Knights & Heirs 2. Die Erben der Schlange - Rena Fischer - E-Book

Knights & Heirs 2. Die Erben der Schlange E-Book

Rena Fischer

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Beschreibung

Eine Liebe, die alles überwindet Mags' Welt liegt in Scherben. Nicht nur ihre Familie, sondern auch Cyrus hat sie belogen. Weder ihm noch den Knights kann sie länger trauen. Sie flieht von der Akademie, um mehr über ihre Kräfte und die Geheimisse der Loge herauszufinden. Die Suche führt Mags und ihre Freundin Stella zu den Rivalen der Knights, den Heirs of the Serpent. Was sie von ihnen erfahren, stellt alles auf den Kopf, was Mags zu wissen geglaubt hat. Währenddessen sind die Hunter der Knights Mags bereits auf den Fersen. Unter ihnen auch Cyrus, dessen Gefühle für Mags seine Loyalität infrage stellen. Wie wird sein Herz entscheiden, wenn er Mags erneut gegenüber steht? Knights & Heirs 2. Die Erben der Schlange: Das packende Finale der Romantasy-Dilogie - Urban Fantasy im Academy Setting: Mitreißendes Young Adult-Buch über ein Mädchen im Kampf gegen einen mächtigen Geheimbund für Leser*innen ab 14 Jahren. - Starke Protagonistin: Die mutige Mags nutzt ihre übernatürlichen Kräfte um sich den Machenschaften einer gefährlichen Geheimloge entgegenzustellen. - Verbotene Leidenschaft: Aus Liebe zu Mags stellt Cyrus seine Loyalität zu seiner Familie in Frage. - Einzigartige Mischung: Eine fesselnde Romantasy mit Mysterien, Intrigen und Academy Vibes. - Spannung pur: Der Young Adult-Roman ist die perfekte Lektüre für Fans von Kerstin Gier und Kira Licht. Die Romantasy-Dilogie "Knights & Heirs" spielt in einer düsteren Welt voller Geheimnisse und bedrohlicher Mächte. Im Kampf um ihre Liebe müssen Megs und Cyrus die Kluft zwischen ihren verfeindeten Familien und zwei rivalisierenden Geheimlogen überwinden.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch

Mags’ Welt liegt in Scherben. Nicht nur ihre Familie, sondern auch Cyrus hat sie belogen. Weder ihm noch den Knights kann sie länger trauen. Sie flieht von der Akademie, um mehr über ihre Kräfte und die Geheimisse der Loge herauszufinden. Die Suche führt Mags und ihre Freundin Stella zu den Rivalen der Knights, den Heirs of the Serpent. Was sie von ihnen erfahren, stellt alles auf den Kopf, was Mags zu wissen geglaubt hat.

Währenddessen sind die Hunter der Knights Mags bereits auf den Fersen. Unter ihnen auch Cyrus, dessen Gefühle für Mags seine Loyalität infrage stellen. Wie wird sein Herz entscheiden, wenn er Mags erneut gegenüber steht?

 

Band 2 der fesselnden Romantasy-Dilogie

Rena Fischer

Knights & Heirs

Die Erben der Schlange

Teil 1

»To be yourself in a world

that is constantly trying to make you something else

is the greatest accomplishment.«

(Ralph Waldo Emerson)

Kapitel 1Mags

»Wie Dädalus schmiede ich mir Flügel; ich setze sie allmählich zusammen, indem ich täglich eine neue Feder hinzufüge.«

Silberne Inschrift auf der nachtblauen Holzschatulle von Asher Moore

Nie.

Ein Wort, drei Buchstaben lang, schlägt durch meine Gedanken wie eine Abrissbirne, hinterlässt Löcher, wo vorher Hoffnung herrschte, und bringt alles, woran ich mich in den letzten Wochen geklammert habe, zum Einsturz.

Ich werde meine Eltern nie kennenlernen.

Nie werde ich sie fragen können, warum sie mir den Namen Margaret gegeben haben, obwohl die Geheimgesellschaft, der sie angehörten, ihre Kinder nach Sternen und Weltraumphänomenen benennt. Niemals werde ich in ihre Gesichter sehen und überlegen können, ob ihr Lachen meinem gleicht und ob meine Ma ihre Haare ebenso schwungvoll über die Schulter wirft wie ich. Sie wird mich nie tröstend in den Arm nehmen können und mein Dad mich nicht stolz irgendwann zur Hochzeit führen. Nicht dass ich darüber nachgedacht hätte, in absehbarer Zeit zu heiraten. Und ich weiß auch nicht, ob das jemals passieren wird.

Ich bin mit der Hoffnung, meine Eltern kennenzulernen, nach Nathair Manor gekommen, und jetzt wäre ich schon froh, die nächsten Stunden zu überleben, ohne wieder als Versuchskaninchen auf Dr. Ripleys Krankenstation zu enden. Cyrus und sein Vater haben mich belogen. Meine Eltern sind tot.

Cyrus. Ich schiebe den Gedanken an ihn weit von mir.

Die Riemen von Andrews Rucksack schneiden in meine Schultern und erinnern mich an die letzten Augenblicke im Med Center mit ihm. Ich zwinge mich, nicht daran zu denken, was jetzt mit Andrew geschieht. So hätte es nicht laufen sollen. Wenn nicht gerade in dem Moment, als ich das Med Center verlassen wollte, Ripley, Castor und Ophelia aufgekreuzt wären, hätte der junge Assistenzarzt bestimmt kurz nach mir fliehen können.

Ich gehöre zu den Heirs.

Andrews Worte lassen mich nicht mehr los. Sie sind eines der Bruchstücke, die ich noch nicht richtig zuordnen kann. Was bedeuten sie? Sind diese Heirs eine Organisation wie die Knights? Und was hat der Mann, den ich bislang für meinen Dad gehalten habe – Moore –, mit ihnen zu tun? Ist er ihr Anführer? Und warum überhaupt »Heirs«? Erben wovon?

Tränen brennen in meinen Augen, als ich die Hände zu Fäusten balle. Seit meiner Kindheit wurde ich belogen, und jetzt muss ich die Wahrheit aus all den verstreuten Scherben um mich herum zusammensetzen.

Ein stechender Schmerz zieht durch meine linke Seite, erinnert mich an meine aktuelle Lage. Hätte mich Castor nicht verletzt, wäre es sicherlich leichter, mit der Uraeuskraft zu laufen. Sie erlaubt mir, mich in einer anderen Zeitdimension zu bewegen als andere Menschen. In meiner Zeitmatrix ist die Welt um mich herum nahezu eingefroren, während ich gegen eine unsichtbare Strömung anzukämpfen scheine. Die Luft ist dick, und jede Bewegung kostet mich mehr Kraft als sonst.

Schwer atmend erkenne ich, dass die Landstraße, der ich folge, eine Kurve macht, und mein Herz schlägt sofort schneller. Jedes Mal wappne ich mich dagegen, dass hinter der Biegung jemand lauern könnte. Die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf, und unter dem dünnen Schweißfilm auf meiner Haut breitet sich Gänsehaut aus. Ich spanne jeden Muskel an und lausche auf das kleinste Geräusch: das Knirschen meiner Sneakers auf dem Asphalt, das Rascheln meiner Kleidung und meinen eigenen lauten Atem. Insekten schwirren in der Luft, und irgendetwas raschelt im Weizenfeld neben mir. Eine Maus? Ein Feldhase? Oder vielleicht doch ein Hunter der Knights, der nur darauf wartet, mich k.o. zu schlagen und zurückzubringen?

Im nächsten Augenblick zieht die Kurve an mir vorüber, die Landstraße liegt wieder offen vor mir und mein Herzschlag normalisiert sich.

Nachdem ich das Grundstück von Nathair Manor verlassen habe, bin ich Richtung London gelaufen. Die Wege, die von Nathair Manor wegführen, habe ich mir in den ersten Wochen meiner Ankunft genau angesehen, sobald ich meinen Laptop bekommen hatte. Trotzdem fällt es mir schwer, das Gefühl abzustreifen, dass ich verfolgt werde. Dabei sollte mir eigentlich klar sein, dass mir noch kein Hunter auf den Fersen sein kann. Solange ich mich mit der Uraeuskraft bewege, bin ich ihnen einen Schritt voraus.

Leider ist mir auch bewusst, dass mein Vorsprung schmelzen wird, sobald die Wirkung der Uraeusblautabletten nachlässt. Also habe ich, kurz bevor das passierte, die nächste aus einer der Kapseln, die ich Ophelia und Castor geklaut habe, eingenommen und danach noch mehr. Mit ihnen kann ich theoretisch unendlich lang in dieser Matrix bleiben und meinen Vorsprung weiter ausbauen. Aber ich habe keine Ahnung, wie oft ich hintereinander diese Pillen nutzen kann, bevor ich bewusstlos werde. Wie damals im Wald mit der Überdosis, die der Uraeus mir verabreicht hat. Cyrus’ Vater und Chef der Geheimloge, dem ich blind vertraut habe.

Ich atme tief durch und bemühe mich darum, möglichst gleichmäßige Bewegungen zu machen, um kein Seitenstechen zu bekommen. Wie viel Zeit genau vergeht, während ich in der Zeitmatrix stecke, ist schwer einzuschätzen. Ich beginne, meine Schritte zu zählen, versuche, meine Laufgeschwindigkeit herauszufinden, suche nach Meilenangaben auf Schildern.

