Kojas Wanderjahre - Alois Theodor Sonnleitner - E-Book

Kojas Wanderjahre E-Book

Alois Theodor Sonnleitner

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Beschreibung

Der alt gewordene Koja Lorent hält Rückschau über sein Leben und erinnert sich an die Kindheit zurück. Die Erinnerungen setzen beim Zweijährigen an, der ein kleines Geschwisterchen verliert, und reichen bis etwa zum achten Lebensjahr. Zusammen mit der ganzen Familie Lorent muss Koja allerlei Schicksalsschläge und Entbehrungen erdulden, nachdem das Gericht ihr Wirtshaus verkauft hat und sie in die Fremde ziehen müssen. Dabei macht er aber auch viele schöne und nutzbringende Erfahrungen. Entscheidende Bedeutung für sein Leben erhält ein ins Wasser gefallener Zwetschgenkern: "Er schaut dem Kerne nach, wie er hin- und hergaukelnd zu Boden fällt, plötzlich sieht er den Kern nicht mehr, an seiner Statt aber ein silberig glänzendes Fischlein ... Und jetzt glaubt er etwas Wunderbares zu wissen: Wenn man einen Zwetschgenkern ins Wasser wirft, so wird daraus ein Fisch." Als er nach vielen weiteren Versuchen den Irrtum seiner ersten "wissenschaftlichen" Entdeckung einsehen muss, beschließt er, Forscher zu werden, und sich fortan der Erkundung derartiger Phänomene zu widmen – was in der Tat seinen weiteren Lebensweg bestimmen soll. Zunächst aber widmet er sich dem bei allen oft widrigen äußerlichen Umständen doch freien, abenteuerlichen Leben der Jugend. Er findet Höhlengräber, erlebt ein Abenteuer mit Bären, versucht sich in einem Leben als Robinson und lebt mit der kleinen Julie als "Zweisiedler" im Wald, gerät aber auch auf Abwege und bestiehlt seine geliebte Mutter ... "Kojas Wanderjahre" eröffnet dem Leser einen bildreichen Einblick in das abenteuerliche Leben der Kinder einfacher Leute in der Zeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Der Band bildet zusammen mit "Kojas Waldläuferzeit" und "Kojas Haus der Sehnsucht" Sonnleitners berühmte Koja-Trilogie, in der der Autor, stark autobiografisch gefärbt, die Kämpfe seiner Hauptfigur und seiner Familie beschreibt, bis "Koja" schließlich ein erfolgreicher Naturforscher und Autor wird.-

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Seitenzahl: 253

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Alois Theodor Sonnleitner

Kojas Wanderjahre

Der Vorgeschichte zum„Haus der Sehnsucht“1. Teil

Mit Bildernvon Professor Fritz Jaeger

6. Auflage

Saga

Kojas Wanderjahre

© 1923 Alois Theodor Sonnleitner

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711570036

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Frühes Wandern

Andre ziehn in ferne Gaue

Erst in ihren Jungmannsjahren.

Ich verlor als Kind die Heimat

Musste in die Fremde fahren.

Armut löste mir die Fesseln,

Die dem Kind die Freiheit nehmen;

Wandernd in Gefild und Wäldern

Lernt’ ich Angst und Mut bezähmen.

Dort wie da fand ich die Schönheit.

Und des Waldes Heimlichkeiten

Durft’ ich inniglich beschauen

Mit Erkenntnis-Seligkeiten.

Des verlorn en Reichtums Gaben

Brauchte ich nicht zu beklagen,

Denn im Innern häuft’ ich jubelnd

Schätze auf in Kindheitstagen.

Düfte, Farben, Klänge, Liebe!

Taucht empor Erinnerungen!

Denn der Alte will erzählen;

Und es lauschen schon die Jungen ...

Dr. A. Th. Sonnleitner

Rückschau.

Über dem Osthang der Wienerwald-Berge steht die Herbstsonne. Die Silberfäden des Altweibersommers leuchten und flimmern auf der Bergheide, die vom Waldrande ostwärts niederstreicht zum Weingelände; das ist tief unten, wo die Ebene beginnt, gesäumt von Ortschaften mit spitzen Kirchtürmen und schlanken Fabrikschlöten.

