Kolbe - Andreas Kollender - E-Book

Kolbe E-Book

Andreas Kollender

4,8

Beschreibung

Sommer 1943: Hitler muss weg! Das steht für Fritz Kolbe fest. Als Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes hat er Zugang zu streng geheimen Dokumenten, die er aus der Behörde schmuggelt. Eine Kurierfahrt in die Schweiz ermöglicht ihm die Kontaktaufnahme zu den Amerikanern. Kolbe beginnt ein lebensgefährliches Doppel­leben. Er übergibt den Amerikanern hochbrisantes Mate­rial, darunter der genaue Lageplan der Wolfsschanze, Hitlers Hauptquartier, sowie wichtige Hinweise auf Spione und einen deutschen Geheimsender in Irland. Die Alli­ierten nutzen seine Informationen, aber Hitler bleibt an der Macht und der sinnlose Krieg geht weiter. Kolbe zweifelt mehr und mehr an seiner Mission, ?will aufgeben, doch Marlene, die Frau, die ihm alles bedeutet, ermutigt ihn zum Weitermachen. Bis es zu einem folgenschweren Unfall kommt … Andreas Kollenders Sprache entwickelt eine unglaubliche Sogwirkung, augenblicklich ist man gefangen in seiner Geschichte von Widerstand und Liebe, von Mut und Zivilcourage.

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Andreas Kollender • KOLBE

Pendragon Verlag

gegründet 1981

www.pendragon.de

1. Auflage

Originalausgabe

Veröffentlicht im Pendragon Verlag

Günther Butkus, Bielefeld 2015

© by Pendragon Verlag Bielefeld 2015

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Eike Birck, Anja Schwarz, Eva Weigl

Umschlag und Herstellung: Uta Zeißler, Bielefeld

Umschlagfoto: ullstein bild – Imagno / Austrian Archives

Satz: Pendragon Verlag auf Macintosh

Gesetzt aus der Adobe Garamond

ISBN 978-3-86532-501-3

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Andreas Kollender

KOLBE

… dann merkt man, dass man bereit ist, jedes Risiko zu tragen, ganz egal, was dabei herauskommt…

Prolog

Triff mein Herz Berlin, 1944

Sie sollten sich dabei die Hände halten, sagte Marlene, das wäre schön.

Sie saß mit Fritz in der Küche, im Ofen knackten letzte Kohlen, die Lampe spiegelte ihr gelbliches Licht im Glas des Schrankes. Auf dem Tisch lagen streng geheime Akten aus Hitlers Auswärtigem Amt. Matte rote Querbalken über den Pappen, Reichsadler mit Hakenkreuz waren schwarz aufgedruckt, Stempel der verschiedenen Amtsreferate überlagerten sich. Fritz hatte die Akten nach Hause geschmuggelt. Er und Marlene würden die wichtigsten Informationen auf dünnes Papier übertragen und Fritz würde die Akten morgen wieder mit in sein Büro im Ministerium nehmen und dort befehlsgemäß den Feuerkörben übergeben.

Marlene fertigte eine kleine Skizze an. „So, schau“, sagte sie.

„Als würde jemand von oben auf uns blicken“, sagte Fritz.

Zwei Strichmännchen saßen sich schräg gegenüber am Tisch, einer der Figuren hatte Marlene Brüste angedeutet. Die beiden hielten einen Stift in der Rechten, Papier darunter, und während sie schrieben, konnten sie die Finger ihrer linken Hände ineinander verschränken.

„Gut“, sagte Fritz. „So machen wir das.“ Er stellte den Globus vom Tisch auf die Anrichte, dann hoben sie den Tisch an und trugen ihn in die Mitte der Küche. Sie schoben die Stühle nach Marlenes Idee heran, setzten sich, bewegten ihre linken Hände aufeinander zu und formten sie zu einem kleinen Gebirge aus Fingern.