Doch dann überwältigen mich wieder all die verwirrenden Gefühle für Cyrus, und ich gebe das Rechnen auf. Er ist der Sohn des Uraeus’, wird seinem Vater immer treu ergeben sein und ist somit mein Feind. Trotzdem hat er mir zur Flucht verholfen. Ohne seine Uraeusblautablette und Andrew wäre es mir nie gelungen, zu entkommen.

Und ohne Cyrus wärst du auch gar nicht erst in diese Lage geraten, erinnert mich eine innere Stimme.

Ich wünschte, ich könnte sie zum Schweigen bringen, aber Cyrus hat mich bereits in Deutschland belogen. Er wusste die ganze Zeit über, dass meine Eltern nicht mehr leben, und trotzdem hat er mich zu seinem Vater und nach Nathair Manor gelockt und mich in dem Glauben gelassen, ich würde sie wiedersehen. Und das alles nur, weil ich ohne das Uraeusblau die Kraft der Schlange nutzen kann und die Knights wissen wollen, wie das möglich ist. Ich bin ihr Versuchskaninchen geworden.

Das kann ich Cyrus nicht einfach verzeihen!

Mein Magen krampft sich zusammen, wenn ich an den Uraeus und all die Menschen im Med Center denke, von denen ich noch nicht weiß, was sie überhaupt mit mir vorhatten.

Und dann ist da meine brennende Wut auf Dad. Moore. Der Mann, der mich großgezogen hat, ohne mir jemals zu sagen, dass er gar nicht mein richtiger Vater ist. Den ich früher für einen gutmütigen, leicht zerstreuten Archäologen gehalten habe – bis die ganze Geheimnistuerei anfing. Bis wir plötzlich nach Deutschland gezogen sind, falsche Pässe bekamen und ich mich nicht einmal von meinen Freunden verabschieden durfte.

Ich rufe mir unsere letzten Momente ins Gedächtnis zurück. Wie Dad sich ohne Vorwarnung wie ein ausgebildeter Nahkämpfer auf Cyrus stürzte. Klar, er wusste, dass Cyrus kein harmloser Austauschschüler aus England ist. Ebenso wenig wie Ma wirklich meine Mutter. Oder Liam mein Bruder. Aber ICH hatte keine Ahnung von alledem.

Ich versuche, mir vorzustellen, wie Moore mich als Baby auf dem Arm trägt, während er durch die Wildnis stapft, weg von einem rauchenden Wrack eines Privatjets. Hinter uns meine leiblichen Eltern, die er ihrem Schicksal überlässt. So viel hat Cyrus mir erzählt. Aber was genau ist passiert? Haben sie den Absturz überlebt und sind erst später an ihren Verletzungen gestorben? Das Bild ist so surreal, so grauenvoll und falsch, passt dermaßen wenig zu dem Menschen, den ich bisher als Dad gekannt habe, dass ich um ein Haar das Fellbündel auf der Landstraße übersehe und stolpere. Ich richte den Strahl meiner Taschenlampe nur für Sekunden darauf. Sie reichen aus, um geronnenes Blut auf rostrotem Fell wahrzunehmen. Anklagende Augen, die meinen Blick nicht mehr erwidern können. Ein heiseres Schluchzen entschlüpft meiner Kehle, bevor ich einen großen Bogen um den überfahrenen Fuchs mache und weiterrenne. Weiteratme. Weiterlebe.

Schließlich erkenne ich in der Ferne etwas Großes, Rücklichter leuchten rot in einer Nebelbank, die die feuchte Straße vor mir verschluckt. Im Näherkommen mache ich ein Auto mit Anhänger aus. Hinter dem Steuer sitzt ein Mann mit abgetragenem Overall, das Gesicht wettergegerbt und der Mund zu einem Gähnen verzogen. Er wirkt erschöpft, wahrscheinlich ist er nach einem langen Arbeitstag auf dem Heimweg. Vor den Scheinwerfern hängen Mücken in der Luft wie eingefroren.

Vorsichtig bewege ich mich am Straßenrand um das Auto herum, ohne in die Nähe der Motorhaube zu kommen. Es stellt zwar im Moment keine Gefahr dar, aber ich weiß, was passiert, wenn meine Uraeuskraft plötzlich versiegt. In Deutschland hat Cyrus in letzter Sekunde mein Leben gerettet, als ich mit dem Fahrrad fast von einem Auto erfasst worden wäre. Hier jedoch würde mir niemand zu Hilfe kommen.

Im Vorbeigehen fällt mein Blick durch das Beifahrerfenster, und auf einmal schießt mir eine Idee durch den Kopf. Ich bleibe abrupt stehen und drehe um. In der Mittelkonsole steckt ein Thermosbecher, und auf dem Sitz neben dem Fahrer liegen eine Packung Sandwiches und ein Smartphone. Prompt knurrt mein Magen laut, und ich zögere. Ist es wirklich klug, Spuren zu hinterlassen? Andererseits wird der Mann vermutlich denken, er hätte seine Brotzeit einfach zu Hause vergessen.

Rasch öffne ich die Beifahrertür, greife mir die Sandwiches und lasse sie in den Rucksack gleiten. Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern wird, bis ich mich wieder unter Menschen wagen kann. Besser, ich lege mir einen Vorrat an. Ich schnappe mir den Thermosbecher und trinke den lauwarmen Tee in einem Zug aus. Als der Becherrand meine Nase berührt, stöhne ich schmerzerfüllt auf und stelle ihn hastig zurück. Dann klappe ich die Sonnenblende mit dem kleinen Spiegel herunter.

Oh, verdammt!

Getrocknetes Blut klebt an meiner geschwollenen Nase, zieht sich über Mund und Kinn. Die rechte Wange ist aufgeschürft, und ein blauer Fleck breitet sich dort aus. Castors Faust hat ganze Arbeit geleistet! Vor meinem inneren Auge taucht wieder sein hasserfülltes Gesicht auf, und in meinen Ohren hallt sein Schrei wider: Spuck’s aus!

Natürlich habe ich ihm diesen Gefallen nicht getan und Cyrus’ Uraeusblau heruntergeschluckt. Danach habe ich mir seine und Ophelias Kapseln geschnappt. Von den ursprünglich zwölf Tabletten sind jetzt noch sechs übrig. Ich sollte wirklich sparsamer damit umgehen, aber die Angst, dass die Hunter mich einholen, ist einfach zu groß.

Während ich spüre, wie die Kraft der Schlange langsam schwindet, fällt mein Blick auf den Anhänger hinter dem Wagen. Plötzlich habe ich eine Idee. Ich schließe die Beifahrertür, schleppe mich erschöpft zum Anhänger und ziehe den Reißverschluss der Abdeckung an einer Seite auf.

Im Inneren entdecke ich Werkzeugkoffer, Farbkübel, Bretter und Möbeldecken, die ordentlich gestapelt und mit Gurten fixiert sind. Ohne zu zögern, klettere ich hinein, ziehe den Reißverschluss hinter mir zu und öffne mit zitternden Fingern die Gurtschnallen. Erschöpft schnappe ich mir die Möbeldecken und breite sie aus, ehe ich mich auf das Lager sinken lasse.

Mit viel Glück bringt mich der Fahrer ein gutes Stück näher an London heran, während ich mich ein wenig ausruhen kann. Ein bisschen Schlaf würde mir guttun, und ich könnte die Uraeusblautabletten sparen. Aber sollte ich Pech haben, öffnet der Mann den Anhänger, sobald er ankommt oder, noch schlimmer, die Hunter halten ihn unterwegs an und durchsuchen alles.

Doch mir bleibt keine andere Wahl. Die ersten Geräusche dringen bereits durch die dichte Stille meiner Uraeuskraft. Ein Ruck geht durch das Fahrzeug, der Asphalt summt unter den Reifen, und ich gleite in die erlösende Dunkelheit.

Kapitel 2Cyrus

Noch immer kann ich nicht fassen, was Jerry für mich getan hat. Mit zitternden Fingern taste ich nach der Kapsel mit den Uraeusblautabletten tief in meiner Tasche. Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder, wie mein bester Freund blitzschnell danach und nach dem Blatt Papier mit unseren brisanten Notizen greift und ins Badezimmer verschwindet – genau in dem Moment, als Castor an die Tür unseres Zimmers im Hunterquartier klopft, um mich zum Krisentreffen der Knights zu holen.

Jerry hat heimlich die beiden fehlenden Uraeusblautabletten in meiner Kapsel mit seinen eigenen ergänzt, obwohl er genau wusste, was das für ihn bedeutet. Zusammen mit der Tablette, die er Mags zugesteckt hat, sind das drei fehlende Tabletten, und nun gilt er als Verräter. Der Befehl meines Vaters, ihn zum Verhör zu bringen, hallt noch immer in meinem Kopf wider, wie ein Gift, das sich langsam in meine Gedanken frisst. Aber der Befehl kam zu spät. Und jetzt sitze ich hier im Sanctum wie auf Kohlen und klammere mich verzweifelt an den Strohhalm, dass Jerry schon weit genug weg ist. Vielleicht sind Mags und er sogar gemeinsam abgehauen? Das weckt einen Funken Hoffnung in mir.

Jerry ist ein erfahrener Hunter. Er wird wissen, was zu tun ist, um nicht entdeckt zu werden. Aber wenn Mags nicht bei ihm ist? Das, was wir über ihre Flucht erfahren haben, spricht nicht dafür. Mein Vater hatte Dr. Ripley zusammen mit Ophelia und Castor zu ihr geschickt, um ihr seine neuesten Pläne kundzutun. Oder die Version, die für ihre Ohren bestimmt ist. Dass es einen Geiselaustausch geben und sie Moore für uns künftig ausspionieren soll. Ich bezweifle, dass Ophelia ihr erzählt hätte, dass sie bei dieser Übergabe möglichst viele Heirs töten sollte.

