwendung empirischer Befunde, was aber ist sie dann? Ich kann dem Ansatz von Sulz (2023) einiges abgewinnen, der Psychotherapie als Kunst beschrieben hat. Er meint damit, dass es in der Psychotherapie darum geht, explizites und implizites Wissen intuitiv mit hoher Geschwindigkeit und Treffsicherheit umzusetzen, d. h. es geht auch um implizite Alltagstheorien. Dies aber scheint mir in der Therapie Älterer in besonderer Weise der Fall zu sein, denn Älterwerden ist ja eine Erfahrung, die uns allen bevorsteht und von der wir alle mehr oder weniger implizite oder explizite Vorstellungen haben. Mit diesen werden wir in der Therapie Älterer immer wieder konfrontiert, und diese Konfrontation führt zu Erfahrungen, die in das eigene Leben hineinreichen. Davor können wir uns verschließen, oder aber wir können uns dafür öffnen und uns davon anregen lassen. Für mich kann ich sagen, dass mich meine Patienten auf meinem eigenen Weg des Älterwerdens begleitet und mich einiges gelehrt haben. Ich werde in diesem Buch immer wieder darauf eingehen, wie dies geschieht. Warum es geschieht, hat der große Gerontologe Leopold Rosenmayr einmal so auf den Punkt gebracht: »Über das Alter zu sprechen, trifft den Nerv des Lebens« (1990, S. 50).

So beruht denn dieses Buches auf meiner langjährigen Erfahrung mit dem Thema Alter und der therapeutischen Arbeit mit älteren Menschen. Aber auch die unzähligen Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen, v. a. im Rahmen der zahlreichen Fortbildungskurse Alterspsychotherapie, die ich mit meiner Kollegin Christiane Schrader durchgeführt habe (Peters & Schrader, 2021), haben in meinem Denken Spuren hinterlassen, die in dem Buch aufzufinden sein werden. Doch es hat vermutlich auch mit meinem eigenen Älterwerden zu tun, dass es mir in diesem Buch darum geht, die verschiedenen Fäden meiner beruflichen Entwicklung aufzunehmen und zusammen zu führen. Dennoch ist es kein Rückblick, sondern eher ein Blick nach vorn, denn ich beziehe mich auf aktuelle therapeutische Ansätze, insbesondere die strukturbezogene und die mentalisierungsbasierte Psychotherapie. Wir sind weit davon entfernt, dass daraus eine neue, empirisch gestützte integrierte Psychodynamische Psychotherapie entstehen könnte, doch einen Gedanken habe ich mit Blick darauf in diesem Buch entwickelt. Der Begriff der Ressourcen scheint mir als Klammer geeignet, das Gemeinsame dieser neueren Ansätze herauszustellen, zumal dieser im Hinblick auf das Alter heute ein Schlüsselbegriff ist. Und vermutlich stehe ich diesem Begriff auch aufgrund meines eigenen fortgeschrittenen Alters heute aufgeschlossener gegenüber und sehe ihn als große Chance.

Ich danke an dieser Stelle meiner Frau, der Diplom-Psychologin Gabriele Herkner-Peters, die das Manuskript mit viel Geduld gelesen hat, sowie Herrn Poensgen vom Kohlhammer-Verlag, der sich sofort offen gezeigt hat für das Konzept, und Frau Kastl und Herrn Rotberg, die das Manuskript sehr sorgfältig bearbeitet haben.

Meinolf PetersMarburg, Sommer 2025

Endnoten

1Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in der Regel die männliche Form verwendet. Diese schließt alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers) mit ein.

2Im Jahre 2022 erschien ein Sonderheft der Zeitschrift Psychotherapie im Alter zu Ehren Hartmut Radebolds, dass ich zusammen mit meinem Kollegen Reinhard Lindner herausgegeben habe.

1 Einleitung

In diesem ersten Kapitel soll ein Rahmen für die spätere detaillierte Ausarbeitung eines erweiterten Verständnisses der Grundlagen und der klinischen Praxis der Psychotherapie älterer Menschen entwickelt werden. Im ersten Teil geht es um gerontologische Grundlagen sowie die momentane Versorgung psychischer Erkrankungen im Alter, im zweiten Teil um eine kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen Psychodynamischen Alterspsychotherapie und der Entwicklung einiger weiterführender Überlegungen. Am Ende folgt ein Ausblick auf dieses Buch.

1.1 Alter und Psychotherapie – Wandel und Annäherung

Alter und Psychotherapie waren sich lange Zeit fremd, doch das Alter wandelt sich, und die Psychotherapie öffnet sich allmählich für die Gruppe der älteren Patienten. Die daraus folgende Annäherung soll in diesem ersten Kapitel beschrieben werden.

