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Züngeln oder schlängeln, der Blauregen kommt nicht voran, sitzt die Badekappe oder doch Sprung vom Beckenrand? Bettkanten können öde sein, Mondblumen blühen auf Dachgärten, leise! Bloß nicht stören! Vielleicht hilft ein Paar Socken, eingekuschelt in die Handfläche.
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Seitenzahl: 165
Veröffentlichungsjahr: 2025
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für Markus
Der Reiher im Schilf
Am Fuß von Wohnsilos
Aufstehen, Zähne putzen
Aufgerauhte Oberflächen
Tollpatschig
Da steht sie vor mir, groß, schlank und jung. Ich kenne sie entfernt. Ich fand sie nie besonders attraktiv. Mutter ist außer Haus. Ich wohne noch in der Wohnung, obwohl ich schon lange erwachsen bin. Elfie schaut mich erwartungsvoll an. Natürlich haben wir uns bei Abschieden und Begrüßungen berührt. Aber nun ist sie bereit für mehr. Es kommt nur auf mich an.
Wir werden aus irgendwelchen fernen Perspektiven beobachtet. Vielleicht ist es der ganze weite Horizont, der sich um uns herum ausbreitet. Die Wohnung erstreckt sich weitläufig und das Wohnzimmer wird vom Panoramafenster begrenzt. Oder ist es das Schlafzimmer? Ist es Sport oder Ernst? Für mich ist es Taumel. Ich spüre ihre Erwartung und die Möglichkeit. Aber welche Erwartung soll das schon sein, wenn so vage ist, was daraus werden könnte?
Noch nicht einmal das kann ich spüren. Mir fällt nur das fahle Licht auf, das von außen einströmt, ihr etwas zu breites Lächeln und die zu dichte Luft hier drin. Ich bemerke, wie mich die Tiefe des Raums umschließt. Für sie ist es nur ein Spiel, keine Spur von Ernst. Ich beneide sie. Sie kann sich so viel mehr der Leichtigkeit überlassen. Ich beginne schon, sie zu mögen.
Natürlich liebe ich Berührungen und es ist ja niemand da. Wenn ich nur nicht so verkrampft wäre. Sie zieht mich zu sich heran, als ob es das Einfachste wäre. Als ich meine Handfläche auf ihre Haut lege, passiert alles ganz natürlich. Wenn da nicht die Angst wäre, die aus dem Schlafzimmer Abgründe macht. Abgründe, die nach allen Seiten hin abfallen und ich könnte jederzeit in sie hineinstürzen. Ihre Haut betäubt mich. Ihre Haut betört mich. Ich stürze in die Wärme unserer Körper, während sie mich mit ihrem Lächeln umschlingt. Es ist so einfach. Ich wusste es nicht und wusste es doch, dass es so einfach werden würde. Trotzdem zerrt mich etwas weg von hier und ich versuche mit aller Kraft, es zu vergessen.
Wir schwelgen in der Nähe unserer Körper, ihrer Nacktheit und Ununterscheidbarkeit, in der wir uns aufeinanderdrücken. Der Geschmack von Muskat in einer unaufdringlichen geheimnisvollen Abwandlung. Ich will niemals mehr weg von hier. Und doch bin ich mir immer noch nicht sicher, was daraus entstehen soll. Ihre Einfachheit und Freiheit verunsichern mich. Ihr großer Körper. Sie scheint sich unabhängig davon bewegen zu können, während ich nur tollpatschig vor mich hintorkele. Nicht einmal meine Vorstellungskraft kann mich erreichen.
Es muss spät geworden sein und Mutter ist bestimmt schon zurück. Ich habe nichts mitgekriegt. Sie wollte sicher nicht stören und die Luft in der Wohnung ist noch ein wenig dichter geworden. Sie dagegen schwebt durch den Raum. Sie streckt die Hand nach mir aus, als ob sie mich mitnehmen könnte. Warum bin ich nur so ungeschickt und hilflos? Ich könnte mich doch einfach treiben lassen. Irgendwo in mir weit weg gibt es etwas, das davon weiß, auch wenn ich nicht weiß, wie ich dorthin gelangen kann. Die Magie der Nähe will mich ganz umspinnen.