Ein hochgewachsener Mann steigt oberm Perchtholdsdorfer Steinbruch sacht die kurzberaste Heide hinan. Es ist Dr. Kajetan Lorent. Ein breitkrämpiger Hut beschattet seine Stirne. Er trägt den langgestielten Geologenhammer in der Rechten. Von seiner linken Schulter hängt an breitem Riemen eine rindslederne Tasche nieder. Ein lauer Windhauch spielt mit seinem kastanienbraunen, sanft gewellten Haupthaar, das zu den breiten Schultern niederwallt; er spielt mit seinem rotbraunen üppigen Vollbart, der an den Seiten mit grauen Fäden durchzogen ist. Der Wanderer schaut zum Waldrand empor und dann südwärts, wo vom Giesshübler Höhenrücken die neue Kirche zum Himmel ragt. Wie jedesmal, wenn er diesen Weg geht, lässt er auch heute die Augen von der Kirche links hinabschweifen am Kamm der Hochleiten; dort hinter der grell weiss schimmernden Friedhofs-Kapelle weiss er das kleine Anwesen, das einst seine gute Schwester Agi als bescheidenes „Haus der Sehnsucht“ erworben hatte. Lang ist es her. Er dreht sich um und sucht das rote Ziegeldach seines eigenen Hauses im Perchtholdsdorfer Villenviertel. Lächelnd setzt er seinen Weg fort. Wie hat sich doch alles zum Bessern gewendet! Während er vorgebeugt den steileren Hang emporsteigt, fällt ihm ein gelblicher Kalkstein auf, der sich vom grauen triassischen Dolomit des Feldweges abhebt. Ein Schlag mit dem Hammer spaltet den Stein. Da kommen auf den Bruchflächen die feinstrahligen Schalen einer Pilgermuschel zum Vorschein. Es ist Leithakalk. „Der rührt doch aus der Strandzone des tertiären Meeres her, die sich tief unten am Rande des Wiener Beckens hinzieht. — Den Stein muss ein Fuhrmann verloren haben.“ Der Doktor verwahrt die Bruchstücke mit der Muschel in seiner Ledertasche. Gelbschwarzsamtene Erdhummeln und graubepelzte Bienen lenken die Aufmerksamkeit des Naturfreundes auf die schon blütenarmen, blassvioletten Sommer-Enziane und die zartweissen Blüten des Augentrostes, in denen die Immen ihre Mahlzeit suchen.

Am Waldrand angekommen, rastet Dr. Lorent auf einer Bank und betrachtet behaglich die Gegend; er lässt sich von allem willig ansprechen, was sich seinen Augen darbietet; er geht den Gedanken nach, wie sie in ihm von den Dingen angeregt werden.

Im Nordosten, unterhalb des Kahlengebirges, liegt das Häusermeer der Wienerstadt, der matt leuchtenden Donau vorgelagert; dort hat er als armes Studentlein gehungert, bis er, von der Not gezwungen, seine vielbewegte Hauslehrerwirksamkeit begann und als Tierpräparator in nächtlicher Arbeit Geld verdienen lernte. — Ein kleiner, lichtblauer Falter flattert über den Pfad und lässt sich auf der rosigen Gipfelblüte einer Hauhechel nieder. War’s nicht ein Bläuling, dessen Atlaskleidchen die Agi bewunderte, als ihr das Leben neu geschenkt war nach langer Krankheit? Da, am Rand des halbgemähten Wiesenflecks kriechen zwei der grasgrünen Räupchen des Bläulings an einer Hauhechel empor, die wohl demnächst unter der Sense fallen wird. „Nein, die sollen nicht verhungern!“ Der Doktor streift die Raupen von ihrer Futterpflanze und versorgt sie in seiner Ledertasche. — Und wieder lässt er die Blicke in die Ferne schweifen. Da drüben, jenseits der grünen Ebene des weitgedehnten Wiener Beckens, schimmern die Neudorfer Sandlehnen vom Westhang der Kleinen Karpathen gelblich herüber und fernher leuchten die Kalksteinbrüche des Leithagebirges als weisse Wunden aus den bewaldeten Hängen. Dort hat er als Vierzehnjähriger die ersten versteinerten Pilgermuscheln, Kegelschnecken, Haifischzähne und Seesterne gesammelt; aus denen hat er erkannt, dass dort die östliche Strandzone des Meeres war, das die weite Mulde ausgefüllt hat, entstanden durch den Niederbruch der Ostalpen. Wie lange das wohl her sein mochte? Jahrmillionen. Und wo das Meer hergekommen war? Von Nord und West her. Er hat auf seinen Reisen die Tierreste des tertiären Meeres in Frankreich gefunden, in Bayern, die Donau entlang, und er hat Belegstücke der tertiären Strandfauna aus Mähren, Galizien, Südrussland. Heute fruchtbare volkreiche Länder, waren sie einst bedeckt von den Fluten des warmen Meeres, das seinen Muschelund Korallenkalk absetzte auf die älteren, in noch früheren Erdperioden aufgelagerten Gesteinsmassen. Länger als auf anderen Stellen der Landschaft haften des Doktors Augen am hellen Steinbruch von Mannersdorf, der als mattweisser Fleck aus der fernblauen Masse des Leithagebirges herüberschimmert. Dort hat Agi für die Bauern Janker und Wäsche genäht, um dem Koja nach Wien wöchentlich einen Laib Brot und einen Gulden Kostbeitrag senden zu können. Agi und Mutter! Heldinnen der opferfreudigen Liebe! Ihr habt mitsammen getreulich alle Sorgen getragen, dass nur Kojas Wesenswert, dass nur seine Anlagen nicht verkümmern sollten!

