Cursed Worlds 2 … erwacht das Licht - Rena Fischer - E-Book

Cursed Worlds 2 … erwacht das Licht E-Book

Rena Fischer

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Beschreibung

Sis und Finn leben bei den Weißmagiern in Aithér und besuchen dort die Magierakademie des Großmeisters Stanwood. Während Finn ein Naturtalent zu sein scheint, hat Sis Schwierigkeiten, sich ihrer Magie zu öffnen. Darüber macht sich besonders Aswin lustig. Ausgerechnet Aswin, zu dem Sis sich gegen ihren Willen hingezogen fühlt, wird ihr als Mentor zugeteilt. Der hochbegabte Jungmagier hat nach dem Tod seines Vaters die grausame Aufgabe übernommen, dem Schwarzmagier Damianos die jährlich geforderten Menschentribute nach Erebos zu bringen. Alle sehen in ihm wegen dieser unrühmlichen Rolle nur den finsteren Erben und in Finn den strahlenden künftigen Weltenretter. Dass der Untote Oisinn zudem ein Auge auf Sis geworfen hat und seine ganz eigenen Ziele verfolgt, bringt die Situation zwischen den Jugendlichen endgültig zum Brodeln … Derweil hat Kieran in Erebos mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Damianos hält seine Freundin gefangen und droht, sie zu ermorden, wenn sich Kieran nicht seinen Weisungen fügt und ihm seinen Bruder für sein grausames Ritual ausliefert. Gibt es einen Weg für die drei Geschwister, das drohende Unheil abzuwenden?

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Über dieses Buch

SIS. GELIEBT VON EINEM UNTOTEN. FINN. ZUM STRAHLENDEN WELTEN-RETTER BESTIMMT.

KIERAN. ANGESETZT AUF DEN EIGENEN BRUDER. DREI GESCHWISTER.

Das Schicksal aller Welten liegt in ihren Händen. Nun ist es an ihnen, das drohende Unheil abzuwenden. Sis hat an der Magierakademie Schwierigkeiten, sich ihrer Kräfte zu öffnen. Ausgerechnet Aswin, zu dem sie sich gegen ihren Willen hingezogen fühlt, wird ihr als Mentor zugeteilt. Der hochbegabte Jungmagier hat nach dem Tod seines Vaters die grausame Aufgabe übernommen, dem Schwarzmagier Damianos die jährlich geforderten Menschentribute nach Erebos zu bringen. Alle sehen in ihm wegen dieser unrühmlichen Rolle nur den finsteren Erben und in Finn den strahlenden künftigen Weltenretter. Dass der Untote Oisinn zudem Gefühle für Sis zu haben scheint und seine ganz eigenen Ziele verfolgt, bringt die Situation zwischen den Jugendlichen endgültig zum Brodeln …

Derweil hat Kieran in Erebos mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Damianos hält seine Freundin gefangen und droht, sie zu ermorden, wenn sich Kieran nicht seinen Weisungen fügt und ihm seinen Bruder für sein grausames Ritual ausliefert.

 

 

 

Für Markus und Patrick

Teil 1

Prolog

Für manche Momente im Leben ist man bereit zu sterben, und manche Tode zwingen einen, ewig zu leben.

Dieser Augenblick gehört zu keinem von beiden.

Ich spüre die Unebenheiten des Steinbodens unter mir und das kühle Metall der Ringe, die mir um den Hals, die Handgelenke und Fußknöchel gelegt werden. Geraunte Worte schwarzer Magie verbinden sie mit den Ketten im Stein. Skeptisch hebe ich die Augenbrauen und bemerke das amüsierte Lächeln auf seinen Lippen. Ich hasse ihn so sehr, dass es mich innerlich zerreißt, aber er ist meine einzige Hoffnung auf Erlösung.

»Ich weiß, du bist stark genug, um dich aus den Ketten zu befreien. Sie dienen dir nur als Gedächtnisstütze. Wenn der Schmerz zu mächtig wird, erinnern sie dich daran, diesen Kreis auf keinen Fall zu verlassen.«

Und wenn ich es täte? Was könnte schlimmer werden als dieses Dasein?

Mein Blick schweift zu den weißen Kreidezeichnungen auf dem schiefergrauen Stein. Ich liege inmitten eines mit zahlreichen Runen übersäten Sterns, der wiederum von einem Kreis umgeben ist. Der Meister steht außerhalb, umringt von schwarzem, waberndem Rauch. Man könnte meinen, mehrere Lagerfeuer wären in seinem Rücken entzündet worden.

Ich weiß es besser.

»Wie schmerzhaft wird es werden?«

»Schmerzhafter als beim letzten Mal, und ich kann dir nicht versprechen, dass es gelingt.« Seine Worte klingen beinahe entschuldigend, doch seine Augen funkeln leidenschaftlich. Schon einmal hat es ihm große Freude bereitet, mit mir zu experimentieren und sein Wissen über unbekannte Grenzbereiche seiner Magie zu erweitern. Ich schlucke.

»Mir bleibt also nichts anderes übrig, als an Euch zu glauben?«

»Ich wünschte, du hättest mir dein Vertrauen bereits früher geschenkt. Dir wäre all das und einiges mehr erspart geblieben.«

Wo wäre dann dein Spaß geblieben, Blutäugiger?

Die Schatten um ihn herum verdichten sich. Sie werden nervös, ihr Festmahl steht kurz bevor, eine Meute blutrünstiger Bestien, von denen jede sich zuerst an mir laben will. Doch sie sind nicht auf mein Blut aus.

»Bringen wir’s hinter uns«, stoße ich zornig hervor.

Er hebt beide Arme, die offenen Handflächen wie bei dem Segensspruch eines Priesters auf mich gerichtet, und murmelt Worte in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Der Kreis beginnt zu glühen, und ich schließe die Augen, will nicht in ihre Fratzen schauen, wenn sie über mich herfallen. Es wird schwer genug werden, sie zu spüren und sie mit meiner Qual und Angst, im schlimmsten Fall mit meiner Seele, zu füttern.

Innerhalb eines Atemzugs stehe ich in Flammen, und gleichzeitig gefriert mein Körper zu Eis. Ich höre ein gieriges Heulen, und Abertausende Blüten aus Schmerz erblühen in mir wie am Firmament Sterne in einer klaren Nacht. Ich brülle und brülle ihren Namen, bis meine Stimmbänder zerfasern, dann reißen und meine Magie die Ringe an Händen und Füßen sprengt. Es ist schlimmer als beim letzten Mal.

Es ist unerträglich.

Ich wünsche mir die Gnade einer Ohnmacht herbei, aber sie ist nur den Lebenden beschieden. Meine Fingernägel brechen, weil ich sie fest in den Steinboden kralle. Doch ich bewege mich keinen Fingerbreit aus dem Kreis. Rauch füllt meine Lungen, verätzt mich, frisst mich von innen heraus vollkommen auf.

Beweg dich nicht!

Ich hebe mir ihr Bild bis ganz zum Schluss auf. Für den Moment, in dem mein Wille bricht wie Stroh in diesem unerträglich tobenden Sturm aus Schmerz.

»Ich hab’s jetzt endlich verstanden!«, ruft sie, und ihre Augen leuchten voller Glück.

Und ich verstehe es jetzt auch. Dass ich alles, alles, alles ertragen werde, nur um noch ein einziges Mal so von ihr angesehen zu werden – im Leben oder in der Ewigkeit meines endgültigen Todes.

Kapitel 1

Kieran

Erebos, Jahr 2517 nach Damianos, dritter Mond des Frühlings, Tag 29

»Zeig Damianos gegenüber niemals Schwäche.«

Kieran hatte sich stets an Steels Worte gehalten. Der Weißmagier vom Clan der Hunolds, der ihn und seine Mutter nach Temeduron gebracht und ihn dort Damianos als Lehrling überlassen hatte, war gewissermaßen sein erster Mentor gewesen. Viele seiner Ratschläge hatte er angenommen und sich »Furchtlos ist, wer mit der Angst im Herzen weitergeht« in sein Herz tätowiert. Und gemäß diesem Leitspruch hatte er sich in unmögliche Gefahren gestürzt, um seinen Zwillingsbruder zu retten, und gleichzeitig den Drahtseilakt bewältigt, seinen Meister von seiner Loyalität zu überzeugen. Es war ihm gelungen, Finn von Steels Anwesen Ash Hall nach dem Kampf der Weißmagier zu entführen und den Draugr Oisinn als Verbündeten zu gewinnen, der seinen Bruder im letzten Augenblick vor Damianos gerettet hatte. Vor wenigen Minuten war Kieran der Meinung gewesen, alles richtig gemacht zu haben.

Er war ja so ein Schwachkopf!

Wie hatte er Damianos nur so unterschätzen können?

Wie hatte der im Kampf um Ash Hall getötete Duncan Steel den wichtigsten Ratschlag überhaupt vergessen können?

Zeig Damianos niemals, für wen dein Herz schlägt.

Denn genau das hatte er getan. Vor über vier Monaten war Kieran ein winziger Gedanke entschlüpft, als sein Meister in seinen Kopf eingedrungen war. Vier verdammte Monate! Kieran hatte sich gar nicht mehr daran erinnert, dass er sich gewünscht hatte, er könnte seine Jugendfreundin Serafina bei seinem ersten Ausflug mit dem Drachen Onyx wiedersehen. Aber Damianos war ein uraltes Wesen – wie sein Vater zu sagen pflegte. Vier Monate waren eine lächerlich kurze Zeitspanne für einen Mann, der seit über 2500 Jahren lebte. Zumindest war sein Vater jetzt vorläufig vor der Grausamkeit seines Meisters sicher. Damianos hatte ihn als Belohnung für Kierans angebliche Treue und dessen Bemühungen, ihm Finn auszuliefern, freigelassen.

Stattdessen hatte er Serafina hierherverschleppt, und damit hätte Kieran niemals gerechnet.