Roller
Das ist nur das Rollen auf der Allee, die zum Waldpark führt. Der schmale Streifen Fahrradweg verläuft zwischen der Rasenfläche in der Mitte und der Straße. Die mächtigen Stämme der Platanen ragen in zwei langen Reihen daraus auf.
Der Herbst ist nicht fern. Das spüre ich durch den Ernst, der in dem Laub wirkt, aus dem das Grün zu weichen beginnt. Die Kälte hat sich darin eingenistet und dort eine Trauer hineingelegt, eine Spur von Ausgezehrtheit. Es fährt sich leicht. Das Rad scheint fast zu schweben und die Luft zwischen den Bäumen schiebt uns mit kaum spürbarer Hand voran, einem Säuseln nur. Katinka bewegt sich nicht weit entfernt. Unsere Anziehungskräfte lassen uns umeinander kreisen. Wir können uns nicht verlieren.
Der Junge auf der schmalen asphaltierten Bahn vor mir ist noch zu klein, um schon allein zu fahren. Er stößt sich immer wieder auf dem Aluroller mit den winzigen Gummirädern ab. Meine Augen können sich nicht von dem Bild lösen, wie sich der unscheinbare Rücken vor mir auf- und absenkt. Er tritt so stark, dass er mich an eine Maschine erinnert. So voller unstillbarer Kraft und Sehnsucht. Die mopsige Gestalt, die sich abmüht und abarbeitet, während er den Fuß immer wieder aufsetzt. Alles aus ungeübten unkontrollierten Bewegungen heraus. Die Selbstermächtigung, die darin liegt, weht mich wie eine ferne Erinnerung an. Er hat sich von allen Aufsichten befreit. Sein Elan trieft von Trotz. Er wirkt so abgeschlossen von aller Welt und doch liegt Hilflosigkeit darin.
Ich überhole ihn. Von der Seite sehe ich in seinem Blick, dass er unsicher ist, was er von mir halten soll. Muss er sich schützen oder kann er mir vertrauen? Seine Fahrt muss sein. Er ist noch zu klein und es ist nicht erlaubt. Ich kann ihn nicht aufhalten. Er könnte jederzeit stürzen. Das weiß auch er. Trotzdem gibt es für ihn nur diesen einen Weg und mir wird schlagartig klar, dass ich ihn lassen muss, egal, was passiert. Er hat sein Schicksal in die Hand genommen. Ich werde ihn dabei unterstützen. Das in die Laubblätter eingewebte Grau legt sich wie eine schützende Hand um uns.
Er ist wieder aufgestiegen, auch wenn er keine Idee hat, wie er wieder nach Hause kommen soll. Eine Gruppe von Jugendlichen taucht hinter uns auf und der Junge versucht wegzukommen. Er kann sie nicht einschätzen. Ihr Lärmen beunruhigt ihn. Er biegt unvermittelt nach rechts in die nächste Toreinfahrt ein. Es könnte auch ein Fußweg sein. Auf jeden Fall ist es keine Autostraße. Doch die Einfahrt hier wird von einem Metalltor versperrt. Nur ein Torflügel steht offen. Auwei! Der Junge kriegt die Kurve nicht. Er kann gerade noch abbremsen, bevor er gegen den verschlossenen Torflügel aus grünem Eisen stößt. Wie soll er jetzt weiterkommen? Er will weg von hier und bollert mit dem Roller gegen das Tor. Wie soll er sich nur befreien?
Die Jugendlichen nähern sich. Dabei sind sie nur mit sich beschäftigt, auch wenn der Junge das nicht weiß. Er will einfach nur weg und rumst den Roller immer fester gegen das Tor. Ich muss ihm helfen. Da hat er eine Idee. Er wirft den Roller nach hinten herum, steigt auf, schaut mich kurz aus seinem ernsten Gesichtchen an und biegt wieder hektisch auf die Allee ein, aber diesmal in die andere Richtung. Die Jugendgruppe ist längst vorbeigezogen.
Wieder hebt und senkt sich der ernste graue Rücken, so zierlich. Wieder und wieder stößt er sich mit dem Fuß ab. Wird er sein zu Hause finden und was wird ihn dort erwarten? Katinka und ich werden ihn aus der Entfernung begleiten. Wir werden über seine Fahrt wachen.