„Weiter?“, fragte Fritz. Marlene hob ihren Stift an. Sie schrieben, bis Fritz eine Kanne Tee kochte und sich die Hände über dem Wasserdampf wärmte. Er ließ einen Löffel Zucker in Marlenes Tasse rieseln, rührte um und stellte ihr die Tasse hin. Fritz umarmte sie von hinten und flüsterte nach einem Kuss. Marlene drehte den Kopf, ihr Hals spannte sich, Fritz sah das Blau ihrer Augen.

Sie tippte auf eine Unterschrift von Himmler. „Scheißkerl“, sagte sie. Sie berührte die Namenszüge von Ribbentrop, Kaltenbrunner und Göring. „Noch ein halbes Stündchen“, sagte sie.

„Du hast richtig Feuer gefangen für die Sache.“

„Ja“, sagte Marlene. „Wir machen sie fertig.“

„Ich bereue immer noch manchmal – dir gesagt zu haben, was ich tue.“

Marlene lächelte, sie schüttelte den Kopf. „Geliebter Spion“, sagte sie, „und Ehebrecher und Alkoholdieb.“

Sie umarmten sich, Fritz sah ihre Schemen im Glas des Küchenschranks. Marlene war größer als er.

„Du bist so schön“, sagte er. „Meine Marlene.“

Sie küsste ihn spitz auf die Lippen. Fritz hatte noch nicht herausgefunden, warum sie das manchmal tat – ihn zu küssen wie ein Schulmädchen, das keine Kusserfahrung hatte.

Jemand schlug von außen gegen die Tür.

Fritz und Marlenes Umarmung wurde zerschlagen, als durchfahre sie ein Stromstoß. Marlene stieß eine Tasse um. Der Tee lief über gestohlene Geheimpapiere und weichte eine Unterschrift von Heinrich Himmler auf.

Eine heisere Stimme dröhnte aus dem Treppenhaus: „Herr Kolbe! Herr Kolbe!“

Die Tür vibrierte unter den Schlägen, tiefes Trommeln drang durch den Flur zu ihnen in die Küche.

„Herr Kolbe!“

Marlene legte ihre Hand auf seine. Er spürte ihren Griff, ein letztes Festhalten. Ihre Augen wurden nass. Fritz küsste sie, stolperte ins Schlafzimmer, riss das Jackett vom Kleiderhaken und zog den Revolver aus der Tasche. Er stellte sich in die Mitte der Küche und zielte den Flur entlang auf die Tür.

Jetzt haben sie uns, dachte er.

Schweiß lief ihm von den Achseln an den Rippen entlang. Wie viele würden sie geschickt haben? Gestapo? SS? Gleich würden sie die Tür eintreten, in die Wohnung stürmen, Lärm und Schreie mitbringen.

„Fritz.“ Marlenes Stimme klang, als stünde sie im Nebenraum. Mein Gott, wie sehr er dieses Gesicht liebte, die gerade Nase, die breiten Kieferknochen.

„Bitte, Fritz.“

Drei Mal krachte es von außen gegen die Tür. Wieder wurde sein Name gerufen. Marlene knöpfte sich die dunkelblaue Bluse auf und zog sie ein Stück auseinander. Im Weißweinschein der Lampe schimmerte die Haut auf ihrer Brust. Er richtete den Revolver auf sie. Seine Muskeln gaben nach, der Revolver wog eine Tonne und zog seinen Arm hinab.

„Hier“, sagte Marlene. Sie legte sich eine Hand aufs Herz.

„Herr Kolbe! Machen Sie auf. Jetzt sofort!“

Er drehte sich zur Tür, hielt die Waffe mit beiden Händen. Der Flur wurde immer kürzer, die Tür berührte fast den Lauf des Revolvers.