1.1.1 Die körperliche Vulnerabilität des Alters

Altern ist im Kern ein biologischer Prozess, in dessen Verlauf der Körper zunehmend vulnerabel wird. Aber warum vollzieht sich ein so schädlicher Prozess überhaupt? Aus evolutionärer Sicht stellt das Altern ein Paradoxon dar, denn es entwickelt sich nicht, weil es nützlich ist, sondern als Nebeneffekt von etwas anderem, wie der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Evolutionsbiologe Peter Medawar schon in den 1950er Jahren beschrieben hat (Johnson, Shokhirev & Shoshitaishvili, 2019). Die in der Evolution wirkenden Selektionsprozesse weisen eine negative Alterskorrelation auf, d. h. sie wirken sich vornehmlich auf die Zeit der fruchtbaren Jahre aus, während im Lebensverlauf die im Genom angelegte biologische Plastizität verloren geht. Dies hat zur Folge, dass sich schädliche Mutationen, deren Auswirkungen erst spät im Leben auftreten, anreichern, weil nicht gegen sie selektiert wird. Dieser Prozess wird als Selektionsschatten bezeichnet, durch den es zu der körperlichen Vulnerabilität im Alter kommt. Der renommierte Gerontologe Paul Baltes (1999) hat in seiner bedeutsamen Arbeit Von der unvollständigen Architektur der Humanontogenese diesen Grundgedanken aufgegriffen und darauf hingewiesen, dass zum Ausgleich dieser körperlichen Schwäche des Alters ein Mehr an gesellschaftlich-kultureller Unterstützung erforderlich ist. Die Abnahme der Wirkkraft (Effektivität) dieser Kompensation mit zunehmendem Alter macht es allerdings erforderlich, diese im hohen Alter immer stärker auszuweiten.

Die körperlichen Veränderungen des Alters zeigen sich im Rückgang der Leistungsfähigkeit aller Organe. So verzeichnen die maximale Ventilationsrate, die Vitalkapazität, die Muskelkraft, die maximale Herzfrequenz oder der Stoffwechselgrundumsatz ab dem 30. Lebensjahr einen kontinuierlich linearen Abfall (Gerok & Brandstätter, 1992). Was zunächst nur allmählich erfolgt, wird dann im Alter deutlicher spürbar. Die Anpassungsfähigkeit körperlicher Funktionen reduziert sich und die Funktionsreserve ist zunehmend eingeschränkt. Die Erholungsphase bis zur Rückkehr des Blutdrucks zur individuellen Norm etwa ist deutlich verlängert. Zwischen dem 80. und 90. Lebensjahr ist eine kritische Grenze erreicht, jenseits derer eine lebenserhaltende Homöostase nicht mehr oder nur eingeschränkt möglich ist (Gerok & Brandstätter, 1992). Dieser Abfall der körperlichen Leistungsfähigkeit geht mit einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit einher, zahlreiche Erkrankungen wie Arthrose und Osteoporose, Schlaganfälle, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Neubildungen, also Krebserkrankungen, weisen eine eindeutige Altersabhängigkeit auf. Den Ergebnissen der Berliner Altersstudie zufolge sind 88 % der über 70-Jährigen als multimorbid zu bezeichnen, d. h. sie weisen fünf oder mehr internistische Erkrankungen auf (Steinhagen-Thiessen & Borchelt, 1994). Allerdings sind bei all diesen Prozessen immer erhebliche interindividuelle Unterschiede zu bedenken, die durch eine unterschiedliche genetische Ausstattung und Unterschiede in der Lebensführung begründet sind.

Auch das Gehirn ist anatomischen, neurochemischen und physiologischen Altersveränderungen ausgesetzt. Raz und Nagel (2007) konstatieren, dass die Veränderungen im zentralen Nervensystem (ZNS) im Vergleich zu allen anderen Organen am dramatischsten ausfallen. Sie zeigen sich auf unterschiedliche Weise, durch eine Atrophie (Schrumpfung) des Gewebes in einigen Regionen, ein erhöhtes Ventrikelvolumen, Verlust von Neuronen und synaptischen Verbindungen, eine Verschlechterung der Myelinisierung und eine Anhäufung von abnormen Proteinen. Hinzu kommen biochemische Veränderungen, v. a. ein zunehmender Dopaminmangel. Bedeutsam ist, dass diese Veränderungen nicht in allen Regionen des Gehirns gleichermaßen auftreten, vielmehr sind sie im präfrontalen Cortex, der evolutionsgeschichtlich jüngsten Region des Gehirns, am stärksten ausgeprägt (Frontallappen-Hypothese des kognitiven Alterns, Daniels, Toth & Jacoby, 2006). Der präfrontale Cortex hat eine besondere Bedeutung für höhere kognitive Funktionen, v. a. für Exekutivfunktionen (▸ Kap. 3.4.1).

Zwei Merkmale sind von grundlegender Bedeutung: Zum einen kommt es zu einer allgemeinen Verlangsamung der neuronalen Prozesse (»slowing-with-age-Phänomen«, Salthouse, 1996), wobei neben einer nachlassenden Myelinisierung andere Veränderungen von Bedeutung sind, etwa Verzögerungen an den Synapsen wegen einer Reduktion der Neurotransmitter (Mayr, 2012). Zum anderen werden bei älteren Menschen weniger fokussierte und spezifische Aktivierungsmuster beobachtet (Dedifferenzierung), d. h. es werden nicht nur spezifische Erregungsmuster hervorgerufen, sondern benachbarte Areale werden gleichzeitig aktiviert. Diese Veränderung kann zwar auch als Kompensationsversuch verstanden werden, doch eine Folge ist auch die größere Fehleranfälligkeit kognitiver Prozesse. Dazu passt ebenfalls das HAROLD-Phänomen, das die nachlassende Asymmetrie der linken und rechten Hemisphäre beschreibt, d. h. die neuronale Aktivität ist bei älteren Erwachsenen weniger lateralisiert als bei jüngeren (Dolcos, Rice & Cabeza, 2002). All diese Veränderungen wurden bislang im Hinblick auf die Psychotherapie Älterer kaum berücksichtigt.

