Klug regieren - Nicolas Berggruen - E-Book

Klug regieren E-Book

Nicolas Berggruen

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Beschreibung

Nicolas Berggruen und Nathan Gardels haben den Mut, die selbstverständlichen und scheinbar naturwüchsigen Spielregeln und Mechanismen westlicher Demokratien zu hinterfragen. Nicht, um die Demokratie zu denunzieren, sondern um wirklich neu darüber nachdenken zu können, wie Politik im 21. Jahrhundert unter den Bedingungen zunehmender globaler Vernetzung und immer komplexerer Wechselbeziehungen, unter dem Druck von immer mehr und immer größeren Megacities, die an die Grenzen der Regierbarkeit führen, und vor dem Hintergrund wachsender Ressourcennutzung und Ressourcenerschöpfung zu mehr friedlicher Kooperation, zu nachhaltigem Wachstum und zu einer guten Lebensqualität für alle Menschen beitragen kann. Berggruen und Gardels plädieren dafür, Ost und West, chinesische Langfristigkeit und westliche Freiheit neu zusammenzudenken, eine neue Balance zu finden zwischen zentraler Steuerung und Dezentralisierung, dem Globalen und dem Lokalen, dem Mitspracherecht der Bürger und der Expertise der Fachleute. Eine provozierender Vorschlag für eine neue politische Weltordnung.

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Nicolas Berggruen, Nathan Gardels

Klug regieren

Politik für das 21. Jahrhundert

Aus dem Englischenvon Heike Schlatterer

Mit einem Vorwort für die deutsche Ausgabevon Gerhard Schröder

Impressum

Titel der Originalausgabe:

Intelligent Governance for the 21st Century.

A Middle Way between West and East (9780745659732)

Copyright © Nicolas Berggruen and Nathan Gardels 2013

The right of Nicolas Berggruen and Nathan Gardels to be identified as Authors of this Work has been asserted in accordance with the UK Copyright, Designs and Patents Act 1988.

First published in 2013 by Polity Press

This edition is published by arrangement with Polity Press Ltd., Cambridge

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Überarbeitung der Grafiken von Alexander Gardelsfür die deutschsprachige Ausgabe durch © Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © MacKenzie

ISBN (E-Book) 978-3-451-80018-4

ISBN (Buch) 978-3-451-30753-9

Inhalt

Vorwort von Gerhard Schröder

Vorwort der Autoren zur deutschen Ausgabe

Anmerkung zur Terminologie

Einleitung

Teil I Globalisierung und Regierung

Kapitel 1Die Globalisierung 2.0 und die Herausforderungen für eine gute Regierung

Kapitel 2Die amerikanische Konsumentendemokratie im Vergleich zum modernen chinesischen Mandarinsystem

Kapitel 3Der liberale demokratische Konstitutionalismus und die Meritokratie

Kapitel 4Neue Herausforderungen für die Regierung

Teil II Intelligent regieren Theorie und Praxis

Kapitel 5Intelligent regieren

Kapitel 6Die dysfunktionale Demokratie Kaliforniens wird neu gestartet

Kapitel 7Die G20

Kapitel 8Europa

Teil III Schluss

Kapitel 9Das Überleben der Klügsten

Anmerkungen

Vorwort von Gerhard Schröder

Mit dem 21. Jahrhundert hat die Welt eine Zeit großer Herausforderungen erreicht. Die Verwerfungen der internationalen Finanzkrise, der Wandel des Weltklimas oder die ungleiche globale Verteilung von Armut und Reichtum sind nur einige Beispiele. Auf diese Herausforderungen werden wir neue Antworten finden müssen.

Dies gilt auch für die Zukunft Europas. Es tut Not, sich die politischen Dimensionen immer wieder vor Augen zu führen: Wir werden unseren Weg in eine bessere Zukunft nur fortsetzen können, wenn wir das auf der Basis eines geeinten Europas tun. Dabei geht es um die Bewahrung der Errungenschaften von mehr als sechs Jahrzehnten Frieden und Wohlstand, aber es geht auch um die Bedeutung Europas in der Welt von morgen. Kein europäischer Nationalstaat wird alleine die Stärke haben, auf der internationalen Bühne zwischen den wiedererstarkten USA und neuen Mächten wie China eine Rolle zu spielen. Nur gemeinsam können wir Europäer unsere Wertvorstellungen und Interessen in der internationalen Staatengemeinschaft zur Geltung bringen.

Die Überwindung der europäischen Krise fußt auf drei Fundamenten: Struktureller Wandel, Wachstumsimpulse und weitere politische Integration. Jedes dieser Ziele erfordert die Fähigkeit zur Selbsterneuerung und Reform, aber auch zu Mut und Beharrlichkeit. Denn obgleich sich Erfolge einer Reformpolitik teils erst viele Jahre später realisieren, müssen die Entscheidungen heute getroffen werden. Politische Führung bedeutet dabei, dies im Zweifel auch um den Preis eines möglichen Machtverlustes zu tun.

In politischen Diskussionen droht die Differenzierung zwischen dem, was dringend und dem, was wichtig ist, manchmal zu verschwimmen. In einer Krise muss man schnell und entschlossen reagieren. Es ist jedoch genauso wichtig, die großen Linien unseres Handelns zu betrachten. Das Berggruen Institute on Governance wurde zu eben diesem Zweck ins Leben gerufen. Es bringt ehemalige Staats- und Regierungschefs sowie Experten aus der ganzen Welt zusammen, um über eine bessere Art der Regierungsführung in einen Dialog zu treten. Diesen Dialog angestoßen zu haben, ist das Verdienst des Instituts. Und dieser Dialog ist wichtig, um einen Beitrag zu leisten, die aktuellen Herausforderungen, europäisch wie global, zu meistern.