An den Händen gefesselt stand sie neben einem höhnisch grinsenden Dermoth im Hof von Temeduron. Kieran achtete jedoch nicht auf Damianos’ Statthalter. Um ihn würde er sich später kümmern. Ihr Gewand war von dem langen Ritt zur Festung staubig, die rotblonden Locken, deren Feuer er so sehr liebte, zerzaust, und dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Serafinas Blick heftete sich fest auf ihn, bohrte sich mitten in sein Herz, und die Kälte darin ließ ihn schaudern.

Wut über sein Versagen und Hass auf seinen Meister trafen Kieran mit voller Wucht und setzten etwas Dunkles in ihm frei, so mächtig, dass er glaubte, daran zu ersticken und die Kontrolle über seine Magie zu verlieren. Schmerz schoss brutal in seinen Kopf, und er musste blinzeln, weil die Welt um ihn herum plötzlich zerriss, unscharf wurde und dunkle Flecken sein Sichtfeld verengten. Und dann wurde die Umgebung wieder klar, schärfer als jemals zuvor, und er fühlte seine Magie in einer ungeahnten Intensität. Sekundenlang umfloss sie ihn wie ein magischer Schild in einer finsteren, seinen Körper von Kopf bis Fuß umflirrenden Aura.

Kieran wagte nicht, Serafinas Reaktion zu überprüfen, sondern konzentrierte sich lieber auf seine Atmung, um die Magie wieder in den Griff zu bekommen. Tiefschwarz. Er hatte immer gefühlt, dass er nicht zum Weißmagier bestimmt war – was leider auch Dermoth und sein Meister mitbekommen hatten. Ersterer riss in Unglauben die Augen auf, und Damianos lächelte zufrieden.

»Gut so, Lehrling«, raunte er neben ihm in widerlich väterlichem Stolz. »Befreie endlich die Finsternis in dir. Sie ist der Schlüssel zu deiner Vollendung, zum Höhepunkt deiner Macht. Nur durch innere Katharsis, das Ausleben all deiner mühsam zurückgedrängten Sehnsüchte und Begierden, kannst du die nächste Stufe erreichen: das Überwinden dich hemmender Emotionen, das rationale Erfassen deiner wahrhaftigen Stärke.«

Doch Kieran wollte dieses in ihm schlummernde Monster überhaupt nicht freilassen. Noch nicht. Nicht, solange er es nicht vollkommen kontrollieren und auf die richten konnte, die die Begegnung mit ihm verdienten: Damianos und sein Statthalter.

»Habt Dank für Eure Großzügigkeit, Herr«, presste er hervor, ganz der getreue Lehrling, und kämpfte die Dunkelheit in sich mühsam nieder. Er musste seinen Ausbruch schließlich erklären. »Ich wünschte nur, nicht ausgerechnet Dermoth hätte Serafina hierhergebracht.«

Der Statthalter rief eben eine Magd herbei und befahl ihr, Serafina in die Baderäume zu führen. Seine Freundin seit Kindheitstagen wandte sich von ihm ab, als würde sie ihn gar nicht kennen. Zwischen den zwei riesigen Schattenkriegern, die sie eskortierten, sah sie furchtbar zerbrechlich aus.

»Ich versichere dir, er wird nicht gewagt haben, Hand an sie zu legen. Meine Befehle waren eindeutig.«

Ein schwacher Trost, aber zumindest schien Damianos den Grund für das abrupte Aufwallen seiner Magie geschluckt zu haben. Wie betäubt folgte Kieran Dermoth und seinem Meister in den Thronsaal und ließ den Bericht zu dem desolaten Zustand der Silbertrostminen und zu aufsässigen Dorfbewohnern über sich ergehen. Um jeden Widerstand im Keim zu ersticken, hatte der Statthalter einige Minenarbeiter aufknüpfen lassen. Die blumigen Schilderungen seiner Folterungen ertrug Kieran mit unbewegter Miene. Solange sein Vater in den Silberspitzbergen tätig und künftig Dermoths Inspektionen ausgeliefert war, durfte er sich nicht einmischen. Er wagte nicht einmal, nach Michael Winter zu fragen. Im Augenblick musste er darauf vertrauen, dass sein Vater wohlauf war, weil Dermoth den Ertrag der Minen durch seine Arbeit wieder steigern wollte.

»Ich glaube, dass Ansgar hinter allem steckt.«

Kieran horchte zum ersten Mal auf und sah zu Damianos, der die Stirn in Falten legte. Warum sollte ausgerechnet sein ehemaliger Meister und Schmied in den Silbertrostminen zur Rebellion aufrufen?

»Das behauptest du jedes Mal, ohne mir Beweise liefern zu können. Ansgar leistet gute Arbeit, zahlt regelmäßig Steuern und kümmert sich ansonsten nur um seine eigenen Geschäfte. Warum sollte er sich mir widersetzen?«, warf Damianos ein.

»Das würde ich erfahren, wenn Ihr mir endlich erlaubtet, ihn zu foltern.«

Ein abfälliges Schnauben entfuhr Kieran, und die beiden Schwarzmagier blickten ihn an. »Unter der Folter gesteht doch jeder, was Ihr hören wollt, Dermoth. Das ist kein Beweis.«

Der Statthalter verengte die Augen und sah zu seinem Meister. Es war das erste Mal, dass Kieran Dermoth nicht mein Gebieter nannte und ihm auf Augenhöhe widersprach. Ein Wagnis und Test seiner neuen Position, die er sich dadurch verdient hatte, dass er Finn und die Fibel der Ubalden wie versprochen zu seinem Meister gebracht hatte. Dass ihm beide durch den Draugr Oisinn sofort wieder entwendet worden waren, konnte ihm Damianos nicht anlasten. Zum Glück ahnte dieser nichts von seiner Übereinkunft mit Oisinn. Gespannt wartete er daher auf seine Reaktion und wurde nicht enttäuscht.

Damianos ignorierte seine Unhöflichkeit gegenüber Dermoth, was diesem sichtlich missfiel. »Du warst Ansgars Lehrling, bevor du in meine Dienste getreten bist. Hattest du den Eindruck, er hetzt die Leute gegen mich auf?«

Kieran hatte von Aswin, Steels Sohn, gelernt, sich dem Zugriff auf sein Gedächtnis zu entziehen und seinem Meister eine andere Realität vorzutäuschen. Doch das war in diesem Fall nicht notwendig. »Nein, Herr. Der Schmied ist ein einsilbiger Mensch. Er hat mit mir nie über andere Dinge als die Arbeit gesprochen und in seiner freien Zeit nicht einmal die Dorfschenke besucht. Wann und wo sollte er gegen Euch vorgegangen sein? Er verbringt die Zeit vor dem Amboss.«

»Er hat dir ein ungewöhnlich wertvolles Geschenk gemacht.«

Den Dolch! Mitten in der Nacht waren seine Mutter und er blauäugig nach Temeduron aufgebrochen, um seinen Vater mit ein paar lächerlichen Münzen Bestechungsgeld aus der Festung zu befreien. Ansgar war plötzlich wie ein finsterer Geist am Wegesrand aufgetaucht und hatte ihm den kostbaren Dolch seines Landesfürsten in die Hand gedrückt. »Gib gut auf dich acht! Aus dir wird Großes werden.« Er hatte seither keine Zeit gefunden, über diese Worte und sein Geschenk nachzudenken.

»Ein Dolch, der es wert ist, seinen Gönner in Schutz zu nehmen«, zischte Dermoth.

»Warum sollte ich?«, Kieran lachte abfällig und hoffte, dass er seine Rolle gut genug spielte. Wenn Dermoth den Eindruck gewann, ihm würde etwas an Ansgar liegen, blühten seinem ehemaligen Lehrmeister bittere Zeiten. »Ich schleppe schon lange nicht mehr die Holzkohle für seinen Brennofen«, erklärte er daher verächtlich. »Ich weiß wirklich nicht, warum er ihn mir geschenkt hat. Vielleicht hatte Ansgar Streit mit Magnus von Finsterwalde, wollte ihm den Dolch nicht überlassen und hat ihn deshalb auf seinem Rückweg mir zugesteckt, um später zu behaupten, ich hätte ihn gestohlen. Wenn ich geahnt hätte, was sich in dem Lederbündel befindet, hätte ich es gar nicht erst angenommen.«

Damianos hob eine milchweiße Augenbraue und sah zu Dermoth.

»Davon ist mir nichts bekannt, Herr«, brummte dieser. »Doch ich werde Magnus fragen.«

»Lass den Schmied in Ruhe. Seine Waffen sind einzigartig, und wenn es in Zukunft zu Auseinandersetzungen mit den Weißmagiern kommen sollte, weil sie glauben, sich mir durch die Ankunft von Kierans Bruder widersetzen zu können, dürfen wir uns nicht nur auf unsere Magie verlassen. Wir müssen uns und unsere Anhänger mit den besten Waffen ausstatten. Das bringt mich zu einer weiteren Sache: Ich möchte, dass ihr beide euch ab heute neben der Duelliertechnik in Magie auch im physischen Kampf übt.«

Dermoth sah aus, als wäre ihm eine Fischgräte im Hals stecken geblieben. Schwerfällig, wie er war, würde er nur mit Kraft, niemals mit Wendigkeit und Geschicklichkeit im Schwertkampf punkten können. Gänsehaut kroch Kieran im Nacken hoch. Warum kam Damianos gerade jetzt auf Waffen zu sprechen? Vor seiner Abreise nach Aithér hatte er sich mit verschiedenen Abhandlungen über berühmte Schwerter und ihre Symbolik in der Bibliothek befasst. Ließ sein Meister ihn etwa beobachten und wollte ihn auf die Probe stellen? An einen Zufall glaubte er jedenfalls nicht.