Das Handy meines Vaters klingelt und unterbricht sein Gespräch mit Acrux, dem ich schon seit einer Weile nicht mehr gelauscht habe. Zu sehr nagt die Sorge um Mags und Jerry an mir. Jetzt aber richte ich mich auf und fokussiere meinen Vater, der das Telefonat auf laut stellt, damit ich und alle eilig wieder einberufenen Knights dem Gespräch mit Castor folgen können.

Aus der ursprünglich anberaumten Abendsitzung ist eine nervöse Dauerdebatte geworden, die nun schon die ganze Nacht lang währt. Es kostet mich jede Faser meiner Selbstbeherrschung, still dazusitzen und mich nicht selbst auf die Suche nach Mags und Jerry zu machen.

»Was soll das heißen, ihr könnt sie nicht finden? Willst du mir ernsthaft erzählen, dass ein völlig untrainiertes, unwissendes Mädchen einem ganzen Trupp jahrelang ausgebildeter Hunter entkommen kann?«, blafft mein Vater Castor an.

Ich unterdrücke gerade noch rechtzeitig ein erleichtertes Aufatmen.

»Es tut mir leid, Sir. Aber zumindest haben wir Jericho geschnappt.«

Verdammt! Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen.

»Bringt ihn her. Ich muss wissen, ob er Kontakt zu den Heirs hatte und Margarets Flucht geplant hat. Außerdem will ich ihn mit Andrew konfrontieren. Gibt es Neuigkeiten von Ophelia?«

Ich möchte schreien, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Jerry ist kein Verräter! Bis vor Kurzem war er der loyalste und gewissenhafteste Hunter, den man sich vorstellen konnte. Die Knights waren alles für ihn. Ich weiß nicht, ob er bei Mags’ Flucht mitgewirkt hat. Auf jeden Fall aber hat er die Uraeusblaupillen nur ausgetauscht, um mich zu retten. Nachdem du ihn zuvor belogen und ihm nichts von Mags’ wahrem Hintergrund erzählt hast. Ich schlucke schwer.

»Einen Augenblick.« Ich höre Gemurmel, dann das leise Rauschen von Regen, bevor Castors Stimme erneut durch den Lautsprecher hallt. »Ophelia hat Margaret ebenfalls nicht gefunden, Sir. Wir vermuten, dass sie einen beträchtlichen Vorsprung hat, weil sie mehrere unserer Uraeusblautabletten hintereinander geschluckt hat. Wir teilen gerade die Hunter auf. Einige durchkämmen weiter die umliegenden Straßen, andere machen sich Richtung London auf und positionieren sich strategisch auf den Zufahrtsstraßen. Aber uns fehlen die Befugnisse, um alle Autos zu kontrollieren.«

Als ich diese Worte höre, beginnt mein Herz zu rasen. Jede Sekunde zählt jetzt, und ich kann nur hoffen, dass Mags weit genug weg ist, damit sie sie nicht aufspüren können.

Mein Vater schnaubt abfällig. »Das ist das kleinste Problem. Ich werde unseren Leuten bei der Polizei erzählen, dass wir nach einem Entführer suchen, der Margaret als Geisel genommen hat.«

Acrux räuspert sich. »Und nach einem Mörder.«

Mein Kopf fährt blitzschnell zu ihm herum, und ein eisiger Schauer läuft mir über den Rücken, als ich seine Miene sehe. »Was …«, flüstere ich, obwohl ich die Antwort doch schon ahne.

»Die Befragung war gründlich. Okafor kann sich Andrews Leiche gern ansehen und dann entscheiden, ob er kooperativer sein möchte oder ob er ihm Gesellschaft leisten will.«

In diesem Moment bricht etwas in mir. Meine Selbstbeherrschung fällt in sich zusammen, und ich schnelle mit einem Aufschrei hoch. Ich umrunde den Tisch, meine Augen fest auf Acrux, unseren Knight für den Nordamerikadistrikt, gerichtet. »MONSTER!«, brülle ich und will die letzten Meter gerade überwinden, doch da packt mich mein Vater grob an den Schultern und stellt sich mir in den Weg.

»SETZDICHWIEDER, CYRUS!«, schreit er mich an.

»Andrew war einer von uns! Und Acrux hat … er hat …«

»Nur die Befehle deines Vaters ausgeführt«, tönt er im Hintergrund, aber ich beachte ihn nicht, sondern werfe Dad einen entsetzten Blick zu.

»Willst du das einfach so durchgehen lassen? Was ist mit Andrews Familie? Was wirst du seinen Eltern sagen?«

»Das ist nicht deine Angelegenheit.« Nichts in seiner Miene deutet darauf hin, dass er diesen Vorfall bedauert.

»Dad! Ich glaube an die Knights!«, erkläre ich in einem weiteren Versuch, zu ihm durchzudringen. »Wie kann es nicht mein Problem sein, was hier passiert? Ist es das, was du aus unserem Orden machen willst? Einen Spielplatz für kranke Sadisten? Dann bin ich raus!«

Meine Worte prallen an der Maske des Uraeus’ ab und erreichen nicht den Vater dahinter. Vielleicht ist er schon zu lange verschwunden. Oder es hat ihn nie gegeben, und ich habe mir diese selten hervorkommenden Vatergefühle nur eingebildet.

»Du lässt dich gehen, Cyrus! Dein Verhalten ist dramatisch und völlig fehl am Platz. Andrew hat sich als Mitglied der Heirs entpuppt. Was glaubst du, was unseren Leuten passiert, wenn sie in deren Hände fallen? Denk an Mags’ Eltern. Wir befinden uns im Krieg. Die Sicherheit, die wir euch jungen Menschen hier auf Nathair Manor bieten, ist purer Luxus. Sie soll euch Raum geben, um euch auf eure eigentliche Aufgabe vorzubereiten – unseren Kampf gegen die Heirs.«

»Das rechtfertigt doch nicht, dass wir …«

»Genug! Reiß dich zusammen, oder ich lasse dich auf dein Zimmer bringen und unter Arrest stellen. Du wirst von unseren Sitzungen ausgeschlossen, wenn das so weitergeht. Das hier sollte deine Chance sein, zu beweisen, dass du das Zeug zu einem Knight hast. Stattdessen willst du beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten den Orden verlassen? Du enttäuschst mich maßlos!«

Ich schnappe nach Luft. Das Blut rauscht in meinen Ohren. »Ich enttäusche dich?«, bringe ich heiser hervor, fassungslos darüber, wie er die Tatsachen verdreht.

»Benimm dich endlich wie ein Erwachsener! Ich bin sicher, dass Acrux nicht die Absicht hatte, Andrew zu töten.« Sein Blick wandert zu dem Knight.

Ich muss mich nicht umdrehen, um mir Acrux’ gelangweilte Miene anzusehen, ich habe sie auch so vor Augen.

»Natürlich nicht«, erwidert dieser mit kaum verhohlenem Sarkasmus. »Es war ein bedauerlicher Unfall. Dr. Ripley wird bestätigen, dass Andrews plötzliches Herzversagen auf eine frühere Erkrankung zurückzuführen ist.«

Er war ein kerngesunder junger Mann! Ripley würde sogar behaupten, dass Andrew ein zweiköpfiger Außerirdischer war, sobald mein Vater es ihm befiehlt. Ich ringe darum, mich zu beruhigen. Hier einen Aufstand zu machen, bringt mich nicht weiter. Wenn ich etwas für Mags oder Jerry tun will, darf ich nicht riskieren, von Sitzungen wie diesen ausgeschlossen oder sogar unter Arrest gestellt zu werden. Meine Kiefer mahlen aufeinander, und es kostet mich jede Menge Selbstbeherrschung, mich umzudrehen, Acrux ins Gesicht zu sehen und kühl zu erwidern: »Wenn das so ist, entschuldige ich mich natürlich für meine unbedachten Worte. Ich kannte Andrew, und es fällt mir einfach schwer zu glauben, dass er ein Verräter war und mit den Heirs im Bunde stand.«

Eine Lüge. Nichts tut mir leid. Doch ich muss jetzt an meine Freunde denken. Wie betäubt einen Fuß vor den anderen setzend, kehre ich an meinen Platz zurück, während mir Estrella ein verständnisvolles Lächeln schenkt, das mich aber nicht täuscht. Sie ist genauso skrupellos wie mein Vater; sonst hätte sie das verhindert.

Nachdem ich mich gesetzt habe, balle ich meine zitternden Hände unter dem Tisch zu Fäusten. Alle hier Anwesenden haben sich an diesem Mord beteiligt, indem sie Acrux gewähren ließen. Wann hat dieser Kerl eigentlich so viel Einfluss bei uns gewonnen? Hat er vielleicht etwas gegen die anderen Knights in der Hand?

In einem Punkt gebe ich meinem Vater jedoch recht. Ich hätte niemals die Beherrschung verlieren dürfen. Daran muss ich arbeiten, wenn ich künftig diejenigen schützen will, die mir wichtig sind.

Während mein Vater die Anweisung teilt, Mags’ Foto und ihre Daten an seine Kontakte bei der Polizei und dem MI6 zu schicken, wandert mein Blick zum Monitor über dem Konferenztisch. Keiner der Knights aus Afrika, Asien oder Australien, die an der Sitzung teilnehmen, scheint sich auch nur im Geringsten für Andrews Schicksal zu interessieren. Sie wirken erschöpft, als könnten sie es kaum erwarten, dass diese endlose Besprechung aufhört.