Atmen
Vor mir erstreckt sich das schmale Stück Sand und die Felsen erheben sich dunkel und schroff zu beiden Seiten in die Höhe. Ihre Kanten starren so scharfkantig hervor, dass es besser ist, sie nicht zu berühren. Das Wasser der Wellen schiebt sich weit hinauf, so dass es die feinen Körner immer wieder einebnet. Sie umschließen sich gegenseitig und meine Fußtritte verschwinden beim nächsten Hoch-Schwappen. Der Sand holt sich seinen unberührten Zustand zurück, auch wenn ich nur selten Spuren hinterlasse.
Der Fels will nicht in seinen schrundigen Formen verharren. Er will sich lieber in seine Zwischenräume versprühen, seine Gerüche entfalten und die Leere mit einer Ahnung von sich selbst erfüllen. Das möchte auch alles andere hier, das das kleine Nichts umgrenzt. Kaum dass die Schatten, die aus ihm aufsteigen, ein wenig vom Licht des Himmels durchstrahlt werden. So wird die Luft vom Sand erfüllt, der sich immer wieder selbst durchspült. Wasser, das salzig ausperlt. Die vielen kleinen Krebstiere, Algen und Würmer, die die Sandkörner durchwimmeln. Der freie Raum, der von außen einströmt.
Schließlich ist, der ich hier wohne, kaum wesenhaft, ebenfalls eine Ahnung nur und als solche verbinde ich mich mit allen anderen Ahnungen und schwinge im Wetter und Licht. Der starke Wind kann mir nichts anhaben und mich nicht verwehen, denn hier ist meine Bleibe. Ich bin mit ihr mehr als verwachsen, auch wenn ihr niemals Wurzeln finden werdet. Selbst das Brüllen der Wellen im Sturm durchrast mich wie ein Nichts, ohne mir etwas anhaben zu können.
So heftig geht es nur ganz selten zu. Das Meer plätschert vor sich hin und ich lasse mich vom Die-Leere-Durchtasten des Felsgesteins umwehen. Das, was meine Füße sein könnten, berühren den Boden in aufgekrempelten Hosenbeinen, auch wenn ihr niemals Fußabdrücke finden werdet. Der laue Wind nimmt mich mit sich fort und trägt mich zu den Felsenkronen hoch oben, wo ich schöne Ausblicke haben könnte. Doch davon würde mir schwindelig werden, so dass ich die Augen niederschlagen müsste. Ich sehne mich viel mehr zu meiner Heimstatt, der glatten umspülten Oberfläche des Sandes, dem Lecken der Wellen und dem scharfen Grau der Felsenklingen, die daraus aufragen und uns umschließen.
Sackbahnhof
Wir warten schon lange und das Warten ist so in unser Dasein eingesickert, dass es zu unserem Dasein geworden ist. Katinka schiebt den Gepäckwagen oder auch nicht. Meistens verharren wir sowieso hier am Kopfende des Sackbahnhofs, wo kein Glas mehr in den Stahlgerüsten der Decke den Raum erhellt, sondern nur noch poröse Düsternisse aus den Wänden treten.
Sie senken sich von oben herab und verkriechen sich in den Winkeln, nur um sich aus sich selbst heraus wieder auszustülpen. Nicht bedrohlich, sondern behutsam und sogar behütend. Sie halten mit dem Unrat und Werg ein Zwiegespräch und erschaffen sich daraus immer wieder neu und überraschend, bis sie sich wie ein Tier einrollen, um vielleicht ab und zu mit dem Schwanz zu wippen. Uns zuzuwinken und einzuladen in ihre Schläfrigkeit und Geborgenheit. Ich lasse mich von ihnen einlullen. So verbringen wir viele Zeitalter.