1.1.2 Alter im Umbruch – Eine komplexe Lebensphase

Obwohl Alter zunächst ein biologisches Geschehen darstellt, ist es doch in entscheidender Weise kulturell und gesellschaftlich überformt. Die Verbesserung der Lebensbedingungen in den westlichen, aber auch asiatischen Gesellschaften hat zu einer immer größeren Ausweitung des Alters geführt. So liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland gegenwärtig bei 81,2 Jahren (Männer 78,9, Frauen 83,5 Jahre, Statistisches Bundesamt, 2025) und hat damit wieder das Niveau vor der Corona-Zeit erreicht, liegt allerdings etwa 1,7 Jahre unterhalb des europäischen Durchschnitts (Peters, 2024b). Der demographische Wandel ist jedoch gleichermaßen Resultat der geringen Geburtenrate, beides zusammen hat dazu geführt, dass der Anteil über 60-Jähriger an der Gesamtbevölkerung inzwischen knapp 30 % beträgt (Statistisches Bundesamt, 2025). Mehr Menschen erreichen heute ein höheres Lebensalter und das Alter selbst umfasst eine immer größere Lebenszeit, manchmal über die Hälfte des bisherigen Erwachsenenalters.

Diese zeitliche Ausdehnung hat Überlegungen befördert, unterschiedliche Phasen innerhalb dieses Lebensabschnittes zu unterscheiden. Einen wesentlichen Beitrag dazu hat der englische Soziologe Laslett (1995) geleistet, indem er die Begriffe des dritten und vierten Lebensalters einführte. Nach Kindheit und Jugend sowie dem mittleren Erwachsenenalter, von ihm als erstes und zweites Lebensalter bezeichnet, folgte früher gleich das hohe Alter mit seinen Einschränkungen. Heute jedoch hat sich das dritte Lebensalter als historisch völlig neuer Lebensabschnitt dazwischengeschoben. Laslett deutet diesen als Zeit neuer Freiheit, nachdem die Pflichten und Aufgaben des mittleren Erwachsenenalters – Beruf und Familie – entfallen und die Einschränkungen des hohen Alters, das er als viertes Alter bezeichnet, noch fern sind.

Für die Plausibilität dieser Unterscheidung lassen sich Befunde der interdisziplinären Berliner Altersstudie anführen, aus denen hervorgeht, dass zwar über die gesamte Altersphase hinweg Abbauprozesse stattfinden, diese jedoch lange Zeit recht gut kompensiert werden können. Die Reservekapazität ist aber irgendwann erschöpft, so dass die Defizite dann stärker im alltäglichen Leben älterer Menschen durchschlagen. Eine kritische Zeit dafür scheint der Abschnitt zwischen dem 80. und 85. Lebensjahr zu sein, in dem der Prozentsatz derer, deren Leben erheblich eingeschränkt ist, deutlich zunimmt (Mayer, Baltes & Baltes, 1994). Trotz der Plausibilität dieser Befunde ist immer eine erhebliche interindividuelle Variabilität zu berücksichtigen, und auch im vierten Alter kann ein, wenn auch geringerer Prozentsatz hochaltriger Menschen ohne stärkere körperliche und kognitive Einschränkungen leben.

Die Beschreibung eines dritten Lebensalters mit seinen erweiterten Lebensoptionen erscheint auch vor dem Hintergrund des Nachrückens neuer Kohorten plausibel, die über erweiterte Ressourcen verfügen und die gewachsenen Möglichkeiten dieses Lebensabschnittes für sich zu nutzen wissen. Sie sind biologisch gesehen durchschnittlich fünf Jahre jünger als Vorgängerkohorten, sie verfügen über eine bessere Gesundheit und über größere kognitive Fähigkeiten (Mahne, Wolff, Simonson & Tesch-Römer, 2017). Zweifellos bestehen in diesem Lebensabschnitt größere Optionen für eine selbstbestimmte Lebensführung. All diese Veränderungen haben einen neuen Altersdiskurs angestoßen, in dem neue positive Altersdeutungen verhandelt werden. Die Vorstellung von Senioren, die aktiv bleiben und ihr Leben selbstverantwortlich gestalten, rückt zunehmend nicht nur in den wissenschaftlichen, sondern medialen Fokus. Das Bild der ergrauten, unflexiblen Alten, die sich nach dem Ausscheiden aus dem Beruf zurückziehen und eigene Ansprüche beschränken, um allenfalls den wohlverdienten Ruhestand zu genießen, geriet ins Wanken. Das traditionelle Alter mit seinen Einschränkungen scheint einem neuen Möglichkeitsraum gewichen zu sein, einem »großen offenen Raum«, so van Dyk (2015, S. 252), auch wenn dieser manchmal illusionäre Züge und neue normative Anforderungen aufweist. Somit kann konstatiert werden, dass sich das über Jahrhunderte vorherrschende Negativbild des Alters immer stärker in ein Positivbild verkehrt hat (Göckenjan, 2000). Doch parallel dazu wird der Negativdiskurs des Alters fortgeführt, wenn Altenlast, Pflegenotstand und Demenz als Schreckensbilder an die Wand gemalt werden und dieses Bild auf das vierte Alter projiziert wird (Amrhein & Backes, 2007). Eine Zweiteilung des Alters ist zunehmend gesellschaftliche Realität geworden. Auf der einen Seite diejenigen im dritten Lebensalter, denen ein gesellschaftliches Inklusionsangebot gemacht und auf die ein positives Altersbild projiziert wird, daneben das vierte, also das hohe und marginalisierte Alter, dem weiterhin ein negatives Bild anhaftet. Es fehlt eine Alterskultur, die es ermöglichen würde, die Spaltung in ein positives und ein negatives Alter zu überwinden und die es auch dem einzelnen älteren Menschen erleichtern würde, eine integrierte Altersrepräsentanz zu entwickeln (Woodward, 1991). Einen Umgang mit der Ambiguität des Alters zu finden, bleibt weitgehend jedem Einzelnen überlassen, d. h. der Alternsprozess erfordert heute größere Mentalisierungsfähigkeiten als in früheren Zeiten, als sich Älteren kaum noch Lebensoptionen boten und sie sich fast unterwürfig ihrem Schicksal hingaben.