Das Buch »Klug regieren« will ebenso einen Debattenbeitrag leisten, um nach Antworten für fundamentale Fragen der Organisation unseres Zusammenlebens und des Regierens zu suchen. Die Thesen provozieren, weil sie Bestehendes infrage stellen. Nicht in allen Punkten wird man mit den Autoren übereinstimmen. Das gilt insbesondere für den Vorschlag, demokratische Systeme um Expertengremien zu ergänzen. Solche Gremien nicht nur mit Beratungs-, sondern auch mit Entscheidungsfunktionen auszustatten, könnte jedenfalls in Deutschland verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen. Aber gerade solche unkonventionellen Vorschläge regen dazu an, über die Zukunft eines guten Regierens im 21. Jahrhundert zu diskutieren, frei und ohne Scheuklappen. Das Buch leistet hierzu einen wichtigen Beitrag.

Vorwort der Autoren zur deutschen Ausgabe

Ein Blick auf die jüngste Geschichte in Deutschland – und seine Position in Europa – verdeutlicht sehr gut die Probleme einer demokratischen Regierungsführung, mit denen wir uns in unserem Buch beschäftigen.

Die als Agenda 2010 bekannten Reformen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder sind ein Beispiel dafür, wie eine Wahldemokratie die Formulierung und Umsetzung eines langfristigen strukturellen Wandels behindern kann. Wie Gerhard Schröder selbst oft beklagt, kann es Jahre dauern, bis strukturelle Reformen – für einen flexibleren Arbeitsmarkt, zur Heraufsetzung des Rentenalters und für neue Investitionen in Ausbildung, Forschung und Entwicklung – Wirkung zeigen. Die nächsten Wahlen kommen dagegen viel früher, und derart einschneidende Maßnahmen sind natürlich unpopulär. Also wurde Schröder von den Wählern abgewählt. Und heute, zwölf Jahre nach der Einführung der Reformen, ist Deutschland die stärkste und wettbewerbfähigste Volkswirtschaft in Europa.

Ähnlich wie die Finanzmärkte die griechischen, italienischen und spanischen Staatsanleihen in den vergangenen Jahren auf Grundlage der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands falsch bewerteten, so bewertete die Demokratie den Wert von Schröders Reformen falsch.

Entsprechend erklärte Jean-Claude Juncker, luxemburgischer Premierminister und bis vor Kurzem Vorsitzender der Euro-Gruppe in Hinblick auf die derzeitige Eurokrise: »Wir wissen, was wir tun müssen, wir wissen nur nicht, wie wir wiedergewählt werden könnten, wenn wir es getan haben.«

In einem Gespräch mit Historikern verlieh auch Präsident Barack Obama 2012 seiner Frustration über die schnelllebige Mentalität in einer Konsumentendemokratie Ausdruck. Er bemängelte, dass man die Leute nicht dazu bringen könne, langfristig zu denken. »Es ist schwer, für eine Lösung der Probleme zu argumentieren, wenn man weder das Problem zu spüren bekommt noch die Lösung in greifbarer Nähe ist«, erläuterte er.

Die Kernthese in unserem Buch lautet, dass die Regierungsform immer eine Rolle spielt, egal ob sich eine Gesellschaft weiterentwickelt oder stagniert. Wenn demokratische Gesellschaften vorankommen und Bestand haben wollen, müssen sie die Institutionen stärken und legitimieren, die als Gegengewicht zu den manchmal kurzfristigen Forderungen der Wähler und den eng umgrenzten Anliegen von Interessengruppen fungieren. Sonst werden die etablierten Mittel der Verantwortlichkeit wie etwa demokratische Wahlen am Ende die Fähigkeit der Gesellschaften untergraben, sich selbst zu erhalten.

Nicolas Berggruen und Nathan GardelsBerlin, im Januar 2013

Anmerkung zur Terminologie

Wir verwenden den Begriff »Meritokratie« für ein parteiunabhängiges Führungsgremium, das eine dauerhafte Institution sein kann oder nur für einen bestimmten Zeitraum ernannt wird. Das Gremium wägt ab und erreicht einen Konsens, indem es Kompromisse schließt und widerstreitende Interessen miteinander verbindet. Die Entscheidungen, die in einer politischen Meritokratie getroffen werden, basieren auf Wissen, berücksichtigen eine langfristige Perspektive und stellen das Gemeinwohl anstelle der Interessen einzelner Gruppen oder beschränkter, kurzsichtiger Interessen in den Vordergrund, denen bei allgemeinen Wahlen das Mandat erteilt wird. In einer Meritokratie wird mehr Wert auf die Kompetenz der Führung als auf ihre Popularität gelegt, solange sie sich verantwortlich zeigt.

Solche entpolitisierten Institutionen oder temporären Regierungsarrangements sind vor allem dann von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, politische Blockaden aufzubrechen und einen Konsens zu schmieden, Einigkeit bei Zielen zu erreichen und Möglichkeiten zu schaffen, um langfristige politische Maßnahmen in einer Mehrparteiendemokratie mit einer sehr heterogenen Bevölkerung umzusetzen.

Ein Beispiel für eine solche Entpolitisierung der Demokratie war die Ernennung Mario Montis in Italien, der von Präsident Napolitano Ende 2011 mit einer Art Regierung der nationalen Einheit betraut wurde. Sein »Technokratenkabinett« wurzelte in der Souveränität des Volkes, war jedoch vom Druck der Wähler abgeschirmt.

China ist offensichtlich eine Autokratie, der es an demokratischer Verantwortlichkeit, Transparenz, einer unabhängigen Rechtsprechung und Meinungsfreiheit mangelt – die jedoch starke Elemente einer politischen Meritokratie aufweist, bei der Spitzenkräfte in der Verwaltung und Führung immer wieder auf ihre Leistung geprüft werden und ihre Erfahrung unter Beweis stellen müssen.

