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Foresight-Roman Niemand kann in die Zukunft sehen. Aber man kann Entwicklungen, die heute schon begonnen haben, in eine nahe Zukunft denken. Vorhersehen. Indem man das Leben betrachtet, wie es sich heute zeigt, genau analysiert und dann mögliche Veränderungen prognostiziert. Und dabei versuchen, alle Informationen möglichst genau zu bewerten. Prognosen helfen zu planen und zu bewerten. Daher spielt dieser Roman in einer nahen Zukunft, die keine Utopie mehr ist. Und wie immer in Krisenzeiten wächst das Bedürfnis nach Vorhersagen. Es gibt Kriege, Umweltzerstörung, Klimawandel, Gewalt, totalitäre Staaten, Flüchtlingsströme, technische Entwicklungen. Krisen verlangen eine Meinung, eine Positionierung und eine Haltung. Dazu braucht es Informationen, Fakten. Die sind jetzt immer mehr verfügbar. Und immer mehr Menschen informieren sich. Krisen zeigen auf, was in Menschen steckt, Charaktere werden sichtbar, Können und Wissen. Krisen verstärken Schwächen und Stärken. Sie setzen Kräfte frei. Krisen teilen in Gut und Böse, in Richtig und Falsch. Oder in auch richtig und auch falsch. Darüber finden sich Menschen, die ohne eine Krise nie zusammengekommen wären. In gemeinsamen Überzeugungen, in den Dingen, die ihnen wichtig sind. Und war es nicht schon immer so gewesen, dass aus gemeinsamen Überzeugungen auch Gefühle für einen anderen entstehen können? Wohin führen Entwicklungen? Welche neuen Möglichkeiten entstehen? Und wie verändert sich dadurch die Gesellschaft? Muss eine Entwicklung aufgehalten werden? Wer darf das und wann darf man das? An welchem Punkt ist Widerstand notwendig? Unsere Gesellschaft erlaubt Widerstand nur dann, wenn er berechtigt ist. Und das bestimmen nicht Einzelne, sondern die Gesellschaft über das Recht, das wir uns gegeben haben. Es erlaubt oder verbietet. Recht und auch Prinzipien spiegeln das wider, was eine Gesellschaft jetzt für richtig oder falsch hält. Widerstand ist immer mit Risiko verbunden, oft ein persönliches Risiko. Wer seine Überzeugungen vertritt, gibt Sicherheit, Bequemlichkeit und Gewohnheit auf. Aber es lohnt sich zu kämpfen für eine bessere und gerechtere Welt die wie immer in der Geschichte einem ständigen Wandel unterliegt und für die sich jeder Einsatz lohnt.
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Seitenzahl: 592
Veröffentlichungsjahr: 2023
Knotenpunkt–Angriff auf das Netz
ein Foresight-Roman
von
Hans Joachim Gernert
© 2024 Hans Joachim Gernert
Illustration von: Sarah Katharina Gernert
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Hans Joachim Gernert, Kirchstr. 3, 54441 Kanzern, Germany.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Vorwort
I.: Knotenpunkt
1. Der Weg
2. Amil
3. Mara
4. Unter der Brücke
5. Kena
6. Die Revolution
7. Unterwegs
8. Die vier Türme
9. Samir
10. Der Knotenpunkt
11. In der Falle
12. Sara
13. Chaos
14. Eingeschlossen
15. Die owner
16. Neuanfang
17. Brand
18. Eleonore
19. Der council
20. Silva
21. Defender
22. Hauptquartier
23. Richard
24. Kena und Mara
25. Analyse
26. Sara und Samir
27. Spiegel
28. Die Erde
29. Reset
30. Mara und Amil
31. Marc
32. K12
33. Verdacht
34. Flucht
35. Le Sud
36. Hauptquartier
37. Restitution
38. Die Vinothek
39. Arrest
40. Schuld
II.: New exciting world
1. Der Sohn des Vorsitzenden
2. Vinothek
3. Jérôme
4. An der Außengrenze
5. Richard und Marie
6. Wahlvorbereitung
7. Begegnung
8. Das Rescue-Team
9. Alte Freunde
10. Das Depot
11. Khor
12. Marie und Jekar
13. Der Besuch
14. Manipulation
15. Archiv
16. Resistance
17. Lesegerät
18. Pol und Khor
19. Der Plan
20. Zurück
21. Sub-council Administration
22. Vier Seelen
23. Der Treffpunkt
24. Council
25. Nacht
26. Legion
27. Archiv
28. Entscheidung
29. Capitane Roget
30. Angriff
31. Sub-council Administration
32. Leon
33. Kaserne der Grenztruppen
34. Krieg
35. Pol und Jekar
36. Leon und Pol
37. Das Dorf
III.: Afrika
1. Die Kämpfe
2. Afrika
3. Die neue Ordnung
4. Jekar und Pol
5. Neuanfang
6. Meinungshoheit
7. Leon und Pol
8. Der Vorsitzende
9. Die Schwärze
10. Der Vorsitzende und sein Sohn
11. Gegen die Zeit
12. Afrika hilft
13. Das afrikanische Virus
14. Aufatmen
15. Aissa
16. Ranas Visionen
17. Drei Freunde
18. Neue Paare
19. Rebound
20. Endzeit
21. Shengzen
22. Metadatenanalyse
23. Am anderen Ende der Welt
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Titelblatt
Urheberrechte
Vorwort
23. Am anderen Ende der Welt
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Vorwort
Opposition nutzt politische Mittel zur Kritik der Regierung und versucht, Änderungen herbeizuführen. Werden diese politischen Mittel durch Machthaber eingeschränkt, etwa die Meinungsfreiheit oder das Wahlrecht, so kann aus Opposition Widerstand werden, das Recht sich zu wehren. Widerstand ist ein Recht.
Die Regeln des geltenden Rechts werden in dem Maße außer Kraft gesetzt wie es von den Herrschenden missachtet wird. Das Recht zum Widerstand erstarkt in gleichen Maß - wie eine Waage, dem hydrostatischen Paradoxon kommunizierender Röhren gleich.
Das Recht zum Widerstand kann zur Pflicht mutieren, wenn keine andere Möglichkeit mehr besteht, ein totalitäres System zu bekämpfen.
I.
Knotenpunkt
1. Der Weg
Sie hatten gesagt, dass es nicht weh tut. Aber das stimmte nicht. Es fühlte sich zunächst wie ein kaltes Ziehen in der Magengegend an, wurde dann aber schnell stechender und präsenter. Es war froh, unter der Brücke zu sein, geschützt, den Jägern – zumindest für den Moment – entkommen zu sein, sich einen Moment auszuruhen und darüber nachzudenken, was wohl als Nächstes sein würde. Diesen Platz kannte nur es, versteckt genug und doch auf seinem Weg.
Hier würden die allgegenwärtigen b-Drohnen keine Spur aufnehmen können. Der steile Berg hinter der Brücke schirmte es perfekt ab.
Die b-Drohnen waren die letzte Stufe der Überwachung geworden. Stationär über den Zentren positioniert oder als überall einzusetzende mobile searcher eingesetzt, die von kleinen Druckluftpatronen beschleunigt in den Himmel geschossen wurden, um dann in einem Umkreis von mehreren Kilometern alles abzutasten und aufzuspüren, was gesucht wurde oder den trackern dienlich erschien.
Wie schnell sich alles verändert hatte. War es nicht erst wenige Tage her, dass sein Sozialkonto überprüft worden war? Lange hatte es so ausgesehen, als könnte es mitlaufen, nicht auffallen, in der Masse verschwinden. Aber die Prüfprogramme der social-compliance waren unerbittlich, jede Spur des Lebens wurde digitalisiert, geordnet und für die Bestimmung der scores gebraucht. Obwohl es sich bemühte, so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen, was zu finden, nein, aufzufinden war, so konnte es doch nicht verhindern, dass die vorhandenen Datensätze mit den Metadaten verknüpft wurden und es begann sich ein immer düstereres Bild, ein auffallendes und nicht mehr angepasstes Bild seiner Existenz abzuzeichnen. Dazu war diese immerwährende Bewertung gekommen, unerbittlich mathematisiert, unbestechlich und nicht abänderbar. Schon im letzten Jahr war es unter das acceptable level gesunken, konnte aber durch eine geschickte Steuerung der additional credits immer wieder verhindern, dass es auffiel. Die social points waren nach der großen Revolution zum Maßstab des Zusammenlebens geworden.