„Es war richtig“, sagte er. „Was wir getan haben.“

Er spürte Marlenes Körper hinter seinem, sie legte die Arme um ihn, drehte ihn um und drückte die Hand mit der Waffe gegen ihre Brust. Als sie nach dem Abzug tastete, schob er sie an den Schultern gegen den wackligen Küchenschrank. „Du willst doch leben.“ Er riss die Akten vom Tisch und entriegelte die Klappe am Ofen, Hitze sprang ihm entgegen, die Bodendielen wurden rötlich gepudert. Er warf die teefeuchten Papiere in die Glut. Flammen züngelten um Hakenkreuze, bogen Papier und verschlangen es. In seiner Hast fielen einige Blätter zu Boden und er stopfte sie hinterher, verbrannte sich die Handkante, kleine Härchen zischten. Fritz trat die Klappe zu, Hitze und Orange wurden vom Ofen eingeatmet.

Marlene flehte. Das sollte es doch in einer Liebe nicht geben, dass einer flehte. Was würden diese Männer mit ihr machen? Was würden sie diesem Körper antun? Er richtete den Revolver auf Marlenes Brust und spürte den Abzug am Zeigefinger. Dann war die Entschlossenheit wieder weg.

Ein Schlag an die Tür, einer nur.

„Du weißt von nichts, Marlene. Du weißt nicht …“ Er stammelte. Er wollte weg hier. Er wollte sich in Luft auflösen, zusammen mit Marlene.

„Spiele ihnen eine Nazifrau vor. Dir geschieht nichts.“

Fritz konnte ihr Herz hören, ihr schlagendes rotes Herz. Durch ihren Blick überschlugen sich in ihm die Erinnerungen. Gassen in Bern, seine Tochter Katrin in Afrika, Hitler, Pläne der Wolfsschanze, eine Hütte im Wald, Stimmen, geschmuggelte Geheimakten, Herzpochen, Leichen – es ging so schnell und verwirbelt, dass er keinen Gedanken fassen konnte.

„Du musst leben“, sagte er, und warum auch immer, seine Stimme klang klar und stark. Durch ihre Augen huschten Zweifel. Vielleicht ein Hauch Hoffnung. „Herr Kolbe!“ Er drehte sich zur Tür.

„Grüße meine Tochter, Marlene. Erzähle Katrin, was ich getan habe. Erzähle ihr, was du getan hast.“

Marlene hatte den Kopf gesenkt, das Kastanienhaar hing ihr ins Gesicht. Seine Knie gaben nach, er stützte sich an der gerahmten Weltkarte ab. Marlene zog eine Schublade auf, Besteck klirrte. Mit nervösen Händen nahm sie zwei Messer heraus, die Klingen blinkten. Wie sinnlos und verrückt, dass er jetzt stolz auf sie war.

„Ich liebe dich so sehr“, sagte er. Dann ging er mit vorgehaltenem Revolver auf die Tür zu. Ich hab euch verraten, Nazischweine! Er stieß gegen einen Bücherstapel am Boden. Mit dumpfem Geräusch fiel der Papierturm zusammen. Fritz war der Tür jetzt ganz nah, er spürte die Anwesenheit der Mörder im Treppenhaus. Er starrte auf die Bücher hinab. Irgendwer muss Katrin erzählen, was wir getan haben. Meiner Tochter. Um Himmels willen, irgendwer muss unsere Geschichte erzählen.

Er spürte Marlenes Blick auf seinem Rücken.

1

Der Unterschlupf

Irgendwo in der Schweiz, wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs

Wenn er versucht aufzuschreiben, was damals geschehen ist, beginnt er mit einem Namen. Marlene. Die Zunge bewegt sich im Mund, wenn er das Wort ausspricht. Mar – le – ne.

Bei keinem Schreibentwurf ist es anders. Er kannte sie nicht, als er 1939 in die deutsche Hölle zurückkehrte. Es dauerte Jahre, bis er zum ersten Mal ihre Stimme hörte. Sie klang durch eine geschlossene Tür im Auswärtigen Amt in Berlin, hell, beschwingt. Sie konnte lachen. Aber zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte wurden die Gefahren um ihn herum schon unübersehbar groß. Er hat Marlene aus all dem heraushalten wollen. Er hat es nicht geschafft. Auch wenn sie erst später von ihm eingeweiht wurde, fängt er an zu schreiben – weil es muss, es muss – fängt er an, ist sie es, mit der die Geschichte eröffnet wird. Lüge, Hakenkreuze, Betrug, Verstellung, Tod und Liebe. Er hat Angst vor großen Worten: Liebe und Krieg, Anstand in barbarischen Zeiten. Große Worte hat er in Hitlers Auswärtigem Amt genug gehört. Er hadert immer wieder. Es war Krieg, es war Liebe. Er hat versucht, anständig zu sein. Und dann? Was dann?