1.1.3 Psychische Erkrankungen im Alter

Über die Prävalenz psychischer Störungen im Alter herrscht weiterhin keine endgültige Klarheit, zu unterschiedlich sind die Angaben bei verschiedenen Störungsbildern. Im Allgemeinen scheint aber davon ausgegangen zu werden, dass sie nicht ganz das Niveau des mittleren Erwachsenenalters erreichen. Jacobi et al. (2014) etwa fand bei 65 – 79-Jährigen eine Gesamtprävalenz von 20,3 %, was bedeutet, dass etwa jeder Fünfte in dieser Altersgruppe an einer psychischen Erkrankung leidet, für alle Altersgruppen betrug der Wert 27,7 %.

Bezüglich Depressionen zeigte eine Metaanalyse von Volkert, Hauschild & Taubner (2013) für Major Depression eine aktuelle Prävalenz von 3,9 % und eine Lebenszeitprävalenz 16,5 %. In der Berliner Altersstudie, in der eine große Stichprobe über 70-Jähriger untersucht wurde (Helmchen et al., 2010), fand sich eine aktuelle Prävalenz von 9 %, und darüber hinaus eine hohe Prävalenz für subdiagnostische Symptome. Während somit die Prävalenzrate für schwere Depressionen nicht anzusteigen scheint, wird für leichtere Depressionen ein Anstieg im Alter angenommen (Fiske, Wetherell & Gatz, 2009). Bei Angststörungen waren in der Berliner Altersstudie lediglich eine Prävalenz von 2 % gefunden worden, während Beekmann et al. (1998) eine Prävalenz von 10 % (allein ca. 7 % generalisierte Angststörungen), Andreas et al. (2017) sogar von 17 % fanden.

Darüber hinaus ist von einer hohen Komorbidität beider Symptombilder auszugehen. Beekman et al. (1998) fanden, dass 45 % der Patienten mit einer Depression auch die Kriterien einer Angststörung erfüllten, 26 % derer mit einer diagnostizierten Angststörung erfüllten wiederum auch die Kriterien für eine Depression. Braam et al (2014) fanden bei über 80 % der älteren Patienten mit einer diagnostizierten Depression auch Angstsymptome. Treten bei einer Depression gleichzeitig Angstsymptome auf, sind die depressiven Symptome ausgeprägter, sie persistieren eher und die Betroffenen zeigen mehr funktionale Einschränkungen, d. h. ein komorbides Auftreten beider Symptomcluster kompliziert das Krankheitsgeschehen (Andreescu et al., 2007). Komplexer wird dieses Geschehen auch aufgrund des Zusammenhangs von körperlichen und psychischen Symptomen, und einige Befunde sprechen dafür, dass dieser Zusammenhang mit zunehmendem Alter enger wird (Peters, 2023a).

Im Hinblick auf Persönlichkeitsstörungen war lange Zeit von sinkenden Prävalenzen ausgegangen worden, was aber offenbar nur auf die Cluster-B-Störungen zutrifft (v. a. Borderline-Störung), nicht jedoch auf die Cluster-A (paranoide und schizoide Störungen) und C-Störungen (ängstliche, zwanghafte u. a.; Peters, 2024d). Neuere Studien fanden eine Gesamtprävalenz von Persönlichkeitsstörungen, die zwischen 6 und 13 % lag (van Alphen et al., 2015), wobei insbesondere die Borderline-Störung häufig von einer Depression oder Hypochondrie überlagert wird (Morgan, Chelminski, Young, Dalrymple & Zimmerman, 2013). Aber nicht nur bei Persönlichkeitsstörungen ist ein Symptomwandel zu berücksichtigen, der die Diagnostik erschwert, auch die posttraumatische Symptomatik wird unspezifischer und kann auch dann auftreten, wenn kein traumatisches Ereignis vorausgegangen ist (Peters, 2021a). Insgesamt zeichnet sich also ein recht unübersichtliches Bild. Manches spricht dafür, dass sich die Krankheitsbilder entdifferenzieren, was sowohl in der Diagnostik wie der Therapie berücksichtigt werden sollte (Peters & Peters, 2025). Kessler (2014) kommt zu dem Schluss, dass die psychische Situation im hohen Alter mehr als in anderen Altersphasen als eine Konfiguration eines hoch komplexen und dynamischen Entwicklungsprozesses zu verstehen ist. Dies wird auch in den klinischen Bildern sichtbar, so dass nosologische Zuordnungen, wie sie in den Klassifikationssystemen gefordert werden, nur eingeschränkt möglich sind. Diagnosebezogene bzw. krankheitsspezifische Behandlungsansätze werden dadurch schwieriger, vielmehr gewinnen transdiagnostische Faktoren besonders auch im Hinblick auf therapeutische Ansätze an Bedeutung. Von dieser Grundannahme geht auch dieses Buch aus.