Ausgeklügelte Bewertungen, die jedem über seine Stellung, seine Ansprüche und Rechte in der Gesellschaft sofort Auskunft geben konnten, über die accounts, die jeder mit sich führte in den screens, kleine Bildschirme im linken Arm, die verbunden mit der DNA des Trägers, in der Haut jedes Menschen eingepflanzt wurden, sobald er das Alter von 15 erreicht hatte.
Die große Revolution hatte vieles verändert, was zuvor als Kultur, Politik und Recht gegolten hatte. Eine Optimierung, die mehrere Jahre andauerte, hatte die Ziele der Menschheit und das Zusammenleben der Menschen neu geordnet. Es war das erste Mal, dass eine Ordnung geschaffen wurde, die für alle gelten sollte und diese neue Ordnung wurde streng und ohne Ausnahme durchgesetzt. Und nur wenige Menschen, zumindest in den zivilisierten Ländern, waren noch nicht erfasst, waren noch unabhängig und systemfrei. Und ohne Überwachung.
Schon vorher hatte der Gendermain-Act alle sprachlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen, Alten und Jungen, Nationalitäten, Rassen und Religionen aufgehoben. Es war nicht mehr erlaubt, männlich oder weiblich zu unterscheiden. Es war auch nicht erlaubt, ein menschliches Leben anders als mit „es“ zu bezeichnen. Sie und er wurde „es“ und statt „der“ und „die“ hieß es jetzt „es“ und „das“. Damals war er noch jung und hatte nicht verstanden, wohin dies alles führen würde. Aus dem jungen Mann wurde ein sprachliches Neutrum, damit die Gleichberechtigung endlich vollzogen werden konnte, ein menschliches Wesen, dass nur noch mit „es“ bezeichnet werden durfte.
„Die Sprache formt das Denken.“
Das war das Motto der Gender-Protagonisten. Sie waren militanter geworden und immer einflussreicher und so hatte der council mit knapper Mehrheit die Abschaffung aller sprachlicher geschlechtsbezogenen Unterschiede beschlossen und jede Zuwiderhandlung wurde mit Abzügen in den scores bestraft.
Das galt für alle, ohne Unterschied, und so war er, wie alle, zu einem „es“ geworden, definiert im Algorithmus der Revolution als ein Lebewesen, ein „human being“. Die früheren Unterscheidungen hatten, so die Logik der Revolution, zu Spannungen, Kriminalität und sogar zu Kriegen geführt und mussten wegen der erhöhten Anforderungen an das Zusammenleben von immer mehr Menschen eliminiert werden. Alle sind gleich. Es sollte keine Männer und Frauen mehr geben. Keine Christen oder Muslime. Keine Homosexuellen, keine Behinderten. Nur Lebewesen. Zumindest in der Sprache. Jede Unterscheidung führe zu Unterschieden, diese zu Ungerechtigkeiten und das wiederum zu Spannungen, so die Argumentation. Die Abschaffung der Unterscheidungen wurde als ein Menschheitstraum, als das bislang Unerreichbare und die Lösung vieler Probleme angesehen.
Natürlich bestanden die Unterschiede weiterhin, sie durften aber nicht mehr benannt werden. Dahinter stand die Erkenntnis, dass Begriffe, Wörter oder jede Art von differenzierenden Benennungen im Kopf immer in Bilder, einem Rahmen eingebettet werden und diese Implikation, jedwedes Urteil, das sich aus dem verwendeten Begriff ableitete, vermieden werden sollte. Der Prozess der neuronalen Simulation, die Verknüpfung eines Wortes mit bisher gemachten Erfahrungen, die Simulation der abgespeicherten Erfahrungen wurden im Zusammenhang mit Genderfragen als falsch erkannt. Ein Neuanfang musste diese Assoziationen vermeiden, daher die Neutralisierung aller Begriffe. So war vieles neu benannt worden und er, der junge Mann, war zu einem „es“ geworden.
Leider, so sah er es bald, wurden die Ziele der Genderpolitik zu Lasten anderer Freiheiten erreicht, sie waren mit einem Beigeschmack versehen, wie Wein, der doch nach Kork schmeckte nachdem man ihn erst für gut befunden und auf den man sich gefreut hatte.
Es war nicht nur der Gendermain-Act, der ihn so verzweifeln ließ, dass er seinen screen, den implantierten Datenträger in der Haut seines Armes, manipuliert hatte. Es war die Überwachung, das Ortungssystem im screen, das alle seine Wege verfolgte und aufzeichnete und die Beurteilung.
Der vollkommene Abgleich der Ortungsdaten mit seinen Aufgaben, seinen Zeitvorgaben und Bewegungsprofilen war unerträglich geworden.
Und dann war da die unbestimmte Sehnsucht nach dem Gestern, dem Ursprünglichen, nach dem nicht Kontrolliertem. Die Sehnsucht nach Freiheit.
2. Amil
Es war Amil gewesen, der ihm gezeigt hatte, wie man das screen manipulieren konnte. Das screen wurde jedem Menschen durch einen kleinen chirurgischen Eingriff eingesetzt, da, wo man früher eine Uhr getragen hatte. Natürlich nicht ohne eine feierliche Zeremonie, mit Ansprachen, Fahnen, viel Pomp und Gloria, das Aufnahmezeremoniell in die Welt der Großen. Und tatsächlich hatte er sich damals irgendwie stolz gefühlt, endlich kein Kind mehr sein, dazu zu gehören. Aber dann hatte er schnell begriffen, dass die screens alles aufzeichneten, nichts ausließen und insbesondere die Ortung, kleine Programme, die seine Bewegungen mit den Aufgaben, die ihm oblagen, abglichen. Sie wurden mit der Zeit immer störender, auch wenn zunächst keine negativen Auswirkungen erkennbar waren. Aber wenn er die Zeitvorgaben nicht erfüllte, war ein sofortiger Punktabzug die Folge.
Amil wusste nicht nur, wie man den tracker ausschalten konnte sondern auch wie man ihn deaktivieren konnte, ohne dass das Ausschalten dokumentiert wurde. Es war eine geniale Kopie des optimalen Bewegungsprofils, KI-optimiert, aber nicht wahrheitsgemäß, die aufgespielt wurde. Niemand würde auf Anhieb erkennen, dass die gesendeten Daten falsch waren, jedenfalls nicht ohne genauere Prüfung oder spezielle Prüfprogramme.
Amil war sofort begeistert gewesen, als er ihn fragte, ob es technisch möglich sei, den tracker auszuschalten. Er grinste sein breites arabisches Lächeln, zog die Augenbrauen hoch und meinte nur „Alles ist möglich, wenn man will – aber was habe ich davon?“ So hatten sie freundschaftlich, aber doch jeder seine Interessen vertretend, lange Verhandlungen begonnen, hatten gefeilscht, so wie sich das gehört und der deal war am Ende gemacht als er noch ein zufälliges Treffen mit seiner Schwester Mara draufgelegt hatte, bei dem Amil und sie alleine sein konnten… Amil schlug daraufhin ein, betonte nochmals, dass er mit der ganzen Sache nichts zu tun hätte und machte sich an die Arbeit. Schon am nächsten Tag war er, wieder mit seinem breiten, sympathischen Grinsen, eine Reihe perfekter weißer Zähne zeigend, zu ihm gekommen, sagte „Ich bin der Beste, ich krieg es hin!“ und machte sich an die Programmierung des screens an seinem Arm, nicht ohne immer wieder nachzufragen, ob der deal mit Mara immer noch gelten würde, unsicher, ob er es sich vielleicht doch noch anders überlegen würde, aber nein, das hatte er nicht vor.
Er liebte seine Schwester, aber er wusste irgendwie auch, dass Amil sie ebenso lieben würde, wenn er die Chance dazu bekommen würde.
3. Mara
Er musste lächeln, als er an seine Schwester dachte. Mit ihren braunen kurzen Haaren, den unglaublich blauen Augen und ihrer zierlichen Figur fiel es ihr leicht, zu gefallen. Und sie wusste das, mochte es sogar, wenn andere sie auf ihr Aussehen reduzierten. Das passierte vielen, die ihr begegneten. Dann spielte sie eine Weile, genoss es, unterschätzt zu werden und zeigte dann, wenn der Moment der Wahrheit gekommen war, mit einer überraschenden Schnelligkeit die Grenzen auf, die für sie nicht galten, aber für die anderen. Aber sie war mehr als das, sie war klug und stark, mit einem unbändigen Willen, wenn sie etwas für richtig erkannt hatte und der Weg dorthin zu gehen war. Nichts konnte sie dann davon abbringen, mit aller Kraft das zu tun, was ihrer Ansicht nach zu tun war und er bewunderte sie dafür. Letztlich war sie es gewesen, die alle davon überzeugt hatte, dass jetzt die Zeit des Widerstandes gekommen war. „Opposition geht nicht mehr“ hatte sie gesagt. „Das System lässt keine Opposition zu, jedenfalls nicht ohne sofortigen Punktverlust. Wenn man nicht angepasst ist, verliert man.“ Und sie wussten, dass sie Recht hatte.