Er sieht aus dem tief in die Holzwände eingelassenen Hüttenfenster in das grüne Tal hinaus. An welchem Hang die Hütte liegt, welcher Fluss sich unten bleisilbern und rauschend durch die Wiesen schlängelt, das ist ganz gleich, das soll niemand wissen.

Er geht in die Küche und füllt Kaffee aus der Thermoskanne in eine Tasse. Ein Schluck frische Milch, ein Löffel Zucker, er rührt um und sieht aus dem Fenster den Hang hinab durch das Tal. Neben dem Fluss verläuft eine feste Schotterpiste, nicht weit entfernt führt sie über eine kleine Brücke, deren Bretter poltern, wenn man sie mit dem Auto überquert.

Seit er sich in der Hütte versteckt, sieht er oft aus dem Küchenfenster zur Straße hinab. Er weiß nicht, ob sie nicht doch noch einmal kommen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Das Auto, das heute herfahren wird, soll einen Journalisten bringen. Fritz’ Freund und Vertrauter Eugen Sacher hat monatelang mit dem Mann geredet und ihm immer wieder davon berichtet. Der Mann sei seriös und recherchiere schon lange, was damals geschehen sei. Du kannst ihm vertrauen, hat Sacher gesagt. Der will das Gleiche wie du, Fritz: Gerechtigkeit. Endlich.

Da gibt es noch mehr, hat Fritz gesagt.

Eugen Sacher versuchte nach kurzem Zögern, die dunklen Flecken in Fritz’ Geschichte anzusprechen, aber Fritz war ausgewichen, wie immer, und gratulierte ihm zu seinem neuen Anzug, chic wie eh und je.

Eugen Sacher ist der Einzige, der Dinge von Fritz weiß, die der lieber für sich behalten hätte. Er fragt sich schon lange, was muss endlich raus, was behalte ich für mich? Stellt sich diese Frage nicht jeder Mensch? Er ist unsicher geworden, dünnhäutig. Aufgeben allerdings ist das Letzte. Wenn man aufgibt, kann man auch gleich Schluss machen. Nach anderen Frauen und Männern, die Ähnliches getan haben wie er, sind Straßen im neuen Berlin benannt worden. Ihn kennt kaum jemand. Eigentlich niemand. Capa-Einstufung, geheimer als geheim, Flüstern auf den Fluren des fast siebentausend Kilometer entfernten Weißen Hauses in Washington, Präsident Roosevelt wusste von ihm.

Er geht hinaus. Um die Hütte herum ist ein breiter Streifen festgetretener Erde. Fritz setzt sich auf die Bank vor dem Küchenfenster, sieht auf die Straße und zündet sich eine Zigarette an. Das Rauchen hat er sich im Krieg angewöhnt, er raucht nicht viel, er genießt es. Marlene rauchte. Er hat das immer so gemocht, wenn sie in derselben Hand, in der sie ein Weinglas hielt, auch eine Zigarette zwischen den Fingern hatte. Er fragte sie dann, ob sie einen weiteren Knopf ihrer Bluse öffnen würde und sie tat das manchmal, die langen Finger am kleinen Knopf, mit dem Daumen ein bisschen ziehen, den Zeigefinger dagegenhalten und dann löste sich der Knopf aus dem Loch, und Fritz legte die Hände an Marlenes Wangen und sah sie an. Manchmal tat sie es auch nicht.