Des Doktors Blick gleitet über die grüne Ebene herüber und bleibt haften am hohen Perchtholdsdorfer Glockenturm, der die Kirche überragt und die Ruinen der Burg. Von den Türken eingeäschert, ist sie nie wieder aufgebaut worden. In ihrem Gemäuer aber hat sich im vorigen Jahrhundert der greise Anatom Hyrtl sein Laboratorium eingerichtet, der gütige „Weise von Perchtholdsdorf“. — In ernster Stimmung setzt Doktor Lorent seinen Weg fort. Ein schmaler Waldpfad führt ihn im Schatten der Föhren südwärts, hügelauf und talab, bis er auf einer Lichtung anlangt, deren Grasboden hell von der Sonne beschienen ist. Hier ist die Luft warm wie an einem Sommertag; und sie ist durchsättigt vom Dufte des Thymians, der die Bodenwellen polsterig überwuchert hat. Und dieser Duft bemächtigt sich der Seele des alten Waldläufers. Wo war es nur, dass er diesen Wohlgeruch in solcher Stärke zum erstenmal eingeatmet hat? Er lagert sich in die duftenden Stauden und hängt der Frage nach. Da fällt sein Auge auf eine Kolonie silbergrauer Katzenpfötchena mit pinseligen Fruchtbüscheln, dann auf verblühtes Heidekraut, das einen flechtenbedeckten Steinblock überragt. Und auf dem Steine sonnt sich eine graue Zauneidechse. Sie hat den Leib flach ausgebreitet und die Augenlider wie im Schlummer geschlossen. Auch das muss er schon wo gesehen haben? Und plötzlich wird es ihm klar: Auf dem Kunietitzer Berg war es, unter der Burgruine, am Rande des Föhrenwaldes; da blühten rosig und weiss die Katzenpfötchen und fleischfarben die Heidekrautbüsche; da sonnte sich die Eidechse, da duftete der Thymian im hellen Sonnenschein. Tief unten aber in der Ebene schlängelte sich die Elbe von Königgrätz her nach Pardubitz und weiter nach Kolin zwischen saftgrünen Wiesen, bunt blühenden Mohnfeldern und gelben Kornbreiten, von deren Boden die Grossmutter sagte, dass er so überschwänglich fruchtbar wäre, weil er Blut getrunken hätte von vielen Tausenden gefallener Krieger. — Und wer war damals bei ihm am Waldrand, bei ihm, dem fünfjährigen Koja? Es war der rothaarige Peter aus der Ziegelei, unter dessen Führung Koja Waldläufer geworden war. Wie mit einem Zauberschlage ist die versunkene Welt der Kindheit vor dem reifen Manne erstanden, farbenreiche Landschaftsbilder, lieblich wie tauglitzernde Gärten und mitten darin erschütternde Erlebnisse von wuchtigen Schicksalsschlägen; Muttertränen. Dann wieder das lächelnde Kindergesicht der kleinen Julie Niederle, deren Augen so blau waren wie die Blüten der Wegwarte. In allem aber ein Faden, der aufwärts führt aus den Niederungen der Hilflosigkeit und Armut zu kraftvoller Selbsthilfe und Wohlhabenheit. Eine Geschichte, fast zu reich an Ungewöhnlichem, eine Geschichte, die zeigt, wie Menschen innerlich reich werden dank der äusseren Armut, wert niedergeschrieben zu werden für andere, damit sie nicht verzagen in herber Zeit. Im Entschluss zum Werke erhebt sich Doktor Lorent mit einem Ruck und schreitet quer durch den Föhrenstand auf dem kürzesten Weg heimzu. Heut will er noch zu schreiben beginnen.

Daheim angekommen, trägt er die Bläulingsraupen zu den Hauhechelbüschen in den wilden Teil seines Gartens, wo die Futterpflanzen der Schmetterlingsraupen auf gutem Grunde üppig aber in zwanglosen Gruppen stehen. Der grossgewordene Koja zieht sich eine Auswahl harmloser Schmetterlinge auf, die er nicht tötet, weil sie als schwebende Blüten den Garten schmücken sollen. Es ist eine Sammlung lebender Schönwesen, deren Gewohnheiten der Doktor beobachtet. Er geht an die Vorbereitungen zum Schreiben. Erst macht er seinen Schreibtisch leer von allem, was ihn ablenken könnte. Weg mit den unerledigten Briefen, die sollen auf einem Nebentisch warten, bis sie daran kommen; auch Agis letzter Brief ist dabei. Ihr will er erst im Perfektum berichten: „Ich habe ein gutes Kapitel geschrieben. Weg mit den Entwürfen zur Lebensgeschichte des Melker Schulkameraden Robin, von dem ja ohnehin noch eine Menge Einzelheiten fehlen. — Jetzt steht sein eigenes Leben so klar vor ihm, dass er es fassen muss. Heute will er nur Dinge vor sich haben, die seine Gedanken festhalten bei seiner eigenen Jugendzeit. Mit den rückständigen Korrespondenzen beladet er einen anderen Tisch. Hinter dem Schreibzeug legt er ein schmales Tragbrett auf und stellt als senkrechte Wand dahinter einen grossen, mit grüner Leinwand bezogenen Karton, der ihm die Aussicht auf die gegenüberliegende Wand und die Glasschränke mit dem zerstreuenden Vielerlei verdecken soll. Dann ordnet er auf dem Tragbrett einige Dinge, die ihm in Kindheitstagen des Betrachtens wert waren: Das goldgerändete Überfangglas aus dem Glaskasten der Grossmutter, die silberig glänzende Daguerotypie mit dem Bildnis der Urgrossmutter, den perlengestickten Uhrbehälter, den Agi in Altpaka am Südabhang des Riesengebirges dem Vater zum Christkind gegeben hat, eine Amethyst-Druse, welche der Vater dem Koja von der Sprengung des Tannwalder Tunnels gebracht hat, der Mutter porzellanene Zuckerdose, auf deren Deckel eine brütende Glucke sitzt, den fast zahnlosen Dachsschädel, den Koja als Neunjähriger im Rerapointer Wald bei Pöchlarn gefunden hat. Und er legt sich das abgegriffene Buch vor die Augen, in das Agi seit ihrem elften Lebensjahre ihre Lesefrüchte eingeschrieben hat; in der Auswahl der Denksprüche und Gedichte hat sich die fortschreitende Selbstbildung der Mädchenseele geoffenbart, und innersten Erlebens Spuren sind in diesem Andachtsbuch. An dem grünen Karton hinter dem Tragbrett aber befestigt er mit Reisnägeln Bilder, die manches darstellen aus der alten Heimat: ein Mohnfeld in bunter Farbenpracht, eine Schmiede mit rotleuchtender Esse, einen Bauernhof mit prächtigem Hühnervolk, ein Stoppelfeld mit weidenden Gänsen, einen schilfumbuschten Elbearm mit weissen Seerosen und darüber aufragend den Kunietitzer Phonolitkegel mit der von den Hussiten zerstörten Burg: und er vergisst auch nicht den nadelspitzen „Grünen“ Turm vom Pardubitzer Stadttor. Vom Garten herauf holt er sich einen Strauss Astern. Astern waren es, auf denen Agis Augen ruhten, während sie wieder das Lächeln lernte, als sie genas von schwerer Krankheit.