Sie war wie viele andere durch die Neuordnung aus ihrem beruflichen und persönlichen Gleichgewicht geraten. Als Steuerexpertin hatte sie noch vor einigen Jahren gut gelebt und musste dann feststellen, dass im neuen System Steuern nicht mehr vorgesehen waren. Wozu auch? Man verdiente sich seine points, und wenn nicht, dann hatte man weniger und man war weniger.
Die wenigen Dinge, die jedem als Eigentum überlassen wurden, waren beschränkt auf Persönliches. Die Abkopplung von Eigentum gegen points war perfekt gelungen. Das Punkteeinkommen war der neue virtuelle Zugang zu allem geworden, Konsum, Luxus, Reisen, Kultur, alles, was der score erlaubte. Man brauchte kein Geld mehr, alle Zugangsberechtigungen, die Abos, Einkaufen und was immer man sich sonst wünschen konnte, selbst medizinische Betreuung oder Urlaub ermöglichte der Punktestand. Ein perfektes Abo-System erfüllte jeden Wunsch. Es fühlte sich an wie eine Art Geld, aber es war doch kein Geld, es waren die Möglichkeiten, die genügend Punkte boten.
War nicht schon auch vorher Geld etwas Virtuelles gewesen, etwas, an das man nur glaubte, aber nicht wirklich einen Wert hatte? Es eröffnete Möglichkeiten, so wie die social points. Die Abschaffung des Bargeldes und dann des Eigentums des Einzelnen hatte den Weg für eine neue virtuelle Währung erschlossen, eine Währung, die perfekt für eine shared economy geeignet war…
Mara war nach der Auflösung der Steuerbehörde lange orientierungslos. Sie hatte sich als erst als trainer, dann als router versucht, alles mit wenig Erfolg und noch weniger Punktegewinn. Nach und nach war sie von einer Elite in die Masse der Menschen geraten, die nur noch beschränkt Zugang zu additional points hatten. Sie hatte daher schon früh über das Ende ihres Lebenskonzeptes philosophiert, über die Ungerechtigkeit, einen vorherigen persönlichen Einsatz plötzlich für wertlos zu erklären, in ihrem Falle das jahrelange Studium und all die Prüfungen, die sie hatte bestehen müssen. Sie konnte sich, obwohl jünger als er, nicht mit den Veränderungen abfinden, die so schnell stattgefunden hatten. „Wozu habe ich mich all die Jahre gequält?“ Er hatte sie zu trösten versucht, ihr immer wieder gesagt, dass nicht das was man lernt, sondern auch die Struktur, die man beim Lernen lernt, entscheidend ist. „Du kannst strukturiert Probleme lösen, egal welche, mit dem, was du gelernt hast, das bist du, das macht dich aus, das ist deine Vita!“ hatte er gesagt und sie war nicht begeistert.
„Und welches Problem soll ich bitte lösen?“ Darauf hatte er auch keine Antwort gewusst. Und so schlug sie sich mit Gelegenheitsjobs durch, die es ihr kaum ermöglichten, über den Standardlevel der Punkte hinauszukommen.
4. Unter der Brücke
Das leise Geräusch einer b-Drohne ließ ihn aufhorchen. Kaum zu hören im Klangteppich unter der Brücke, der Fluss und der Wind, doch so fremd, hochfrequent und einmalig. Es musste eine mobile Drohne sein, kaum größer als ein Insekt, selbstlenkend und suchend, ständig Daten über alles sendend, was erfassbar war von der unglaublich kleinen Sensorik im Innern des Titanzylinders, der von hauchfeinen Rotoren in der Luft gehalten wurde. Wenn sie so nah waren konnten sie ihn eingekreist haben, denn hier, an der Brücke, war nur mit mobil eingesetzten Drohnen zu rechnen, für die stationäre Überwachung war er zu weit draußen…
Jetzt nicht aufschauen, nicht den Fehler machen, das ungeschützte Gesicht den Temperaturscannern zu zeigen, selbst diese schwache Strahlung war von den search-Programmen der Drohne sofort einem menschlichen Wesen zuzuordnen. Über seinen Kopf und seinem Körper hatte er einen – mittlerweile nicht mehr erhältlichen und seit einigen Jahren verbotenen – alten Thermolevel-Poncho gezogen. Sein Großvater hatte ihm vor Jahren ein kleines Paket in die Hand gedrückt und gesagt „Vielleicht brauchst du das mal. Bewahre es gut auf!“ Damals hatte er dem Poncho noch keine Beachtung geschenkt. War es denn nicht ein unglaublicher Fortschritt, dass jeder Mensch sofort lokalisiert werden konnte? Es gab keine Verbrechen mehr, die nicht sofort aufgeklärt wurden, Kinder, die sich verlaufen hatten, waren in wenigen Minuten gefunden und alles, was Menschen zustoßen konnte war binnen Minuten entdeckt und über den Abgleich der P&P-Daten sofort medizinisch behandelbar. Es gab kaum eine Verletzung oder Krankheit, die nicht über die Daten analysiert werden konnte. Waren nicht die Todesfälle mehr und mehr zurückgegangen, jedenfalls die wegen Krankheit und Unfällen? Die tracker hatten über das Psych&Physis – screening alle Daten verfügbar, einschließlich der DNA-Daten und damit alle Möglichkeiten der Hilfe, jedenfalls solange ein positiver score Hilfe zuließ.
Ärztliche Versorgung war daraufhin noch teurer geworden. Schließlich war es ja eine personalisierte medizinische Hilfe und damit einer der benefits, die genügend points erforderten. Die konnte man nämlich auch verlieren, oder, wie früher auch, zu schnell ausgeben oder besser verbrauchen und unter das level der points fallen, die eine bevorzugte medizinische Behandlung erlaubten.
Es war vielen sogar als eine gute Idee erschienen, alten Menschen mit jedem Lebensjahr weniger Punkte zuzugestehen, waren sie doch weniger wertvoll für die Entwicklung und den Fortbestand der Gesellschaft. Und wenn es das scoring nicht mehr zuließ, dass man medizinische Hilfe bekam, dann war man, auch da waren sich die Revolutionäre sicher und glaubten, das Richtige zu tun, zum Sterben verurteilt. Es war Teil der als „natürlich“ apostrophierten Auslese der revolutionären Evolutionstheorie geworden, unter dem acceptable level der Punkte nicht mehr zu helfen. Nicht die Stärkeren sollten überleben, sondern die der Gesellschaft dienlichen, die wertvollen und nutzbaren Individuen. Eine völlig neue Bewertung von Leben, hervorgegangen aus der asiatischen Philosophie des Ganzen, Gemeinsamen. Den Einzelnen als Dienenden für alle zu sehen - es war irgendwie das Ende des Individualismus und der persönlichen Freiheit, aber auch das erschien vielen als das bessere gesellschaftliche Konzept, jedenfalls im Vergleich zum Kapitalismus der Vergangenheit, der immer mehr zu einem Recht des Stärkeren mutiert war und die blutigen Unruhen auslöste, die zur Revolution geführt hatten. Das Recht des Stärkeren war das Recht der Reichen geworden.
Das Geräusch entfernte sich und er konnte sich wieder dem Schmerz widmen. Warum hatte er nicht seine Dosis rewards mitgenommen, die jedem zustand, der sie verdient hatte und die selbstverständlich – neben den Glückshormonen – auch ein Schmerzmittel enthielt. Diese kleinen Pillen, die man fast automatisch jeden Morgen einnahm und die das Leben so einfach und leicht machten. Einen Moment lang war er versucht, aufzustehen und nach rewards zu suchen. Viele Menschen hatten sich einen Vorrat angelegt und er bildete sich ein, in jedem Haus sofort den Platz zu finden, in denen die rewards versteckt wurden.