»Für heute beende ich die Sitzung, morgen sehen wir weiter«, verkündet mein Vater schließlich.

Ein erleichtertes Aufatmen geht durch die Reihen. Duquesa Estrella und Acrux stehen fast zeitgleich auf, während ich auf die Tischplatte starre, als könnte sie mir die Antworten auf all meine Fragen enthüllen, wie die leuchtende Sternenkarte auf dem Tisch.

»Cyrus, du bleibst, wir müssen reden!«

Das war zu erwarten. Es reicht meinem Vater nicht, mich vor allen anderen zu demütigen. Aber egal, was er mir jetzt noch sagen könnte, es trifft mich nicht mehr so tief wie Andrews Tod und die quälende Angst um Mags und Jerry. Ich hebe den Kopf und sehe in dunkle kastanienbraune Augen. Graf Cielo Conti, der mir gegenübersitzt, hat aufgehört, ins Leere zu starren. In den letzten Stunden hat er mehr Whiskey getrunken als mein Vater in einem ganzen Monat. Die Flasche ist fast leer. Doch jetzt ist sein Blick klar und scharf, und er bohrt sich direkt in mein Herz.

***

Nur wenige Minuten nach den Knights verlasse ich das Sanctum, und ein Würgereiz steigt in mir auf. Ich habe meinen Vater unterschätzt. Wieder einmal. Dabei habe ich oft genug miterlebt, wie skrupellos er sein kann. Zuletzt in Schnitters Park.

Während ich an den im Schein der Laternen glänzenden Luxuslimousinen der Knights vorbeigehe und in Richtung Hunterquartier marschiere, knirscht der Kies laut unter meinen Füßen. Zum Glück haben Estrella, Cielo und Acrux bereits ihre Gästezimmer im Manor bezogen und unterhalten sich nicht auf dem Platz – wie ich befürchtet habe. Cielos eigenartiger Blick will mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Lag darin eine Anklage wegen Leo? Schnell verdränge ich den Gedanken.

Regenfeuchte Luft schlägt mir entgegen, aber der Nachthimmel hat sich wieder aufgeklart, nur ein paar vereinzelte Wolken ziehen träge über mir hinweg. Hinter den Bäumen des Parks zeichnet sich schon das erste schwache Licht der Morgendämmerung ab. Plötzlich höre ich ein kurzes Pfeifen rechts von mir, und ich wirble herum. Mein Blick wandert zum Heckenlabyrinth. Das muss Orion sein! Rasch verlasse ich den beleuchteten Platz und schlüpfe hinter das dichte Gestrüpp aus Immergrün und Rosen. Der vielversprechendste Dazzler meines Teams hat mir versprochen, mehr über die Zusammensetzung der Uraeusblautabletten herauszufinden, die mein Vater Mags untergeschoben hat und die definitiv nicht den unseren entsprachen.

Trotzdem habe ich jetzt schon ein schlechtes Gewissen, dass ich Orion und Pollux in meinen Widerstand gegen meinen Vater hineinziehe. Nach dem, was mit Leo geschehen ist, habe ich meine Dazzler in der Vergangenheit bewusst auf Abstand gehalten, zu ihrem eigenen Schutz. Reicht schon, dass mein Vater von meiner Freundschaft mit Jericho weiß. Aber jetzt schaffe ich es nicht mehr allein. Erst recht nicht, wenn Jerry als Stütze wegfällt und in Lebensgefahr schwebt.

Entschlossen lenke ich meine Gedanken zurück zur aktuellen Situation. Vielleicht hat Orion inzwischen herausbekommen, was Dr. Ripley mit Mags vorhat und welchen Zweck mein Vater mit all diesen medizinischen Experimenten verfolgt.

Doch von dem Dazzler meines Teams fehlt hinter der Hecke jede Spur; trotz des fahlen Mondlichts kann ich niemanden im Dickicht ausmachen. Habe ich mir den Pfiff etwa nur eingebildet? Angespannt gehe ich ein paar Schritte weiter, ziehe mein Handy aus der Tasche und will gerade die Taschenlampe einschalten, als plötzlich eine Hand aus dem Gestrüpp hervorschnellt. Sie packt mich am Hemd und reißt mich brutal in die Dornen der Rosenhecke.

Ein schmerzerfülltes Keuchen entweicht mir, als ich das scharfe Brennen an meiner Schulter spüre und warmes Blut meinen Oberarm hinunterläuft. Bevor ich mich jedoch losreißen und zurückschlagen kann, lässt mich eine Stimme mit italienischem Akzent erstarren.

»Kein Wort zu niemandem, Cyrus! Geh zum Schein auf dein Zimmer und schluck das verdammte Uraeusblau. Dann komm zurück und steig in den Kofferraum meines Wagens! Hier, nimm!«

Cielo Contis Griff lockert sich, noch ehe ich reagieren kann. Ich kann ihn nur schemenhaft erkennen, aber er drückt mir etwas in die Hand. Sekunden später höre ich das Rascheln von Blättern und das leise Knirschen seiner sich entfernenden Schritte auf dem Kies. Dann ist er verschwunden.

Schwer atmend stehe ich da und versuche zu begreifen, ob der Graf den Verstand verloren hat oder ob er stockbetrunken ist. Der Geruch von Whiskey haftete an ihm. Andererseits – für jemanden, der betrunken ist, waren seine Bewegungen erstaunlich präzise. Neugierig öffne ich die Hand und leuchte mit der Handytaschenlampe auf den Gegenstand, den Conti mir überlassen hat. Es ist eine kleine Metalldose mit der Aufschrift London und einem gemalten Bild des Big Ben. Als ich sie öffne, entdecke ich darin eine blaue Pille.

Hat er mir etwa eine seiner eigenen Uraeusblautabletten gegeben, für den Fall, dass mein Vater wieder einmal auf die Idee kommt, meine nachzuzählen? Instinktiv taste ich nach der Kapsel in meiner Tasche – und erstarre. Sie ist weg.

Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Ich war oft bei Leo, Contis jüngstem Sohn, zu Gast und habe den Mann als einen unserer stärksten Knights erlebt. Einmal habe ich ihn beim Training mit seinem Sohn beobachtet und war zutiefst beeindruckt von seinen Fähigkeiten. Nach Leos Unfall ist Conti tief gefallen, aber das ändert nichts daran, dass er einst ein brillanter Kämpfer und Stratege war. Dass er auch noch als Meisterdieb durchgehen könnte, ist mir neu. Wie zur Hölle ist es ihm gelungen, die Kapsel unbemerkt aus meiner Tasche zu fischen? Oder habe ich sie etwa verloren? Ich leuchte den Boden ab, aber da ist nichts. Will er mich in eine Falle locken? Conti hätte allen Grund dazu, mich zu hassen. Schließlich habe ich Leo vor zwei Jahren nicht beschützt, so wie es ein bester Freund hätte tun sollen.

Der Gedanke an Leo reißt alte Wunden auf und lässt mich innehalten. Graf Contis jüngster Sohn hat damals Ophelia und mich zu dem verlassenen Schloss unseres ehemaligen Uraeus’, Saros Schnitter, begleitet. Dort hat mein Vater mir anschaulich demonstriert, was passiert, sollte ich zulassen, dass Freunde für mich einstehen und für mich lügen. Wenn ich es wage, unseren Treueschwur zu brechen.

Ich gelobe, niemals zu lügen und stets zu meinem gegebenen Wort zu stehen.

Das unheilvolle Krachen von Holz, Leos Schrei voller Todesangst und das dumpfe Knacken, als er ungesichert vom Kletterparcours in die Tiefe stürzte und seine Knochen beim Aufprall brachen, hallen in meinen Ohren wider.

Ein Frösteln läuft mir über den Rücken, und ich schlucke den bitteren Geschmack in meinem Mund hinunter. Im nächsten Moment höre ich ein Geräusch – das Zuschlagen von Autotüren und das tiefe Brummen eines startenden Motors. Erschrocken reiße ich mich aus meinen düsteren Erinnerungen, laufe zum Hunterquartier und stopfe meinen Hoodie in die Eingangstür, damit sie nicht gleich ins Schloss fällt. Denn dann müsste ich sie mit Gesichtsscan wieder öffnen und mein Vater wüsste, dass ich das Quartier verlassen habe.

Auch bei meiner Zimmertür stelle ich einen Trainingsschuh, den ich mir von unserer Garderobe schnappe, zwischen den Spalt, sobald ich mich eingeloggt habe.

Ich laufe zum Fenster, öffne es nur wenige Zentimeter, damit ich später so wieder ins Zimmer komme. Dann schnappe ich mir das Uraeusblau aus der Metalldose. Ich habe keine andere Wahl. Erstens muss ich herausbekommen, ob wirklich Conti mir meine Kapsel mit den dank Jerry vollzähligen Uraeusblaupillen abgenommen hat. Möglichst bevor meinem Vater wieder einfällt, sie zu zählen. Zweitens bin ich es Leo schuldig, seinen Vater anzuhören, was auch immer der plant.

Kaum entfaltet das Uraeusblau seine Wirkung, höre ich das Brummen des Motors von Contis Jaguar so laut, dass ich mir am liebsten die Ohren zuhalten würde. Auch meine Sicht schärft sich. Es ist immer wieder ein überwältigendes Gefühl, wenn das Uraeusblau mir die Fähigkeit verleiht, mich im Dunkeln wie ein Raubtier auf nächtlicher Jagd zu bewegen. Aber mein Fokus liegt auf der Matrix – dem Netz aus Zeit, dessen kaum wahrnehmbare Fäden im Sonnenlicht golden wirken und jetzt, im Mondschein, silbern am Rande meines Sichtfelds aufglimmen.