Wenn dieser Zeitungsmann ihm nicht gefalle, hat er zu Sacher gesagt, dann schicke er ihn sofort wieder weg. Der Kerl habe Sacher wirklich geschworen, Fritz’ Aufenthaltsort nicht bekannt zu geben? Und der sei kein getarnter Psychiater? Sacher habe das schließlich schon einmal versucht.

Nein, nein, der wisse, wie man mit Quellen umgehe, hat Sacher erwidert.

Das hätten schon andere behauptet, hat Fritz gesagt.

Weit weg, wo die Straße von links zwischen den Hängen hervorkommt, sieht er etwas blinken, sich die Sonne schnappen und wieder wegwerfen. Der Wagen nähert sich in gemäßigtem Tempo, er fährt über die Brücke und hält an der Abzweigung. Die Fahrertür wird geöffnet, jemand steigt aus und sieht sich um. Es könnte sein, dass er zur Hütte hinaufschaut. Fritz rührt sich nicht, spürt die Holzbalken an seinem Rücken. Die Gestalt beugt sich hinab – da ist noch jemand im Auto. Das war nicht vereinbart. Fritz könnte jetzt den stets gepackten Rucksack schultern, die Hütte verschließen und in die Berge verschwinden, wo er jeden Kuhpfad kennt, jede Höhle, jeden schattigen Unterschlupf hinter Wurzelwerk. Wer immer da kommt, er würde an der Tür rütteln, vielleicht um die Hütte herum gehen, hinter vorgehaltenen Händen ins Fenster schauen und wenig später wieder abfahren.

Der Wagen wird ein Stück zurückgesetzt und fährt den Abzweig hinauf. Er verschwindet hinter einer grünen Hügelkappe aus Fritz’ Blickfeld und kurvt dann zur Hütte. Fritz hört den Motor und das Knacken von Steinchen unter den Rädern. Der Wagen wird vor dem morschen unzureichenden Zaun gestoppt. Ein mittelgroßer Mann mit Hut steigt aus und lehnt einen Arm auf die Fahrertür.

Fritz Kolbe? Sind Sie Fritz Kolbe?

Wer will das wissen?

Fritz hasst Unhöflichkeit, aber er muss sich schützen.

Eugen Sacher hat Ihnen von mir erzählt. Ich bin Martin Wegner.

Er nennt den Namen der Zeitung, für die er arbeitet. Ein bekanntes Blatt.

Ich werde dafür sorgen, dass Sie rehabilitiert werden, Herr Kolbe. Sie sind ein großer Mann.

Aber sicher. Wer ist da noch in dem Auto?

Eine Fotografin.

Schicken Sie sie weg. Und sie soll sich unterstehen, Bilder zu machen. Bei allem Respekt.

Ich garantiere Ihnen, sie fotografiert nur, wenn Sie es erlauben. Ehrenwort.

Durch die spiegelnde Windschutzscheibe kann Fritz die Frau nicht sehen, er meint lediglich eine Bewegung des Kopfes zu bemerken. Der Mann beugt sich hinab und spricht in den Wagen.

Eine Frau mit zurückgebundenem braunem Haar steigt aus, sie trägt eine khakifarbene Bluse, olivgrüne Hosen und stabiles Schuhwerk. Ein Mensch, mit dem er wandern gehen könnte. Geschickt von ihr, die Kamera im Wagen liegen zu lassen.

Veronika Hügel, sagt sie. Es tut mir leid, dass Sie nicht von mir wussten. Herr Sacher sagte, er würde Sie über alles informieren. Hat er das vergessen?

Anders als der Mann bleibt sie nicht am Auto stehen, sie schiebt das schräge Tor auf, kommt auf ihn zu und reicht ihm die Hand. Der Druck ist fest und hält lange.

Eugen Sacher, verdammt noch mal, flucht er. Das geht nicht gegen Sie, Frau Hügel.

Der Mann ist ein echter Freund von Ihnen, Herr Kolbe, sagt Veronika Hügel. Außerdem Fräulein, nicht Frau.