Aber das wäre Diebstahl. Wäre es das? Und wenn schon, es würde Punkte kosten, wenn es entdeckt würde, aber davon hatte er ja sowieso schon zu wenig, um überleben zu können. Er musste lächeln. Diebstahl. Was für ein altes Wort aus einer anderen Zeit. Es gab schon lange kein Eigentum mehr, viele hatten alles, was sie besaßen an den council übertragen, um sich ein lebenslanges volles Punktekonto zu sichern.
Wozu auch Eigentum? Ein gutes Leben war über die Punkte erreichbar, alle Abos waren möglich, wenn man level 5 erreicht hatte, Luxus, Reisen, Status, einfach alles. Und alles stand jederzeit und überall zur Verfügung, man musste nur ein paar Punkte von seinem Konto opfern. Und der council hatte mit dem Programm „Eigentum gegen Punkte“ die Unruhen, die wegen der immer weiter auseinandergehenden Schere zwischen Arm und Reich entstanden waren, beendet und damit auch die Benachteiligten und die Armen zum Schweigen gebracht.
Der Schmerz war jetzt pochender geworden und zog sich vom Bauch hinauf in den Oberkörper. Er wusste, das war Entzug, kalter Entzug.
5. Kena
Er hatte erst nicht glauben wollen, als sie es ihm gesagt hatte. „Doch“, sagte sie, „ich weiß es genau!“ Und er hatte in ihre rehbraunen Augen geschaut, die ihn herausfordernd und kampfbereit angeschaut hatten und gewusst, was er schon immer gewusst hatte, schon von dem Moment an, als er sie zum ersten Mal an der Tür stehend gesehen hatte, damals, in der Klinik, den Rücken ihm zugewandt, in ihrer weißen Klinikkleidung, die blonden Haare zusammengebunden, aber nicht streng, sondern so als wäre die kleine Klammer verrutscht und sie habe es nicht gemerkt in ihrer Konzentration. Sie hatte sich gar nicht umdrehen müssen, er sah nur wie sie sich über den Bildschirm beugte und gefangen war von dem, was sie dort sah und er hatte gewusst, dass sie schön war, so wie sie dort stand, versunken in sich selbst und in dem, was sie gerade machte. Er hatte den Moment festhalten wollen, aber das ging nicht, nur für den kurzen Moment, in dem sie nicht merkte, dass sie beobachtet wurde.
„Die rewards enthalten zeros, speziell abgestimmte Glückshormone, sie sagen es nur nicht, weil es süchtig macht und weil sie dich ruhigstellen wollen!“ Er mochte es, wenn sie so streitlustig und engagiert war und zeigte sein „ich glaub das nicht“ – Gesicht, nur, um sie noch einen Moment weiter so anschauen zu können.
„Aber ja, wenn du sie nicht mehr nimmst, wirst du krank, sie wollen dich abhängig machen. Du kannst krank werden oder sogar sterben, wenn du sie nicht mehr nimmst!“
Soweit würden sie gehen? Das war schwer vorstellbar und doch – wenn man es richtig überlegte, die rewards waren die erste Hürde, die es im Leben zu nehmen galt. Wenn der ausreichende score erreicht war, bekam man sie ohne Probleme, sozusagen zugeteilt, ohne weitere Fragen. Man bekam sie und fühlte sich ab dem Moment gut und dazugehörig, angekommen, nicht mehr verletzbar oder angreifbar, ein Teil des Ganzen, ein Teil von Allem, das war ein gutes Gefühl, damals, mit den ersten rewards.
Sie stand immer noch da, die Arme in die Hüften gestemmt und er wusste, sie würde erst dann zufrieden sein, wenn er ihr zustimmen würde. Also sagte er: „Ich werde es ausprobieren. Ok?“ Und sie hatte leicht mit dem Kopf genickt und ihn prüfend angeschaut. Und deshalb hatte er seine Pillen heute nicht mitgenommen – sie sollte auf seinen Bericht über die Wirkung warten, auf ihn warten. Und sich vielleicht ein wenig um ihn sorgen…
6. Die Revolution
Die Revolution war damals wegen der Unruhen und der Flüchtlinge notwendig geworden, aber auch, als man entdeckte, dass die offline-Zeit vieler Menschen nur noch 20% der Wachzeit betrug, zu wenig, um all das aufrechtzuerhalten, was das menschliche Leben erforderte. Erst Sandor, der große Politiker und Visionär, erkannte die Katastrophe, die sich anbahnte. „Wer online ist, ist offline Leben“ war sein Wahlspruch gewesen, mit dem er die Revolution begonnen hatte.
Es war zu kaum mehr zu kontrollierenden Übergriffen gekommen, angeführt von denen, die mit Streaming, Spielen und all dieser virtuellen Parallelwelt nichts anfangen konnten, die erkannt hatten, dass gerade die Jungen kaum mehr präsent waren, sondern in Welten versunken, die nicht die reale Welt waren. Leichte Beute. Immer mehr junge Menschen erwiesen sich als nicht lebensfähig, kaum praktisch begabt und schon gar nicht wehrhaft. Es war ein Kinderspiel, sie auszurauben, zu manipulieren oder einfach zu übergehen. Die Übergriffe waren zusammen mit den Unruhen der Benachteiligten, Armen und Heimatlosen, die seit Jahren gewaltsam protestierten, der Zündsatz für die Straßenschlachten vor der Revolution geworden.
Das scoring hatte eine strenge Zeitbegrenzung des onlines eingeführt, egal ob VR, Gaming und alles andere, was Menschen in virtuelle Welten entführt hatte, selbst Bücher waren implementiert, sehr umstritten damals, mit endlosen Debatten um das Für und Wider. Aber die Zeitbegrenzung kam. Wer seine Zeiten überschritt, bekam Punkte abgezogen. Mehr online gewünscht? Kein Problem, verdiene es, dann darfst du. Eine neue Hinwendung zur Realität war die Folge. Wer wollte schon ständig Punkte verlieren? Er hatte das für richtig gehalten. Hatte es nicht dazu geführt, dass alle wieder mehr am Leben teilnahmen?
Das musste man auch, denn schon kurz nach der Einführung der scores konnte man ohne Leistung keine Zusatzpoints mehr erreichen. Keine Verbesserung des Lebensstandards, kein Zugang zu allem Schönen.
Die Punkte waren Status und Privilegien, der Schlüssel zu allem.
Alles war abhängig von der eigenen performance geworden, points und auch die rewards gab es nur bei Übererfüllung des Solls. Mehr gearbeitet? Zusatzpunkte. Freiwillige Zusatzleistungen im Interesse aller? Points. Das neue Kapital, Kapitalismus pur, virtuell, als Versprechen der Punkte. Leistung zählt. Oder war es nur die Hinwendung zu alten Konzepten, war es nicht wie in der alten sozialistischen Planwirtschaft? Ein archaisches Belohnungskonzept, Plan übererfüllt…
Er wusste es nicht. Jedenfalls wurde mit Atem beraubenden Tempo ein völlig anderer Anreiz eingeführt, berechenbar und kontrollierbar. Und viele waren erleichtert, endlich eine Struktur zu haben, einfach und für jeden nachvollziehbar. Manche hatten sogar behauptet, das scoring habe viele Sinnfragen beantwortet, alle, auch die zuvor nicht gestellten. Es war eine der Hauptaufgaben des councils geworden, die virtuelle Versammlung aller, die Level 5 der Punkte erreicht hatten, das Level, das alles erlaubte und keine Punktabzüge mehr zuließ, die Punkte zu vergeben für alles, was nützlich erschien und, vielleicht noch wichtiger, den Katalog aufzustellen und ständig zu aktualisieren, der Punkte abzog, bei nicht konformen Verhalten oder bei zu wenig Leistung.
Und das alles funktionierte mit den screens vollkommen digitalisiert, sofort und, das hatte er auch bald gemerkt, unerbittlich.
Die Enteignung war danach nur ein weiterer Schritt gewesen. „Wir sind alle eins - sei Teil vom Ganzen“ „Hol dir Deinen high-score!“ waren die Werbebotschaften gewesen.
Wer sein Vermögen, sein Haus, seine Firma freiwillig an den council übertrug bekam im Idealfall, wenn es reichte, da war der council genauso geldgierig wie alle Regierungen vorher, den Pilar-Status, eine volles Punktekonto, mit weitgehenden Einschränkungen bei den minus-points, ein ganzes Leben lang… Und viele waren dem Aufruf gefolgt, alles abzugeben, nicht zuletzt, weil auch die Mitgliedschaft im council, dem höchsten Entscheidungsgremium, an das Erreichen von Level 5 geknüpft war. Es erforderte besondere Leistung für das Ganze, sei es kulturell, wissenschaftlich oder, so profan war das System, eine Übertragung von großen Vermögen an den council. „So revolutionär ist die Revolution gar nicht“ hatte er damals gedacht. Waren nicht auch vorher die Reichen privilegiert? Mitglied im council zu sein bedeutete die neue Macht, entscheiden zu können, neben all den anderen Privilegien, die man genießen konnte, aber die Macht über die Vergabe der Punkte war das Entscheidende.