Ich atme tief durch und strecke die Hand danach aus, während die Limousine des italienischen Knights schon losrollt. Dann kicke ich den Trainingsschuh zurück ins Zimmer, quetsche mich durch die zufallende Tür, renne den Gang hinunter zum Eingang, wo ich mir meinen Hoodie aus der Türsperre schnappe, und schlüpfe nur wenig später in Contis Kofferraum. Anschließend kehre ich zurück in meine Zeitebene.

Wir fahren eine gefühlte Ewigkeit über die Landstraße. Das Hochspritzen von Kieselsteinen auf dem Asphalt, das wiederholte Bremsen und Beschleunigen in den Kurven sind dafür eindeutige Hinweise. Anfangs dachte ich, Conti will nur das Grundstück verlassen, um den Überwachungskameras zu entkommen, und dann in einer nahe gelegenen Parkbucht oder Waldzufahrt anhalten und mit mir reden. Doch er scheint etwas anderes vorzuhaben, und mittlerweile ärgere ich mich darüber, meine Optionen nicht besser durchdacht zu haben. Contis Uraeusblau wirkt zwar noch immer in mir, was mir erlaubt, meine Umgebung mit geschärften Sinnen wahrzunehmen. Aber es verleiht mir nicht die Fähigkeit, einen Kofferraumdeckel von innen zu öffnen.

War das sein Plan? Ich habe mich ihm naiv ausgeliefert – etwas, das mir bei keinem anderen Knight passiert wäre. Schließlich kenne ich Cielo Conti seit dem ersten Seeker-Jahr, als Leo und ich Freunde wurden. Wenn mir jetzt etwas zustoßen würde, wer soll sich dann noch für Mags und Jerry einsetzen? Je länger ich über den Verlauf des Abends nachdenke, desto klarer wird mir: Graf Cielo Conti hat uns allen im Sanctum eine meisterhafte Show geliefert. Er gab den betrunkenen, verzweifelten Vater, dem nichts mehr wichtig ist außer dem zerstörten Leben seines Sohnes. Während der gesamten Sitzung hat er kein einziges Mal seine Meinung geäußert. Weder Mags’ außergewöhnliche Fähigkeiten noch ihre Flucht oder Andrews Tod konnten ihm eine Reaktion entlocken. Doch was auch immer in ihm vorgeht, er ist klug genug, so lange mit dem Auto herumzufahren, bis das Uraeusblau in mir seine Wirkung verliert und ich Conti beim Öffnen des Kofferraums nicht so leicht entkommen kann.

Warum?

Ich weiß, wie viel ihm sein jüngster Sohn bedeutet. Es gibt nur ein Motiv, das ihn antreiben könnte: Rache.

Während die Kälte langsam in mir hochkriecht, wird mir klar, dass es vielleicht gar nicht um mich persönlich geht. Nach Leos Unfall war ich in seinem Haus. Falls Conti mir die Schuld daran geben würde, hätte er Gelegenheit gehabt, es mich spüren zu lassen. Wobei … Vielleicht hat er inzwischen herausgefunden, was damals wirklich geschehen ist?

Bei dem Gedanken schnürt sich mir die Kehle zu. Was, wenn Graf Conti sich an meinem Vater rächen will, indem er mir etwas antut? Er dem Uraeus zeigen möchte, wie es sich anfühlt, machtlos zu sein und seinem Kind nicht helfen zu können? Ich versuche, mir vorzustellen, wie sich das für einen mächtigen Knight anfühlen muss – einen Mann, der gewohnt ist, dass sein Reichtum und Einfluss ihm überall die Türen öffnen. Doch Conti irrt sich gewaltig, wenn er glaubt, mein Vater würde ähnlich empfinden wie er. Sollte der Graf mir etwas antun, würde er nicht verzweifeln, sondern noch unberechenbarer werden.

Kapitel 3Mags

»Du kannst den Orden nicht einfach verlassen! Du hast einen Eid geschworen und wirst dich daran halten.«

»Weil du meinen kleinen Bruder sonst zu einem Auftrag ohne Wiederkehr schickst? Wie verträgt sich denn Mord mit deinem Schwur?«

»Dein Bruder ist alt genug, um selbst zu entscheiden.«

»Er ist erst fünfzehn, verdammt!«

Nathair Manor, Unterhaltung zweier Knights, Oktober 2001

Der Geruch von Maschinenöl und feuchtem Filz dringt mir in die Nase, als ich die Augen aufschlage. Über mir erkenne ich eine blaue Decke – nein, eine Plane. Zwischen kleinen Ritzen fällt grelles Licht zu mir herein. Es ist unerträglich heiß und stickig, sogar meine Kleidung klebt unangenehm auf der Haut. Im ersten Moment denke ich an Dad, an glückliche Familienurlaube im Süden, an Liam, wie er neben mir im Schlafsack schnarcht und sich, obwohl er kleiner ist, so furchtbar breitmacht. Doch dann trifft mich die Realität wie ein Schlag: Dad ist nicht mein richtiger Vater, und ich bin auf der Flucht. Verdammt!

Mit einem Stöhnen rapple ich mich auf und werfe einen Blick auf die Uhr. Fast Mittag. Ich habe viel zu lange geschlafen. Zum Glück hat mich noch niemand bemerkt. Von draußen dringen Kinderlachen und gedämpfte Stimmen, das Brummen vorbeifahrender Autos und das Geräusch einer Fahrradklingel zu mir herein. Doch der Anhänger steht still. Panik kriecht in mir hoch. Jeden Augenblick könnte jemand die Plane beiseiteschieben. Hektisch sehe ich mich im schwachen Licht um. Dann öffne ich nacheinander die Werkzeugkoffer und greife nach allem, was nützlich sein könnte: ein Messer, reißfestes Gewebeklebeband, ein Spray mit Flüssigkleber, rotes Markierspray und ein Tacker samt Ersatzklammern. Dinge, von denen ich hoffe, dass ich sie nie zur Verteidigung einsetzen muss.

An einem Haken der Metallstreben des Anhängers hängen eine alte Armeejacke und eine Baseballcap. Ich schaue an mir herunter. Über meinen Jeans und dem T-Shirt trage ich immer noch den Arztkittel, den Andrew der Pflegerin für meine Flucht abgenommen hat. Die OP-Maske und Haube habe ich längst abgesetzt und in seine Tasche gestopft. Hastig schlüpfe ich aus dem Kittel, falte ihn und packe ihn zusammen mit dem Zeug aus dem Werkzeugkasten in meinen Rucksack. Ich unterdrücke den Drang, den von Andrew gepackten Inhalt vorab zu überprüfen – dafür ist später Zeit. Jetzt muss ich mich beeilen.

Mit dem Haargummi von meinem Handgelenk binde ich mein Haar zu einem Zopf und schiebe es mir unter die Baseballcap. Anschließend streife ich die Armeejacke über. Sie ist zwar viel zu groß, aber das ist gerade von Vorteil, weil man mich dann nicht so leicht erkennt.

Mit dem Rucksack auf dem Rücken gehe ich geduckt zur Abdeckung des Anhängers und ziehe vorsichtig den Reißverschluss ein Stück nach oben. Die Häuser, die ich durch den schmalen Spalt ausmachen kann, stehen in diesem Wohnviertel so dicht gedrängt, als hätten sie Angst, auseinanderzufallen. Sie wirken ein wenig heruntergekommen, alle aus rotem und braunem Backstein, hoch und schmal wie Soldaten in einer Reihe. Vor jedem Haus befindet sich ein winziger Vorgarten, kaum mehr als ein Streifen Gras und ein paar kümmerliche Sträucher, die hinter kleinen Eisenzäunen eingezwängt sind. Weiße, teils verrostete Sprossenfenster mit abblätternder Farbe sind in die Fassaden integriert, und auch die einst kunstvoll verzierten Türrahmen sind verwittert.

Ich lehne mich etwas weiter vor. Die Straße ist unglaublich schmal, und ein Kleinwagen steht so dicht hinter dem Anhänger, dass ich mich frage, wie der Besitzer jemals wieder aus dieser Lücke herauskommen will.

Unwillkürlich überlege ich, wo ich mich überhaupt befinde. Keine Ahnung, ob das wirklich London ist. Falls ja, dann definitiv nicht eins der noblen Stadtviertel, was mir nur recht ist. Auf Kameras an den Zäunen herrschaftlicher Anwesen kann ich gut verzichten. Mir reichen schon die zahlreichen Überwachungskameras des Closed Circuit Television, für das London berüchtigt ist. Dad hat mal gesagt, man könne hier keinen Fuß vor die Tür setzen und sich unauffällig an der Nase kratzen, ohne dabei beobachtet zu werden.

Dad. Moore.

Der muss es wissen. Vermutlich hat er deshalb die Stadt wie die Pest gemieden. Zumindest war er strikt dagegen, als Liam und ich einmal vorgeschlagen haben, in den Osterferien eine Städtereise hierherzumachen. Die Erinnerung daran, dass er uns seit vielen Jahren belogen hat, schmerzt, aber sicherheitshalber lasse ich misstrauisch meinen Blick über Laternenmasten und Hausdächer gleiten. Würde ich eine Kamera überhaupt erkennen? Meine Flucht ist bislang überstürzt und vollkommen planlos verlaufen. Ich sollte mir dringend einen Ort zum Untertauchen suchen, Andrews Rucksack inspizieren und über die nächsten Schritte nachdenken. Eins ist klar. Adam Flux scheint als Uraeus und Geheimlogenchef der Knights of the Serpent mächtig und einflussreich genug, um vielleicht sogar auf das dichte Londoner Überwachungsnetz zuzugreifen.