Der Boden ist von einer eingearbeiteten Staubschicht bedeckt, die unsere Anwesenheit gleichzeitig aufsaugt und abstößt. Unsere Familie hat sich über den Gepäckwagen verteilt, einen schweren Schiebewagen mit breiter Ladefläche. Wir haben das Handgepäck um uns herumdrappiert und bilden mit ihm zusammen eine aufgehäufte homogene Masse. Manchmal vermischen wir uns mit den anderen Familien in der Umgebung. Sind sie nun verwandt oder befreundet, liegt die Fahrt nun vor oder hinter uns, egal, wir müssen nur noch auf unsere Koffer warten. Der Menschenstrom, der sich vorbeischiebt, ist zur Gewohnheit geworden. Eine zähe Masse, die uns umfließt, belanglos und nicht der Rede wert.
Die Gedanken sind in die Leere des Raums entwichen und haben sich dort hinein aufgelöst, so dass nur noch unsere Körper übrig geblieben sind, eingehüllt in nichtssagende Stofffetzen. So nimmt niemand Notiz von uns, sondern wir wirken nur wie unmotivierte Erscheinungen, die vom Boden aufragen, ein ununterscheidbares Konglomerat, das sich zufällig hier manifestiert, schon verwachsen mit der Umgebung. Es würde auch nicht weiter auffallen, wenn wir nicht da wären, wie es auch nicht auffällt, dass wir da sind, ein scheinbar nutzloses Treiben.
„Heh! Was fällt dir ein?“
Irgendwer hat aus Übermut, ich kann mir keinen anderen Reim daraus machen, mein Handy durch den hohen Raum geworfen. Es ging so schnell. Ich habe nicht einmal mitgekriegt, wer es war. Es fliegt und fliegt durch die Höhe hindurch und senkt sich irgendwo in einem Bogen weiter hinten, um abzustürzen. Zum Glück ist seine Rückseite durch die schwarze Gummihülle geschützt. Meine Güte! Ich laufe bangen Herzens hinterher und ziehe es bei dem kleinen Strandstück am Ende von Gleis 9 aus dem Wasser. Ja, ganz recht, Meerwasser. Ich klaube es zwischen den Sandkörnern auf. Ist wirklich nichts in die Öffnungen eingedrungen? Das Wasser sollte daran abperlen. Sie sind so konstruiert. Ich werde es später einmal feststellen. Ich habe es seit Ewigkeiten nicht mehr hochgefahren. Wozu auch?
Irgendwann passiert aus einer Bewegung der Menschenmenge heraus, dass wir in die Passagier-Schleuse eingeleitet werden, um die Koffer abzuholen. Endlich. Wir durchqueren den schmalen Zickzack-Kurs, der durch die breiten schwarzen Gummibänder abgetrennt ist. Alles drängt sich hier hindurch. Es geht schneller, als befürchtet. Hinter dem Ausgang müssen wir uns nur noch durch diese Art Kiosk hindurchquetschen. Der Eingang wird von Postkartenständern flankiert. Sind wir in eine andere Zeit gerutscht? Ist das noch ein Kontrollschalter oder schon ein Pommes-Stand? Die Plastikbänder mit den weiß-roten Streifen, die darum herumgezogen sind, sollen wahrscheinlich irgendeine Laufrichtung anzeigen. Nur welche? Auf der Pappkappe des Verkäufers sehen sie deplaziert aus. Aber auch wieder lustig. Vor allem bei dem zerknautschten Gesicht.
Alle müssen durch diesen Kiosk hindurch. So muss es beim jüngsten Gericht zugehen. Es ist so eng, man kann sich kaum durchschieben. Die Verkaufsregale sind mit Nutzlosigkeiten und Zuckerkram vollgestopft. Es herrscht ein so starkes Gedränge, dass wir immer wieder zurückgeschoben werden. Obwohl wir doch an Enge gewöhnt sind. Aber so eng! Als es schon nicht mehr weitergehen will, werden wir durch einen unverstandenen Impuls in der Menge auf den großen freien Platz nach draußen geschwemmt. Der freie Himmel über uns. Überwältigend! Ich hatte ihn schon vergessen. Das Hellblau blendet mich. Die Fläche der Steinplatten scheint bis ans Ende der Welt zu reichen. Wo sind die anderen mit dem Gepäckwagen?
„Hallo!“, rufen sie uns aus der Entfernung zu.