Erst nach dem Abendmahl kommt Doktor Lorent zum Schreiben. Während Klara, seine Frau, unten in der schönen Stube auf dem Harmonium ihre geliebten Schubertschen Weisen spielt, ist er oben in seinem mit Büchern und naturgeschichtlichen wie kulturgeschichtlichen Sammlungen fast überfüllten Studierzimmer. Der Schirm der Petroleumlampe wirft das warme Licht hernieder auf die Schreibfläche und nur noch auf die auserkorenen redenden Dinge, die den Schreibenden ansprechen, so oft er aufschaut; alle anderen Gegenstände aber, die Büchergestelle und die Glasschränke mit ihren Sehenswürdigkeiten aus nahen und fernen Ländern und Zeiten, sie sind in Dämmerung gehüllt, sie drängen sich nicht auf, sie reden dem Schaffenden nicht darein. Der ist ganz gesammelt, ganz eingesponnen in das Wiedererleben von Ereignissen, die ein halbes Jahrhundert tief in der Seele lagen und nun heraufgekommen sind und zur Gegenwart geworden.

So wächst das Werk Abend für Abend, Seite um Seite, den Herbst hindurch, und es macht grosse Fortschritte an den langen Winterabenden, wo es draussen stürmt und schneit, während im Ofen die Scheiter knistern und die graue Hauskatze im Lehnsessel schnurrt, den ihr der Schreibende zum Ofen gerückt hat. Doktor Lorent lässt sie gerne ein, wenn sie Einlass begehrt in seine Schreibstube. Etwas vom Behagen dieser Lebenskünstlerin geht auf ihn über und auf seine Arbeit. War nicht immer eine Katze da oder ein Kätzchen, um in das Leben der verarmten Lorent-Familie etwas Behagen und Frohsinn zu bringen, als es übervoll war des herben Ernstes und qualvoller Unrast?

Erste Erinnerungen.

Was vor Kojas zweitem Lebensjahre war, davon hat er in seiner Seele keine deutbare Spur. — Dann taucht ein liebes blasses Gesicht vor ihm auf: seine Mutter. Sie liegt im Bette und daneben steht eine Wiege. Darin ist ein zartes Kindlein. Es bewegt die winzigen Händchen und weint immerzu, immerzu. — Gleich darnach:

Er, der zweijährige Koja steht im langen Hemdchen neben einem Tische, klammert die Hände an den Rand und schaut: Auf dem Tische liegt dasselbe Kindlein; es rührt sich nicht, es weint nicht; eine alte Frau taucht ein Tüchlein in ein Waschbecken und wäscht den bleichen Leib des Kindleins. Sie bekleidet es mit einem schneeweissen Hemdchen und legt es in ein lichtblaues Särglein, über dessen Rand weisse Spitzen niederhängen. Dann sieht er es nicht mehr. Es ist nicht mehr. So ist ihm die Erfahrung geworden von Sein und Nichtsein.

Ein Jahr später: Die Grossmutter ist zu Besuch da.