»In einem lang währenden Kampf wird unsere Magie irgendwann erschöpfen, und dann müssen wir uns auf unser körperliches Geschick verlassen«, stimmte er daher seinem Meister zu. »Können wir unsere Magie nicht auch auf unsere Waffen übertragen? Einige Legenden erzählen von mächtigen Schwertern, die ihre Träger unbesiegbar machten.«

»Ammenmärchen!« Dermoth lachte abfällig. »Allenfalls waren sie ein Talisman mit geringer Zauberkraft, die vor allem auf dem Glauben der Kämpfenden beruhte.«

»Es gibt doch jede Menge mächtiger magischer Gegenstände, nehmt nur die Fibeln«, warf Kieran ein. Die zwölf Fibeln der Weißmagier waren neben der dreizehnten seines Meisters die wichtigsten magischen Artefakte in den drei Welten, denn nur mit ihnen konnte man die Welten überqueren, und man sagte ihnen auch andere Formen von Magie nach, die noch lange nicht alle entdeckt waren.

»Das ist eine andere Form von Magie, uralt, von den Göttern, den Altvorderen oder einem gottähnlichen Magier wie deinem Herrn, erschaffen«, Dermoth warf einen hündisch ergebenen Blick zu Damianos, »und ganz sicher nicht von einem Milchbart wie dir zu bewältigen. Man hat Serpentisstäbe entwickelt, denen eine Schlange innewohnt, Schwerter, die niemals rosten, leicht und wendig sind und nicht an Schärfe verlieren, Morgensterne oder Dolche, die einem bei Gefahr von selbst in die Hand springen. Doch in keiner der drei Welten wurde bislang eine Waffe entdeckt oder erschaffen, die ihrem Träger zum sicheren Sieg verhilft.«

Es war kaum zu überhören, wie sehr der Statthalter sich für Kriegsgerät begeisterte. Den Milchbart würde Kieran ihm ein anderes Mal heimzahlen. Vor Damianos ließ er sich nicht von der Beleidigung provozieren. »Ihr missversteht mich. Auch mir ist bisher kein Zauber untergekommen, der einen unbesiegbar macht. Gäbe es einen solchen, könnte man ihn direkt auf den Menschen anwenden und müsste dazu keine Waffe heranziehen. Angenommen, wir könnten jedoch unsere Magie in unseren Waffen für den Moment bewahren, in dem sie erschöpft ist? Wir würden dann von unserer eigenen Kraft zehren, und unsere Gegner müssten glauben, die Waffe würde uns unbesiegbar machen. Vielleicht ist das die Grundlage für jene Legenden und Ammenmärchen.«

Das zufriedene Lächeln in Damianos’ bleicher Miene verriet Kieran, dass sein Gedanke nicht lächerlich war. »In der Vergangenheit versuchten Magier, ihre Zauberkraft in Amuletten, Waffen, sogar in Kleidung zu verwahren. Ich hielt diese Ideen bislang für Zeitverschwendung.« Wer so mächtig wie er ist, hat die Beschäftigung mit Magieverstärkern auch nicht nötig, dachte Kieran. »Aber ich habe nichts dagegen, dass du deine Studien in dieser Richtung fortführst und mit deinem Dolch und den Waffen aus unserer Waffenkammer experimentierst. Überrasch mich, Lehrling!«

Deine Studien fortführst. Die Worte gingen Kieran nicht mehr aus dem Kopf, als er sich nach dem Gespräch mit seiner Eskorte zu seinen neuen Gemächern aufmachte, die ihm zur Belohnung für seine Dienste und als Beweis seiner neuen Stellung versprochen worden waren. Er hatte nicht von Studien, sondern nur von Legenden gesprochen. Das konnte nur eines bedeuten: Damianos ließ ihn tatsächlich in der Bibliothek beobachten und wusste ganz genau, womit er sich gerade beschäftigte.

So in Gedanken versunken, wäre er um ein Haar zu seiner alten Kammer weitergelaufen, doch die Schattenkrieger schlugen einen anderen Weg ein. Kieran erinnerte sich, wie beeindruckt er anfangs von dem Labyrinth der Anlage gewesen war. Temeduron besaß eine innere und eine äußere Festungsmauer sowie dreizehn Türme. Je höher die Zahl, umso näher kam man dem Zentrum der Festung und umso wichtiger war ihre Funktion. Eins und zwei waren Wachtürme vor der Brücke, die über den Drakowaram auf die Insel führte. In den fünf Türmen des äußeren Mauerrings waren alle Schattenkrieger sowie nichtmagisches Festungspersonal, Bibliothekare, Knechte, Mägde, Köche und ihre Gehilfen untergebracht. Wehrgänge verbanden die Gebäude zu einem Pentagrammstern und bildeten die fünfeckige innere Befestigungsmauer. Dort lagen die Stallungen, Wirtschaftsgebäude und Handwerksstuben. Kieran hatte das Fünfeck bislang nur mit Genehmigung von Damianos oder Dermoth verlassen dürfen. Doch auch das würde sich nun ändern, dachte er zufrieden, während er weiterschritt und durch ein Fenster auf den neunten Turm blickte. Dort waren die magischen Verliese für Weißmagier untergebracht, im zehnten eine gewaltige Bibliothek und im elften die Alchemiekammern und der daran anschließende Garten. Darin wurden Heilkräuter und Pflanzen für alchemistische Rezepturen angebaut. Damianos residierte natürlich über dem Thronsaal und Speisesaal im dreizehnten Turm, auf dessen Spitze der Drache Onyx in einer Pyramide aus blutrotem Glas hauste. Wenn er nicht gerade im magischen Verlies gesteckt hatte, war Kieran zuletzt über dem Badehaus untergebracht gewesen. Nun marschierten die Schattenkrieger mit ihm jedoch geradewegs zum zwölften Turm. Eine große Ehre, die bislang nur Dermoth zuteilgeworden war, der hier, über zwei Etagen, direkt unter dem Dach residierte. Neben prunkvollem Mobiliar sowie Stuck- und Goldverzierungen an den Wänden dominierten Waffen, Foltergeräte und ausgestopfte Tiere Dermoths heimeliges Zuhause.

Kieran machte sich auf das Schlimmste gefasst, als die Schattenkrieger vor einer doppelflügeligen, dunklen Holztür stehen blieben und ihm seine neue Unterkunft präsentierten. Doch die Einrichtung der Räume war schlicht und angenehm. Im Wohnbereich gab es zwei mit zart schimmernder grüner Seide bespannte Ottomanen, dunkle Regale voller Bücher und alter Pergamentrollen, einen Schreibtisch mit Schubladen und einen hohen Schrank mit Fächern, Tintengläsern, Federkielen und Siegelwachs. Kieran wanderte zum Bücherregal und betrachtete die ledernen Folianten. Schwer schluckend entdeckte er neben vielen alchemistischen Büchern genau die Werke, mit denen er sich zuletzt in der Bibliothek im zehnten Turm beschäftigt hatte. Damianos hatte seine Augen und Ohren wirklich überall. Ob ihn die Bibliothekare oder seine Grauen über verborgene Löcher in den Wänden beobachtet hatten, konnte Kieran nicht sagen. Auf jeden Fall musste er vorsichtiger sein. Die Bücher, die er künftig lesen würde, durften seinem Meister nicht verraten, dass er mit seinem Bruder Finn nach einer Möglichkeit suchte, seiner grausamen Herrschaft ein Ende zu setzen. Er musste die Wahrheit umkehren, seine Studien in ein für den Schwarzmagier günstiges Licht rücken.

Als Kieran durch einen Raum mit hübschen Wandmalereien und einem kleinen Tisch mit eingearbeitetem Schachbrettmuster schließlich ins Schlafgemach kam, wurde ihm flau im Magen. Es gab nur ein großes Himmelbett. Wie bei allen Waldgeistern sollte er das Serafina erklären? Wie sollte er ihr überhaupt begreiflich machen, warum sie hier war? Dermoth hatte ihm höhnisch erzählt, dass er sie davon überzeugt hatte, sie wäre aus ihrem Dorf in den Silberspitzbergen zu Kierans Vergnügen hierherbeordert worden. Sein Mund wurde trocken, und er verließ das Zimmer auf der Stelle wieder, schloss die Tür hinter sich und kam gerade rechtzeitig im Wohnbereich mit der Bibliothek an, als es an der Tür klopfte.

»Herein!«, rief er.

Die Tür schwang auf, und Kieran stockte der Atem. Serafina stand, flankiert von zwei Schattenkriegern, in dem bordeauxfarbenen Seidenkleid einer edlen Dame mit eng geschnürtem Mieder und Spitze an den Ärmeln im Türrahmen. Ihre langen, rotblonden Locken waren kunstvoll mit Seidenbändern zu einer aufwendigen Frisur hochgeflochten und am Hinterkopf festgesteckt. Noch nie war sie so schön gewesen.

Und noch nie ihr Blick so mörderisch.

Sis

Aithér, Jahr 2517 nach Elio, zweiter Mond des Herbstes, Tag 16

Etwas musste sich ändern.

Nächte und Schatten wurden länger, und die Laubbäume im Park von Amdeghall, ihrer malerisch an einem See und in der Nähe des Rabenforsts eingebetteten neuen Schule, färbten sich langsam bunt, doch Sis hatte bislang keinen Zugang zu ihrer Magie gefunden. Sie eilte durch die Weidenallee zu den kubischen Gebäuden am Campus der Magierakademie, wo die Novizen unterrichtet wurden. Der Weg nahm gar kein Ende, und Sis hielt den Blick fest auf das Pflaster gesenkt, das unter ihren Schritten in einem zarten Nachtblau, ihrer Clanfarbe, aufschimmerte. Verhaltenes Lachen hinter ihr.

»Schätze, die wird auch die nächsten Anfängerjahrgänge noch nerven.«

Blau.