Es war Kena zuerst aufgefallen, dass genau diese Macht des councils ins Unermessliche gewachsen war. „Wir sind Schafe, nichts weiter, dumme Schafe! Und die machen was sie wollen!“, hatte sie sich ereifert und er konnte nicht anders als ihr zuzustimmen, schon um sie nicht zu verärgern. Das war genau an dem Tag gewesen, als die Punkte für ihre Arbeit, für die Zeit und Zuwendung für Alte und Kranke, fast vollständig abgeschafft wurden. Der council hatte verfügt, dass ärztliche Betreuung für chronisch Kranke und Alte keine Tätigkeit mehr sei, die förderlich für die Ziele der Gesellschaft war. Das war zum neuen Maßstab für die Vergabe der Punkte geworden. Was diente der Gesellschaft und was nicht. Es hatte sie bis ins Mark getroffen, dass gerade ihre Arbeit als Ärztin abgewertet wurde, die Fürsorge für ihre Kranken, die Alten, die gepflegt werden mussten. Er hatte sie in den Arm nehmen wollen, als sie vor ihm stand, enttäuscht, wütend und fassungslos. Aber das ging nicht. Es hätte der Zuordnung widersprochen. Beziehungen zwischen Mann und Frau waren ohne vorherige Zuordnung strengstens untersagt.
So hatte er ihr zugehört und schaute sie an, schaute zu, wie sich in ihr Ablehnung, Widerstand und Wut formte, wie sie einen Ausweg, einen Kanal suchte für alles, was sie fühlte. Und es war ihm klar gewesen, dass er der Einzige sein würde, an dem sie ihre Wut auslassen könnte, er war sogar bereit dazu gewesen, das auszuhalten, er wäre in diesem Moment wichtig für sie gewesen. Er wäre da gewesen, für sie da gewesen, und das wollte er mehr als alles andere.
Kurz darauf war doch passiert, was niemals hätte passieren dürfen. Sie stand mit ihm auf der Terrasse der Klinik, die Haare im Wind, argumentierend und so jung und schön, voll Leben. Als sie zu ihm hochschaute und fragte „Man muss doch was machen, meinst du nicht, dass man was machen muss? Für die Alten, die Kranken?“ da hatte er nur ihren Mund gesehen, halb geöffnet und ihre blitzenden Augen und er hatte sich hinuntergebeugt und diesen Mund geküsst, nur ganz zart und schnell, dann wieder als sie nicht zurückwich und ihn nur fragend und staunend ansah. Er küsste er sie wieder, mutiger jetzt und sie ließ es zu.
„Was machst du?“, flüsterte sie, und er ließ es nicht mehr zu, dass sie etwas sagen konnte, zog sie an sich, wollte sie, ihren Körper, ganz nah und spürte wie sie mit weit offenen Augen begriff, wie schön das war, er und sie, die Nähe… entgegen allem, was sie gelernt hatten, über die Zuordnung, die Entscheidung, den richtigen Partner, das Leben zu zweit, die Entscheidung des sub-councils mit dem hübschen und vielsagenden Namen „Genesis“, der den richtigen Partner aussuchen würde, gestützt auf die soziokulturelle und vor allem genetische Datenlage, zu gegebener Zeit… Sie hatte sich plötzlich versteift, drückte ihn weg und sagte, „Bitte nicht“, und flüsterte etwas, was er nicht verstand, drehte sich um und lief zur Treppe. Er war froh, dass sie nun wusste, was er für sie empfand, endlich, auch wenn es mehr die zufällige Nähe, der Augenblick ihrer Enttäuschung, gewesen war, der ihn so mutig werden ließ. Vielleicht wäre das nie passiert, wenn sie nicht so enttäuscht gewesen wäre. Er blieb noch eine Weile stehen, durchströmt von einer Wärme, die er so noch nie gespürt hatte und von der er wusste, dass er sie immer wieder spüren wollte.
Das Wetter verschlechterte sich und er zog die Beine an den Körper. Es würde kalt werden unter der Brücke, jetzt im Herbst, wenn die Sonne untergegangen war und er musste einen Platz finden, um zu schlafen. Er war froh, seinen Rucksack zu haben. Er hatte ihn mit allem gefüllt, was ihm bei seiner Flucht notwendig erschien, ohne genau zu wissen, was er brauchen würde. Jetzt war er glücklich, dass er ein shelter eingepackt hatte, ein kleines Päckchen, bestehend aus einem mehrlagigen Stoffgebilde, in das Luftkammern eingearbeitet waren.
Daran angeschlossen war ein digitaler Motor an einem etwa Faust großem Behälter, der ein komprimiertes Spezialgas enthielt. Öffnete man das Ventil, so strömte das Gas in die Luftkammern und blies das shelter zu einer halbrunden fast zwei Meter langen Röhre auf, in der ein Mensch, zur Not auch zwei, geschützt vor Kälte und Nässe war. Der Motor diente auch dazu, das Gas wieder abzusaugen und zurück in den Behälter zu komprimieren, so dass das shelter wenig Platz benötigte und leicht transportiert werden konnte. Er hatte dessen Erfinder vor einiger Zeit kennengelernt. Es war der Mentor von Amil und war sofort begeistert von dem alten Mann, der immer noch gerne konstruierte und die Fähigkeit besaß, neue Erkenntnisse verschiedenster Wissenschaftsbereiche zusammenzuführen und daraus innovative Produkte zu entwickeln. Amil hatte von ihm seine Liebe zur Mathematik, Physik, Materialkunde und zu Konstruktionsplänen, die es ihm ermöglicht hatte, in den elitären Kreis der Programmierer aufzusteigen, die damit betraut waren, die scans, Vita Daten und results zu verarbeiten, die als Grundlage für die Vergabe der points dienten.
Er selbst hatte es nie so weit gebracht. Er teilte aber mit Amil die Leidenschaft für Pläne jeder Art, wenn auch mit mehr Interesse an Mechanik als an digitalen Strukturen. Stundenlang hatten sie immer neue Konstruktionszeichnungen studiert und sich daran gefreut, die Gedankengänge der Ingenieure nachzuvollziehen und aus den Plänen die Erkenntnisse abzuleiten, die zu den Plänen geführt hatten. Amil und sein Bruder Samir, ebenfalls Programmierer, waren in dieser Zeit seine besten Freunde geworden. Amil ließ ihn nie spüren, dass er nicht den gleichen brillanten Intellekt hatte und dafür war er ihm dankbar. Andererseits bewunderte Amil seine Fähigkeit, komplexe mechanische Strukturen blitzschnell zu erfassen und mögliche Fehlerquellen zu erkennen. Das hatte ihm letztlich die Arbeit an den Knotenpunkten eingebracht, die er jetzt schon einige Jahre hatte. Das gab zwar weniger points als die Programmierung, war aber letztlich das, was er am besten konnte und man konnte gut davon leben. Und er war bis vor ein paar Monaten zufrieden gewesen. Man war häufig unterwegs und mehr oder weniger auf sich allein gestellt, das gefiel ihm. Und da die Knotenpunkte als besonders neuralgisch und sicherheitsrelevant galten, hatte er einige keys in seinem screen, die ihn zu etwas Besonderen machten, er durfte in die abgeschlossenen areas, sah Dinge, die andere nicht sahen und konnte sich einbilden, ein unentbehrlicher, wichtiger Teil des Systems zu sein.
Der sub-council „Jobs“ hatte ein Internetportal eingerichtet, über das jeder, der Zeit und die entsprechende Qualifikation hatte, Aufgaben übernehmen konnte, die ihm Punkte einbringen konnten.
Viele nutzten diese Möglichkeit, neben der Grundversorgung ein wenig mehr zu haben ohne sich - wie früher – zu mehr zu verpflichten. Das sicherte zum einen die persönliche Freiheit, selbst entscheiden zu können, wann und wie lange man arbeitete, zum anderen führte das Angebot von Jobs zu einer umfassenden Liberalisierung des Arbeitsmarktes. Und es gab jedem die Chance, vieles auszuprobieren, sich zu versuchen und das zu finden, was passte.