Einleitung

Wir wollen mit unserem Buch der Frage nachgehen, wie man die besten Elemente der Regierungsformen in Ost und West, die sich über Jahrhunderte unter ganz unterschiedlichen historischen und kulturellen Bedingungen entwickelt haben, nutzen könnte, um die gemeinsamen Herausforderungen zu bewältigen, die sich uns durch die Globalisierung stellen.

Wir konzentrieren uns dabei auf China und die USA, nicht als wortwörtliche Alternativen, sondern als Metaphern für die Kompromisse, die man in Erwägung ziehen muss, wenn man ein Verfassungssystem entwickeln will, das typische Elemente beider Vorlagen umfasst – also einerseits die Leitung durch meritokratische Eliten und deren langfristige Perspektive und andererseits die Herrschaft des Volkes in Form einer Demokratie.

Im ersten Kapitel »Die Globalisierung 2.0 und die Herausforderungen für eine gute Regierung« vergleichen wir die geopolitischen und geozivilisatorischen Perspektiven von West und Ost angesichts des derzeitigen Wandels, bei dem sich aus einer Globalisierung unter Führung der USA eine wechselseitige Abhängigkeit multipler Identitäten entwickelt. Wir führen außerdem das Konzept der »intelligenten Regierung« als einen Lösungsansatz für den politischen und kulturellen Umbruch ein, der Teil dieser globalen Verlagerung ist. Wir argumentieren, dass eine gute Regierung Macht dezentralisieren und die Bürger auf sinnvolle Weise beteiligen muss, aber gleichzeitig die Übertragung von Befugnissen (durch die Verteilung von Entscheidungsgewalt) auf Institutionen legitimieren sollte, die in der Lage sind, die systemischen Verbindungen der Integration zu bewältigen.

In Kapitel 2, »Die amerikanische Konsumentendemokratie im Vergleich zum modernen chinesischen Mandarinsystem«, analysieren wir die aktuellen Stärken und Schwächen beider Systeme.

In Kapitel 3, »Der liberale demokratische Konstitutionalismus und die Meritokratie: Mögliche Mischformen«, lassen wir die Debatten über die Vorteile einer politischen Meritokratie im Vergleich zur Wahldemokratie noch einmal aufleben und gehen dabei auch auf die Ursprünge der chinesischen Beamtenprüfungen und die Überlegungen der amerikanischen Gründerväter zu den Fallstricken einer direkten Demokratie ein.

Wir zeigen Verbindungen zwischen der antiken griechischen Philosophie, der Aufklärung und den konfuzianischen Grundsätzen und überlegen, welche Bausteine man für eine Mischverfassung wählen könnte, bei der die Regierenden aufgrund ihrer Verdienste ausgewählt, aber durch demokratische Wahlen kontrolliert werden.

In Kapitel 4 stellen wir diese Diskussionen dann in den Kontext der aktuellen Herausforderungen und Chancen im 21. Jahrhundert – soziale Netzwerke, die Entstehung von Megastädten und die globale Verteilung des Produktionsprozesses –, auf die alle Regierungssysteme reagieren müssen.

Unter Berücksichtigung dieser Thesen bietet Kapitel 5 »Intelligent regieren: Grundsätze und eine Vorlage für ein Regierungssystem« Überlegungen und Gedankenexperimente zu einem Verfassungsentwurf, der einen Mittelweg zwischen Ost und West aufzeigt – keine einheitliche und allgemeingültige Schablone für alle, sondern einen Idealvorschlag, dessen Grundsätze den konkreten Gegebenheiten angepasst werden können.

In den Kapiteln 6, 7 und 8 berichten wir von unseren praktischen Bemühungen, die Prinzipien einer intelligenten Regierung auf ganz unterschiedliche Verhältnisse zu übertragen, von Kalifornien über die G20 bis zu Europa.

Kapitel 9 stellt unsere Diskussion in einen möglichst breiten historischen Kontext, in dem wir annehmen, dass es zur Entstehung der ersten wirklich globalen Zivilisation kommen könnte – wenn wir verstehen, wie wir unsere verschiedenen Betriebssysteme aufeinander abstimmen. Der Titel »Das Überleben der Klügsten« sagt alles.

Das Buch berichtet von laufenden, sich verändernden Projekten. Der Leser kann sich über die Aktivitäten des Berggruen Institute on Governance daher informieren unter: http://berggruen.org.

Teil IGlobalisierung und Regierung

Kapitel 1Die Globalisierung 2.0 und die Herausforderungen für eine gute Regierung

Einleitung

»Osten ist Osten und Westen ist Westen« heißt es in Rudyard Kiplings Gedicht, doch heute sind die beiden miteinander verflochten.

Die gegensätzlichen Merkmale beider Zivilisationsräume sind allgemein bekannt: Autorität versus Freiheit, Gemeinschaft statt Individuum, der Kreislauf der Weltalter im Gegensatz zum historischen Fortschritt, repräsentative Demokratie anstelle der Herrschaft einer Meritokratie wie dies in China der Fall ist. Andererseits weiß man auch, dass China mittlerweile die Fabrik der Welt und der größte Gläubiger der Vereinigten Staaten ist.

In unserem Buch befassen wir uns mit den beiden Räumen, über die Kipling schrieb, sie würden sich »niemals treffen«, in diesem neuen historischen Kontext, in dem China und der Westen so eng aneinander gebunden sind, aber dennoch so verschieden bleiben.

Heute, da der Westen seine Jahrhunderte währende Dominanz verliert und das Reich der Mitte wieder in der Weltgeschichte Fuß fasst, müssen wir das sich verändernde Gefüge nicht nur aus westlicher, sondern auch aus östlicher Sicht betrachten.