Fritz bemerkt, dass Wegner den Rücken der Frau ansieht. So etwas hat er immer registriert. Von Marlene hat er anfangs auf den Fluren des Amtes auch meist den Rücken gesehen, einen hohen Rücken, auf dem sich ganz leicht der Stoff bewegte. Soll er die jungen Leute hereinbitten? Soll er sie die Schwelle zu seiner Geschichte übertreten lassen? Wenn er das jetzt macht, gibt es wahrscheinlich kein Zurück. Er kann bald nicht mehr. Er blinzelt in die Sonne, spürt die Wärme auf den Wangen.

Kaffee?, fragt er. Er schlägt sich auf die Schenkel.

Also dann, zwei junge Leute in meinem bescheidenen Heim. Nun, herein mit Ihnen, seien Sie willkommen.

Er führt sie in die Hütte, es riecht nach sommerlicher, holziger Trockenheit.

Huch, sagt Veronika Hügel, solch eine Hütte, von innen fast ganz weiß. Das ist ja toll.

Gekalkt, nicht lackiert, sagt Fritz. Ist besser für das Holz. Unsere Kriegswohnung in Berlin war immerzu verdunkelt. Das kann für eine Liebe schön sein, aber auf Dauer macht das mürbe.

Und als Sie das erste Mal nach Bern kamen, sagt Wegner, und Geheimakten gegen die Nazis schmuggelten – da waren Sie erstaunt, dass auch in der Schweiz die Fenster verhangen waren, richtig?

Gut vorbereitet, junger Mann.

Immer, Herr Kolbe. Fakten. Solide, klare Fakten.

Ja, Fakten. Wie möchten Sie den Kaffee?

Schwarz mit Zucker, sagt Veronika Hügel. Wegner nimmt Milch und Zucker.

Fritz gießt den Kaffee ein.

Faktisch ein schwarzer Kaffee, oder, Herr Wegner? Sehen Sie und nun – er lässt Zucker von einem Löffel in die Tasse laufen – gebe ich Zucker hinzu. Und was sehen Ihre Faktenaugen? Einen schwarzen Kaffee.

Wegner reagiert nicht, Veronika Hügel rührt um und streift den Löffel an der Tassenkante ab. Vielleicht war das jetzt ein wenig theatralisch, denkt Fritz, ein wenig zu einfach. Aber ist am Ende nicht auch seine Geschichte „einfach“?

Ich habe einen Apfelkuchen gebacken, sagt er.

In der Küche holt er den Kuchen aus dem Ofen, stellt ihn auf den Tisch und zieht eine Schublade auf. Neben Messern und Gabeln liegt der Revolver. Fritz fühlt das Metall und die Riffelung des Griffes und Erinnerungen stürzen auf ihn ein, klacken wie Steine, die eine Felswand hinunterrollen, Luftsprünge von Leere und ausgelassener Zeit, bis zum nächsten Ereignis, dem nächsten Aufschlag, manchmal zwei, drei ganz kurz hintereinander, dann wieder ein langer Flug und seltsame Schwerelosigkeit. Er schiebt den Revolver zur Seite, nimmt das Kuchenmesser und schneidet breite Stücke, die Apfelspalten sind weich und riechen süßlich. Er stellt alles auf ein Tablett und trägt es in die Stube.

Veronika Hügel und Wegner haben sich an den Tisch gesetzt. Die Sonne scheint durch die Seitenfenster auf die Bücherregale und den bemalten Kachelofen. Wegner legt Zettel und Stifte auf den Tisch. Fritz stellt das Tablett ab und positioniert die Stifte exakt ausgerichtet in die Mitte des Papierstapels. Wegner grinst.

Immer noch Beamter, Herr Kolbe?

Fritz muss über sich selbst lachen.

Ich weiß nicht. Vielleicht. Ich müsste Außenminister sein! Botschafter, wenigstens Konsul. Eigentlich. Im neuen Deutschland. Ich … ach, verdammt.