1.1.4 Zur psychotherapeutischen Versorgung Älterer

Psychotherapie spielte in der Versorgung psychisch kranker älterer Menschen lange Zeit kaum eine Rolle. Es waren und sind bis heute die Hausärzte, denen eine zentrale Rolle zufällt (Wolter-Henseler, 1996). Eine Reihe von Erhebungen in den letzten Dekaden des vergangenen Jahrhunderts erbrachte immer wieder Behandlungszahlen von 1 bis 2 % Älterer in den psychotherapeutischen Praxen (Übersicht Peters, 2006). d. h. es besteht ein eklatanter treatment gap. Die Gründe dafür wurden ausgiebig diskutiert und umfassen Vorbehalte der Therapeuten wie auch solche der Patienten selbst (Übersicht Peters & Lindner, 2019, Heuft, Kruse & Radebold, 2006). Auf beiden Seiten, aber auch auf gesellschaftlicher Ebene spielt dabei ein negatives Altersbild eine Rolle (Kessler, Agines & Bowen 2015, Kessler u. Bowen, 2015). Zivian, Larsen, Gekoski, Knox & Hatchette (1994) fanden in den 1990er Jahren bei einer Bevölkerungsstichprobe, dass jüngere wie ältere Befragte in großem Umfang der Aussage zustimmten, dass Psychotherapie bei Älteren weniger sinnvoll ist. Peters (2006) hatte von einem Vermeidungsbündnis mehrerer Akteure gesprochen, dass der Unterversorgung Älterer zugrunde liegt.

Nach der Jahrhundertwende stiegen die Behandlungszahlen allmählich an (Imai, Telger, Wolter & Heuft, 2008). Im Jahr 2012 fanden Peters, Jeschke & Peters (2013)3 einen Anstieg auf ca. 9 %, in einer Replikationsstudie 2022, also ein Jahrzehnt später, war der Anteil auf ca. 12 % angestiegen (Peters, Becker & Jeschke, 2024a). Dieser Anstieg geht aber etwa zur Hälfte auf den demografischen Wandel zurück, d. h. auf den wachsenden Anteil Älterer (>60 Jahre) an der Gesamtbevölkerung, der heute knapp 30 % beträgt. Die andere Hälfte dieses Anstiegs dürfte jedoch auf einen Einstellungswandel zurückzuführen sein. Dabei ist zunächst die fortschreitende Normalisierung von Psychotherapie als akzeptierter Bestandteil des gesundheitlichen Versorgungssystems anzuführen, wobei die Verabschiedung der Psychotherapierichtlinien 1967 einen wichtigen Einschnitt dargestellt hat. Damit verbunden ist auch eine allmählich einsetzende Veränderung der Wahrnehmung von Psychotherapie als weniger schambesetzt und als mögliche Form der Hilfe. Aber auch der Kohortenwandel ist im Hinblick auf den Anstieg der Behandlungszahlen von Bedeutung. Der soziokulturelle Wandel der 1960er Jahre hat in vielfacher Hinsicht eine Liberalisierung von Einstellungen zur Folge gehabt, die die jetzt ins Alter vorgerückten Kohorten prägt (Peters, 2019a). Woodward und Pachana (2009) sprechen im Hinblick auf das Gesundheitsverhalten Älterer von einem positive cohort shift. Vor diesem veränderten Hintergrund sind nun Menschen ins höhere Lebensalter vorgerückt, für die Psychotherapie ein »normales« Versorgungsangebot darstellt, so dass von einem weiteren Anstieg der Nachfrage nach Psychotherapie durch ältere Menschen auszugehen ist.

1.2 Zur Entwicklung der Psychodynamischen Psychotherapie

Die im Kapitel zuvor skizzierte Annäherung von Alter und Psychotherapie fordert auch die Psychodynamische Psychotherapie heraus. In den nächsten Abschnitten wird es darum gehen, wie sie bislang mit dieser klinischen Gruppe umgegangen ist, und wie sie sich zukünftig besser auf die besonderen Behandlungserfordernisse älterer Patienten einstellen sollte.

1.2.1 Zur Krise der Psychodynamischen (Alters-)‌Psychotherapie

Die Alterspsychotherapie führte lange ein Schattendasein innerhalb der Psychotherapie. Das Diktum Freuds von der Unbehandelbarkeit älterer Menschen hatte auf Generationen von Psychotherapeuten einen negativen Einfluss (Radebold, 1994). Erst in den 1960er Jahren zunächst in den USA, dann seit den frühen 1970er Jahren in Deutschland, eng verbunden mit dem Namen Hartmut Radebold, entwickelte sich die damals ausschließlich psychoanalytisch orientierte Psychotherapie älterer Menschen (Radebold, Bechtler & Pina 1981). Doch es war lange Zeit ein kleiner Kreis um Prof. Radebold4, der das Thema und damit die Anliegen älterer Patienten in den Fachdiskurs einbrachte.