Überspitzt formuliert neigt man im modernen westlichen Denken dazu, unvereinbare Gegensätze zu sehen, die sich nur über die Dominanz des einen über das andere auflösen. In der Tradition Hegels1 wählte auch Francis Fukuyama diesen Ansatz, als er nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Triumph der liberalen Demokratie über andere Regierungsformen das »Ende der Geschichte« postulierte.2 Im geopolitischen Denken des Westens werden Territorien entweder gewonnen oder verloren.

Im östlichen Denken sieht man dagegen einander ergänzende Aspekte eines Ganzen – im taoistischen Sprachgebrauch Yin und Yang –, die ausgehend von einer pragmatischen Grundhaltung und unter Beachtung der sich wandelnden Bedingungen kontinuierlich ausbalanciert werden müssen. Die Geschichte hat kein Ende. Die Zyklen setzen sich fort; das Verhältnis von Freiheit und Autorität oder des Einzelnen und der Gemeinschaft findet immer wieder zu einem neuen Gleichgewicht. Im »geozivilisatorischen« Denken des Ostens kann das Unvereinbare nebeneinander bestehen.

Wenn George Yeo, der ehemalige Außenminister Singapurs und einer der wichtigsten politischen Vordenker und Pragmatiker Asiens, davon spricht, dass »Tao viel tiefgründiger als Hegel« sei, spielt er auf diesen Unterschied in der östlichen und westlichen Philosophie an. Unser Buch übernimmt Yeos Haltung und befasst sich mit den gemeinsamen Herausforderungen für die Regierungsführung, die Ost und West aufgrund ihrer vielfältigen und komplexen wechselseitigen Abhängigkeiten meistern müssen.

Wir folgen dem pragmatischen, nicht von Ideologie geprägten östlichen Ansatz, weil wir glauben, dass wir voneinander lernen können. Die Frage lautet nicht, ob sich die Herrschaft einer Meritokratie, die in Chinas »Kultur der Institutionen« wurzelt, letztendlich gegenüber der Demokratie westlichen Stils durchsetzen wird oder umgekehrt. Wir überlegen vielmehr, ob eine ausgewogene Kombination aus Meritokratie und Demokratie, Autorität und Freiheit, Gemeinschaft und Individuum die Grundlage eines soliden Staatswesens und einer intelligenten Regierungsform für das 21. Jahrhundert bilden kann. Tatsächlich stellen wir uns die Frage, ob sich hier nicht sogar die Möglichkeit eines neuen »Mittelwegs« aufzeigt.

Ist Demokratie selbstkorrigierend?

Im Westen herrscht die weit verbreitete und auch nicht unbedingt falsche Ansicht, dass China mit seinem modernen Mandarinsystem und seiner offiziell kommunistischen Staatsform zwar beeindruckende Leistungen erbracht hat, wie etwa Hunderte Millionen Menschen in nur drei Jahrzehnten aus der Armut zu führen, aber nicht selbstkorrigierend und damit auch nicht zukunftsfähig ist. Die »rote Dynastie« muss ihren autokratischen Griff lockern und eine freiere Meinungsäußerung und demokratischere Mechanismen für einen öffentlichen Diskurs zulassen und für Rechenschaftspflicht in öffentlichen Ämtern sorgen, sonst droht ihr der politische Niedergang – in Form einer immer stärker um sich greifenden Korruption, willkürlichen Machtmissbrauchs und Stagnation –, wie ihn bereits vorangegangene Dynastien in der jahrtausendealten Geschichte Chinas erleben mussten.

Unserer möglicherweise überraschenden Beobachtung nach besitzt die westliche Demokratie, wie wir am Beispiel der Finanzmärkte gesehen haben, kein größeres Potenzial zur Selbstkorrektur als das chinesische System. Wie die Volksrepublik steuert auch die Demokratie mit ihrem Prinzip der Wahlgleichheit, die eingebettet ist in eine Konsumkultur der sofortigen Befriedigung, auf einen politischen Niedergang zu, es sei denn, sie schafft es, sich zu reformieren. Immerhin hat der demokratische Westen die Chance, aus Chinas Erfahrungen mit einem meritokratischen System zu lernen und kompetente Institutionen einzurichten, die sich sowohl Langfristigkeit als auch das Allgemeinwohl zum Ziel setzen. Wir werden darlegen, dass die Wiederherstellung des Gleichgewichts in jedem System eine Justierung des politischen Rahmens und die Schaffung einer Struktur erfordert, die eine kluge Demokratie mit einer rechenschaftspflichtigen Meritokratie kombiniert.

Governance

Bei »Governance« geht es um die Frage, wie die kulturellen Gepflogenheiten, politischen Einrichtungen und das Wirtschaftssystem einer Gesellschaft so aufeinander abgestimmt werden, dass sie den Menschen das erwünschte gute Leben bieten. Dementsprechend ist eine gute Regierung (»good governance«) gegeben, wenn diese Strukturen einander in einem ausgewogenen Verhältnis ergänzen und effektive und nachhaltige Resultate zum Wohle aller hervorbringen. Bei einer schlechten Regierungsführung (»bad governance«) haben sich die zugrundeliegenden Bedingungen so verändert, dass einst effektive Praktiken nicht mehr funktionieren, oder der politische Niedergang setzt ein, weil Sonderinteressen immer mehr Bedeutung erlangen – oder beides zusammen. Schulden und Defizite sind untragbar, Kartelle rauben der Wirtschaft die Kraft, die Korruption zerstört das Vertrauen, die soziale Mobilität gerät ins Stocken und die Ungleichheit wächst. Der bestehende Konsens verliert seine Legitimation. Der Verfall setzt ein.

