Libertys Lächeln - Andreas Kollender - E-Book

Libertys Lächeln E-Book

Andreas Kollender

0,0

Beschreibung

Ein Roman über ein aufregendes Leben Carl Schurz: Freiheitskämpfer, Literat und Politiker Carl Schurz ist dabei, als die 1848er Revolution in Deutschland scheitert. Er wird weltberühmt durch die Befreiung eines Revolutionsfreundes aus einem Gefängnis in Berlin. Mit seiner Frau Margarethe, die er auf der Flucht in London kennenlernt, wandert er nach Amerika aus. Dort eröffnet sie den ersten Kindergarten. Carl ist viel unterwegs, hält Reden, macht Wahlkampf für Lincoln, ist mit Twain befreundet, kämpft als Generalmajor im Bürgerkrieg für die Befreiung der Sklaven, wird Senator und als erster deutscher Einwanderer Innenminister. Schurz setzt sich für die Rechte der Indianer ein und gilt als einer der ersten Umweltaktivisten in den USA. Andreas Kollender hat mit "Libertys Lächeln" einen packenden Roman über das Leben von Carl Schurz (1829 -1906) geschrieben. Schurz schmiedet mit Präsident Lincoln Pläne, die verwüsteten Südstaaten zu befrieden, er hilft seiner Frau bei der Arbeit im Kindergarten und redet in seinen späten Jahren mit Mark Twain nachts bei einem Glas Whisky über Liebe, Tod, Freiheit und Ideale.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 301

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andreas Kollender • Libertys Lächeln

Andreas Kollender

Libertys Lächeln

Für Heidi

Inhalt

1: Seiltänzer: New York City, Spätsommer 1901

2: Wenn sie jetzt hier wäre: Deutschland, 1849

3: Von der Schippe gesprungen: Pfalz / Baden, 1849

4: Eingeschlossen: Rastatt, 1849

5: Was zählt?: New York City, 1901

6: Grüne Tropfen: London, 1852

7: Ozean: Atlantik, 1852

8: Ein frisches Nachthemd: New York City, Spätsommer 1852

9: Im Arm halten: Watertown, 1853

10: Schlaflos: New York City, Sommer 1901

11: Die Begegnung: Illinois, 1858

12: Unruhe und Absurdes: Unterwegs, 1860

13: Spanisches Intermezzo: Washington, Madrid, 1861

14: Ansätze, Bruchstücke und Hühnchenschenkel: New York City, 1901

15: Vielleicht das letzte Mal: Watertown, 1862

16: Friedhofshügel: Pennsylvania, 1863

17: Im Zelt: Nahe Gettysburg, 1863

18: Attentat: New York City, 1901

19: Nein, Sir, das stelle ich mir nicht vor: Washington und anderenorts, 1865

20: Fanny und das Monster: New York City, 1901

21: Apokalypse: Washington und Südstaaten, 1865

22: Vergessen: New York City, 1901

23: Eine Bank am Potomac: Washington, 1869 und weitere Jahre

24: Wonderör: New York City, 1901

25: Erst Liebe, dann Politik: Bonn, 1846

26: Siege, Niederlagen: New York City, 1901

27: Wirtschaftskrieg und Trommlerjungen: Washington, 1877 und folgende

28: Eingesperrte Freiheit: New York City, 1901

29: Schwarz vor Augen: Während der Überfahrt nach Amerika, es ist lange her

1

Seiltänzer

New York City, Spätsommer 1901

Carl saß auf einer Bank im Battery Park, als er die beiden Männer unweit von ihm zögern sah. Er nahm den Strohhut ab. Der Hut war von einem breiten, schwarzen Band umzogen. Ein Strohhut sei, hatte Carl seinen Kindern oft gesagt, eine Art tragbarer Sonnenschirm. „Höchst praktisch und sehr kleidsam.“ Er wischte sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn und setzte den Hut wieder auf. Die beiden Männer sahen gemeinsam über das Wasser, dann blickten sie ihn an, einer von ihnen wedelte mit dem Zeigefinger. Carl wandte sich ab. Rechts von ihm glitzerte die Glaskuppel des Aquariums. Was es dort alles an Fischen zu sehen gab, sagenhaft. Vor einigen Monaten, als es ihm noch besser ging, war er mit seiner Tochter Marianne durch die Säle des Aquariums spaziert. Marianne ulkte, es wundere sie, dass er sich für eingesperrte Meerestiere begeistern könne. „Frei sind die ja nun nicht“, sagte sie. „Aber gut behütet“, sagte Carl, „keine Fressfeinde, bestens versorgt und so hübsch“. Er brauche dringend ein Unterwasserboot mit großen Fenstern.

Carl schloss für einen Moment die Augen, er spürte die Sonne durch die Lider und lauschte dem Schreien der Möwen. Personenfähren tuteten.