Sie kommen uns vom Ende des Bahnsteigs entgegen, immer noch mit dem Wagen verschmolzen. Sie fuchteln mit den Armen. Ich muss mich erst einmal sammeln. Endlich kann es weitergehen, auch wenn niemand weiß, wohin. Wie kann mir das nur so egal sein?
Transparent
Die Praxis erstreckt sich weitläufig. Eine typische Gemeinschaftspraxis, weiß und zu viel helles Licht. Orientierung scheint hier drin nicht möglich. Es ist eher Zufall, ob ich am Empfangstresen abgefertigt, in einen Wartebereich verschoben oder in den Voruntersuchungsraum gerufen werde. Irgendwo auf diesen Stationen habe ich einen Stapel Unterlagen in die Hand gedrückt bekommen, jedes Blatt in eine transparente Gummihülle geschoben. Sie fühlt sich weich an, klebrig, ich halte sie vor meinen Brustkorb, als ob ich mich mit ihr schützen könnte, und stehe ratlos auf dem weiten Korridor, von Türen gesäumt. Wie lange schon?
Zeitdruck hin, Zeitdruck her, die letzte Behandlerin oder der letzte Assistent haben wohl vergessen, mir Bescheid zu geben, wie es weitergeht. Die Unterlagen vor meiner Brust, meine Identität und meine Daseinsberechtigung, sind das einzige, was mich hier retten kann. Ich halte mich krampfhaft daran fest. Die Zeit will nicht verstreichen. Ich weiß nicht, was mich anfliegt. Ich könnte mal einen Blick hineinwerfen. Es werden ja nur lapidare Untersuchungsergebnisse sein. Doch wer weiß, was sonst noch alles darin steht? Sie wissen wahrscheinlich mehr über mich als ich selbst. Die Blätter wandern hier von Hand zu Hand und ich bin darin aufgeführt wie ein aufgeschlagenes Buch vor jedem, der sie in die Finger kriegt. Erklären tun sie einem sowieso nichts. Und ich weiß nicht darüber Bescheid. Sie aber wissen alles über mich und wahrscheinlich noch viel mehr.
Ich schaue mich nach links und rechts um. Als ob es sich hier nicht schon unbehaglich genug anfühlen würde. Im Augenblick scheint sich immer noch niemand um mich zu kümmern. Ich überfliege das erste Blatt:
MCH
29.8
MCHC
32.7 [L]
MCV
91.1
MPV
10.4
…
Sind das Blutwerte? Wie soll das einer verstehen? Können die kein normales Deutsch schreiben? Genau dieses Kauderwelsch entscheidet über mein Schicksal. Sie würden niemals mit mir darüber sprechen. Was, wenn es in die falschen Hände gerät? Ich drücke die Gummihüllen noch enger an mich heran. Ist mein Ende schon besiegelt?
Das weiße Licht und die weißen Wände saugen mich ein und wieder aus. Ich kann mich doch nicht so einfach ausliefern. Ich muss was dagegen tun. Nur was? Ich habe bis heute nicht verstanden, was mich geritten hat. Warum erklären sie auch nichts? Absurde Frage. Die Absurdität zündet einen Funken in mir. Ich hätte mir das vorher auch nicht vorstellen können. Den Funken unerwarteter Entschlossenheit. Das Blatt Papier aus der Plastikhülle ziehen und, ich schaue mich hektisch um, in meinen Rucksack stopfen, ist eins. Ist doch egal, was darauf steht. Diese intimen Informationen sollten nicht frei zugänglich sein. Jede Putzkraft könnte sie an sich nehmen und bei ihr wären sie wohl besser aufgehoben. Ich will selbst darüber bestimmen. Da taucht das nächste Blatt in der nächsten Hülle auf.
Da sich das besonders atherogene Lipoprotein (a) diätetischen medikamentös Gramm beeinflussen lässt, sollte im Rahmen der Primärprävention das LDL-Cholesterin auf einem niedrigen novo…
Ein Arztbericht. Wenigstens geschriebener Text, wenn auch komplett unverständlich. Warum fragen sie mich nicht, wenn sie etwas über mich wissen wollen. Dann können wir weitersehen. Auch das ziehe ich heraus und knülle es hinten rein. Dann kommen die anderen, auch kleinere Zettel. Ich schaue sie mir sorgfältig an, bevor ich sie verstaue. Allesamt!