Sicherheitshalber ziehe ich die Baseballcap tiefer ins Gesicht und hoffe, dass ich in dem neuen Outfit keine Aufmerksamkeit errege. Der Himmel ist klar, und die Sonne brennt unerbittlich auf den heißen Asphalt, als ich mich blitzschnell aus meinem Versteck gleiten lasse und die Straße hinunterlaufe. Erst nach einigen Schritten wage ich es, mich umzusehen. Niemand scheint bemerkt zu haben, wie ich aus dem Anhänger geschlüpft bin. Eine Bushaltestelle taucht vor mir auf, aber öffentliche Verkehrsmittel sollte ich besser meiden, denn auch sie sind mit Überwachungskameras ausgestattet. Und weil dort einige Leute warten, wage ich es nicht, auf die Anzeige zu schauen. Nach einer Weile ziellosen Herumlaufens komme ich an einem Schild vorbei, das mir endlich Gewissheit über meinen Aufenthaltsort verschafft:

Adley Street E5

London Borough of Hackney

Innerlich atme ich auf. Also London. Trotz Kameras fühle ich mich in einer Großstadt wie London sicherer als in einem kleinen Ort auf dem Land.

Minuten später erreiche ich den River Lee, über den eine Brücke zu weitläufigen Grünflächen und kleinen Wäldern führt. Ein Doppeldeckerbus in der typisch roten Farbe fährt an mir vorüber, ehe ich an einem Laternenpfahl nun tatsächlich die erste Kamera entdecke. Mit gesenktem Kopf laufe ich darunter vorbei und steige kurz darauf eine schmale Treppe zum Fluss hinunter. Unter der Brücke stinkt es nach Urin, während Graffiti die Wände ziert. Hausboote säumen zu beiden Seiten das Ufer, und hohe Laubbäume spenden Schatten und bieten Schutz vor neugierigen Blicken.

Ich ignoriere eine Parkbank, schlage mich ein gutes Stück entfernt ins Dickicht und setze mich vor einem blühenden Rhododendron ins Gras. Bis auf einen Spaziergänger, der gleich mehrere Hunde auf einmal an Leinen führt, ist kein Mensch zu sehen.

Ich lasse meinen Rucksack von den Schultern gleiten und wage es endlich, seinen Inhalt zu inspizieren. Neben Moores Laptop, dem Zeug aus den Werkzeugkisten und den geklauten Sandwiches der vorangehenden Nacht ziehe ich eine Wasserflasche, Proteinriegel, ein Smartphone, ein Pfefferspray und ein Portemonnaie aus dem Rucksack. In Letzterem befinden sich eine beträchtliche Summe Bargeld, ein irischer Ausweis mit einem Passfoto von mir, das nur Moore besitzen konnte, und eine Kreditkarte, beide auf den Namen Maggie Everdeen ausgestellt.

Ernsthaft, Dad?

Dass Moore mir als neue Identität ausgerechnet den Nachnamen einer meiner liebsten Romanheldinnen – Katniss Everdeen aus Die Tribute von Panem – verpasst hat, ist so bezeichnend für seinen Humor, dass ich mir bei aller Wut und Angst ein Grinsen nicht verkneifen kann. Wolltest du mir damit sagen, dass ich in Snows Arena gelandet bin? Als ob ich das nicht auch schon bemerkt hätte! Zumindest bin ich laut Ausweisdokument bereits volljährig. Sehr praktisch.

Kopfschüttelnd nehme ich das Smartphone in die Hand. Andrew meinte, dass im Rucksack Informationen darüber sind, wo ich ihn treffen kann. Vielleicht hat er eine Notiz auf dem Handy hinterlegt, denn eine Nachricht habe ich bisher nicht gefunden. Doch alles in mir sträubt sich dagegen, das Ding einzuschalten. Was, wenn Moore es mit einer Tracking-App versehen hat, um mich zu orten? Ich habe definitiv keine Lust, von einer Gefangenschaft in die nächste zu geraten. Schließlich hat er mich mein ganzes Leben lang belogen.

Der Gedanke daran schmerzt so sehr, dass ich das Handy hastig wieder zurückstecke, als könnte ich mich daran verbrennen. Die Kreditkarte lasse ich lieber im Portemonnaie – die werde ich nur im Notfall benutzen, damit niemand meine Spur verfolgen kann.

Mein Blick wandert zu dem Laptop. Ob der auch mit irgendeiner fiesen Überraschung ausgestattet ist? Die IT-Spezialisten von Flux haben sich an Dads Laptop die Zähne ausgebissen und ihm seine Geheimnisse nicht entlocken können. Kurz wandern meine Gedanken zu der seltsamen Sternenkarte mit den Orten, an denen es Anschläge oder furchtbare Unglücke gegeben hat.

Schnaubend packe ich alles bis auf ein Sandwich und die Wasserflasche zurück in den Rucksack und setze mich bequemer hin, um erst einmal etwas zu essen und einen klaren Kopf zu bekommen. Eine halbe Stunde später habe ich mir in Gedanken eine To-do-Liste mit den dringendsten Schritten zusammengestellt:

Eine Übernachtungsmöglichkeit finden – am besten irgendwo, wo ich weder meinen neuen Ausweis noch die Kreditkarte vorzeigen muss. Bloß keine Spuren hinterlassen.

Stella anrufen. Cyrus hat mir in Deutschland klargemacht, wie gefährlich es für sie werden könnte, falls Moore erfährt, dass sie von meiner Uraeuskraft weiß. Ich muss sicherstellen, dass es ihr gut geht und Dad sie nicht verhört hat.

Mehr über Cyrus’ Vater, Nathair Manor und die Heirs herausfinden, zu denen Andrew und vermutlich auch Moore gehören.

Die Liste ist nicht lang, aber mir wird schon beim Gedanken daran schwindelig. Wo soll ich bloß anfangen?

Seufzend spüle ich das letzte Stück Sandwich mit einem Schluck Wasser hinunter. Wie gern hätte ich Stella jetzt hier. Sie ist einfach unschlagbar, wenn es darum geht, an Informationen zu kommen. Ich verstaue die Wasserflasche wieder im Rucksack, stehe auf und gehe zum Flussufer. Gerade als ich die Treppe zur Brücke hinaufsteigen will, fällt mir aus dem Augenwinkel ein Schild an einem der Boote auf, die träge im Wasser schaukeln: Kurzfristig zu vermieten. Neugierig drehe ich den Kopf, um es genauer zu betrachten – und laufe prompt in einen Jogger hinein.

»Hey! Pass doch auf!«

Mit einem hastig gemurmelten Sorry eile ich zurück zu dem blau-rot gestrichenen Kahn. Auf seinem rostigen Dach lagern Holzkisten mit Tomaten, Kräutern und Blumen neben einem mit Gurten festgezurrten Fahrrad. Unter dem Schild mit der Mietersuche steht in kleiner, schnörkeliger Handschrift, dass der oder die Eigentümer des Bootes mehrere Wochen in Urlaub fahren und es in der Zwischenzeit vermieten möchten.

»Hallo!«, rufe ich, erst leise, dann etwas lauter. Neugierig beuge ich mich hinunter und spähe durch ein längliches Bullaugenfenster ins Innere. Ich kann eine winzige Küche und eine Bank aus hellem Holz ausmachen, weiter hinten eine schmale Tür, die vermutlich zu einer Schlafkoje führt. Obwohl ich ziemlich laut an die Scheibe klopfe, rührt sich niemand. Entweder ist der Eigentümer bereits im Urlaub oder gerade nicht da.

»Hey! Suchst du Jill?«

Ich drehe mich abrupt um und entdecke einen jungen Mann mit strubbeligen roten Haaren und Sommersprossen, der das Deck seines Kahns mit einem Besen fegt.

Mal wieder klopft mein Herz schneller, als ich versuche, mich zu sammeln.

»Ja, genau! Ich wollte sie treffen, aber mir ist was dazwischengekommen. Wegen der Vermietung.« Ich deute auf das Schild und gehe zu seinem Boot hinüber, das gleich neben dem anderen liegt, bleibe vor der Reling stehen und ziehe eine gespielt vorwurfsvolle Miene. »Hat sie dir nicht Bescheid gesagt?«

Er fegt einen Haufen Blätter ins Wasser, hält inne und kratzt sich nachdenklich am Kopf. »Nö, hat sie nicht. Aber sie hatte es gestern auch ziemlich eilig, den Flieger nach Indien zu erwischen.«

Mist! Ich will ihn schon fragen, ob er sonst noch jemanden kennt, der vielleicht gerade sein Hausboot vermieten möchte, da springt er geschickt vom Oberdeck, lehnt sich über die Reling und verkündet grinsend: »Aber sie hat mir die Schlüssel dagelassen.«

***

Kurz darauf stehe ich im Inneren eines Boots, das einen muffigen und leicht modrigen Geruch verströmt. Neugierig lausche ich Ian, der mir Tipps zum Leben auf einem Hausboot gibt. Nebenbei erfahre ich, dass er Mathematik studiert und Jill Psychologie.

»Mathematik? Dein Ernst?«, entfährt es mir.