»Stanwood sollte sie besser an diese neue Schule der Feuerbringererben nach Jadoo Mahal schicken. Dort kann sie zumindest was für ihre späteren Dienste im Haushalt eines Clanmitglieds lernen.«

Blau. Blau.

»Wer will denn die schon einstellen? Die trägt ihre Nase doch viel zu hoch!«

»Bei Elio! Ich möchte wirklich nicht in Aswins Haut stecken.«

Blau. Blau. Blau. Ihre Schritte wurden immer schneller. Das verdammte Pflaster glaubte mehr an die in ihr schlummernde Magie als sie selbst. Sis versuchte, ihre Mitschüler zu ignorieren, und fragte sich, was es über ihr Leben aussagte, dass neben ihrem Bruder und Luna ihr einziger Freund in Aithér ein Untoter war, dem man vor Jahrhunderten die Kehle durchgeschnitten hatte.

Die vergangenen Monate an der Akademie waren frustrierend gewesen. Ihr Schulleiter Adelar Stanwood hatte sie zunächst alle in die Anfängerklassen gesteckt, damit sie die ersten Grundlagen im Umgang mit ihrer Magie erlernen konnten. Denn das war nicht nur notwendig, um sich in der Welt der Weißmagier zu behaupten. Besonders in ihren Bruder Finn wurde die große Hoffnung gesetzt, dass er in einer künftigen Schlacht gegen Damianos antreten und der Prophezeiung zufolge siegen würde.

Sie hatten sich daher alle angestrengt, um die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Vor den Sommerferien hatten Finn und Luna bereits eine Klasse überspringen können und die letzten Wochen vor dem neuen Schuljahr darauf verwendet, für eine weitere Versetzung zu büffeln. Aktuell waren die beiden also zwei Jahrgänge über Sis, und das, obwohl ihr Bruder eineinhalb Jahre jünger war. Zu Hause an ihrer alten Schule in Khaos war Finn knapp am Sitzenbleiben vorbeigeschrammt und Sis Jahrgangsbeste in der Oberstufe gewesen. Sie hatte als Tutorin Zwölf- und Dreizehnjährigen Nachhilfeunterricht gegeben, statt neben ihnen die Schulbank zu drücken. Es war eine völlig neue Erfahrung für sie, plötzlich zu den schlechten Schülern zu gehören, und furchtbar demütigend.

An ihrer Lernbereitschaft lag ihr Versagen nicht. Sis verfügte über ein nahezu fotografisches Gedächtnis. Einmal Gelesenes konnte sie sich mühelos merken, Vokabellernen war für sie ein Klacks. Leider gab es hier keine Fremdsprachen. Die Magie dieser Welt sorgte dafür, dass sich alle verstanden – zumindest, was die gemeinsame Sprache betraf. Naturwissenschaftliche Fächer wie Chemie, Biologie und Physik wurden nicht gelehrt, nur Mathematik und Astronomie. Wenigstens darin konnte sie brillieren, ebenso in Weltenkunde, einer Mischung aus Geschichte und Politik. Während alle anderen Novizen diese drei Fächer hassten, weil sie nichts mit Magie zu tun hatten, waren sie ihr Rettungsanker und ihr einziger Unterricht mit Gleichaltrigen. Leider waren die übrigen neunzig Prozent magischen Themen gewidmet. Zauber und Flüche auswendig zu lernen, fiel ihr leicht. Aber das brachte herzlich wenig, wenn nichts geschah, sobald sie sie aussprach. Sie konnte sich einfach nicht ihre Magie erschließen – von einer besonderen Zauberliedmagie, die ihr innewohnen sollte, ganz zu schweigen.

Während sie frustriert an ihr Versagen dachte, erreichte Sis eine Brücke, auf der einige jüngere Mitschülerinnen aus ihrer Klasse an der Brüstung standen und lachend Fantasiewesen aus dem Wasser formten, sie über ihre Köpfe segeln und auf der anderen Seite wieder in den Kanal gleiten ließen. Über den ganzen Campus schlängelten sich diese Wasserkanäle. Dazwischen lagen Inseln mit Bambusbänken im Schilfgras – ein beliebtes Ziel in den Unterrichtspausen. Holzbrücken und Stege verbanden die einzelnen Gebäudeteile der Akademie. Amdeghall war eine wahrhaft beeindruckende Anlage und sah überhaupt nicht wie eine Schule aus. Schlichte, kubische Gebäude aus dunklem Holz mit Glaseinsätzen standen großzügig inmitten des Pflanzenmeers am rechten Seeufer von Ereduron, der Hauptstadt der Weißmagier und Sitz des Synods, verstreut, als hätte ein Riese sie über die parkähnliche Landschaft mit ihren Wasserläufen gewürfelt. Das größte Bauwerk, ein Quader, der den Speise- und Versammlungssaal beherbergte, war etwa zur Hälfte auf einem massiven Steinsockel errichtet und ragte weit auf den See hinaus. Scheinbar schwerelos schwebte er nur ein paar Handbreit über dem Wasser. Der Boden im Inneren war aus Glas, sodass man Fische und Korallen in den bizarrsten Farben und Formen im See unter sich wahrnehmen konnte. Eine willkommene Ablenkung, wenn die Vorträge der Magister wieder einmal zu langatmig wurden.

Klatsch!

Sis schrie auf, als ein Wassertier direkt über ihrem Kopf zersprang und sich auf ihr ergoss. Tropfnass wirbelte sie herum, aber die Mädchen waren schon kichernd von der Brücke gerannt. Eine von ihnen trug Nachtblau wie sie. Sheena war die jüngere Tochter von Norwin Deegan, dem Großmeister der Ubalden, und fand sich nur schwer mit der Demütigung ab, dass Sis zu ihrem Clan gehörte. Für die Zwölfjährige war sie ein Schandfleck, mit dem sie nicht gerne in Verbindung gebracht wurde. Grund genug, ihre Abneigung vor ihren Freundinnen so oft wie möglich zu demonstrieren.

Sis sah an sich herunter. Das hatte ihr noch gefehlt! Musste das gerade vor ihrer Übungsstunde mit Aswin passieren? Stanwood hatte ausgerechnet Steels begabten Sohn dazu verdonnert, sie in den Wochen bis zum neuen Schuljahr zu trainieren. Eine Aufgabe, die nicht nur vollkommen sinnlos schien, sondern auch das Mitleid aller erregte, ganz besonders das von Aswin selbst. Wenn ihr Schulleiter doch nur Helen damit beauftragt hätte! Im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester Sheena war die gleichaltrige Ubaldin wenigstens nie offen unfreundlich zu ihr, lediglich kühl und zurückhaltend. Sis wischte sich das Wasser aus dem Gesicht, wrang die nassen Haare aus und marschierte zügig weiter. Ihre feuchten Schuhe gaben schmatzende Laute von sich, und sie fühlte sich wie auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung.

Ich werde nicht aufgeben. Ich werde nicht aufgeben. Ich werde nicht aufgeben.

Diesen Satz sagte sie sich bei jedem Fehlschlag, wiederholte ihn wie ein Mantra mehrmals am Tag, und er war das Letzte, woran sie dachte, wenn sie einschlief. Denn weitermachen und hoffen, dass sie doch irgendwann den Zugang zu ihrer Magie finden würde, war das Einzige, was ihr blieb, um ihren Stolz zu bewahren. Erst wenn sie aufgab, wurde sie zu dem, was alle in ihr sahen: eine Versagerin. Nichtmagierin. Feuerbringererbin – wie Luke und ihre Mutter. Sie vermisste ihren besten Freund, der in der Nichtmagierstadt Jadoo Mahal geblieben war. Gerne hätte sie ihn ihrer Mutter Laura vorgestellt. Denn endlich hatten sie sich wieder. So viele Jahre waren sie getrennt gewesen, und nun konnte sie nach dem Unterricht einfach jederzeit zum Clansitz der Ubalden in die Stadt laufen und mit ihrer Mutter über alles sprechen. Über alles – außer ihrer Magie, denn davon verstand Laura nichts. Ihre Magie hatten Sis und ihre Brüder von ihrem Vater geerbt.

Als Sis nun das Trainingsgebäude erreichte, aus dem die Stimmen anderer Novizen mit Nachhilfeunterricht klangen, stand Aswin am Eingang neben einem Ahornbaum mit feuerrotem Laub. Wie immer versetzte seine Erscheinung ihr einen leichten Stich. Schon bei ihrer ersten Begegnung am Tag des tragischen Kampfes um Ash Hall vor viereinhalb Monaten, bei dem sein Vater starb, hatte etwas an ihm sie in den Bann gezogen. Vielleicht waren es nur die tragischen Umstände gewesen oder dieser Hauch von Melancholie, der seine makellose Schönheit überschattete. Haare, schwarz glänzend wie Rabengefieder, umrahmten ein stolzes, kantiges Gesicht und fielen ihm in die hohe Stirn und auf die breiten Schultern.

»Entschuldige!«, rief sie atemlos. »Ich wurde aufgehalten.«

»Das sehe ich.« Er schwieg, seine Miene eine unleserliche Maske, während sein Blick von ihrem feuchten Haar über ihre tropfnasse Kleidung bis zu ihren durchweichten Schuhen wanderte. Seine Lippen verzogen sich zu einem herablassenden Lächeln. »Dann werde ich dich eben draußen unterrichten, damit du den Holzboden nicht ruinierst.«

Sis schnappte nach Luft. Über ihren Armen lag eine Gänsehaut, und sie zitterte vor Kälte. Es war Spätnachmittag, die Sonne schickte nur noch wenige wärmende Strahlen, und Wind zog auf. Hier war es deutlich kühler um diese Jahreszeit als daheim in Khaos, vergleichbar vielleicht mit Schottland. Sis wünschte, Finn oder Luna wären jetzt hier. Sie hätten schneller einen Trocknungszauber ausgesprochen, als Aswin mit den Augen rollen konnte. Doch Sis würde sich lieber die Zunge abbeißen, als den arroganten Jungmagier um diesen Gefallen zu bitten. Also reckte sie nur entschlossen das Kinn und erklärte: »Gut!«

Aswin schlenderte voraus und zupfte sich ein rotgoldenes Ahornblatt von der schwarzen Tunika. Unter den silbernen Adlerschwingen, die alle Schüler an Stanwoods Magierakademie auf ihren verschiedenfarbigen Tuniken trugen, prangte das Symbol der Hunolds: ein grimmig dreinschauender Bär, der so gar nicht zu Aswins geschmeidigem Gang passen wollte.