Obwohl es niemand offiziell zugab und es nicht wahrgenommen werden sollte: es war gar nicht mehr genug Arbeit für alle vorhanden. Nachdem die Produktion von vielen Gütern digitalisiert und automatisiert worden war und viele Dienstleistungen im neuen System überflüssig geworden waren, gab es nicht mehr genug für alle zu tun. So war es ein beliebtes Hobby vieler geworden, jeden Morgen nach Möglichkeiten zu suchen, um sich zu beschäftigen und ein paar Punkte zu verdienen.
Jobs bot für jeden etwas und die Bewertung der Arbeit wechselte nach allen nur denkbaren Faktoren täglich und war immer neu. Er hatte auch viel probiert und dabei festgestellt, dass er gerne draußen war, lieber allein als in einem Team arbeitete und so war am Ende die Arbeit als Knotenpunkttechniker genau das, was er wollte. Es war eine mehr oder weniger feste Arbeit, mit Privilegien verbunden und er liebte es, unterwegs und allein zu sein.
Das shelter öffnete sich mehr und mehr und er fixierte es auf den Boden unter der Brücke. Er aktivierte die kleinen Saugnäpfe, um das shelter auf dem harten Beton der Brückenfundamente zu befestigen, so dass der Wind es nicht wegwehen konnte. Der Boden der Röhre war zu einer Liegefläche geworden, deren Luftkammer leidlich Komfort bot und er war froh, hineinkriechen zu können und sich zum ersten Mal seit langer Zeit geborgen und, zumindest für den Moment, sicher zu fühlen.
Er hatte es Amil zu verdanken, dass er Kena kennen gelernt hatte. „Du musst sofort zum Arzt gehen!“, hatte er gesagt und er hatte es rührend gefunden, dass Amil sich Sorgen um ihn machte. Die Prellung an seiner Seite rührte von einem Sturz in den Schacht bei einem Knotenpunkt her. Er war an der kleinen Metallleiter zu der Kammer hinabgestiegen, um die Verbindungen zu prüfen und war dabei abgerutscht.
Eher widerwillig ließ er sich von Amil in die Klinik fahren, dort, wo er sie zum ersten Mal gesehen hatte. „Schlägerei?“, hatte sie als erstes gesagt, als er vor ihr auf dem Behandlungstisch saß, den Oberkörper entblößt, mit der Beule im Gesicht und den Schmerzen an der Seite, unfähig zu antworten, weil ihr Gesicht noch schöner war als er sich das vorgestellt hatte, eben, als sie in der Tür stand und er sie beobachtet hatte. Und so lächelte er nur, unfähig etwas zu sagen und sah ihr zu, wie sie die Schrammen am Kopf geschickt desinfizierte und seine Seite abtastete, so nah war sie ihm, dass er den Duft ihrer Haare spürte und die Wärme, die von ihrem Körper ausging. „Tut das weh?“, fragte sie.
„Mmh“, sagte er, nahm ihre Hand und führte sie zu der Stelle, auf die er gefallen war, sie ließ es überrascht zu, dass er sie anfasste, „Da.“
„Rippenprellung?“, fragte sie, zog ihre Hand zurück und tastete dann vorsichtig seine Seite ab.
Er wusste in diesem Augenblick, dass sie ihn gesehen hatte, jetzt, nachdem er ihre Hand genommen hatte, das war natürlich nicht erlaubt, sie war Ärztin. Aber sie hatte ihn wahrgenommen, er war nicht mehr der Patient, sondern sie hatte ihn jetzt als einen jungen Mann gesehen. Sie hatte jetzt seine Nähe gespürt, die leichte Röte in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen, das war er, der kleine, entscheidende Schritt vom Patienten hin zum du, zum „Wer bist du denn?“ zum „Bist du es vielleicht?“
Er sah gut aus mit seinem nackten Oberkörper, männlich (auch wenn das Wort nicht mehr erlaubt war), durchtrainiert und überlegen mit seiner Größe, den harten Muskeln und den großen Händen, die er von seinem Vater geerbt hatte. Und sie war ihm sehr nah, bemüht, ihn nur zu behandeln und sich nichts anmerken zu lassen, wie anders denn auch, unter den Augen der allgegenwärtigen Kameras an der Tür des OP-Vorzimmers. Man spürt diese Spannung sofort, sie baut sich nicht auf, sie ist auf einmal da, die Spannung zwischen zwei Menschen, die wissen, nach nur wenigen Blicken, der da, oder die da, das würde sich richtig anfühlen, das wäre so normal und so einfach. Und so lächelte sie ihn an, sah ihm ein wenig zu lang in die Augen, fest und doch mit dieser wunderschönen Röte im Gesicht und sagte „Nichts gebrochen, aber ein paar Tage Ruhe.“
„Darf ich dich wiedersehen?“, fragte er unvermittelt. Das durfte er, denn das frühere „Sie“ war längst das „du“ geworden, auch eine Anleihe aus der englischen Sprache. Das „Sie“ war verboten worden, gender eben, keine Unterschiede, und er sah, dass sie im Bruchteil einer Sekunde alle Antworten wie „Wir kennen uns doch gar nicht“ „Warum sollte ich das tun“ und tausend andere Neins sagen wollte und doch sagte sie, wahrscheinlich ohne es wirklich gewollt oder auch nur gewusst zu haben einfach „Ja“ und er lächelte sie an und sie konnte gar nicht anders als zurück zu lächeln.
„Wenn du wieder gesund bist“, ach ja, ohne Bedingung wäre es zu einfach gewesen, ein paar Hürden musst du schon nehmen, so einfach ist das nicht, mich kennen zu lernen. Aber er war glücklich gewesen, im gleichen Moment war dieser Strahl im Innern, der sich so gut anfühlte, besser noch als die Sonne nach einer kalten Nacht, wärmend, wohlig und er konnte gar nichts anderes sagen als „Bin schon wieder gesund“ und sie zog die Augenbrauen hoch, lächelte wieder und drehte sich weg von ihm, musste Abstand gewinnen, etwas zu schnell in ihrer Bewegung, ein wenig irritiert, aber in dem Wissen, dass er sie anschaute und in dem Wissen, welchen Zauber sie jetzt auf ihn ausübte, die Macht des Weiblichen, Begehrenswerten, in diesem Moment Überlegenen. Das war ein gutes Gefühl für sie und es ließ sich nicht so schnell abschalten, schon gar nicht durch Vorschriften.
„Das entscheidet der behandelnde Arzt“, sagte sie, drehte sich zu ihm um, die Röte in ihrem Gesicht war wunderschön und er machte wieder „Mmh“, bereit, auch die nächsten Tage, Wochen oder sogar Monate zu warten, wenn er sie nur wiedersehen würde.
Das screen in seinem Arm vibrierte. Das machte es immer, wenn sich die scores änderten. Er schob den Ärmel hoch und schaute auf das Display. Auf der rechten Seite befand sich das touchscreen, der alle Informationen, Schlüssel, Zugangsberechtigungen und tasks und das account der scores enthielt. Links war das immer laufende Band der Nachrichten, und, das hatte die neue Weltordnung nicht vermocht, immer wieder Werbung, natürlich individualisiert und zielgruppengerecht. 15 Punkte mehr zeigte das score? Er öffnete die Dokumentation und las. „Bei sofortiger Meldung bei S1“ – das war die Bedingung für die additional points.
Das war perfide. Sich selbst stellen, wenn man gesucht wird, mit sofortiger Belohnung? S1 war sein Führungsmentor, ein alter, nicht sehr sympathischer, aber ehrlicher Mensch, dessen Aufgabe es war, ihn und sein Konto zu beobachten, Leistungen zu bewerten und ihm Hinweise zu geben, die viele additional points ermöglichten. Er mochte ihn, so wie fast jeder seinen Mentor mochte, denn es waren Menschen, die ausgesucht waren, um zu helfen, zu beraten und er war fast so etwas wie ein Freund geworden. Es war klar, dass die searcher da sein würden, sobald er sich auf dieses Angebot melden würde.
Sie würden ihn sofort lokalisieren, wenn er antworten würde. Und dass sie S1 einsetzen würden, um ihn zu fassen, war Kalkül. Ihm vertraute er, das wussten sie. Und 15 Punkte waren ja wie ein Hauptgewinn, was musste man nicht alles machen, um so viele additional points zu bekommen. Er hatte einmal gehört, dass man bis zu drei zusätzliche points an nur einem Tag verdienen konnte, wenn man bereit für ein Risiko war, etwa die Beseitigung hochradioaktiven Mülls, dort, wo die Maschinen nicht hinkamen, aber immer ohne Gewähr, dass nichts schief ging. Und jetzt 15 Punkte? Es gab nicht so viele Möglichkeiten, additional points zu erwerben. Die Erfüllung der Aufgaben, die zugewiesen waren, hielt nur den Status. Blieb nur die Übererfüllung oder die Erledigung von speziellen Aufgaben.