Die Lampe steht ohne Schirm auf dem Tisch, davor sitzt die Grossmutter beim Kachelofen und näht. Kojas Schwester, die fünfjährige Agi, etwas grösser als er, hat sich zwei weisse Schürzen um den Hals gebunden, so dass sie vorne und hinten niederwallen; mit der Linken hält sie die vordere Schürze gerafft, in der Rechten trägt sie ein Körbchen; darin hat sie allerlei knorrige Holzscheitchen steil aufgestellt; das Holz duftet. Koja hält die Schleppe der anderen Schürze in den Händen. Das Licht der Lampe erzeugt hoch oben an der Wand wunderliche Schatten von den Dingen, die auf dem Schranke stehen: Flaschen und Schachteln, Leuchter und eine Gipsfigur, die einen Knaben mit einem Blumenkorb vorstellt. Agi wandelt langsam zwischen Tisch und Kasten hin und her und Koja trippelt ihr nach. Sie deutet wie geängstigt nach den Schatten der Dinge an der Wand und murmelt allerlei Unverständliches, indem sie wunderliche Worte wiederholt: „Aberla, bimerla, simerla, rikati, sibati, schureli, tschin!“ Und so oft sie „tschin“ sagt, hebt sie ihr Körbchen mit jähem Ruck empor, dass der Schatten ihrer Hölzer den Schatten irgend eines Dinges bedeckt, als ob er ihn verzehre; aber die verzehrten Schatten tauchen immer wieder unverwüstlich empor, so oft sie das Körbchen senkt. Da bemächtigt sich Kojas eine unbestimmte Angst. Er fängt an zu wimmern, Agi aber wiederholt ihre Beschwörung der Schattengeister immer lauter, immer aufregender. Den Buben packt das Grauen. Er fängt an zu schreien, als ob er gespiesst würde. — Da öffnet sich die Zimmertür, aus der Küche kommt die Mutter, hebt Koja auf den linken Arm und geht mit ihm zum Herde. Aus der angrenzenden Gaststube dringt das Gewirre von Männerstimmen, und wenn die Tür aufgeht, kommt der Geruch von Bier und Tabaksqualm herein. Die Wirklichkeit beruhigt Koja, er hört auf zu weinen.

Ein Jahr später. Es ist Sommer. Der Regen hat den Lehmhaufen zerweicht, der neben der Kegelbahn im Garten liegt. Der Kegelbub kauert daneben und formt für Koja mit unglaublicher Fingerfertigkeit allerlei Figürchen, die er auf Bruchstücke von Dachschiefern stellt; langohrige Häschen, dickbeinige Hunde, Pferde und grossköpfige Reiter.

*

Ein Wagen, auf dem ein grosses Fass liegt, fährt vom Wiesenbach herüber in den Garten. Der Kutscher lässt das Wasser aus dem Fass in den weiten Bottich laufen, der mitten im Garten unterm Zwetschgenbaum steht. Der Kegelbub und Koja baden in dem klaren Wasser. Dann klettert der Kegelbub auf den Baum und holt ein paar halbreife Früchte herunter. Koja isst eine Zwetschge und lässt den Kern ins Wasser fallen. Er schaut dem Kerne nach, wie er hin- und hergaukelnd zu Boden fällt. Plötzlich sieht er den Kern nicht mehr, an seiner Statt aber ein silberig glänzendes Fischlein, das seine Beine umschwimmt und wie neugierig an seine Knie stösst. — Und jetzt glaubt er etwas Wunderbares zu wissen: Wenn man einen Zwetschgenkern ins Wasser wirft, so wird daraus ein Fisch. Aber er behält seine erste Entdeckung für sich. Niemand soll’s wissen, nur er. Die Kerne aller Zwetschgen, die er von jetzt an essen wird, will er in Fische verwandeln. Er sammelt sie in den Hosensäcken, und so oft er es ohne Zeugen tun kann, wirft er einen Kern in ein Wassergefäss, da in ein Büttel, dort in ein Schaff, in den Wasserkrug, in das Waschbecken. — Aber die erwartete Wirkung bleibt immer wieder aus. Da gibt er sein wertlos gewordenes Geheimnis preis. Die Grossmutter kommt wieder einmal zu Besuch. Der sagt er’s. Da lacht sie, dass ihr die Schürzenbänder hüpfen: „Aber Koja! Das Fischerl in dem Bottich war ja aus dem Bach. Das hat der Kutscher beim Wasserschöpfen herübergefangen.“ „Na, und wie ist das, dass die kleinen Fischerln werden?“ fragt er unbefriedigt. „Dass die Henne Eier ins Nest legt, das weisst du?“ — „Ja.“ — „Dass sie mit ihrem warmen Leib auf den Eiern sitzt, dass dann aus den Eiern die jungen Hühnchen werden, weisst auch.“ „Ja.“ — „Nun, siehst du. So legt die Fischmutter ihre Eier ins Wasser, die liebe Sonne scheint warm darauf und aus den Fischeiern werden kleine Fischlein.“ — Mit Bedauern muss es Koja ertragen, dass seine erste Entdeckung ein Irrtum ist. So hat bei ihm die Naturgeschichte begonnen. Entdeckung, Fehldeutung, Erkenntnis. So erfuhr er frühzeitig, dass ein Ereignis, welches einem andern folgt, nicht vom erstern bedingt sein muss. Sein Sinn für das Geschehen in der Natur war geschärft, deren Rätsel ihn fortan beschäftigten, die Jugend hindurch, so dass er als Schauender und Forschender in die wissenschaftliche Arbeit seiner Mannesjahre hineinwuchs.