Als sie die Brücke erreichten, von der sie gerade erst gekommen war, schwang er sich elegant auf das Geländer und befahl: »Zieh die Schuhe aus!«

Es waren zwar nur wenige Novizen in der Nähe, aber die blickten jetzt neugierig zu ihnen herüber, als Sis sie abstreifte.

»Wie lautet der Trocknungszauber?«, fragte Aswin und betrachtete gelangweilt seine Fingernägel.

»Siccate!«, murmelte sie, fixierte dabei die Schuhe und fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden, weil wieder einmal nichts geschah.

Ich werde nicht aufgeben.

»Noch mal!«

»Du musst es einfach nur tief genug in dir fühlen«, hatte Luna ihr zu erklären versucht. »Magie ist … wie Herzklopfen und Flattern im Bauch und Brause im Mund. Ein Prickeln überall.«

»Du meinst, wie das, was du empfindest, wenn du Finn siehst«, hatte Sis sie neckisch aufgezogen, und Lunas Wangen waren feuerrot geworden.

Sie probierte es. Erfolglos.

»Noch mal!«, forderte Aswin und erwiderte unbarmherzig ihren ungläubigen Blick. War das sein Ernst?

Steels Sohn war der brillanteste Magier der Akademie, gut aussehend obendrein. Menschlich gesehen jedoch einfach nur ein Arsch! Einige der Jungen und Mädchen kamen näher, und bald hatte sich eine große Traube um sie auf der Brücke gebildet. Das war kein Unterricht mehr, das war gezielte Demütigung, denn er hätte ebenso gut an einem unbelebteren Ort mit ihr üben können. Bislang hatte er sie nur seinen Hochmut spüren lassen. Das hier war eine neue Dimension. Er versuchte nicht einmal, ihr zu erklären, wie sie es besser machen konnte. Wobei das vermutlich auch keinen Zweck gehabt hätte. Finn hatte ihr bereits erklärt, es genüge nicht, den Spruch aufzusagen. Sis konnte die Stimme ihres Bruders regelrecht im Kopf hören: Stell dir vor, was du mit dem Zauber erreichen willst. Wie sehen deine Schuhe im trockenen Zustand aus? Wie fühlt es sich an, wenn das weiche Leder sich warm an deine Füße schmiegt?

Doch alles, was Sis vor sich sah, waren die dunklen, nassen Flecken auf dem Leder. Und alles, was sie spürte, war die klamme Kälte auf ihrer Haut, eisige Tropfen, die langsam ihren Rücken hinunterrannen und sie plötzlich zum Niesen brachten. Sie ignorierte das Kichern im Hintergrund, verdrängte das Klappern ihrer Zähne und tat ihr Bestes. Doch es wollte ihr einfach nicht glücken. Wieder und wieder und wieder schleuderte sie Aswin verbissen und hasserfüllt den Zauberspruch in sein höhnisches Gesicht, konzentrierte sich irgendwann gar nicht mehr auf ihre Schuhe, sondern nur auf ihn. Sie wünschte, sie könnte den Mistkerl mit ihren Worten vom Geländer ins Wasser fegen.

Plötzlich nahm sie aus den Augenwinkeln eine Gestalt in Nachtblau wahr, die sich ihren Weg durch das Meer aus bunten Tuniken bahnte, und Sis umfing im nächsten Moment himmlische Wärme. Ihr Haar umspielte luftig weich ihre Wangen, und sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, während sie in die trockenen Schuhe schlüpfte. Nicht ein Wasserfleck war mehr auf dem Leder zu sehen. Gott sei Dank war Finn gekommen!

Dass der Zauber, der sie aus ihrer peinlichen Situation gerettet hatte, nicht laut ausgesprochen worden war und es deshalb gar nicht ihr Bruder sein konnte, dem wortlose Magie bislang noch nicht gelang, wurde ihr erst bewusst, als eine helle Stimme erklang: »Musst du dein verletztes Ego auf diese unwürdige Weise wieder aufpolieren, Hunold?«

Ein Raunen ging durch die Menge. Sis erstarrte und hob den Kopf. Neben ihr stand Helen Deegan. Ihre kastanienbraunen Locken schimmerten rotgolden in der Abendsonne. Mit ihren fein geschnittenen Gesichtszügen und grünen Augen konnte man sie nur als bildschön bezeichnen. Doch nun, da ihre athletische Figur vor Missbilligung zu vibrieren schien, hatte sie beinahe etwas Einschüchterndes an sich. Mit hervorgerecktem Kinn, die Arme über der Brust verschränkt, heftete sie den Blick fest auf Aswin. Seit Sis an der Akademie war, hatte keiner der anderen Magierschüler Partei für sie ergriffen. Schon gar nicht gegen Mr Supermagier. Zu ihrem Erstaunen bemerkte sie, wie Röte seine Wangen überzog, während er sich vom Brückengeländer schwang und auf sie zuschlenderte. Etwas lag in der Art, wie die zwei sich ansahen … ein Blickduell, in dem viele ungesagte Worte hin- und herflogen.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, entgegnete Aswin gelangweilt, und Sis entging dennoch nicht das leichte Zittern in seiner Stimme. »Aber womöglich fehlt mir nur die Erfahrung im Umgang mit Feuerbringererben, um hoffnungslose Fälle wie diesen hier zu unterrichten. Sicher wärst du viel besser geeignet. Warum gehst du nicht zu Stanwood und schlägst es ihm vor?«

Was auch immer da gerade zwischen den beiden ablief, hatte nichts mit ihr zu tun, und Sis hatte keine Lust, weiterhin der Spielball in ihrem Wettstreit zu sein. Außerdem bebte sie vor Wut über die Demütigung. Auf diesen Unterricht konnte sie gut und gerne verzichten!

»Jeder wäre dazu geeigneter, Aswin«, sagte sie deshalb laut und zwang sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Sogar ein Feuerbringererbe. Denn stell dir vor, sogar der kann auf der Brücke thronen und wiederholt ›Noch mal!‹ blöken. Wenn ich es mir recht überlege, gelingt das selbst einer gut dressierten Ziege.«

Jetzt hatte Sis die Lacher auf ihrer Seite, und über Helens Miene zuckte ein Lächeln. Ohne Aswins Reaktion abzuwarten, drehte Sis sich um und quetschte sich durch die Menge. Doch als sie das Ende der Brücke erreichte, stieß sie gegen eine unsichtbare Barriere und taumelte mit schmerzender Stirn zurück. Verdammt! Das würde eine ganz schöne Beule geben.

»Dein Unterricht ist nicht beendet, Sisgard Winter!«, vernahm sie Aswin in ihrem Rücken gehässig.

»Was fällt dir ein!«, rief Helen, und auch andere Stimmen wurden laut. Außerhalb von Unterrichtsduellen durften sie keine Flüche gegeneinander einsetzen.

Sis wirbelte herum.

»Ich habe dir nichts getan«, behauptete Aswin unschuldig und zuckte die Schultern. »Wenn du magische Mauern nicht erkennst und dagegenrennst, ist das allein deine Schuld.«

»Wenn du glaubst, du kannst dir alles erlauben, nur weil du deinen Vater ins Grab gebracht und seine Fibel an dich gerissen hast …«

Aswins Gesicht wurde aschfahl. »Lass meinen Vater aus dem Spiel, Helen«, zischte er, und Sis erkannte, dass einige Schüler vor ihm zurückwichen. Eine Aura schwarzer Magie hatte sich um ihn gebildet, die selbst Sis’ ungeübtem Auge nicht entging.

Helen jedoch blieb ungerührt vor ihm stehen, und Sis bewunderte sie für ihren Mut. Sie hatte Aswin in Duelliertechnik kämpfen sehen und dabei vergessen zu atmen. Keiner konnte es mit ihm aufnehmen, er besiegte sogar die meisten Magister. Sein Vater musste ihn wie ein Besessener trainiert haben.

»In ein paar Monaten werde ich meine Prüfung als einer der besten Absolventen dieser Schule ablegen, und ich bin das jüngste Mitglied aller Zeiten im Weißen Synod«, erklärte Aswin gefährlich leise.

Sis verdrehte innerlich die Augen vor so viel Arroganz.

»Du willst doch nur in die Fußstapfen deines Vaters treten!«, schnaubte Helen.

»Um euch alle zu retten, jawohl! Ich werde einflussreicher sein als jeder andere hier. Leg dich also besser nicht mit mir an!«

Sis’ Herz verkrampfte sich bei der unausgesprochenen Drohung, die hinter seinen Worten lag. War das sein Ernst? Aswin würde künftig dafür verantwortlich sein, Damianos die jährlich geforderten Menschentribute auszuliefern, und konnte seine Stimme im Synod tatsächlich einsetzen, um über Leben und Tod zu entscheiden. Natürlich wurden die Tribute in einer gemeinsamen Abstimmung von allen Synodsmitgliedern verurteilt. Allerdings hatte sie in Weltenkunde gelernt, dass der Bote nicht nur doppeltes Stimmrecht, sondern auch ein Vetorecht besaß. Aswins Vater hatte es anscheinend kein einziges Mal ausgeübt. Nicht einmal, als seine eigene Frau Anjouli, wie von Damianos gefordert, eine Graue werden sollte. Suryal hatte das seinem Schwiegersohn niemals verziehen, und erst bei Steels Tod waren die wahren Hintergründe ans Licht gekommen. Anjouli hatte sich selbst zur Rettung ihres Sohnes ausgeliefert. Und nun drohte eben dieser seinen Mitschülern mit ihrem Todesurteil? Das konnte doch nicht wahr sein!