So hatte er auch die Liebe kennen gelernt, zumindest die körperliche Liebe. Das Trieb- und Aggressionspotential junger Männer war bekannt und so bot man jungen Frauen die Möglichkeit, Liebesdienste anzubieten gegen Punkte, eine der wenigen Möglichkeiten, sich als Frau etwas nebenbei zu verdienen. Und für die jungen Männer waren diese Dienste eine schnelle Möglichkeit, Sex zu lernen. Aber auch, ihre points zu verringern. Es war offensichtlich so etwas wie ein Ausgleich, aber ein ungerechter, wie er fand. Sein Körper war genauso viel wert wie ihrer, oder? Und war das gender, dass sie die Punkte bekam, die ihm abgezogen wurden?
Er hatte lange darüber nachgedacht, dass es wohl nur eine Buchung zwischen den screens war, wenn sie sich ihm hingab, seine Punkte auf ihr Konto. Es war für ihn irgendwie nicht gerecht. Wieso sollte sie etwas bekommen, wo er doch das Gleiche gab? Sie hatten das lange diskutiert. Mara war sofort der Meinung, dass dies eine Form der Buchhaltung war, bilancia, die Waage, Soll und Haben. Eine Ausgleichsbuchung sozusagen. Amil hatte ihr zugestimmt. Er war der Ansicht gewesen, dass die Gesamtzahl der Punkte sowieso definiert war und nur eine Verschiebung zwischen Einzelnen möglich war, eine Umverteilung also, nur so ließe sich die Vergabe der Punkte mathematisch kontrollieren. Die Ausgabe neuer Punkte war offensichtlich nicht vorgesehen, es würde ja auch die Punkte der Anderen automatisch entwerten, fast so wie die Ausgabe von neuen Aktien einer Firma, die früher zum Kursverlust für die alten Aktionäre führten, damals, als es noch Aktien gab.
Amils Bruder Samir, der wie Amil ebenfalls in der mind Programmierung arbeitete, der Datenzentrale des councils, versprach, diese Frage zu klären, sobald er die volle Zugangsberechtigung zum Zentralprogramm haben würde. Einig waren sie sich nur darin, dass es schlechtere Bildungsprogramme gab als Sex…
Und so wusste er, was die körperliche Liebe war, das war schön, manchmal konnte man sich sogar ein wenig in die Frau verlieben, die doch nur aus einem einzigen Grund da war und der war ausgesprochen egoistisch. Aber war die Liebe nicht sowieso egoistisch? Auch das hatten sie heftig diskutiert.
Nur wenn man etwas empfand, war man bereit, alles für jemand zu geben. Mach mir das Gefühl, dieses Gefühl, dann empfinde ich Liebe? Schaffst du das nicht bist du mir egal?!? Sie waren zu keinem Ergebnis gekommen, außer dass es kommt wie es kommt und man sowieso keinen Einfluss auf seine Gefühle hat. Und dass Gefühle keine Rolle mehr spielen, die Zuordnung war vorgesehen und nicht änderbar, jede Zuwiderhandlung wurde mit dem sofortigen Abzug von points sanktioniert.
War das nicht auch ein Fortschritt der Revolution? Hatten nicht die Gefühle zwischen Menschen oft Probleme verursacht?
Er war damals froh, dass viele alte Muster, etwa „A liebt B und B liebt C“ Geschichte waren, Pech für A. Jetzt bestimmte der sub-council Genesis, wer zusammen gehörte, also blieb kein Raum für Gefühle wie Eifersucht oder Neid, das war längst auch als Ursache für Konflikte, Leid, Not und Kriege ausgemacht worden und durch die Zuordnung sollten sie Geschichte sein, Gefühle, die völlig überflüssig waren für das Zusammenleben der Menschen und die in Zukunft keine Rolle mehr spielen sollten. Und auf einmal waren auch alle Partnervermittlungen, die vor der Revolution wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, oft digital, aber auch in der realen Welt, mit einem Schlag überflüssig geworden, auch das hatte er gut gefunden, genervt von der ständigen Werbung, doch jetzt den richtigen Partner fürs Leben finden zu müssen, in einer Welt, die immer individueller, einsamer und vielleicht auch egoistischer geworden war. Jetzt war es der council, der bestimmte, wer zu wem gehören sollte, oder vielmehr die Logarithmen, die hinterlegt waren. Und die Punkte, die es bei Zustimmung zur Zuordnung gab, waren auch nicht zu verachten.
Aber gleichzeitig erstickte die programmierte Zuordnung die Liebe, und selbst wenn sie verboten war, weil nicht der Ordnung entsprechend, so waren die Gefühle umso süßer und Gefühle ließen sich sowieso nicht aufhalten. Und er wusste, dass er Kena liebte. Man weiß, wenn man liebt, weil man es fühlt.
Morgen müsste er es bis zur nächsten move-Station schaffen. Dort fand sich immer eine Auswahl an Mobilen, die er über die Zugangsberechtigung nutzen könnte. Es war ihm bewusst, dass man versuchen würde, seine Bewegungen zu tracken, sobald er von seinen Bewegungsmustern abweichen würde – nur gut, dass Amil ihm eine neue Identität gegeben hatte, so dass die Person, die das Mobil nutzen würde, eine andere war…
Es war so leicht, die Programme zu täuschen, wenn man die hinterlegten Parameter hacken konnte. Die Übereinstimmung des Bewegungsprofils mit den Daten des screens war natürlich eine der Kontrollmöglichkeiten des Systems. Metadatenanalyse. Waren aber die Daten falsch, war es nicht einfach, die Bewegungsprofile zu vergleichen, aber einfach sich zu bewegen, ohne dass es auffiel. Er würde für das System an einem ganz anderen Ort sein…
Er wusste auch schon, welches Mobil er nutzen würde, um zum Knotenpunkt zu kommen, die geländegängige Version eines Elektromotorrades. Das bike wurde durch die Bewegung des Fahrers gesteuert, war nur mit einem Drehgriff zum Beschleunigen und Bremsen ausgestattet und verfügte über große Federwege. Das Schleppmoment des Motors reichte aus, um zu verlangsamen, zur Not war eine mechanische Bremse vorhanden, mit der man schneller anhalten konnte. Die Antriebstechnik aller Fahrzeuge war in den Jahren zuvor immer weiter standardisiert worden. Zu jedem Einsatzzweck war ein Gefährt an den Stationen vorhanden. Es gab Lastmobile, Funmobile, schnelle oder luxuriöse Fahrzeuge, je nach dem, was gebraucht wurde.
Selbstverständlich musste man genügend points haben, um sie nutzen zu dürfen. Bei Gebrauch des Mobiles wurde sofort abgebucht. Mit dem Einklicken einer Powerbank wurden die Mobiles in Betrieb genommen, nachdem man sich über seinen screen autorisiert hatte. Oder in seinem Fall, den screen eines Anderen. Mara hatte ihm die Powerbank besorgt. Sie gehörte einem Verehrer, den sie schon lange hinhielt. Er würde es erst merken, wenn die Punkte abgebucht würden…
Er kroch in das shelter und fühlte sich auf einmal sehr müde. Die Vögel waren verstummt und nur der Fluss war zu hören. Gerade wollte er einschlafen, da hörte er sie, als hätte sie auf die Stille gewartet: eine Nachtigall. Ihr Singen durschnitt die Stille mit einer Schönheit und Klarheit wie er sich das nicht hätte vorstellen können. Das erste Mal eine Nachtigall…
Und er lauschte ihr, dachte an Kena, wünschte sich sie wäre hier und könnte mit ihm dem Gesang lauschen. Nur die Männchen, das wusste er, die kein Weibchen gefunden hatten, konnten so singen und diese Sehnsucht der Nachtigall schien ihm genau das Gefühl zu sein, dass er selbst gerade empfand.
7. Unterwegs
Der Morgen war da. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, er musste sich beeilen. Der Knotenpunkt war etwa eine Stunde entfernt. Alles war im Rucksack verstaut. Er suchte noch einmal den Horizont ab. Nichts zu sehen. Die Treppe an der Seite der Brücke hinauf und ganz ruhig über die Brücke gehen. Nicht auffallen. Auf der anderen Seite war das Dorf. Hier hatte er Jahre gelebt, damals, als alles noch anders war. Es hatte sich nichts verändert und es war ein gutes Gefühl, das zu sehen.