Mit Begriffen wie Dysfunktionalität und Niedergang lässt sich heute die Situation vieler Staaten im demokratischen Westen zutreffend beschreiben. Die westliche Demokratie befindet sich in der Krise, von ihrer antiken Geburtsstätte in Griechenland bis zu ihrem am weitesten vorgelagerten Außenposten in Kalifornien. Nach Jahrhunderten der rasanten Entwicklung und einer inneren zivilisatorischen Zuversicht lähmen nun Schulden, politischer Stillstand, Unentschlossenheit und eine schwindende Legitimation die liberale Demokratie und die freie Marktwirtschaft und verhindern die Bewältigung des Wandels. Auf den ersten Blick könnte man meinen, der Schwung und die Zuversicht hätten sich nach Osten verlagert. Die westliche liberale Demokratie wird, wie bereits erwähnt, als bestmögliche Staatsform hinterfragt, vor allem von nicht-westlichen Formen der Modernität wie etwa dem staatlich gelenkten Kapitalismus in China und seiner Meritokratie. Doch auch dort zeigen sich aufgrund der um sich greifenden Korruption, der Schäden an der Umwelt und der zunehmenden Zerrüttung von Gesellschaft und auch Spiritualität Anzeichen des Verfalls und einer mangelnden Funktionalität, die Chinas bemerkenswerte Erfolge infrage stellen.

Von der Globalisierung 1.0 zur Globalisierung 2.0

Die Herausforderungen durch die derzeitige globale Machtverschiebung sind in Kombination mit dem rasanten technischen Fortschritt für die aufstrebenden Volkswirtschaften nicht weniger beängstigend als für jene, deren Macht im Schwinden begriffen ist. Alle politischen Systeme geraten in gewisser Weise aus dem Gleichgewicht, wenn sie versuchen, sich den fortwährenden Erschütterungen anzupassen, die durch den Übergang von der Globalisierung 1.0 zur Globalisierung 2.0 verursacht werden.

In den Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Globalisierung unter Führung der USA – die Globalisierung 1.0 – die Welt durch den freien Fluss der Handelsströme, des Kapitals, der Informationen und Technologie so gründlich verändert, dass daraus eine weitere neue Phase entstanden ist – die Globalisierung 2.0.

»In den vergangenen Jahrhunderten entwickelten sich Europa und dann Amerika, die beide einst Peripherie waren, zum Zentrum der Weltwirtschaft«, schreibt der Wirtschaftsjournalist Martin Wolf von der Financial Times. »Jetzt bilden die Volkswirtschaften, die in dieser Zeit an der Peripherie lagen, erneut das Machtzentrum. Dadurch verändert sich die ganze Welt … Das ist bei Weitem das Wichtigste an unserer Welt.«3

Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Michael Spence vertritt eine ähnliche Sichtweise. Wir würden derzeit »zwei parallele und interagierende Revolutionen« erleben, schreibt er, »die Fortsetzung der Industriellen Revolution in den Industrieländern und die plötzliche und dramatische Verbreitung des Wachstums in den Entwicklungsländern. Man könnte die zweite Revolution die Einschließlichkeitsrevolution [im Original: »Inclusivness Revolution«] nennen. Nach zwei Jahrhunderten des raschen Auseinanderdriftens folgt nun die Annäherung.«4 Diese massive wirtschaftliche und technologische Annäherung infolge der Globalisierung 1.0 hat gleichzeitig eine neue kulturelle Verschiedenheit hervorgebracht, da sich die aufstrebenden Wirtschaftsmächte nun unter Berufung auf ihre eigene Kultur gegen die ohnehin schwindende westliche Hegemonie abgrenzen. Weil mit wirtschaftlicher Stärke eine kulturelle und politische Selbstbehauptung einhergeht, bedeutet die Globalisierung 2.0 vor allem die Verflechtung multipler Identitäten anstelle eines für alle gültigen Modells. Die einst dominierenden westlichen liberalen Demokratien müssen es auf der Weltbühne nun nicht nur mit der vom Neokonfuzianismus geprägten Volksrepublik China aufnehmen, sondern auch mit einer am Islam orientierten Demokratie im säkularen Rahmen der Türkei, die für die Demonstranten in der arabischen Welt ein attraktives Vorbild darstellt. Kurz gesagt, die Welt kehrt zum »normalen Pluralismus« zurück, der den Großteil der Menschheitsgeschichte prägte.

Historisch betrachtet zieht eine derart umfangreiche Machtverlagerung häufig Zusammenstöße und Konflikte nach sich. Doch aufgrund der intensiven Integration, die die erste Globalisierung seit Ende des Kalten Krieges mit sich brachte, bieten sich auch ganz neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit und gegenseitigen Befruchtung über verschiedene Kulturen hinweg.

Wir stehen an einem historischen Scheideweg. Die Art und Weise, wie wir uns selbst in den kommenden Jahrzehnten als Nationen und darüber hinaus regieren und organisieren, wird über den weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts entscheiden.

Die Herstellung eines neuen Gleichgewichts unter dem »Betriebssystem« Globalisierung 2.0 stellt uns in doppelter Hinsicht vor eine Herausforderung.

Die komplexe Integration von Handel, Investitionen, Produktion, Konsum und Informationen erfordert politische und technische Effizienz in den Megastädten und auf nationaler wie supranationaler Ebene, um die systemischen Verflechtungen der wechselseitigen Abhängigkeiten zu bewältigen. Wenn dieses System zusammenbricht, ist der Schaden bei allen Beteiligten groß. Gleichzeitig verlangt die wachsende Vielfalt, die mit der globalen Verbreitung von Wohlstand einhergeht und durch die Partizipationsmöglichkeiten aufgrund der sozialen Medien noch verstärkt wird, eine stärkere Dezentralisierung von Macht hin zur Basis, wo die Öffentlichkeit lautstark ein Mitspracherecht bei den Vorschriften einfordert, die ihr Leben regeln. Überall ist eine politische Aufbruchstimmung zu spüren, überall wird eine angemessene, sinnvolle Beteiligung verlangt.