»Jetzt hört schon auf, ihr zwei!«, rief ein Junge in der sandfarbenen Tunika der Kalamanen mit dem Fackelsymbol auf der Brust beschwichtigend. »Wir sollten uns lieber auf den Überbringer konzentrieren und darauf, wie wir ihn künftig unterstützen können.«

Aswin schnaubte verächtlich. »Warum wundert es mich nicht, dass der Vorschlag ausgerechnet von dir kommt, Kaleo?«

In den letzten Monaten war Sis so auf ihr eigenes Scheitern konzentriert gewesen, dass sie die Spannungen zwischen den anderen nur am Rande wahrgenommen hatte. Aswin war der Elitejungmagier der Akademie, selbst Helen, die ebenfalls zu den Besten gehörte, konnte es nicht mit ihm aufnehmen. Anfangs hatte Sis den Eindruck gehabt, dass alle Aswin für sein Können bewunderten oder ihn wegen seines guten Aussehens anhimmelten. Doch die Ereignisse während des Kampfes um Ash Hall schienen sich herumgesprochen zu haben. Aswin war ohne Zweifel ein Idiot. Aber in diesem Moment hatte Sis wieder vor Augen, wie verzweifelt er an dem Tag gewesen war. Der Tod seines Vaters hatte ihn ganz schön mitgenommen. Sie dachte nach. Konnte es sein, dass seine Mitschüler ihm die Macht und den Einfluss neideten, über die er als einziger Weißmagier im Besitz seiner Clanfibel verfügte? Und ihm das mit Sticheleien wegen der Todesumstände seines Vaters heimzahlten?

Helens Stimme riss sie aus ihren Überlegungen.

»Führ deinen Unterricht ein andermal fort, Aswin! Für heute hat sie genug.«

»Das hast nicht du zu entscheiden!«

Aswins Blick wanderte von Helen zu ihr, und Sis bereute ihr Mitgefühl für ihn angesichts der Wut, die in seinen Augen loderte.

»Zauberliedhüter haben ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen. Das ist eine mächtige Gabe. Wer die Gefühle und Beweggründe seines Gegners durchschaut, kann ihn leichter beeinflussen.«

Das hatte Arun Suryal zu ihr gesagt, nachdem sie Oisinn auf ihre Seite gezogen hatte. Darauf, Aswins Gefühlswelt zu durchschauen, konnte sie jedoch gut und gerne verzichten. Sie bezweifelte, dass es ihr irgendeinen Nutzen bringen würde. Besser, sie lernte endlich, einfache Zauber auszuführen.

Helen wandte sich derweil ohne ein weiteres Wort von Aswin ab und kam durch die Schülermenge auf sie zu. Ihr Gesicht zeigte keinen Funken Sympathie für Sis. Sie hob die Hand und bewegte die Lippen, um die unsichtbare Barriere zu entfernen. Schnell folgte Sis ihr, bevor Aswin es sich anders überlegte und sie weiterquälte.

»Danke«, murmelte Sis, nachdem Helen und sie eine Weile stumm nebeneinander hergegangen waren.

»Ich habe das nicht für dich getan.«

»Ich weiß. Du wolltest die Ehre der Ubalden retten«, sagte Sis bitter und dachte daran, dass es Helens kleine Schwester gewesen war, die ihr den Schlamassel überhaupt erst eingebrockt hatte. Sie würde das Mädchen dennoch nicht bei ihr verpetzen.

»Halt dich in den nächsten Tagen besser von Aswin fern. Er kann ziemlich unangenehm und nachtragend sein.«

»Das habe ich gemerkt. Aber Stanwood hat nun mal angeordnet, dass er mich dabei unterstützen soll, mir meine Magie zu erschließen. Wie soll ich mich da bitte von ihm fernhalten?«

»Du könntest dich unwohl fühlen.« Helen wandte ihr nun doch den Kopf zu. Ihre grünen Augen schimmerten moosgrün im fahlen Licht der untergehenden Sonne. »Ich könnte nachhelfen.«

»Nein, danke!«, erwiderte Sis rasch. »Aswin würde sofort eine Manipulation vermuten, ich müsste die Heilerinnen aufsuchen. Das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, ist, für feige gehalten zu werden.«

Helen zuckte die Schultern. »Sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Finn

Aithér, Jahr 2517 nach Elio, zweiter Mond des Herbsts, Tag 16

Finn hasste es, wie die Weißmagier über seinen Zwillingsbruder Kieran sprachen. Er hasste es aber auch, wie sie über ihn selbst sprachen. Am meisten jedoch gingen ihm diese langwierigen Versammlungen auf die Nerven, an denen er als Überbringer teilnehmen musste.

»Eure Bedenken in Ehren, Ramón, doch wir haben vermutlich nur einen Versuch, den Blutäugigen zu vernichten«, sagte Adelar Stanwood gerade stirnrunzelnd zu Lunas Vater. »Solange wir nicht wissen, in welchem Ausmaß Damianos’ Magie hier in Aithér und in Khaos eingeschränkt ist, können wir ihm die jährlich geforderten Tribute vor Samhain nicht verweigern. Das würde unkontrollierte Angriffe durch Schattenkrieger und andere magische Kreaturen nach sich ziehen und zu grausamen Gemetzeln führen, falls er nicht sogar in seiner Wut einen neuen Krieg heraufbeschwört. Und dann würde er sich gezielt die mächtigsten Weißmagier als Tribut aussuchen.« Finn entfuhr ein abfälliges Schnauben bei dem Gedanken daran, wie hier über den Tod von Menschen entschieden wurde, sein Schulleiter sprach jedoch unbeirrt weiter. »Aktuell haben wir außerdem alle Hände voll damit zu tun, die aufständischen Feuerbringererben in ihre Schranken zu verweisen und einen Bürgerkrieg in Aithér zu verhindern.«

»Ihr müsst ihnen nur endlich im Weißen Synod ein Stimmrecht geben«, erklärte Finn schulterzuckend, und diesmal erntete er wirklich einen missbilligenden Blick von Stanwood. Egal. Wenn er schon mal dabei war, konnten sie gleich seine volle Meinung zu diesem Thema hören. »So wie ich das sehe, machen sich die Mitglieder des Weißen Synods mitschuldig. Als Damianos’ Henker bestimmt ihr schließlich, wer Tribut wird und wer mit dem Leben davonkommt. Das schreit doch geradezu nach Bestechung und Vetternwirtschaft.«

Der Schulleiter starrte ihn schockiert an, aber bevor dieser etwas erwidern konnte, polterte Norwin Deegan, der Großmeister seines Clans, los. »Wir machen uns diese Entscheidung nicht leicht. Und so einfach, wie du denkst, ist es nicht, der Liste der Tribute zu widersprechen, die uns Damianos vorsetzt.«

Ramón seufzte und faltete die Hände über dem Tisch. »Lass uns darüber ein andermal sprechen, Finn.«

Als ob sie das nicht schon getan hätten. Der Gundolver hatte ihm und Luna zu erklären versucht, dass diese Welt an der Schwelle zur Aufklärung stand. Es gab zwar keinen König oder Kaiser, doch der Weiße Synod war vergleichbar mit der Herrschaft einer Adelskaste von Magiern.

»Was erwartet ihr beiden? Politische Umwälzungen, wie ihr sie aus euren Geschichtsbüchern kennt, brauchen Zeit. Wir können hier nicht einfallen und den Menschen unsere demokratischen Ideen von gestern auf heute aufzwingen«, war eines der Hauptargumente von Ramón gewesen.

»Na toll! Und deshalb willst du dieses ungerechte System unterstützen?«, hatte Luna sich aufgeregt.

»Nein, Cariño, doch wir sind hier Gäste, und als solche haben wir die Gebräuche dieses Landes zu respektieren.«

»Etwa auch die jährlichen Menschenopfer?«, hatte Luna spitz erwidert, und Finn liebte sie für ihren wilden Eifer noch ein Stückchen mehr.

»Außerdem müssen wir uns auf einen Krieg gegen Damianos viel besser vorbereiten«, warf Darion Aragus, der Großmeister der Gundolver, nun ein und musterte Finn nachdenklich.

Was er damit eigentlich sagen wollte, war: Du als Überbringer bist lange nicht so weit, dich ihm entgegenzustellen.

»Duncans letzte Worte vor seinem Tod lassen vermuten, dass Damianos immer noch sehr mächtig ist, sonst hätte er ihm niemals Anjouli ausgeliefert, sondern versucht, gegen ihn zu kämpfen«, überlegte Suryal. »Kein anderer Weißmagier hätte überhaupt eine Chance, gegen ihn in einem schwarzmagischen Duell zu bestehen.«

»Hier sehe ich großes Potenzial in eurem Enkel«, stimmte Norwin, der Großmeister der Ubalden, zu. »Wir sollten darauf bauen, dass Finn und Aswin einander in ihrer Magie ergänzen und intensiv zusammen üben.«

Finn, der gerade einen Schwarm kobaltblauer Fische mit gelben Schwanzflossen durch den Glasboden der Versammlungshalle unter sich betrachtet hatte, fiel fast vom Stuhl. »Reicht schon, wie Aswin meine Schwester piesackt. Ich kann gut und gerne auf seine großspurigen Belehrungen verzichten!«

Norwin hob eine Augenbraue. »Wir können von Glück sagen, dich nicht bereits an Damianos verloren zu haben, weil dieser Draugr deine Entführung vereitelt hat. Du solltest etwas mehr Engagement zeigen, von Aswin zu lernen, wie du dich gegen deinen hinterhältigen Bruder künftig besser verteidigen kannst.«

Wenn die nur wüssten! Kieran stand in Wahrheit auf Finns Seite und spielte nur den loyalen Lehrling seines dunklen Meisters. Doch das durfte er niemandem verraten. Dieser Gedanke brachte ihn wieder zurück zu Kierans Bitte, mehr über die Prophezeiung ihrer gemeinsamen Vorfahrin Ariana und den Fibelzauber herauszufinden. Zwar hatte er alle Schriften gelesen, die es in der Bibliothek von ihr gab, aber aus ihren wirren Vorhersagungen war er auch nicht schlauer geworden. Finn räusperte sich.