Noch war alles still. Die move-Station befand sich am Ende der Brücke und er wusste, dass ein bike das Beste sein würde. Der Weg würde schwierig werden, abseits der Hauptstraßen, über den Berg und dann hinab in das Tal.
Er musste lächeln. Es war die Datenspeicherung in der cloud, die die totale Kontrolle möglich gemacht hatte. Der council hatte verfügt, dass alle Daten der cloud zusammengeführt wurden, um sie auszuwerten zu können. Es waren enorme Mengen an Daten. Dabei gab es gar keine cloud. Sie existierte nicht. Eine der genialsten Wortschöpfungen der Softwareindustrie, die damals vorgaukelte, die Daten seien sicher irgendwo im Himmel… in Wirklichkeit waren die Datenspeicher in Rechenzentren, die besonders gesichert waren und die miteinander vernetzt werden konnten. Und die Vernetzung erfolgte genau so wenig im Himmel, sondern hier auf der Erde, mit Leitungen, Speichern und auch sonst ganz irdischer Technik.
Er hatte viele dieser Knotenpunkte kennen gelernt, meist gekoppelt mit SR-3 Rechnern, die in der Lage waren, mehr als 1.000.000 Informationen pro Sekunde auf ihre Relevanz und Konformität mit der Ordnung zu prüfen. Die Protokolle selbst wurden wiederum von „inline“- Programmen auf Besonderheiten durchsucht, so dass jederzeit gewährleistet war, dass nichts Besonderes, Abnormes oder gar Gefährliches passierte. Ohne den hack seines screens durch Amil wäre längst aufgefallen, dass er sich nicht an einem Ort befand, der zu seinem Profil passte, nicht das tat, was er tun sollte und nicht der war, den sie definiert hatten, ein Knotenpunkttechniker bei der Erfüllung seiner Aufgaben.
Die Powerbank eingeklickt - mit leisem Summen startete der E-Motor. Danke Amil, du bist der Beste! Das Fahrprogramm „cross“ hob die Maschine aus den Federn. Sie würde auch im Gelände funktionieren.
Die Kühle des Morgens tat gut, auch der Fahrtwind und er fühlte sich wach und frei, mit einer wichtigen Aufgabe betraut, vielleicht der wichtigsten, die er jemals gehabt hatte und zum ersten Mal seit langem hatte er das Gefühl, etwas Richtiges zu tun.
Es ging Richtung des Berges, dort oben gab es eine alte Straße, schon seit der Römerzeit, die von den Winzern, die hier ihre Weinberge hatten, immer noch genutzt wurde. Hier mussten die Römer zwischen den alten Metropolen gereist sein, vorbei an den Monumenten der Grabstätten, die wie es früher üblich war, die Straßen säumten, vorbei an kleinen Tempeln, Wachtürmen und Höfen.
Heute waren die Weinberge, die sich steil an den Straßen hochzogen, Eigentum des councils. Aber man war so klug gewesen, die Namen, die Weinlagen, auch die Werbung und vor allen Dingen die Tradition der Weingüter zu erhalten. Schließlich wurde Wein ja auch getrunken, weil er, wie Kena es gesagt hatte, ein in ein Glas gegossener Status und ein Prestigegetränk war…
Es war bei einem Glas Wein gewesen, als ihr gemeinsamer Plan entstand, einen Knotenpunkt anzugreifen, vielleicht die alten Verhältnisse wiederherzustellen oder zumindest die Dynamik der neuen Ordnung, den immer stärker werdenden Druck, vor allem aber die Überwachung aufhalten zu können. Sie hatten zusammengesessen, Amil und Samir, Amil sehr verliebt in Mara, Kena und er, waren über die Flasche Wein, die Samir aus irgendeinem Keller bekommen hatte, glücklich, wie man es nur sein kann, wenn man jung ist und sonst nicht viel hat außer sich selbst. „Das willst du gar nicht wissen, woher ich die habe!“ hatte Samir gesagt, „die ist nicht gechipt und existiert gar nicht.“
„Ich trinke nichts“ hatte Mara gesagt und es hatte einen Moment gedauert, bis alle kapiert hatten, dass dies ein Witz war. „Es müsste mehr Sachen geben, die nicht erfasst sind“, überlegte Kena, „man muss sie nur finden.“
„Es sind freie Sachen“, hatte Amil gemurmelt und jeder in der Runde wusste, dass sie selbst es nicht waren. Die gute Stimmung war auf einen Schlag dahin und jeder hatte schweigend vor sich hingeschaut. Das unsichtbare Netz. Die Aussichtslosigkeit, die Konformität und die Kontrolle.
„Wir können ja noch ein paar Flaschen befreien!“, hatte Samir gegrinst und sein Bruder lächelte plötzlich das gleiche breite Lächeln und das war ansteckend und selbst Mara, die gerade in ein deep fallen wollte schaute Amil an, der wie immer nur Augen für sie hatte, fand ihn jetzt gerade erstaunlich attraktiv und sie schaffte es, mit einem kleinen Zucken ihres Mundes ein Lächeln anzudeuten. „Jou“, sagte sie, „das wäre was, Flaschen befreien, sehr heldenhaft, auf, Brüder zur Sonne, zur Freiheit!“ und erst als alle sie mit seltsam leuchtenden Augen ansahen, wusste sie, dass sie etwas sehr Ernstes, Großes und Richtiges gesagt hatte.
Und so war ihre Wahl auf diesen Knotenpunkt gefallen, hier im Wein- und ehemaligen Grenzgebiet, eine Reminiszenz an die erste Flasche, die ihnen die Augen geöffnet hatte. Es war der Knotenpunkt in seiner alten Heimat, da, wo er aufgewachsen war, nahe dem Fluss, an der alten Grenze. Er wusste, dass der Knotenpunkt, den er ansteuerte, einer der größten und wichtigsten war. Im ehemaligen Atomkraftwerk, längst abgeschaltet und in ein Wasserstoffkraftwerk verwandelt, da war genug Platz und Energie vorhanden, um ihn zu betreiben. Und ihn zu verstecken.
Denn das Netz war verletzlich, zumindest da, wo es wie eh und je aus Kabeln und Steckverbindungen bestand. Es war der Erdkrümmung zu verdanken, dass auch heute noch Kabel unentbehrlich waren, um Nachrichten weltweit übertragen zu können. „Funkwellen fliegen nicht um die Ecke“, hatte er Mara erklärt und sie hatte ihn missbilligend angeschaut. Das hatte sie gewusst, sie war nur nicht darauf gekommen, jetzt, wo sie seit Stunden über die Freiheit und Weinflaschen diskutierten. Der Wein war das Synonym für sie selbst geworden: Pflanzen, die in Reih und Glied gezüchtet wurden, immer wieder beschnitten, kontrolliert, gespritzt, verändert, nie frei und die doch etwas hervorbrachten, was unglaublich wunderbar war…
Es war herrlich, auf dem bike den Schotterweg hinaufzufahren, kühl, still und gerade hell genug, um schnell zu sein. Rechts unten zog sich der Fluss durch grüne Hügel, so wie er es immer getan hatte und auf der linken Seite erwachte der Tag mit einer zarten Morgenröte. „Was für eine schöne Welt“, dachte er, Kena sollte hier sein und das sehen. Er wusste nicht genau, ob er den Angriff für sie und die anderen durchführen wollte, oder aus eigener Überzeugung. Natürlich wollte er ihr imponieren, wollte, dass sie ihn für das liebte, was er tat. Er war sich nicht sicher, ob ihr Plan etwas ändern würde, aber er wusste genau, dass sie es wollte und er wollte sie. Er wollte mit ihr leben, nicht auf irgendeine Zuordnung warten und wollte wenigstens das entscheiden dürfen, allein, ohne Bevormundung, wollte frei sein, frei für sie…
„Wir müssen das Gedächtnis auslöschen, soweit das möglich ist, der Zentralrechner heißt nicht umsonst mind“ das war eine ihrer Forderungen, nachdem sie lange diskutiert hatten, wie sie leben wollten.
„Mind muss gestört werden, nur so kann es einen Neuanfang geben, nur so kann die Kontrolle gestört werden“, hatten sie aufgeschrieben, auf den kleinen Block, der ihre Ziele und Forderungen definieren sollte.