Kaffee, Kuchen – Fritz merkt, dass er ausweicht, verspürt wieder diesen Drang, starr aus dem Fenster zu sehen und eine Klappe vor seine Gedanken fallen zu lassen, die ihn von seiner Umwelt und seinen Erinnerungen trennt. Es wäre ganz leicht. Hügel und Wegner würden das vielleicht eine Stunde aushalten und dann gehen und denken, er sei reif für die Irrenanstalt. Ist er vielleicht auch, er weiß es nicht. Aber er wehrt sich.

Sie essen den Kuchen und Fritz lässt sich aus der Stadt erzählen. Er sieht die jungen Leute ihre Vorbereitungen treffen, Teller werden leise zur Seite geschoben, ein Stift aufgenommen, Veronika Hügel formt aus Daumen und Zeigefingern ein Viereck und macht imaginäre Fotos der Hütte – und von Fritz.

Schon 1943, sagt Wegner, ist es durch Ihren Ver…

Moment! Fritz steht auf, holt den kegelkugelgroßen Globus aus dem Bücherregal und stellt ihn auf den Tisch.

Der hat aber auch schon bessere Zeiten gesehen, sagt Veronika Hügel.

Er dreht den Globus, fährt mit den Fingern über die harzigen Klebenarben nach Süden.

Kapstadt, Südafrika, sagt er, da beginnt es. Da müssen wir anfangen.

Ich weiß nicht, ob wir so viel Zeit haben, Herr Kolbe. Wir wollten eigentlich 1943 beginnen, als Sie zum ersten Mal nach Bern gefahren sind.

Fritz sieht Wegner an und tippt auf Südafrika. Sein Finger findet jedes Land, in dem er gewesen ist, ohne dass Fritz auf die verkrustete Erdkugel blicken muss.

1939, Kapstadt, sagt er. Wissen Sie, wie wahnsinnig blau der Himmel über Afrika sein kann?

Fritz räumt die Teller vom Tisch. Der Globus wird von der Sonne beschienen, hat Tag- und Nachtseite.

1935 oder -36, sagt Fritz, kam schon die Verordnung, dass im Garten des Konsulats in Kapstadt eine Hakenkreuzfahne aufzuhängen sei. Außerdem ein Runderlass, in dem gefordert wurde, dass sich auch die deutschen Auslandsvertretungen mit der Judenfrage auseinanderzusetzen hätten. Der Schwachsinn kam nicht langsam, er kam mit einem Paukenschlag. Das Ermächtigungsgesetz. Nach diesem Gesetz gab es kein Halten mehr. Es war von Anfang an Größenwahn. Hysterie. Blödheit.

Fritz spürt die Invasion dieser ungeheuren, vertrauten Wut. Er könnte die Teller gegen die Wand schmeißen, auf den Tisch schlagen und schreien. Er beherrscht sich.

Wir müssen jetzt nicht über Hitler, den Holocaust und den Krieg referieren, sagt Wegner.

Es geht um Sie, Herr Kolbe, sagt Veronika Hügel. Sie haben uns bestellt, sozusagen. Durch Herrn Sacher.

Es muss eine Entwicklung gegeben haben, sagt Wegner.

In Bezug auf die Nazis? Nein. Ich habe sie von Anfang an gehasst. Abgrundtief.

Aus der Ferne?, fragt Veronika Hügel.

Aus Afrika, sagt Fritz.

Aber Sie sind zurückgegangen, sagt Wegner. Sie sind zurück. Nach Hitlerdeutschland.

Fritz zündet sich eine Zigarette an. Ja, bin ich. Ich war naiv. Mein Vorgesetzter ebenfalls. Er war es, um dessentwillen ich gegangen bin. Ein Fehler? Vielleicht. Wäre ich allerdings nicht gegangen …

Hätte der amerikanische Geheimdienst nie eine Quelle wie Sie gehabt, setzt Veronika Hügel fort.

Fritz ist froh, dass sie das sagt. Sie sieht ihn durch ein Fingerviereck an, er lächelt, dreht das Gesicht nach links, nach rechts, und Veronika Hügel sagt: Klick – Klick.