Die Verhaltenstherapie meldete sich hörbar erst in den 1980er Jahren zu Wort, zunächst allerdings mit kaum größerer Resonanz. Doch aufgrund ihrer rasanten Entwicklung hat sie sich auch in der Alterspsychotherapie in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker in den Vordergrund geschoben (Kessler & Peters, 2017), während die Psychodynamische Alterspsychotherapie in die Defensive geraten ist, so dass man nicht umhinkommt, eine Krise der Psychodynamischen Alterspsychotherapie zu konstatieren. Indikatoren dafür gibt es reichlich, etwa die Ungewissheit, ob etablierte alterspsychotherapeutische Fortbildungsangebote5 und Tagungen6 fortbestehen. Offensichtlich geworden ist diese Krise nach dem Tod Prof. Radebolds im Jahre 2021, der als bisherige Gallionsfigur das Thema zuvor öffentlichkeitswirksam vertreten hat, und auch die zentrale Identifikationsfigur für alle jene war, die sich mit Alterspsychotherapie befasst haben. Nach seinem Tod ist der Mangel an Nachwuchs noch offensichtlicher geworden.

Noch stärker allerdings fällt der inhaltliche Stillstand auf. Während auf Seiten der Verhaltenstherapie inzwischen eine solide empirische Basis für die Behandlung Älterer geschaffen wurde, fehlt diese auf psychodynamischer Seite weitgehend. Dies betrifft etwa einen überzeugenden Nachweis der Effektivität der psychodynamischen Therapie Älterer, die nur internationalen Studien entnommen werden kann (auch dort besteht aber nur eine schmale Studienbasis), im deutschen Sprachraum fehlt weiterhin eine Evaluationsstudie. Allein auf die klinische Evidenz zu verweisen, dürfte kaum mehr ausreichen.

Doch die Krise der Psychodynamischen Alterspsychotherapie ist nicht losgelöst von der Krise der Psychodynamischen Psychotherapie allgemein zu betrachten. Der Begriff der Psychodynamischen Psychotherapie wurde 2008 vom wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie als Oberbegriff aller von der Psychoanalyse abgeleiteten Therapieverfahren als offizieller Sprachgebrach festgelegt. Dennoch wird häufig weiterhin der Begriff der analytischen Psychotherapie oder der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie verwendet, was jeweils eine unterschiedliche Nähe zur Psychoanalyse signalisiert; in diesem Buch werde ich durchgehend den Begriff der Psychodynamischen Psychotherapie verwenden. Unabhängig von der Begriffswahl ist eine nachlassende Attraktivität und verminderte öffentliche Wahrnehmung der Psychodynamischen Psychotherapie im Vergleich zu Einfluss und Ansehen der Verhaltenstherapie festzustellen. Dies beruht zu einem erheblichen Teil auf einem Forschungsdefizit, wie etwa Leichsenring et al. (2014) konstatiert, und das gilt ebenso für die Alterspsychotherapie.

Zwar konnte die Effektivität der Psychodynamischen Psychotherapie als allgemeines Therapieverfahren in den letzten Dekaden durch mehrere Metaanalysen belegt werden (Leichsenring et al. 2014, Steinert, Munder, Rabung, Hoyer & Leichsenring, 2017, Leichsenring et al., 2022), doch in der jüngeren Vergangenheit haben die Ergebnisse der LAC-Studie, in der die psychoanalytische und verhaltenstherapeutische Behandlung von Depressionen miteinander verglichen wurden, erneut Zweifel geweckt (Hautzinger et al., 2020). Zwar zeigten sich in beiden Therapieformen Veränderungen mit großen Effektstärken, doch die Therapiedosis, sprich Dauer der Therapie, war bei der Verhaltenstherapie erheblich kleiner als bei der Psychodynamischen Therapie.