Findet sich keine institutionelle Lösung für diese doppelte Herausforderung, entsteht daraus eine Legitimationskrise für jedes Regierungssystem – entweder weil man es versäumt, für integratives Wachstum und ausreichende Beschäftigung zu sorgen, oder weil ein »demokratisches Defizit« verschiedene Gruppen ausschließt und so einen effektiven Konsens verhindert.

Das richtige Gleichgewicht wird darüber entscheiden, ob sich eine Gesellschaft dynamisch entwickelt oder stagniert und ob Konflikte oder Kooperation den globalen Modus operandi bestimmen.

Dieses Gleichgewicht könnte man als »intelligente Regierung« bezeichnen, bei der Macht dezentralisiert wird und Bürger in den Bereichen sinnvoll einbezogen werden, in denen sie kompetent sind, während die Entscheidung über kompliziertere Themen an eine höhere Autorität delegiert wird, die von der Bevölkerung legitimiert ist und sich auf einen breiten Konsens stützt. Dezentralisierung, Beteiligung und die Zusammenarbeit verschiedener Entscheidungsträger sind die Schlüsselelemente für eine intelligente Regierung, die die Vorteile einer klugen Demokratie mit denen einer rechenschaftspflichtigen Meritokratie vereint.

Wie dieses richtige Gleichgewicht aussieht, wird variieren, da sich die politischen Systeme in unterschiedlichen Ausgangssituationen befinden. Jedes System muss auf Grundlage der kulturellen Gegebenheiten seines bestehenden Betriebssystems neu starten. Während China, so die gängige Meinung, eine stärkere Beteiligung der Bürger und ein System benötigt, bei dem die Funktionäre seiner Meritokratie zur Rechenschaft gezogen werden, müsste die Demokratie in den USA entpolitisiert werden, um zwischen dem langfristigen Gemeinwohl und der kurzfristigen, populistischen Kultur der Sonderinteressen zu trennen, die durch die Wahlgleichheit ermöglicht wird. Kurz gesagt müsste China lockerer und die USA müssten straffer geführt werden.

In Europa müsste der für eine vollständige Integration erforderliche institutionelle Rahmen – eine starke, aber begrenzte politische Union – demokratisch legitimiert werden, sonst kann man die europäischen Bürger, die sich entmachtet fühlen und von der EU desillusioniert sind, nicht dafür gewinnen.

Im Rahmen dieses Anpassungsprozesses müssen die G20 ebenso wie die Institutionen der Europäischen Union von den Nationalstaaten und ihrer Bevölkerung mit der erforderlichen Legitimation ausgestattet werden. Sonst fehlen ihnen die politischen Mittel zur Bewältigung ihrer Aufgaben – die Schaffung einer Reservewährung, die Gewährleistung von Stabilität im Handel und bei den Finanzströmen, Sicherheit, ein Atomwaffenverbot und Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel –, die ein einzelner Hegemonialstaat oder auch ein Bund internationaler Staaten in einer multipolaren Weltordnung unter der Globalisierung 2.0 nicht bieten können. Da Legitimation mit zunehmender Entfernung schwindet, besteht hier die wesentliche Herausforderung in der Frage, wie man »subnationale« regionale Einheiten in ein globales Netzwerk integriert und damit eine Alternative zur veralteten Vorstellung von einem fernen, alles unterdrückenden »Welt-Leviathan« schafft.

Wir wollen uns mit folgender, für die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts zentralen Frage befassen: Wie kann eine gute Regierungsform auf regionaler und globaler Ebene ein Gleichgewicht sowohl innerhalb eines Staates als auch zwischen den Nationen herstellen?

Dazu betrachten wir die konkurrierenden Systeme der USA und der Volksrepublik China, von uns als »Konsumentendemokratie« und »modernes Mandarinsystem« bezeichnet, und versuchen, die Kompromisse auszumachen, die erforderlich sind, um das richtige Gleichgewicht für eine gute Regierung herzustellen. Wir werden außerdem eine »ideale Vorlage für eine gemischte Verfassung« erstellen, eine Mischform aus Meritokratie und Demokratie. Und da wir keine praxisfernen Theoretiker sind, berichten wir auch über unsere Erfahrungen bei der Umsetzung dieser Vorlage unter den verschiedensten Bedingungen, von Kalifornien über Europa bis zu den G20.

Die zentrale Aussage unseres Buches ist die, dass Regierungsführung immer eine Rolle spielt, egal, ob sich eine Gesellschaft vorwärts oder rückwärts bewegt.

Das gilt vor allem für den Übergang von der Globalisierung 1.0 zur Globalisierung 2.0. Wenn Städte, Länder oder Nationen im Strudel des Wandels nicht navigieren können, zerschellen sie am felsigen Ufer oder bleiben im stehenden Gewässer zurück.

EINE KURZE BESTANDSAUFNAHME DES UNGLEICHGEWICHTS

Jeder spürt die Auswirkungen des Wandels. In den USA eilt Josef Schumpeters berühmte »schöpferische Zerstörung«5 der Neuschöpfung so weit voraus, dass die wachsende Ungleichheit zwischen denjenigen, die weiterkommen, und jenen, die auf der Strecke bleiben, das Vertrauen in die Demokratie und den Kapitalismus erschüttert und sich die »99 Prozent« gegen das eine Prozent der Topverdiener wenden.

Die gegenseitige politische Blockade von Parteien ist mittlerweile Normalität und die Demokratie ist in sich gespalten, wodurch die Handlungsfähigkeit der Politik stark eingeschränkt ist.