Ich wäre kein Spion geworden. Ich hätte Marlene nicht kennengelernt.

Wir müssen über die Konsequenzen reden, sagt Wegner.

Fritz drückt Veronika Hügels Fingerviereck auf den Tisch und lässt seine kräftige Hand auf ihren Fingern liegen, sie lässt es sich einige Sekunden gefallen und zieht ihre Hände dann weg. Wegner hält den Bleistift hoch. Fritz zögert, er ist durcheinander. Es ist viel.

Sie wollen das doch auch, Herr Kolbe, sagt Veronika Hügel. Ihr Haar hat etwa die Farbe wie Marlenes, Kastanie mit kupferrot dazwischen.

Vom Gefühl her, ich weiß nicht, es ist, als habe Marlene neben mir gestanden, als diese verdammte Naziflagge im Hof des Konsulats in Kapstadt herabfiel. Als sei sie dabei gewesen, als ich meine kleine Tochter zurücklassen musste.

Die beiden jungen Leute sehen sich an, Veronika Hügel hebt die Brauen wie jemand, der etwas hört, das er schon weiß. Fritz schwenkt durch Raum und Zeit ab nach Kapstadt, wo unter der Sonne sein Schattendasein begann. Hätte er geahnt, was er tun würde, geahnt, was deswegen alles passieren würde – wäre er dann gegangen? Er weiß es nicht. Der Globus wirft ein eierförmiges Abbild auf den Tisch und die unbeschriebenen, schneeweißen Papiere des Journalisten.

2

„Ich komme wieder.“ Kapstadt, Südafrika, Herbst 1939

Seine Tochter saß auf dem Sofa, als Fritz aus der Nachmittagsschwüle ins Haus kam. Das Fliegengitter klapperte hinter ihm in den Türrahmen und dämpfte das Sonnenlicht. Er hatte das Hausmädchen Ida angerufen und gestottert, er komme heim, er wolle bei Katrin sein, unbedingt. Katrin sah ihn an, das helle Gesicht gerahmt von rabenschwarzem Haar, das ihn immer an frisch aufgetragene Ölfarbe erinnerte. Fritz schaffte es kaum, seine Tochter anzublicken. Er legte seine Aktentasche auf die Kommode, goss sich Whisky ein, bis das Glas schwer und honigfarben war, und setzte sich zu ihr. Der Deckenventilator wischte durch die Luft und vor dem Fenster tippten die Zweige der Bougainvilleen an die Scheibe, wenn ein Windzug vom Meer durch die Straßen wehte und den Garten streifte. Fritz legte den Arm um die kleine Schulter seiner Tochter.

„Was ist denn, Papa?“

Er wusste nicht, wie er es sagen sollte, er wusste auch nicht, was er sagen sollte. Im Konsulat hatten sich Gruppen von Angestellten um die Radios versammelt, standen da mit gebeugtem Rücken, die Sektgläser schon in der Hand. Alle warteten auf die angekündigte Nachricht. Fritz hatte entsetzt sein Büro verschlossen und war zum ersten Mal in seinem Leben vor Feierabend aus dem Konsulat verschwunden. Er hatte niemanden angesehen und sich von niemandem verabschiedet. Mit gesenktem Kopf war er durch die Tür in die Faust der Sonne gelaufen, die Stufen hinunter in das Gewimmel auf den Straßen der hellen Stadt.

„Papa?“

Fritz stellte widerwillig das Radio an. Aus dem Äther rauschte es, als würde eine Raspel über hartes Holz gezogen, er drehte den Knopf und dann erklangen Stimmen aus dem fernen Deutschland. Seine Hand mit dem Glas zitterte. Er sah in Katrins hellblaue Augen. Sie war jetzt seit vierzehn Jahren auf der Welt und immer noch ging er jeden Abend in ihr Zimmer, sah, ob sie gut zugedeckt war, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte, dass er sie liebe wie niemand anderen. Und jetzt?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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