Ian verschränkt die Arme über der Brust. »Was dagegen?«

»Nein, natürlich nicht«, beeile ich mich, ihm zu versichern. »Ich habe mir Mathematikstudenten nur irgendwie anders vorgestellt.« Nicht so cool.

Er zieht eine Augenbraue hoch, und ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt. Um nicht noch mehr Unsicherheit zu zeigen, lenke ich das Gespräch sofort auf Jill. Er erzählt mir, dass sie gerade eine Ausbildung zur Yogalehrerin an der Malabarküste in Indien macht. Eine halbe Ewigkeit hat sie dafür gespart. Sie kommen beide vom Land, aus Familien, die sich die horrenden Studiengebühren von zehntausend Pfund pro Semester nicht leisten können. Und weil das Leben in London unbezahlbar ist, sind sie unabhängig voneinander auf die Idee gekommen, ein Hausboot zu mieten. Auf dem Wasser haben sie sich dann kennengelernt.

»Die besten Anlegestellen hat Jill hier auf der Karte markiert, aber keine Sorge, du musst nur alle zwei Wochen deinen Standort wechseln«, erklärt mir Ian und zeigt auf eine Karte von Londons Wasserwegen. Als er mein erschrockenes Gesicht sieht, fragt er: »Hast du keinen Bootsführerschein?«

Einen Moment lang spiele ich mit dem Gedanken, ihn anzulügen. Doch dann entscheide ich mich anders. »Nein. Aber ich bin schon mal im Urlaub mit meinem Dad Boot gefahren.«

Er zuckt die Schultern. »Das reicht völlig. Die alte Gurke hat nicht mehr als fünfzehn PS, und ein Führerschein ist dafür nicht erforderlich. Wenn du magst, bring ich dir das Fahren in den nächsten Tagen bei und zeig dir, wo man Frischwasser und Benzin bekommt und das Abwasser entsorgt. Machst du hier Urlaub?«

»Ja. Vorerst. Und danke für deine Hilfe, aber nicht nötig. Ehrlich gesagt wollten mein Freund und ich die Lage checken und schauen, wie es so ist, auf einem Hausboot zu leben, wenn wir genug Kohle haben, um in London zu studieren. Er kennt sich mit Booten bestens aus, leider hat ihn eine fiese Sommergrippe erwischt, deshalb bin ich schon mal allein losgefahren.«

Ich habe den Freund nur erwähnt, um sicherzustellen, dass Ian nicht auf falsche Gedanken kommt und sich Sightseeingtouren oder gar ein Date mit mir ausmalt. In zwei Wochen, wenn das Boot den Standort wechseln muss, bin ich hoffentlich längst über alle Berge. Vorher habe ich definitiv keine Zeit, mir von ihm Fahrstunden geben zu lassen. So sympathisch er auch ist.

»Cool! Wie heißt er?«

»Cyrus.« Der Name rutscht mir schneller über die Lippen, als ich ihn zurückhalten kann. Sofort breitet sich ein wehmütiges Gefühl in meiner Brust aus, und ich frage mich, ob es gerade ein fataler Fehler war, ihn zu erwähnen.

Kapitel 4Cyrus

Gefangen im Kofferraum von Cielo Contis Wagen spüre ich immer mehr, wie die Wirkung des Uraeusblaus nachlässt. Hoffentlich reicht meine Kampfausbildung aus, um gegen Leos Vater im Fall des Falles zu bestehen, sobald sich der Kofferraumdeckel öffnet.

Als die Limousine endlich stehenbleibt. Ich spanne sämtliche Muskelfasern an und lausche auf jedes kleinste Geräusch. Möwengeschrei, dann das dumpfe Zuschlagen einer Autotür und Schritte auf Asphalt. Sind wir etwa bis ans Meer gefahren? Lange genug waren wir definitiv unterwegs. In Gedanken spiele ich erneut meine Chancen auf eine Flucht durch – und komme zu keinem ermutigenden Ergebnis. Selbst wenn der Graf nicht mehr in Bestform ist, sieht sein hünenhafter Chauffeur und Leibwächter aus wie eine harte Nuss. Ich habe ihn am Auto lehnen sehen, bevor ich ins Sanctum gegangen bin. Den schaltet man nicht einfach so aus.

Die Schritte werden leiser und verstummen schließlich. Ein neuer Gedanke durchzuckt mich. Ich habe nur gehört, wie eine Autotür zugeschlagen wurde. Ist der Graf ausgestiegen und weggegangen, um nicht mit ansehen zu müssen, was jetzt mit mir passiert?

Minuten vergehen, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen. Dann krampft sich mein Magen zusammen, als ich erneut das dumpfe Geräusch einer zufallenden Tür höre und die leichte Erschütterung des Wagens spüre. Schritte, die näher kommen und vor dem Kofferraum stoppen.

Ich hebe die Arme schützend vor mein Gesicht und winkle die Beine an. Sobald der Kofferraum aufgeht, werde ich dem Leibwächter einen Tritt verpassen und …

Ein lauter Schlag auf den Kofferraumdeckel lässt mich zusammenzucken und reißt mich aus meinen strategischen Überlegungen.

»Ich weiß, was jetzt in deinem Kopf vorgeht, Cyrus«, ruft Conti durch das Metall. »Ja, das war ein Test. Wenn du mit deinem Vater unter einer Decke stecken und dich schuldig wegen dem fühlen solltest, was mit Leo passiert ist, wärst du niemals in den Kofferraum gestiegen, wohl wissend, dass du darin gefangen und mir ausgeliefert bist.« Er verstummt, und die Worte hängen schwer in der Luft, während ich versuche, das Gesagte zu verdauen. Vielleicht war ich auch einfach zu naiv und habe ihm zu sehr vertraut. Ein Test. Aber wozu und was hat er jetzt mit mir vor? Endlich fährt er fort: »Ich habe Michele fortgeschickt, um mit dir unter vier Augen zu reden.«

Michele ist also der Chauffeur, der vermutlich keine Ahnung hat, dass sich jemand im Kofferraum versteckt hat. Mein Hineinklettern in der Zeitmatrix kann er nicht mitbekommen haben. Vielleicht bietet sich mir also eine Chance, aus dieser Situation ohne Kampf herauszukommen.

Ein Klicken ertönt, dann schwingt der Kofferraumdeckel auf und ich schnelle mit vor dem Gesicht erhobenen Armen nach oben. Conti ist tatsächlich allein und tritt, die offenen Handflächen hebend, einen Schritt von der Limousine zurück, um mir Raum zu geben. Blitzschnell hieve ich mich aus dem Wagen.

Es ist windig und riecht nach Salz und Meer. Ich sehe mich um. Wir stehen auf einer riesigen Parkplatzanlage. Die wenigen Autos, die so früh am Morgen schon hier unterwegs sind, parken weit genug entfernt, dass vermutlich niemand beobachtet hat, wie ich aus dem Kofferraum gesprungen bin. Am Himmel ziehen Möwen kreischend ihre Bahnen. Der Parkplatz grenzt an grüne Wiesen und einen gekiesten Weg, der einen steilen Hang hinaufführt. In der Ferne schimmern mir in rosafarbenes Morgenlicht getauchte kreideweiße Felsen entgegen.

»Dover?«, frage ich ungläubig und sehe zurück zu Leos Vater, der die Schultern zuckt.

»Schien mir ein geeigneter Ort für ein dramatisches Gespräch.«

»Ein Ort, an dem leicht ein Unfall geschehen kann«, erwidere ich trocken, während ich ihn aus schmalen Augen mustere.

»Richtig.«

Sekundenlang liefern wir uns ein Blickduell. Eines ist klar. Graf Conti ist kein bisschen verkatert, wie es die von ihm konsumierte Alkoholmenge im Verlauf der gestrigen Sitzung vermuten lassen würde. Ein dramatisches Gespräch. Aber was auch immer er plant, ich muss das Risiko eingehen. Ich bin viel zu neugierig auf das, was er mir sagen möchte. Also nicke ich ihm zu, und Conti setzt sich in Bewegung.

Ich folge ihm und dann marschieren wir schweigend nebeneinander den Weg zu den Klippen hinauf. Der Wind ist hier oben mörderisch, so laut, dass mit Sicherheit niemand ein Wort unserer Unterhaltung verstehen könnte, der mehr als nur einen Meter entfernt ist, was, so hoffe ich, der einzige Zweck dieses Gesprächsortes ist. Dennoch beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Wir bleiben nicht direkt am Klippenrand stehen, aber nahe genug, dass mir der Schweiß aus allen Poren bricht und meine Höhenangst mich mit eisernem Griff umklammert. Erneut frage ich mich, was der Graf über die Ereignisse weiß, die für Leo so tragisch geendet haben.

»Leo hat dich wie einen Bruder geliebt«, erklärt er schließlich, während er auf das Meer schaut und der Wind seine Haare zerzaust.

Ein Schauder läuft mir den Rücken hinunter, weil er die Vergangenheitsform gewählt hat und über seinen Sohn spricht, als wäre er bereits tot. Ich weiß, dass ich jetzt etwas sagen sollte. Etwas darüber, wie leid mir alles tut und dass ich ähnlich für Leo empfinde. Aber das habe ich ihm schon gesagt, als ich ihn auf der Krankenstation besucht habe. Und später noch einmal, als ich an Leos Bett in ihrem Haus stand.

Während mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, wird mir plötzlich klar, dass ich seit Leos Absturz nie allein mit Conti war. Mein Vater war immer dabei, angeblich, um seinem alten Freund beizustehen. Später habe ich es vermieden, Leo erneut zu besuchen.