Überall in Europa, Japan und den USA lähmen die Schulden und Defizite der Vergangenheit die politische Vorstellungskraft. Träume werden dem Schuldenabbau geopfert.

Die Uneinigkeit in der Eurozone bei der Bewältigung der Schuldenkrise stellt sowohl das historische Projekt der europäischen Einigung als auch den europäischen Sozialstaat infrage. Zur Wiedererlangung des Gleichgewichts muss Europa entweder zum Nationalstaat zurückkehren oder einen großen Schritt nach vorn zur politischen Union machen. In Japan ignoriert man die Überalterung der Gesellschaft, anstatt sich ihr zu stellen, und rutscht dadurch auf Kosten des angesammelten Wohlstands in die Rentenfalle. Das Land zehrt von seinen Ersparnissen und denkt kaum daran, wie man der nächsten Generation eine Perspektive für die Zukunft bieten will.

In China muss das bislang äußerst erfolgreiche kader-kapitalistische System zeigen, was in ihm steckt, seit der Druck auf die Mittelschicht gestiegen ist und das Land den Übergang von der wachstumsorientierten Exportwirtschaft zur Konsumsteigerung im eigenen Land meistern und gleichzeitig die sozialen Probleme und Umweltschäden der raschen Entwicklung bewältigen muss. Und in den arabischen Ländern sind Autokratien wie Dominosteine gefallen angesichts des vernetzten Zorns der »Facebook-Jugend« und des Aufbegehrens unterdrückter Islamisten. Selbst in Singapur, dem wohl am effizientesten regierten Staat der Welt, bleibt der seit Langem bestehenden, stark von Lee Kuan Yew geprägten, paternalistischen Demokratie nicht der wachsende Unmut der zunehmend politisch aktiven Bürger des einstigen Bevormundungsstaats erspart.

Auf globaler Ebene werden die Bemühungen der G20, das allgemeine Ungleichgewicht zu korrigieren, permanent durch das Zögern der einzelnen Staaten behindert. Das Lokale und Globale stehen sich in einer Pattsituation gegenüber, obwohl man doch allein schon aus Eigeninteresse und praktischer Vernunft zu einer soliden Zusammenarbeit bereit sein sollte, um das globale Wachstum wieder in Gang zu bringen.

Kurz gesagt bemüht sich jedes System in der postamerikanischen Ära einer neuen Weltordnung um die Wiederherstellung des eigenen Gleichgewichts. Wenn man versteht, wie die derzeitigen Ungleichgewichte infolge einer verstärkten globalen Integration und des technischen Fortschritts entstanden sind, erkennt man auch, welche Institutionen sich am besten dazu eignen, die derzeitige Krise zu bewältigen. Eine ausführliche Analyse der bisherigen Entwicklung würde den Rahmen des Buches sprengen. Doch für unsere Diskussion der besten Regierungsform genügt schon ein kurzer Abriss:

Die »neoliberale« Globalisierung 1.0 unter Führung der USA sorgte nach dem Ende des Kalten Krieges weltweit für Reichtum, auch wenn dieser ungleich verteilt war. Die Märkte wurden geöffnet, Milliarden neue Arbeitskräfte fanden Beschäftigung und konnten ihr Einkommen steigern, um sich selbst aus der Armut zu befreien. Die Verbreitung der neuen Informationstechnologien sorgte für eine massive Produktivitätssteigerung. Im Westen (mit Ausnahme von Deutschland und Japan, die an ihrem produzierenden Gewerbe und vor allem am Maschinenbau festhielten und sich ihr Fachwissen bewahrten) hatte diese Entwicklung eine Aushöhlung der Mittelschicht zur Folge, obwohl die globalisierten Märkte und die Deregulierung eine noch nie dagewesene Konzentration von Reichtum ermöglichten, vor allem im amerikanischen Finanzsektor, der 2005 40 Prozent der Unternehmensgewinne erwirtschaftete.6

Billige chinesische Arbeitskräfte, ein ausgeklügeltes Prozesskettenmanagement, Mikrochiptechnologie und Roboter vernichteten genau die Arbeitsplätze, auf die sich die amerikanische Mittelschicht stützte; eine Entwicklung, die symptomatisch ist für die Auswirkungen auf das gesamte produzierende Gewerbe. Laut einer Studie aus dem Jahr 2012 ist ein Viertel des »Gesamtrückgangs der Arbeitsplätze in der amerikanischen Industrie« in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf den Handel mit China zurückzuführen.7

1960 beschäftigte General Motors 595 000 Mitarbeiter. Unternehmen wie Google und Twitter mögen zwar weltweit aktiv sein und Milliardengewinne erwirtschaften, schaffen aber nur wenige Arbeitsplätze. Facebook beispielsweise wird zwar eine Milliarde Mal am Tag angeklickt, beschäftigt jedoch nur 3500 Mitarbeiter. Apple hat 43 000 Angestellte in den USA, überwiegend im Bereich Design, denn die Produktion erfolgt in China, die iPhones beispielsweise werden von den 1,2 Millionen Arbeitern der Firma Foxconn hergestellt.8

Wie Michael Spence zeigt,9 finden sich 90 Prozent der 27 Millionen neuen Arbeitsplätze, die in den vergangenen 20 Jahren in den USA geschaffen wurden, im Dienstleistungssektor, vor allem im Niedriglohnbereich wie beispielsweise im Einzelhandel und im Gesundheitswesen, oder aber in der öffentlichen Verwaltung, allerdings wurden dort in jüngster Zeit viele Stellen aufgrund der Haushaltskürzungen gestrichen, nachdem die Rezession mit einiger Verzögerung auch die Bundesstaaten und Kommunen getroffen hatte. Dabei ist Bildung der entscheidende Faktor, der darüber bestimmt, auf welcher Seite der sich immer weiter öffnenden Einkommensschere man sich befindet, ob man also einen Niedriglohnjob hat oder eine Stelle im Bereich Informationstechnologie, Design und andere Berufe mit hoher Wertschöpfung.