*

Wieder ein halbes Jahr später: Ein frostklarer Februarmorgen. Noch warfen die Schlöte der Daschitzer Zuckerfabrik und die massigen Gebäude des Brauhauses lange Schlagschatten über die niederen Häuser des Ortes und in die pflasterlosen Gassen. In den Wagengleisen schimmerten weisse Eiskrusten, die grosse Luftblasen einschlossen. Mit schwachem Schellengeläute kamen die Strasse herauf zwei aneinandergekoppelte Karren, auf denen Langholz geführt wurde. Langsam und mit hangenden Köpfen zogen die beiden Pferde ihre Last. Es waren die letzten zwei Pferde der Lorentischen. Sie blieben vor dem Wirtshaus stehen. Sie frassen aus den vorgehängten Habersäcken. Sichtbar stieg der Dampf aus den schweissbedeckten Leibern der Pferde durch die Wolldecken auf, die der Knecht über ihren Rücken gebreitet hatte. Es waren schöne Pferde, das eine braun mit weissem Stirnfleck, das andere eisengrau. Und mit Stolz dachte Koja immer wieder: „Es sind unsere Pferde. Und sie bringen die Bäume aus unserem Wald. Und der ist dort irgendwo beim Kunietitzer Berg, wo die Grossmutter wohnt, und wo der Vater sein Bauerngut hat.“

Koja war damals ein Knirps von viereinhalb Jahren; aber wer’s nicht wusste, gab ihm sechs. Er war ein starker Bub und ein kleiner Gernegross, der alles beguckte und die Erwachsenen mit Fragen quälte. Gekleidet war er wie ein Jagdgehilfe; so hatte er sich’s von der Mutter erbettelt. Die flachsgelben Ringellocken fielen ihm auf den grünen Kragen des grauen Röckleins nieder, das grün gesäumt war. Die neuen Röhrenstiefel — es waren seine ersten — prahlten in der Pracht handbreiter lacklederner Stulpen. Sie knarrten mit dem hartgefrorenen Schnee um die Wette; die Eishäutchen in den Wagengleisen knisterten, wenn der Bub darauf trat. Und wo das Eis widerstand, schlug er’s mit den eisenbeschlagenen Absätzen auf, dass es klirrend zerbrach.

Die Sonne war über den Giebel des Brauhauses emporgestiegen und ihre Strahlen strichen über die Fichtenstämme, die hochgeschichtet auf den beiden Karren lagen und mit ihren niederhangenden Wipfeln den Boden streiften. Ihre harzverquollenen Schlagwunden begannen zu duften. Es roch nach Weihnachten. Da sah Koja den Glasermeister kommen. Er liess ihn nicht vorbei. „Unsere Bäum’!“ rief er ihm zu. „Aus unserem Wald — ja.“ „So? — Noch?“ gab der alte Mann zurück und sah das Kind mit seinen guten grauen Augen traurig an; dann hastete er weiter. Ihn mochte in die Finger frieren, mit denen er eine dicke Glasscheibe unterm Arm trug. Das Wörtlein „Noch“ war verklungen mit seinem tieftraurigen, verlustvordeutenden Sinn, vom Knaben unverstanden, wie von vielen, die sich im sicheren Besitz eines hinschwindenden Gutes wähnen. Koja umschritt den Wagen. Zwei grüne Fichtenreiser, die zwischen den Stämmen eingeklemmt waren, zog er heraus. Eins für sich und eins für die Agi. Ah, wie die dufteten! —

Gern wäre er durch die Gaststube ins Wohnzimmer gegangen, dass die Gäste seine neuen Röhrenstiefel gesehen hätten und die Reiser von den Bäumen aus „unserm“ Wald. Aber die Mutter duldete nicht, dass die Kinder die Gaststube betraten. So machte Koja den Umweg durch den Hof; er gelangte ins Wohnzimmer und von da in die Schlafstube. Seinen Zweig steckte er hinter das Bild seines Namenspatrons, das über seinem Bette hing. Der Schwester aber verbarg er den ihren im angefangenen Strickstrumpf. Als sie aus der Schule kam, führte er sie ganz nahe dazu; da musste sie riechen und raten. Richtig brachte sie es heraus. Früh am Nachmittag, als es zu schneien begann, so dass es in der Stube dunkel wurde, zündete sie die Lampe an, setzte sich in den Lehnstuhl und begann dem Brüderlein im Bilderbuch alles zu zeigen, was es in „unserm“ Walde gäbe. Nur um zwei Jahre älter als Koja, spielte sie gerne Grossmutter; sie setzte sich eine alte gläserlose Hornbrille auf die Nase und begann die Bilder zu erklären. Da belebte sich der Wald mit Hirschen, Rehen, Bären, Löwen, Hasen, Füchsen, Wölfen und mit jenen wunderbaren Vögeln, die den Kindern aus den Märchen und Legenden der Grossmutter längst vertraut waren. Der geizige Specht, der barmherzige Kreuzschnabel, der Bluthänfling, sie alle lebten im Walde, der für die Kinder die Heimat des Wunderbaren, des Grossen, des Schönen und Geheimnisvollen war. Weiter, weiter und weiter hin dehnte sich der Wald, und wo er am dunkelsten war, stand die Hütte der Knusperhexe.

Das Nachtmahl nahmen die Geschwister in der grossen Küche ein, beim „Katzentischerl“ in der Fensternische. Die Mutter aber stand mit glühenden Wangen beim Herde. Sie kochte und briet für die Gäste, dass es zischte und prasselte und brotzelte.