Angespannt starre ich zu den Klippen hinüber, genau dorthin, wo das Gras endet und Himmel und Meer miteinander verschmelzen. Die Angst vor dem Abgrund schnürt mir die Kehle zu, mein Mund wird trocken, und alles, woran ich denken kann, ist Flucht.

Conti jedoch kommt ohne Umschweife zur Sache. »Du warst früher oft bei uns zu Gast, Cyrus, und ich vertraue auf Leos Menschenkenntnis. Deshalb frage ich dich ein allerletztes Mal: Was ist damals wirklich in Schnitters verdammtem Park passiert?«

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er den Kopf zu mir dreht. Also reiße ich mich von dem Anblick der bedrohlichen Klippen los und fokussiere mich auf ihn. Seine im Wind herumwirbelnden Haarsträhnen verleihen ihm zusammen mit seinem grimmigen Mienenspiel eine wilde Entschlossenheit. Doch in seinen Augen, in denen sich das Gold der aufgehenden Sonne spiegelt, tobt ein tiefer Schmerz.

Und mitten in dem Sturm, der um uns braust, und der kalten Angst, die in mir wütet, breitet sich plötzlich eine seltsame Ruhe in mir aus. Ich erkenne etwas, das mir zuvor verborgen geblieben war – eine winzige Chance, mit meiner Vergangenheit abzuschließen und Mags und Jerry vor den Plänen des Uraeus’ zu schützen. Sie davor zu bewahren, Leos oder gar Andrews Schicksal zu teilen. Leo endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Graf Cielo Conti hat mehr Macht und Einfluss als jeder andere Knight. Ich kenne nicht viel von seiner Geschichte, aber mein Vater hat in einem unbedachten Moment erwähnt, dass er und Pheli mehr gemeinsam haben, als man denkt, und dass man sich vor Cielo in Acht nehmen muss.

Nicht jeder hat es so gut wie du, Cyrus. Nicht jedem wird alles in den Schoß gelegt. Menschen, die das Leben schon in jungen Jahren so hart rangenommen hat, sind zu allem bereit.

Während mir seine Worte wieder in den Sinn kommen, erkenne ich plötzlich die ganze hässliche Wahrheit. Vielleicht ging es damals in Schnitters Park überhaupt nicht um mich, und mein Vater wollte uns das nur glauben lassen, weil es seinen Zwecken diente, seinen Sohn kleinzuhalten. Zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Was aber, wenn der Hauptgrund für Leos Sturz gewesen war, Conti zu schwächen?

Mit einem Mal frage ich mich, wie die Sitzungen der Knights früher abgelaufen sind, ob der Graf immer so schweigsam alles hingenommen hat, was Acrux und mein Vater von sich gegeben haben.

Conti verzieht unterdessen traurig den Mund, weil ich – derart in meinen Überlegungen gefangen – nicht gleich antworte, und wendet sich ab. »Ich verstehe«, sagt er mit bitterem Sarkasmus in der Stimme. »Es war nur ein bedauerlicher Unfall!«

Der Wind reißt ihm die Worte von den Lippen, und ich packe im letzten Augenblick seinen Arm, bevor er weiter auf die Klippen zumarschiert, wohin ich ihm unmöglich folgen kann.

»Warten Sie!«, rufe ich, Panik in meiner Stimme. Conti dreht sich um, und ich lasse seinen Arm wieder los. »Können wir uns dort drüben hinsetzen?« Ich deute auf einige Steine, die weit genug vom Abgrund entfernt zu sein scheinen, um meine Angst nicht überhandnehmen zu lassen.

Conti nickt, wir machen uns auf den Weg und setzen uns. Das Meer vor uns schimmert in einem leuchtenden Türkis, fast wie in der Karibik. Weit unten im Hafen von Dover legt gerade ein Kreuzfahrtschiff an, seine schneeweißen Aufbauten heben sich ebenso scharf gegen das Meeresblau ab wie die Kreidefelsen. Mein Blick folgt dem langsamen Anlegemanöver, und ich wünschte, ich könnte meine Worte noch hinauszögern, ich weiß einfach nicht, wo ich anfangen soll. Wie bricht man ein zu langes Schweigen? Wie verrät man seinen eigenen Vater und kappt das letzte Band, das einen mit ihm verbindet? Doch dann denke ich an Dads Miene, als er Andrews Tod leichtfertig abgetan hat, und gebe mir einen Ruck.

»Der Parcours …« Ich räuspere mich, während die Erinnerung mir eine Gänsehaut über den Rücken jagt. »Sie haben vermutlich Bilder davon gesehen?«

»Ich war sogar selbst vor Ort und habe alles in Augenschein genommen. Die Anlage ist perfekt in Schuss.«

Ich stoße ein schnaubendes Geräusch aus. »O ja, das ist sie … seit der Uraeus alles hat instand setzen lassen«, sage ich und fixiere weiterhin den Horizont. Es fällt mir leichter, darüber zu sprechen, wenn ich meinen Vater mit seinem offiziellen Titel versehe. »Nach Leos Unfall.« Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie Conti zusammenzuckt. »Denn als Leo, Pheli und ich damals in Schnitters Manor ankamen, sah er noch anders aus. Der Hochseilgarten war komplett marode, einige Bretter waren aus den verwitterten Seilverbindungen gebrochen und das Holz so morsch, dass es bei jedem Schritt geächzt hat und wir glaubten, es würde unter unserem Gewicht sofort nachgeben.«

Ich spüre Graf Contis bohrenden Blick auf mir, aber er schweigt immer noch und gibt mir Zeit. »Wir hätten uns weigern sollen, da hinaufzusteigen. Doch wir dachten, dass wir es schaffen würden, wenn wir nur vorsichtig sind und aufeinander aufpassen. Aber dann hat er uns befohlen, den Parcours ohne Sicherung zu betreten.«

Leos Vater schnappt nach Luft und greift nach meinem Arm, zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen. »Was redest du da? Dein Vater hätte doch niemals zugelassen, dass dir etwas passiert! Und Ophelia hat mir beim Leben ihrer kleinen Schwester geschworen, dass du selbst oben auf dem Gerüst warst.«

Also hat er sie bereits befragt, und Pheli hat es einmal mehr geschickt verstanden, die Wahrheit zu sagen, ohne das Wesentliche preiszugeben.

Und die Folgen sind nun klar ersichtlich. Der Unglaube in Cielo Contis Blick ist so stark, dass ich fast versucht bin, zu behaupten, es sei ein geschmackloser Witz gewesen. Dass niemand dieses Unglück hätte verhindern können und er sich einfach damit abfinden muss, dass nur noch der Schatten seines Sohnes in seinem Haus liegt. Ich weiß, wenn ich jetzt weiterspreche, vergrößere ich seinen Schmerz und zerstöre alles, was er sich bisher einzureden versucht hat. Aber ich bin es leid, für meinen Vater zu lügen, weil ich selbst nicht damit zurechtkomme, meine Schwächen preiszugeben.

»Er wusste, dass ich nur bis zu einem gewissen Punkt gehen werde.«

Contis Augen werden schmal und sein Griff um meinen Arm schraubstockartig. »Ihr habt euch also vorher abgesprochen?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, das war nicht nötig.«

Jetzt lodert Hass in seinen Augen auf, und bevor er noch auf die Idee kommt, sich auf mich zu stürzen, weil er alles falsch versteht und nichts verzweifelter sucht als einen Schuldigen, deute ich mit einem Kopfnicken zu den Klippen. »Was glauben Sie, warum ich gerade eben nicht weitergehen wollte? Weshalb ich vorgeschlagen habe, dass wir uns hier hinsetzen?«

Sein Blick schweift zu der Klippe. Dann weiten sich seine Augen plötzlich, ehe er mir fest in die Augen sieht und meinen Arm loslässt.

»Höhenangst?«, fragt er so leise, dass ich es bei dem Wind kaum verstehe.

»In meiner Kindheit bin ich wegen verschiedener Angststörungen in Therapie gewesen. Die Höhenangst ist geblieben. Es macht meinen Vater rasend, dass ich sie nicht überwinden kann. Er glaubt, dass mich diese Schwäche einmal daran hindern wird, in seine Fußstapfen zu treten und zu einem Knight gewählt zu werden.«

Conti springt auf und marschiert vor mir auf und ab wie ein Raubtier in einem Käfig, die Miene so aufgewühlt wie die See vor uns. Seufzend erhebe ich mich ebenfalls. Endlich bleibt er vor mir stehen.

»Warum hast du mir das alles nicht gleich nach dem Unfall gesagt? Verdammt, Cyrus, ich hätte das viel früher erfahren müssen! Das hat Leo nicht verdient! Hast du eine Ahnung, was Celeste und ich seither durchgemacht haben? Und Adam … ich kann einfach nicht glauben … ausgerechnet er!« Er bricht ab, fährt sich mit der Hand durch die zerzausten Haare und atmet schwer.

»Wir alle dachten damals, der Uraeus wollte uns nur dafür bestrafen, dass wir nicht ehrlich zu ihm waren.« Tränen steigen mir in die Augen, und ich blinzle sie wütend weg. »Verstehen Sie? Leo hat für mich gelogen und behauptet, er und Pheli hätten was miteinander. Dabei war ich mit ihr zusammen.«

Überraschung zeichnet sich auf Contis Miene ab. »Ophelia stand damals unter deinem Hunterkommando, nicht wahr?«

»Genau! Wir haben sofort gewusst, dass mein Vater uns nicht ausgewählt hat, weil er seine vielversprechendsten Hunter