Zweifel werden auch immer wieder an den Wirkmechanismen psychoanalytischer Psychotherapie geäußert. Zwar belegen einige Studien einen Zusammenhang von Einsicht – dem zentralen Ziel psychoanalytischer Interventionen – mit dem Behandlungsergebnis (Leichsenring, Steinert & Crits-Christoph, 2013), doch die Nützlichkeit von Übertragungsdeutungen, einem identitätsstiftenden Element der Psychoanalyse, steht durchaus in Frage. Die Metaanalyse von Hoglend (2003) etwa, die auf elf Studien zurückgreifen konnte, fand, dass Therapeuten in der Behandlung persönlichkeitsgestörter Patienten umso erfolgreicher waren, je zurückhaltender sie mit Übertragungsdeutungen waren, bzw. auf diese ganz verzichteten. Ogrodniczuk, Piper, Joyce und McCallum, M. (1999) fanden einen negativen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Übertragungsdeutungen einerseits und der Qualität der therapeutischen Beziehung und des Behandlungsergebnisses auf der anderen Seite. Der für die Psychoanalyse so zentrale Begriff der Deutung ist in die Diskussion geraten, und vielfach wird heute eher von Interpretation gesprochen, die nicht zwingend einen Bezug zum Unbewussten impliziert (Pancheri, 1998). Weitere Befunde stellen klassische psychoanalytische Grundpositionen in Frage, so die Hinweise auf negative Wirkungen einer konfrontierenden im Vergleich zu einer motivierenden Vorgehensweise (Fiedler, 2011). Mit Konfrontationsstrategien dürfe es, so Fiedler, schwerlich gelingen, dass bei vielen Patienten eindrücklich fehlende Selbstbewusstsein und die Selbstwertschätzung zu erhöhen. Auch der Hinweis von Fiedler und Rogge (1989), wonach Psychoanalytiker ebenso häufig wie Verhaltenstherapeuten in lebenspraktischen Fragen informieren und aufklären, dürfte kaum zu ihrem Selbstverständnis passen. Vieles ist im Hinblick auf die Effektivität wie auch die Wirkungsweise der Psychodynamischen Psychotherapie bis heute ungeklärt. Basale Annahmen der traditionellen Psychoanalyse stehen auf dem Prüfstand (Schulz-Venrath & Döring, 2011), und es scheint, als habe sie sich erst jetzt auf den Weg gemacht, ein empirisches Fundament einer zukünftigen integrierten Psychodynamischen Psychotherapie zu schaffen (Firmansyah et al., 2021, Leibovich, Wachtel, Nof & Zilcha-Mano, 2020).

Die gegenwärtige Situation ist durch die grundsätzliche Frage geprägt, wie viel Psychoanalyse die zeitgenössische Psychodynamische Psychotherapie braucht, oder ob sie sich nicht stattdessen stärker ein eigenes theoretisches und empirisches Fundament erarbeiten sollte, wofür ich in diesem Buch plädiere. Obwohl längst widerlegt, sind Vorbehalte gegenüber empirischer Forschung unter Psychoanalytikern nach wie vor weit verbreitet (Benecke, 2014, Sandell, 2012). An einem Forschungsdefizit krankt auch die Psychodynamische Alterspsychotherapie, denn die aufgeworfenen Fragen nach der Effektivität, dem Stellenwert von Übertragungsdeutungen und dem der Einsicht betreffen die Therapie Älterer in gleicher Weise. Leichsenring et al. (2015) beschreiben die Psychodynamische Psychotherapie als ein umbrella concept, das auf einem Kontinuum interpretativ-supportiver Techniken operiert, was zweifellos auch auf die Psychodynamische Alterspsychotherapie zutrifft. Einerseits verschafft das Therapeuten Spielraum, die Therapie individuell zu gestalten, andererseits bedarf es aber alterstherapeutischer Kenntnisse, damit sie nicht in Beliebigkeit abgleitet.

Diese kritische Bestandsaufnahme erfordert es aus meiner Sicht, über die »klassische«, noch stark durch die Psychoanalyse geprägte konfliktorientierte Psychodynamische Psychotherapie hinauszugehen. Deshalb werde ich in diesem Buch einerseits auf neuere Entwicklungen innerhalb der Psychodynamischen Psychotherapie Bezug nehmen, wie sie etwa von Wöller (2022) oder Neumann u. Naumann-Lenzen (2017) vorgelegt wurden oder aber der neueren empirischen Forschung zu entnehmen sind (Leibovich et al, 2020). Andererseits werde ich aber besonders jene Entwicklungen aufgreifen, die sich noch deutlicher von den psychoanalytischen Wurzeln entfernen und auf einem mehr oder weniger stark modifizierten Verständnis von Psychotherapie basieren, nämlich die strukturbezogene Therapie nach Rudolf (2019, 2020) und die mentalisierungsbasierte Psychotherapie (Bateman & Fonagy, 2015). Beide Ansätze versprechen auch eine Bereicherung für die Alterspsychotherapie, wie ich an anderer Stelle dargelegt habe (Peters, 2014b, 2017a, 2021b). Sie werden im Folgenden kurz dargestellt; anschließend wird das empirisch gut abgesicherte Konzept der Ressourcen als Klammer beider Ansätze sowie als Verbindungslinie zur Psychodynamischen Psychotherapie behandelt und als zentrales Element der Alterspsychotherapie beschrieben.

1.2.2 Neuere Ansätze in der Psychodynamischen Psychotherapie

Rudolf (2020) geht vom Strukturbegriff aus, der in der Psychoanalyse eine lange Tradition hat und in der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (Arbeitskreis OPD-3, 2024) präzisiert wurde. Unter Struktur wird dort das ganzheitliche Gefüge von psychischen Dispositionen verstanden; sie umfasst alles das, was im Erleben und Verhalten des Einzelnen regelhaft und repetitiv abläuft. Insofern begründet Struktur den zeitüberdauernden persönlichen Stil, in dem der Einzelne immer wieder sein intrapsychisches und interpersonelles Gleichgewicht herstellt und das Selbst und seine Beziehungen zu den inneren und äußeren Objekten reguliert. Strukturelle Defizite sind insbesondere bei Persönlichkeitsstörungen anzutreffen, können aber auch bei anderen Störungsbildern wie etwa Depressionen eine Rolle spielen (Rudolf & Henningsen, 2017).