Aus der Wirtsstube drang ein Stimmengewirre, ein Lachen und Gläserklirren; und ab und zu hörte man, wie die Spielkarten auf den Tisch klatschten. Da drinnen sass mitten unter seinen vielen Freunden der Vater. Nur selten bekamen die Kinder ihn zu sehen. Nach dem Abendessen kehrten sie in die Wohnstube zurück und bezogen wieder den Märchenwinkel beim warmen Kachelofen. Die alte Hauskatze ringelte sich auf Kojas Schoss zusammen und schnurrte. Da begann er von der Schwester Märchen zu erfragen, die er schon oft gehört, und die ihm immer schöner wurden. Agi musste erzählen, immerzu vom Walde; es waren alte Märchen. „Sag, Agi, warum nennst du den Specht geizig?“ Und sie erzählte: „Als der Heiland noch auf Erden gewandelt ist, da ist er auch einmal zu Frau Gertrude gekommen; die hat gerade Kuchen gebacken. Und weil er hungrig gewesen ist, hat er sie gebeten um etwas zu essen. Sie hat ihm wollen den Kuchen geben, der gerade in der Pfanne war. Und der Kuchen ist gewachsen und ist gar wunderlich gross geworden. Da hat sie gesagt: „Den kann ich dir nicht geben, der ist zu gross geworden.“ So ist es auch mit dem zweiten gewesen und mit dem dritten. Und sie hat den Heiland hungrig weggehen lassen. Da hat er sie zur Strafe für ihren Geiz in einen Vogel verwandelt. Der ist durch den Rauchfang hinausgeflogen und ist ganz schwarz geworden vor Russ. Nur das rote Kopftuch ist rot geblieben, drum heisst der schwarze Specht bis heute Gertrudsvogel; er hat kohlschwarze Federn und ein rotes Käppchen.“ — „Und wie ist das mit dem Kreuzschnabel? Warum nennst du ihn barmherzig?“ — „Der Heiland ist an dem Kreuze gehangen. Da ist der gute Vogel geflogen gekommen und hat sich auf das Kreuz gesetzt. Und weil ihm der Heiland erbarmt hat, hat er ihm wollen die Nägel aus den Füssen und den Händen ziehen. Dabei ist sein Brüstlein rot geworden vom Blute des Heilandes und den Schnabel hat sich der Vogel verbogen.“ Und von der Natternkönigin, jener aschfarbenen Schlange, wusste Agi zu berichten, dass sie ein Goldkrönlein auf dem Haupte trug und es beim Baden auf ein grünes Moospölsterchen legte. Und wenn ein Waldläufer zurechtkam und ein weisses Tüchlein aufs Moos breitete, dann legte sie ihr Krönlein aufs Tüchlein. Dann nahm er es auf und gab es der Schlangenkönigin erst wieder, wenn sie ihm den Weg gezeigt hatte zur unterirdischen Schatzkammer der Wichtelmännlein, wo sie goldene Ringlein und Ketten und funkelnde Steine aufbewahren. — So gewannen die Tiere des Waldes für Koja Bedeutung. Seine Naturgeschichte war voll Aberglauben und Dichtung.

Manchmal vertauschte Agi die Rolle der Grossmutter mit der Rolle der Mutter. Sie half Koja beim Auskleiden, brachte ihn zu Bett, deckte ihn sorgsam zu und liess ihn die Hände falten zum Nachtgebet. Ganz nach Mutterart machte sie ihm das Kreuzeszeichen auf Stirn und Mund und Brust und hiess ihn gut schlafen.

In seinen Schlummer hinein duftete der Fichtenzweig über seinem Bette. Da war ihm im Traume, als wär’ er ein Waldläufer, der mit allen Tieren des Waldes auf gutem Fusse stände.

Der Frost hielt an. Der stille Wiesenbach hinterm Hausgarten bedeckte sich mit spiegelglattem, tragfähigem Eis. Da sammelten sich die Buben gross und klein auf der langen Schleifbahn; Koja lief und schliff mit ihnen dahin und schrie dabei für zwei. Je mehr Lärm, desto grösser der Spass.

In der Scheune, die zwischen Hof und Garten stand, begannen die Drescher das Korn zu dreschen; es waren ihrer drei. Das ging immer típp—tapp—tapp, típp— tapp—tapp. —

Dann kamen Tage, an denen die Mutter mit rotgeweinten Augen herumging und den Kindern wehmütig zulächelte. — Aber weinen hat sie keines gesehen. Sie musste wohl in den Nächten weinen, wenn sie nicht schlafen konnte. Es wurden die schönen Pferde verkauft, der Eisenschimmel, dann das Bräunel, es wurde eine Kuh nach der anderen aus dem Stalle verkauft, Magd und Knecht wurden entlassen, Hühner und Enten geschlachtet; im Hofe wurde es stille, kein Hahnenkrähen, kein Rindergebrüll, kein Pferdegewieher. Da ward es den Kindern unheimlich zu Mute und sie quälten die Mutter mit Fragen. Die aber schloss ihnen mit langen Küssen den Mund und tröstete sie: „Wenn ihr brav seid, dürft ihr bald zur Grossmutter.“