Als er die Augen wieder öffnete, zeigte einer der beiden Männer mit seinem Gehstock auf ihn, das polierte Holz zuckte wie ein Blitz im Sonnenschein. Sie schienen miteinander zu reden, neigten die Köpfe einander zu und lachten. Lasst mich bloß in Ruhe, dachte Carl. Ich will einfach nur hier sitzen. Ganz gemach aufs Wasser schauen und die Wärme genießen. Er sah hinüber auf die Freiheitsstatue. Türkisfarben streckte sie vor dem polierten Himmelblau den Arm in die Luft. Früher war er von ihrer Strenge ganz ergriffen gewesen. Die ernsten Augenbrauen, die entschlossenen Lippen. Aber heute? Eine lachende Lady, das wäre es gewesen. Musste man sich mal vorstellen: Wer immer von South Manhattan übers Wasser sieht, wird von dieser Frau angelacht. Da würden bestimmt ganz viele Menschen auf der Uferpromenade zurücklachen.

Lady Libertys Kopf hatte wohl während der Weltausstellung in Paris in einem Park gestanden. Dann war sie über den Atlantik gekommen. 1880? 1886? Er wusste es gerade nicht. Er war 1852 hierhergekommen – mit Margarethe. An Bord der … der – er klopfte sich mit den Fingerspitzen aufs Bein. Wie hieß das Schiff? Wie? Nun wie auch immer. An Bord dieses Schiffes hatte Margarethe häufig mit weit offenem Mund gelacht. Als sie hier in der Nähe an Land gingen, hielt er ihre Hand und küsste ihre kühle Wange. „Das ist der erste Amerikakuss gewesen“, sagte er. „Mehr davon“, erwiderte Margarethe.

Die beiden Männer blieben vor ihm stehen. Sie trugen helle Sommermäntel über schwarzen Anzügen. Sie waren jung, einer der beiden sehr groß. Sie hatten lippenbeißende Schnurrbärte und steife, schneeweiße Hemdkragen.

„Sie sind doch Carl Schörts, oder?“, fragte der Große.

„Schurz. Was kann ich für Sie tun, meine Herren?“

„Sie?“ Der Kleine lachte. „Gar nichts. Wir wollten uns nur ein Relikt aus der Steinzeit ansehen.“

Lasst mich in Ruhe, dachte Carl. Herrgott, haut einfach ab.

„Ein Relikt aus der Steinzeit?“, fragte er. „Und das finden Sie wo?“

Der Große zeigte mit dem Stock auf ihn. Die Sonne fraß an ihren Konturen, die Männer waren für Carl unwirklich dünn, fast durchscheinend.

„Sie versperren mir den Blick auf Lady Liberty“, sagte er. Sein Hals wurde trocken. Er wusste um brutale Männer. Die Akte „Billy the Kid“ hatte auf seinem Schreibtisch gelegen, er kannte Räuberbanden und Skalpjäger genauso wie korrupte Regierungsbeamte oder deutsche Prinzen, die Kartätschenladungen auf Menschen abfeuern ließen. Springt doch einfach vom nächsten Hochhaus, dachte er. Auf ein paar Tote mehr kommt es in meinem Leben nicht an.

„Lady Liberty“, sagte der Kleine, „ist ganz die unsere, Mister Schörts. Man kann viel erreichen in diesem Land. Wir hier, mein Freund und ich, wir sind schon weit gekommen. Und wir wollen noch weiter. Immer weiter, verstehen Sie? Über die Grenzen hinaus.“

„Seien Sie sich meiner uneingeschränkten Bewunderung versichert.“ Der Kleine zog die Brauen zusammen. Überrumpelt von einer Formulierung, dachte Carl.

„Wäre es nach Ihnen gegangen“, sagte der Große, „hätte manch eine Eisenbahn nicht gebaut werden können, hm? Wegen der armen Bäume.“ Er zeigte mit der Stockspitze in Carls Gesicht. Die Metallkuppe war nur Zentimeter von seinem Kinn entfernt. Carl drückte sie mit einer wischenden Bewegung fort.

„Und die Rothäute hätten dem Fortschritt auch nicht weichen sollen, alter Mann“, sagte der Große. „Dabei ist es doch schön, wenn die im Reservat auf Wurzeln kauen und ihre Pfeife rauchen, nicht?“

„Tja, das hat alles nicht so richtig geklappt, Mister Schörts“, sagte der Kleine.

Schnabel halten, dachte Carl.

„Und dann“, der Große hob den Zeigefinger, „hat sich unser Moralapostel mit der Politik angelegt. Korruption. Mein Gott, Mann, das ist ein System. Und das funktioniert. Wie soll das alles denn sonst gehen?“

„Blödsinn“, sagte Carl. Er hoffte, seine Stimme hatte klar und stark geklungen. Er wollte diesen Männern seine Angst nicht zeigen. Er hatte seine Angst oft nicht gezeigt, ganz gleich wie hart sie in seine Därme drückte.