Ich werde aufgerufen.
War das ein Zufall? Wieso ich und wieso gerade jetzt? Sie führen mich zur Seite. Die Ärztin und der Assistent bugsieren mich zum nächsten Behandlungszimmer. Das müssten sie nicht so grob. Sie blicken düster. Sie schaut lange auf die leeren Hüllen, als ob sie darin lesen könnte. Und mir dann mitten ins Gesicht. Ich glaube, so viel Eigenmächtigkeit war nie.
„Was soll das denn?“ fragt sie streng.
Sie hebt die Augenbrauen. Ich fühle mich wie ein … Es fühlt sich gut an. Lieber Querulant, als ausgeliefert. Ich bleibe einfach auf dem Platz sitzen. Jetzt kann sowieso nichts mehr passieren. Jedenfalls weniger als vorher. Sie haben keinen Grund mehr, irgendwas in mich reinzurammen.
Faust
Wanda wird schlafen. Die Mutter hat sie wie ein Wickelkind in uralten Zeiten in weiße Binden geschnürt. Ich weiß auch nicht, warum. Viel fester, als sie müsste. Der Kopf guckt als pralle rote Kugel aus dem Bündel heraus. Der Körper wirkt viel kleiner als sonst. Zorn und Müdigkeit sind ihr deutlich anzusehen. Mein liebes Gesichtchen. Als ob es gleich platzen wollte.
Ich kann gar nicht an mich herankommen lassen, was da vor meinen Augen geschieht. Die Wut, die in dem kleinen Leib ausbrechen will. Die Dämmerung dringt in das Kinderzimmer ein wie Schaum. Der Abend hängt dunkelrot im Raum. Die Zweige des Kirschbaums zerschneiden das Restlicht vor dem Dachfenster. Die Kleine liegt diagonal auf den Knien der Mutter.
Gibt es sonst einen Grund, unruhig zu sein? Etwas anderes drängt mich aus dem Zimmer heraus. Ich verstehe nicht, was es ist. Es kommt aus meinem Inneren. Ich schließe leise die Tür hinter mir. Die Wände des Flurs umfangen mich in ihrer ganzen unberührten Weißheit. Selbst die Türrahmen strahlen hell auf. Ich verstehe nicht, was mich weiter vorantreibt. Ich wende mich, wie von einer unsichtbaren Hand geschoben, nach rechts zur Wohnungstür. Ich öffne sie, bevor es klingelt.
Das viel zu starke Schrillen der Glocke wird im Treppenhaus schlagartig von einer Stille erstickt, so umfassend, als könnte es von nun an nur einen Ausweg geben: Sich in seinen Abgrund zu stürzen. Dabei breiten sich vor mir nur die leeren Stufen nach unten aus. Mechanisch drücke ich den Türöffner neben der Eingangstür. Das Fenster in der Wand gegenüber ragt schmal und hoch auf, würdevoll wie ein Kirchenfenster. Seine Feierlichkeit zertrampelt der hohle Klang schwerer Schritte. Sie poltern unbarmherzig herauf. Wahrscheinlich der Paketbote, beruhige ich mich. Die Nachbarn in den Etagen lauschen schon und der Krach verschmiert das Treppenhaus.
Ein Kerl mit zerzausten Haaren taucht vor mir auf. Sein kariertes Flanellhemd ist kaum richtig in die Hose gerauft. Die Hosenträger halten sie nur mühsam. Das Gesicht überzieht eine Schmutzschicht, kaum unterscheidbar von den Bartstoppeln. Er steht jetzt unmittelbar vor mir und lässt seine Faust nach vorne schießen. Ich fühle sie schon in der Magengrube und will ausweichen, viel zu langsam. Da lässt er sie kurz vor meinem Brustkorb verharren und dreht sie nach oben. Er öffnet langsam die Finger wie eine Blume, die sich entfaltet. Aus der Handfläche quillt ein Bündel zusammengeknüllter Geldscheine, genauso verdreckt wie er. Sie recken sich wie vertrocknete bunte Blütenblätter zwischen den wulstigen Fingergliedern empor.
„Da! Nimm schon!“