»Und dann? Was soll geschehen, wenn ich gelernt habe, mich so gut wie Aswin zu duellieren? Ihr habt selbst gesagt, dass man mit der Fibel nur eine begrenzte Personenzahl mit sich in eine andere Welt nehmen kann. Wir haben nur die Fibel der Ubalden und die der Hunolds. Bis Aswin und ich damit ein Heer von Weißmagiern nach Erebos geschafft hätten, wäre Damianos längst auf uns aufmerksam geworden und würde uns erwarten. Mit all seiner Macht, seinen Schattenkriegern und dämonischen Bestien. Die würden uns einfach schön nacheinander abschlachten. Soll das die Prophezeiung von Ariana sein? Oder glaubt ihr, Damianos taucht freiwillig hier in Aithér auf, um sich – angeblich geschwächt – einem Kampf zu stellen?«

»Das hätte er gar nicht nötig«, stimmte Adelar düster zu. »Wenn er all die finsteren Wesen, die er erschaffen hat, auf unsere Welt losließe, könnten wir ihnen auf Dauer wohl nicht standhalten. Wir haben das schon einmal vor Jahrhunderten erlebt. Damals stellte sich ihm auch der junge Erbe der Laujamagen entgegen, der dich vor Damianos gerettet hat. Er kann dir von diesem Schrecken berichten.«

»Oisinn?«

»Ebender. Wir hatten nicht die geringste Chance gegen die Übermacht des Blutäugigen. Nachdem er den letzten Kampfwilligen besiegt hatte, zogen jahrelang Vishaps durch das Land und verseuchten die fruchtbare Erde. Viele starben durch Hungersnöte und Krankheiten. Die Kämpfenden, die nicht getötet worden sind, machte Damianos zu seinen Schattenkriegern, bis auf einige wenige, mit denen er besonders Grausames vorhatte, wie dem Laujamagen-Erben.« Adelar schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich unglaublich, dass es ihm nicht vollends gelungen ist, den Kern des Guten in Oisinn auszulöschen.«

Finn dachte daran, wie der Draugr ihn nach ihrer ersten Begegnung zusammen mit den anderen verfolgt und gefoltert hatte. »Womöglich hat meine Schwester auch nur etwas in ihm wiedererweckt«, grübelte er. »Und was, bitte schön, sind Vishaps?«

»Rauchdämonen. Sie sehen aus wie schwarzer Nebel, der über den Boden wallt, und überziehen das Land mit Pest und Tod. Doch sie können direkt in menschliche Wirte fahren und sie von innen heraus zerstören, nachdem sie unentdeckt eine Menge Unheil angerichtet haben. Einige von uns denken, sie wurden ausgelöscht. Andere sagen, Damianos könne sie jederzeit auferstehen lassen und gegen uns einsetzen.«

Finn schauderte. »Klingt toll. Und ihr habt die ganze Zeit über keinen anderen Plan gefasst, als auf einen Überbringer in Gestalt eines magiegewaltigen Superhelden zu warten, der hier aufkreuzt und euch mal eben so mit der Fibel der Ubalden vor Damianos rettet? Kein Wunder, dass alle restlos enttäuscht von mir sind!«

»Was erwartest du? Uns bleibt nichts anderes übrig, als dich auszubilden und zu hoffen, dass du irgendwann auf den mysteriösen Zauber stößt, der in der Fibel schlummern soll. Ich habe dir bereits alle Schriften Arianas, die wir besitzen, gegeben.«

Das Wenige, was sich in der wirren Aneinanderreihung von Worten überhaupt auf den Überbringer bezogen hatte, kannte Finn inzwischen natürlich auswendig. Die Schlüsselstelle war:

Nach hundert Generationen schließt sich der Kreis,

das drohende Ende bringt den Überbringer hervor.

Nur durch ihn öffnet sich das Tor

und gibt Blutauge endgültiger Vernichtung preis.

Norwin hatte ihm erklärt, dass das Tor laut den Gelehrten für die Zaubermagie stand, die der Fibel innewohnte. Sie würde nicht nur zu Damianos’ Welt führen, sondern auch zu seiner Vernichtung. Doch was hatte das mit einem sich schließenden Kreis auf sich?

»Es gibt ganz sicher keine weiteren geheimen Schriftrollen? Vielleicht in einer anderen Bibliothek?« Finn sah hoffnungsvoll zu Stanwood und Suryal, die beide den Kopf schüttelten.

»Ich hasse schwammige Weissagungen!«

Norwin nickte zustimmend. »Dieses Gefühl teile ich voll und ganz. Aber wir können dir bei deiner Aufgabe nicht mehr Unterstützung bieten. Jeder von uns hat die Fibel eingehend überprüft und nichts erkennen können, das dich dazu befähigen würde, etwas anderes als eine Überquerung der Welten vorzunehmen.« Er beugte sich vor und tippte Finn gegen die Brust. »Umso wichtiger ist es, zumindest deine magische, mentale und physische Ausbildung weiter voranzutreiben.«

Großartig! Noch weniger Zeit, die er mit Luna verbringen konnte. Und ausgerechnet Training mit Aswin! Dann dachte er an Kieran und seinen Vater in Erebos und kam sich plötzlich furchtbar egoistisch vor. Vielleicht war es zu früh, die Magier vor ihm in das Geheimnis einzuweihen, das er entdeckt hatte. Andererseits brauchte er ihre Unterstützung, denn die Gefahr, dass er oder die Fibel bei eigenmächtigen Experimenten verloren gingen, war einfach zu groß. Ramón, Arun, Norwin, Darion und Adelar hatten den Synod dazu gebracht, dass Finn mit seiner Fibel tagsüber unter ihrer Aufsicht uneingeschränkt experimentieren und sie nur nachts in Sicherheitsverwahrung geben musste, obwohl das vielen Magiern im Synod gar nicht passte. Er wusste, er konnte ihnen bedingungslos vertrauen, und gab sich einen Ruck.

»Ihr geht immer nur davon aus, der Kampf gegen den Blutäugigen würde in einer der drei Welten stattfinden.«

»Wo sollte er sich denn sonst abspielen?«, brummte Norwin stirnrunzelnd. »Im Zwischenweltenbereich? Ausgeschlossen.«

Alle Augenpaare waren auf ihn gerichtet, während er die Fibel aus der Tasche seiner Tunika zog und sie vor ihnen auf den Tisch ablegte. »Was, wenn der Fibelzauber, den Ariana beschrieben hat, gar keine besondere Magie gegen Damianos ist? Was, wenn mit dem Tor gar nicht ein Ort gemeint ist, sondern eine Zeit? Ein Moment in Damianos’ Leben, in dem er besonders angreifbar und in seiner Macht eingeschränkt ist?«

Kapitel 2

Kieran

Erebos, Jahr 2517 nach Damianos, dritter Mond des Frühlings, Tag 29

Die Tür fiel hinter Serafina ins Schloss, und Kieran lief unter ihrem eisigen Blick ein Schauer über den Rücken. Ihre Nasenflügel bebten, während sie, atemberaubend schön, wie eine vom Himmel gefallene Rachegöttin vor ihm stand. Instinktiv hob er beschwichtigend die Hände, aber sie durchquerte blitzschnell den Raum. Das Rascheln des aufwendigen Kleides hallte in Kierans Ohren nach, da spürte er bereits einen brennenden Schmerz auf der Wange. Er blinzelte überrascht und starrte auf ihre erhobene Hand.

»Serafina, ich wollte niemals …«

Sie drückte ihm den Zeigefinger fest gegen die Brust. »Wag es ja nicht, irgendetwas zu deiner Verteidigung zu sagen, Kieran Winter! Es gibt nichts, hörst du, absolut nichts, was es rechtfertigen würde, mich in dieser Lage von meiner Familie wegzureißen. Du weißt ganz genau, dass meine Mutter meine Hilfe nach Vaters Tod braucht. Also, gleichgültig, ob ich zu deinem Vergnügen – wie Dermoth behauptet – hierhergeschafft worden bin oder um als neues Druckmittel gegen dich zu dienen, damit dein Vater freikommt, ich hasse dich dafür, dass du mir das angetan hast! Ich hasse dich abgrundtief!«

Bei den Göttern, sie war hinreißend in ihrer Wut! Allerdings musste sie ihn schon sehr schlecht kennen, wenn sie Dermoths bösartige Verleumdungen glaubte, und offenbar hatte sie sich inzwischen selbst ihre Gedanken dazu gemacht. Niemals hätte er jedoch vorgeschlagen, seinen Vater gegen sie auszutauschen. Dumm nur, dass er ihr das zu ihrem eigenen Schutz nicht sagen durfte. Und in diesem Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Es war vollkommen unmöglich, mit Serafina offen über seine Pläne und Gefühle zu sprechen. Sie war nicht einfach nur ein Druckmittel gegen ihn – wie sie selbst schon vermutete. Sie war eine neue, scharf geschliffene Waffe in der Hand seines Meisters! Denn sein Vater hatte sein Inneres vor Damianos verbergen können – Serafina als Nichtmagierin konnte das nicht. Sie war der perfekte Köder für seinen Lehrling. Alles in Kieran drängte ihn dazu, ihr seine Geheimnisse zu offenbaren, damit sie ihn verstand und nicht mehr so hasserfüllt musterte. Doch sobald Damianos in Serafinas Gedanken eindrang, waren sie beide und die drei Welten verloren. Nein, Kieran musste einen anderen Weg finden, ihr seine Gefühle zu zeigen und gleichzeitig für seinen Meister die Maske des gehorsamen Lehrlings zu wahren.