Laut Raghuram Rajan, dem ehemaligen Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, verfügte das oberste eine Prozent der amerikanischen Bevölkerung im Jahr 2009 über 58 Prozent des Einkommens.10 Seit 1975 sind die Einkommen der obersten zehn Prozent um 65 Prozent stärker gestiegen als die der untersten zehn Prozent der Amerikaner. Diese wachsende Einkommenskluft wurde zwar durch die Steuersenkungen für Reiche während der Regierungszeit von George W. Bush noch verschärft, die strukturelle Ursache ist jedoch in erster Linie in der Dynamik eines globalisierten Arbeitsmarkts mit seinen Niedriglöhnen sowie beim technischen Fortschritt zu suchen, der viele Arbeitsplätze überflüssig machte.

Rajan argumentiert weiter, dass dieses Absinken der amerikanischen Mittelschicht zunächst von der Immobilienblase verdeckt wurde. Der Immobilienboom wiederum wurde von der global verfügbaren Liquidität befeuert, die größtenteils auf chinesischen Ersparnissen basierte und langfristig hohe Zinsen verhinderte. Diese Entwicklung wurde noch zusätzlich durch die lasche Zinspolitik der USNotenbank begünstigt, die bis zum Platzen der Blase 2009 die Immobilienpreise in die Höhe trieb. Der Wunsch, mit den Nachbarn mithalten zu wollen, basierte dabei jedoch nicht auf einem erhöhten Einkommen aufgrund eines ordentlich bezahlten Jobs, sondern auf günstigen Krediten, die mit dem vorhandenen Einkommen nicht mehr abbezahlt werden konnten, sobald die Zinsen stiegen und die Hauspreise in den Keller gingen.

Ähnlich wie die Immobilienblase in den USA den Mythos vom sozialen Aufstieg aufrechterhielt, ermöglichten es die aufgrund der weltweit sprudelnden Liquidität niedrigen Zinsen den EU-Ländern vor allem im Süden Europas, die über den Euro mit deutscher Umsicht und Produktivität in Verbindung gebracht wurden, ein Maß an staatlichen Sozialleistungen und öffentlichen Dienstleistungen aufrechtzuerhalten, das ihre finanziellen Möglichkeiten bei Weitem überstieg. Die massive Schuldenkrise hat nun diese Finanzierungslücke offenbart.

Für China bedeutete die Globalisierung 1.0, dass Hunderte Millionen Menschen, die mühsam ihr Dasein fristeten, in die Megastädte zogen, was dazu führte, dass zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte 50 Prozent der Bevölkerung in Städten leben und dort eine Existenz in der Mittelschicht anstreben. Damit steht das autoritäre Entwicklungsmodell unter enormem Druck, denn die aufstrebende Mittelschicht hofft auf mehr Offenheit, mehr Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht, während die Menschen auf dem Land und die Wanderarbeiter mehr Gleichheit erwarten. Die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit, mit der sich die Bewohner ländlicher Gebiete vor der willkürlichen Beschlagnahmung von Grundstücken schützen wollen, für die sie nur unzureichend entschädigt werden, sorgte vielerorts für Unruhen, am bekanntesten ist sicher der Landkonflikt von Wukan 2011. Auch Proteste gegen die Umweltverschmutzung durch die Industrie wie etwa in Haimen in der Provinz Guangdong 2011 sind mittlerweile weitverbreitet.

Selbst für die wohlhabendsten Chinesen wirft der fieberhafte Materialismus viele Fragen nach dem spirituellen Preis auf, den das einseitige Streben nach Reichtum ihnen abfordert. Daraus ist eine Renaissance des Konfuzianismus und der Suche nach einer erneuerten ethischen Grundlage für die chinesische Gesellschaft geworden.

Die Arbeit bei der Herstellung eines Produkts wie des iPad von Apple ist also nun auf Designer, Zulieferer und Montagearbeiter in verschiedenen Regionen der Welt verteilt – und bringt so die Ermittlung der »Handelsbilanzen« gehörig durcheinander. Doch nicht nur das, auch die alten Vorstellungen von einer Ersten und Dritten Welt wurden durch die Globalisierung 1.0 verwischt und machten Mischformen Platz, bei denen es reiche Länder mit armen Menschen und arme Länder mit reichen Menschen gibt. Durch die Einbindung großer Metropolregionen als Produktionszentren in die globale Arbeitsteilung entstehen vor allem in den Schwellenländern gewaltige Ballungsräume mit einem verwaisten Hinterland; Megastädte so groß wie ganze Staaten.

Im Umgang mit diesen Verwerfungen bahnt China einen Weg, eine Mittelschicht zu etablieren, während man in den USA versucht, die Mittelschicht zu erhalten. Doch die Unzufriedenheit bei den Angehörigen der Mittelschicht ist groß, egal, ob sie sich im Auf- oder im Abstieg befinden, und hat mit den sozialen Medien ein allgemein zugängliches und leicht zu handhabendes Sprachrohr gefunden. Dort kann man seinem Unmut Ausdruck verleihen und Gleichgesinnte mobilisieren, von der Tea Party über die Occupy-Bewegung bis zur Facebook-Jugend auf dem Tahrir-Platz, den Indignados in Spanien und den Weibo-Mikrobloggern in China.

Die Frage nach der zukünftigen Entwicklung konfrontiert uns mit mehreren unauflösbaren Widersprüchen, da die bisherigen Praktiken und vorhandenen Institutionen die weitere Entwicklung behindern.

Nur wenn wir die politischen Systeme neu bemessen und ein gutes Regierungssystem anstreben, können wir dieser umfassenden Lähmung entkommen.