Und an einem tauig warmen Märzmorgen, als die Eiszapfen klirrend von den Dachrändern fielen, kam Marek, der alte Knecht der Grossmutter mit dem leeren Leiterwagen angefahren. Neben ihm sass auf einem Strohschaub die Grossmutter, das liebe, schmale, faltenreiche Gesicht eingemummelt in ein geblumtes Wolltuch. Mühsam und seufzend kletterte sie vom Wagen herab. Nur ein Tisch, ein paar Stühle, ein Schrank, die alte mit Blumen bemalte Kleidertruhe und Federbetten wurden auf den Wagen geladen, Agi und Koja dazu. Mutter und Grossmutter weinten Brust an Brust, als sie die Kinder mitten im Bettzeug zurechtgesetzt hatten. Zuletzt stieg die Grossmutter auf und der Knecht. Der breitete eine Plache über den Wagen. Die Pferde zogen an, und knarrend ging’s durch die leere Scheune und dann durch den Garten, auf dem Fechsungsweg über Wiesen, dann auf dem Feldweg, der das Ufer des Wiesenbaches begleitete. Das Brauhaus und die hohen Fabrikschlöte der Zuckerfabriken blieben zurück hinter den Fahrenden. Zwischen den Sprossen der Wagenleiter durch lugten die Kinder unter der Plache in die vom Nebel verschleierte Landschaft, die im Tauwetter wie verweint aussah. Von den Erlen und Weiden fielen Tropfen ins ruhige Wasser des Wiesenbaches. Der schlich geräuschlos dahin, fast in gleicher Höhe mit den schmutzigen Schneeresten auf den fahlen Wiesen und braunschwarzen Ackerflächen. Traurig versonnen standen die Kopfweiden am Ufer, hie und da überragt von einer hohen Ulme, deren Stamm der Äste beraubt war, bis auf den kleinen Wipfel. Und wo der Bach vom Röhricht gesäumt war, rieben sich die hohen Halme flüsternd aneinander. Das war alles so ernst, dass die Geschwister in gedrückter Stimmung schwiegen. Auch die Grossmutter war still. Der Rauch aus des Kutschers Pfeife duftete nach glimmendem Birkenlaub und Kartoffelkraut und reizte sie zum Hüsteln. — Die Sonne klomm höher. Es wurde windstill. Der Nebel zerfloss. Im rostfarbenen Grase öffneten die Massliebchen ihre rosig angehauchten Knospen. Es war wie ein zages Lächeln der Landschaft. Und jetzt erst fiel den Kindern auf, dass zwischen Wegrand und Bach auf schlanken Schäften sich Schneeglöckchen wiegten. Jenseits des Wassers stieg in weiter Ferne ein welliges Hügelland empor, das mit hohem Walde bestanden war. Zur Linken aber dehnten sich in er Ebene dunkle, niedere Nadelwälder, welche die Kinder nüchtern anmuteten. Ihre Bäume waren alle von gleicher Grösse und standen in geraden Reihen. Das waren keine Märchenwälder. — Fern und nah lagen die Ortschaften mit ihren roten Ziegeldächern und moosbegrünten Strohdächern inmitten der unbelaubten Obstbäume. Senkrecht stieg von den Schornsteinen der bläuliche Rauch zum Himmel. Alles war friedvoll. Koja und Agi machten ihre erste Reise über Land. Der Wagen fuhr ins Dorf Laan ein; er hielt vor einem weitläufigen Bauerngehöft, dessen grosser Hof von Stallungen und Scheunen umgrenzt war. Die Hunde schlugen an und die Gänse erhoben ein aufgeregtes Geschnatter. Eine stattliche Greisin, welche die Grossmutter um Kopfeshöhe überragte, trat aus dem Tor. — Es war die neunzigjährige Urgrossmutter der Kinder, die Mutter der Grossmutter, Dorothea Puhlovska. Sie hob erst Koja dann Agi vom Wagen, beugte sich zu den Kindern, drückte sie an ihre Brust und küsste sie auf die Scheitel. Dabei sprach sie ein übers andere Mal vor sich hin: „Arme Kinder, armer Koja, arme Agi!“ Im Herrgottswinkel der braungetäfelten Stube wurde der Tisch gedeckt. Es gab reichlich Buchtelna mit Pflaumenmus, dazu Oberskaffee, als wäre es Sonntag. Und die Kinder verstanden nicht, was die Urgrossmutter gemeint hatte, als sie sagte: „Arme Kinder!“ — Hatten sie es denn nicht gut?

Und weiter ging die Reise. Sanft geschaukelt im Federbettennest schliefen die Kinder ein. Und als sie erwachten, sahen sie einen grünen, nadelspitz sich verjüngenden Turm erstaunlich hoch die Häuser einer Stadt überragen. „Der grüne Tor-Turm von Pardubitz,“ sagte die Grossmutter. Links um die Stadt herum, vorbei am Hügel mit dem Schloss, vorbei an Wall und Graben fuhr der Wagen zur Elbe. Er polterte über die Brücke, an deren schrägen Strebepfeilern das Stromwasser lärmte. Zwischen hohen Pappeln und grellen Ziegeldächern, tiefliegenden Tümpeln und endlos scheinenden Ackerflächen ging’s weiter auf wohlgepflegter Strasse. Und auf einer der hohen Ulmen, unweit einer Ziegelei, mitten im kahlen Geäst der Krone war ein unförmiges Nest aus Prügeln, Zweigen und Schilfhalmen. „Ein Storchennest,“ sagte die Grossmutter. Da machten die Kinder grosse Augen. „Und wo ist jetzt der Storch?“ fragte Agi.



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