Fieberhaft dachte er an ihre gemeinsame Kindheit, Streifzüge durch den Wald, daran, wie Serafina in langen Nächten bei ihnen am Tisch gesessen und seiner Mutter mit der Zubereitung von Salben und Tinkturen aus Heilkräutern geholfen hatte. Und plötzlich kam ihm eine Idee. Er räusperte sich, sah sie durchdringend an und senkte dann den Blick auf seine rechte Hand. Er drückte Ringfinger und Mittelfinger gegen den Daumen, während er Zeigefinger und kleinen Finger abspreizte. Sein Vater hatte für sie an langen, dunklen Winterabenden im Schein der Öllampe Schattenspiele an die Wände geworfen und ihnen Märchen und Fabeln aus Khaos erzählt. Damals hatte Kieran natürlich nicht ahnen können, woher sie stammten, und sich gewundert, dass weder Serafina noch Rangar oder Ulric die Geschichten seines Vaters kannten. Er konnte nur hoffen, dass Serafina sich jetzt an die Handgesten erinnerte. Denn er wagte nicht, den Schatten an die Wand zu werfen. Er könnte als Bild in ihrem Kopf Damianos verraten, was er ihr eigentlich zu sagen versuchte. Das Lesen der Gedanken war wie das Eintauchen in einen tiefen See mit teils klaren, teils verschwommenen Bildern. Wenn es ihnen beiden gelang, genügend klare Bilder an der Oberfläche aufzuwerfen, die Kierans Loyalität bewiesen, würde sein Meister sich nicht die Mühe machen, in tiefere Gefilde vorzudringen. Zumal er eine Nichtmagierin sicher nicht für gerissen genug hielt, sich vor ihm zu verstellen.

»Damianos«, sprach Kieran daher kalt und wiederholte das Handsymbol für den listigen Fuchs, »hat dich mir in der Tat als Belohnung für meine treuen Dienste«, seine Hände formten mit Zeigefinger und Daumen ein Oval, den verräterischen Spiegel aus Schneewittchen, »bringen lassen. Ich habe mich über diese Überraschung sehr gefreut.« Er legte Zeigefinger und Mittelfinger über Kreuz und drückte sie gegen sein Herz. Auch diese Geste war den Bewohnern ihres Dorfes nicht bekannt gewesen, und er konnte nur hoffen, Damianos wusste ebenso wenig, dass sie das Gegenteil seiner Worte ausdrücken sollte.

»Ich teile deine Freude nicht!«, fauchte Serafina, aber der Zorn war aus ihrem Blick verschwunden und hatte nachdenklicher Verzweiflung Platz gemacht.

Kieran erhob die Stimme. »Ob es dir passt oder nicht, du wirst dich an deine Rolle als meine mir ergebene Gesellschafterin gewöhnen müssen.« Er schwieg einen Moment lang und setzte eine finstere Miene auf. Wie um ihr zu drohen und ihr seine Macht zu demonstrieren, ließ er in seiner Hand magisches Feuer auflodern.

Sie keuchte erschrocken auf, starrte ihn mit großen Augen ungläubig an und wich einen Schritt zurück. Hoffentlich empfand sie nicht nur Grauen vor ihm. Es war das erste Mal, dass sie seine Magie sah. Auf Kierans Stirn bildeten sich Schweißperlen. Nun kam es darauf an, dass sie ihn richtig verstand. Die Flammen nahmen die Form eines Flügelpaars an und stoben davon. Ich will uns befreien, sagte sein flehender Blick.

Betont langsam senkte sie die Augenlider und öffnete sie wieder. War das ein Ja? Er musste sich anstrengen, um den herrischen Lehrling zu mimen, während sein Herz vor Freude über ihr Verstehen schneller schlug.

»Wenn du es daher noch einmal wagst, Hand gegen mich zu erheben, oder gar versuchst zu fliehen – was dir aus dieser Festung übrigens niemals gelingen wird –, werde ich dich bestrafen müssen.« Das letzte Wort betonte er und hoffte, dass sie verstand, dass man ihn dazu zwingen würde, ihr etwas anzutun, wenn sie sich ihm widersetzte. Zur Bekräftigung legte er seine Hände so übereinander, wie man es tat, um Gefangene zu fesseln. Mir sind die Hände gebunden.

Minutenlang starrten sie einander nur an, und Kieran nahm den Sturm von widerstreitenden Gefühlen in ihren Augen wahr. Endlich schluckte sie schwer und nickte. Tapfer blinzelte sie ihre Tränen weg. »Und wie lange werde ich … deine Gesellschaft ertragen müssen?«, fragte sie mit leiser, zittriger Stimme.

Er war so froh, dass sie ihn verstand und bereit war, dieses Spiel mitzuspielen. Er bemühte sich, möglichst triumphierend zu lächeln. Für Damianos musste das in Zusammenhang mit seinen vorangegangenen Worten kalt, herzlos und gebieterisch wirken, falls er in Serafinas Kopf blickte. Und Kieran war davon überzeugt, dass er das tun würde.

»Von Ertragen kann keine Rede sein«, erwiderte er gönnerhaft, ganz der Lehrling, der seine neue Macht über Menschen auskostete. »Du wirst hier Annehmlichkeiten haben, von denen du in der armseligen Hütte, aus der du stammst, nur träumen konntest.« Er zeigte in einer unbestimmten Geste in den Raum. »Dir wird eine Dienerin zugeteilt werden. Diese Gemächer sind geräumig. Wir werden zusammen Spaziergänge unternehmen, und ich mache dir meine Bibliothek zugänglich. Du darfst mich sogar in meinen Studien unterstützen.« Erneut ließ er die Flammenflügel in seinen Händen davonflattern. Hilf mir, uns zu befreien! »Zumindest, solange ich deiner nicht überdrüssig werde. Erregst du meinen Zorn, lasse ich dich in den Kerker werfen.«

Ihre Augen blitzten auf. Er musste aufpassen, dieses Spiel nicht zu übertreiben. Gerade kratzte er gefährlich nah an ihrer Selbstbeherrschung. Doch Serafina fing sich gleich wieder, schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln und trat auf ihn zu. Der Duft von frisch geschnittenen Rosenblüten und Jasmin schlug Kieran entgegen und ließ ihn schwindeln. Sie legte ihre zarten Hände auf seine Brust, dorthin, wo sein Herz in dem wilden Rhythmus der Trommeln an Samhain zu schlagen begann, und seine Kehle wurde staubtrocken.

»Ich glaube nicht«, raunte sie und stand ihm jetzt so nah, dass ihr warmer Atem seine Wange streifte, »dass ich eines so mächtigen Magiers wie dir überdrüssig werde.« Ihr Blick brannte Löcher in sein Herz. »Stehe ich denn, wenn ich mich … wohlverhalte, unter deinem Schutz?«

Kieran fühlte ein Zupfen an seinem Hemd und sah auf ihre Hände, die auf seiner Brust den Schattenspielwolf formten. Sie konnte nur Dermoth damit meinen.

»Niemand wird es wagen, der Gefährtin des Lehrlings etwas anzutun«, versicherte er ihr grimmig.

»Gut.« Sie atmete erleichtert aus, und er fragte sich, womit Dermoth ihr unterwegs gedroht hatte. In ihrer nächsten Übungsstunde würde er sich ihn vorknöpfen. Serafina legte die Stirn auf seine Brust, und er zog sie sanft in seine Arme. Minutenlang standen sie einfach nur so da, und er erinnerte sich daran, wie er sie gehalten hatte, als ihr Vater gestorben war. Vermutlich fühlte sie sich jetzt genauso furchtbar. Er wünschte, er hätte ihr das hier ersparen können. Doch wie hätte er ahnen können, dass dieser winzige Moment von Unachtsamkeit, als Damianos kurz vor Onyx’ Folter in seinem Kopf gewühlt hatte, Serafina und seine Gefühle für sie preisgeben würde. Er war ungeübt gewesen. Mittlerweile gelang es ihm in Sekundenschnelle, Lügen glaubhaft zu erfinden und die Wahrheit in seinem Kopf wegzusperren.

»Wie geht es Ulric und deiner Mutter?«, fragte er leise.

Zuletzt war Birgit nach dem Tod ihres Mannes wie gelähmt gewesen, und sein Freund hatte als neues Familienoberhaupt in den Minen zu arbeiten begonnen.

Serafina seufzte. »Sie sitzt nach wie vor auf der Bank und starrt ins Leere. Wenigstens isst sie wieder und kann unter meiner Anleitung kleine Tätigkeiten verrichten, wie Kartoffeln schälen oder Gemüse schneiden. Aber es ist, als wäre sie damals einfach mit meinem Vater gestorben. Sie gleicht einer leeren menschlichen Hülle, einem von Damianos’ Schattenkriegern.« Sie schauderte, und Kieran strich ihr sanft über das kupfergoldene Haar. »Und Ulric«, sie hob den Kopf, und ihre Mundwinkel zuckten, »hat geschworen, dich windelweich zu prügeln, falls du je zurückkehren solltest. Er war stinkwütend, weil du plötzlich bei Nacht und Nebel verschwunden bist. Als sie mich entführt haben, war er zum Glück unter Tage.«

Dem Himmel sei Dank! Kieran wollte sich nicht ausmalen, was Ulric aufgeführt hätte, wäre er im Dorf gewesen, als Dermoth seine Schwester abführte.

»Seinen ursprünglichen Schwur wird er inzwischen in das Geschenk eines qualvollen Todes umgewandelt haben«, erwiderte er grinsend. Dann wurde er wieder ernst. »Ich bin sicher, mein Vater wird sich um Birgit kümmern.«