Die von Rudolf (2020) entwickelte strukturbezogene Psychotherapie weist supportive Elemente auf und zielt auf eine Entwicklungsförderung ab, um strukturelle Defizite zu reduzieren. Daraus folgt auch eine veränderte Rolle der Therapeuten (hinter – neben – gegenüber), die sich nicht als Interpreten unbewusster Vorgänge anbieten, sondern als entwicklungsförderndes Gegenüber zur Verfügung stehen. Sie fungieren als wohlwollendes Hilfs-Ich, das klärt, versorgt, anregt, spiegelt und mit den Patienten zusammen konkret überlegt, welche Möglichkeiten sie bisher entwickeln konnten und welche weiteren sie erproben müssten.

Schließlich hat sich in jüngster Zeit die Mentalisierungsbasierte Psychotherapie etabliert (Bateman & Fonagy, 2015), die sich zunächst gar nicht als neues, eigenständiges Therapieverfahren verstand, sondern in Anspruch nahm, die bisherige Praxis neu zu beschreiben und damit besser zu verstehen. Dem Anschein nach hat sich dies verändert und sie präsentiert sich zunehmend als eigenständiges Therapieverfahren.

Mentalisierung ist kein kohärentes theoretisches Konstrukt, sondern greift unterschiedliche Ansätze und Traditionen wie etwa die Theorie des Geistes, Metakognition, Selbstreflexion, Achtsamkeit oder Empathie auf. Nach Bateman und Fonagy (2015) kann Mentalisierung als der mentale Prozess verstanden werden, durch den ein Individuum seinem eigenen Verhalten und dem Verhalten anderer implizit und explizit Bedeutung zuschreibt, und zwar in Bezug auf intentionale Zustände wie persönliche Wünsche, Bedürfnisse, Gefühle, Überzeugungen und andere Motivationen.

Das darauf aufbauende therapeutische Konzept knüpft einerseits unmittelbar an die psychoanalytischen Wurzeln an, indem die Selbstreflexion in den Mittelpunkt gerückt wird. Andererseits entfernt es sich aber besonders in der therapeutischen Grundhaltung, der Interventionstechnik wie auch der Gestaltung der therapeutischen Beziehung noch stärker als die strukturbezogene Therapie von den psychoanalytischen Wurzeln. Der Fokus liegt auf der Gegenwart und auf den Lebensproblemen der Patienten. Ziel ist, Patienten zu ermutigen, sich selbstreflexiv zu betrachten und mit ihnen einen Mental State Talk (Lecce, Bottiroli, Bianco, Rosi & Cavallini, 2015) zu entwickeln, d. h. ein Gespräch, das auf Affekte, Intentionen, Wahrnehmungen etc. fokussiert und diese zu erforschen sucht. Das Gespräch sollte sich dabei eher am alltagssprachlichen Dialog orientieren, d. h. vom gesprochenen Wort und weniger vom vermuteten Unbewussten ausgehen (Bolm, 2009). Damit wird auch eine bedeutsame Akzentverschiebung vorgenommen, nämlich hin zu den Prozessen und der psychischen Funktionen, während in der klassischen Psychodynamischen Psychotherapie v. a. auf die Inhalte fokussiert wurde, also die lebenslang wirksamen psychodynamischen Konflikte (▸ Kap. 3.1).

Es gibt zahlreiche Überschneidungen der strukturbezogenen Psychotherapie und der mentalisierungsbezogenen Therapie, und Rudolf (2020) spricht in der Neuauflage seines Buches häufig von Mentalisierung. Andererseits können Mentalisierungsdefizite als strukturelle Defizite verstanden werden. Auch in der therapeutischen Grundhaltung und den Interventionen gibt es mehr Überschneidungen als Unterschiede. So wird in beiden Ansätzen die Bedeutung von Deutungen, insbesondere Übertragungsdeutungen relativiert, was ja den Ergebnissen der weiter oben erwähnten Studien entspricht. Allerdings hat der mentalisierungsbezogene Ansatz den unbestreitbaren Vorteil einer stärkeren empirischen Orientierung.

1.2.3 Ressourcenorientierung in der Psychodynamischen Psychotherapie

Die Psychotherapie älterer Menschen macht es häufig erforderlich, auf Elemente unterschiedlicher therapeutischer Ansätze zurückzugreifen, und diese auf der Basis von Intuition und Empathie so zu verbinden, dass sie zu einem in sich stimmigen Vorgehen verschmelzen. Die drei zuvor dargestellten Ansätze stellen nicht zuletzt ein breites Repertoire an Interventionstechniken zur Verfügung, wie später in diesem Buch deutlich werden wird (▸ Kap. 4.4). Und doch stellt sich die Frage, ob es nicht auch verbindende Elemente dieser drei Ansätze gibt, gewissermaßen eine Metatheorie, die Therapeuten eine Orientierung bietet.

Grawe (2004) hatte mit seinen bahnbrechenden Arbeiten zur Wirkungsweise von Psychotherapie die fundamentale Bedeutung von Ressourcenaktivierung belegt, die die Problemaktualisierung ergänzen müsse. Nahe gelegt wird dies auch durch Befunde, wonach es nicht erfolgreichen Therapeuten nicht gelang, die emotionale Belastung, die durch die Konfrontation mit Problemen hervorgerufen wird, zu reduzieren, d. h. Ressourcen zur Problembewältigung zu aktivieren (Gassmann & Grawe, 2006).