„Ihre Zeit ist vorbei, Schörts“, sagte der Große.

„Wie schön, dass mich Ihre Meinung lediglich rein peripher tangiert.“

„Was?“, fragte der Kleine. „Was hat der gesagt?“

„Einen schönen Tag noch“, sagte Carl.

„Wie denn?“, fragte der Große. „Wollen Sie jetzt keine Ihrer fabelhaften Reden halten? Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit? Nichts dergleichen?“

Warum waren die so? Carl sah den Gesichtszügen der Männer an, dass die Angriffslust in ihnen bitterer wurde. Hatten die getrunken? Ein paar Gläser Whisky gekippt? War tatsächlich er der Grund dieser Aggression? Verschwindet, dachte er. Ich will das nicht.

„Sie stören, Schörts. Ihr ganzes anti-imperialistisches Gequatsche stört uns und unsere Geschäftspartner. Ihre moralsauren Zeitungsartikel. Amerika wird größer und größer. Stellen Sie sich uns nicht in den Weg. Nicht diesem Land“, sagte der Große.

„Gehen Sie zurück in Ihr miefiges Kaiserreich. Zu diesem – wie heißt der? – Wilhelm? Kaiser Wilhelm? Ihr Deutsche braucht solche Anführertypen.“

„Meinen Sie, ja?“

„Jaja, ich weiß, ihr hattet da mal eine Revolution. 1848 oder so. Aber die haben euch die Hucke vollgehauen. Und ihr habt euch dann hier verkrochen. Ihr Deutsche seid zu blöd, wählen zu gehen.“ Der Kleine stemmte die Hände in die Hüften. „Und jetzt los, Jake. Soll der Opa hier in der Sonne schmoren.“

„Oh, ich glaube unser deutscher Einwanderer will noch etwas sagen. Oder?“

„Ihnen nicht, nein.“ Carl stand auf, er wollte jetzt hier weg. Die Stockspitze landete auf seiner Schulter.

„Sitzen bleiben“, sagte der Große. Er erhöhte den Druck des Stockes. Wenn ich jünger wäre, dachte Carl. Er musste ein Zittern unterdrücken. Er wischte erneut die Stockspitze weg. „Nanana“, sagte der Große. Andere Passanten auf der Promenade – meist Paare – hatten nach Carl und den beiden Männern geguckt, sich etwas zugemurmelt und waren weitergegangen. Eine Frau mit weißem Hut hatte ihn mitleidig angesehen, offensichtlich empört, ebenso offensichtlich nicht gewillt, etwas zu tun. Helft mir doch, dachte Carl.

„Sie sind Feiglinge, meine Herren.“ Das hätte er besser nicht sagen sollen. Aber es musste raus. Wie so oft.

„Wie bitte?“, fragte der Große.

„Na komm, Jake, lassen wir ihn“, sagte der Kleine.

„Nein, nein, Augenblick. Wie haben Sie uns gerade genannt?“

Die Stockspitze vibrierte Zentimeter vor Carls Stirn, ein angriffslustiges Metallinsekt. Der Kleine legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Zeitverschwendung“, sagte er.

Hinter den beiden blieben eine Frau und ein Mann stehen. Der Mann schlitzte die Augen, als versuche er Carl genau zu betrachten. Die Frau hatte tintenschwarzes Haar. So etwas fiel Carl immer auf, selbst jetzt.

Der Große fuchtelte mit dem Stock vor Carls Gesicht herum, Carl beugte sich zurück und spürte die Bretter der Bank gegen seine Wirbelsäule drücken. Ich komm hier nicht raus, dachte er. In diesem Moment fuhren die Hände des Fremden von hinten auf die Schultern des Großen und rissen ihn herum. Ohne abzulassen, schubste der Angreifer den Großen fort. Der Große wedelte mit den Armen, versuchte sich mit Ausfallschritten zu fangen, wurde aber von dem Angreifer immer wieder ins Taumeln gestoßen. Er war ein Seiltänzer im Kampf mit dem Gleichgewicht. Der Kleine sah seinem Freund mit offenem Mund hinterher. Die schwarzhaarige Frau beugte sich zu ihm und sagte etwas. Sie zeigte nach links, nach rechts, nach unten und dann mit ausgestrecktem Arm und wedelndem Zeigefinger die Promenade hinab wie eine Mutter, die ein unerzogenes Kind aus dem Zimmer schickte. Einige Passanten waren stehengeblieben. Der Himmel war hellblau und Carl konnte Lady Liberty in der Ferne den Arm wieder in die Luft strecken sehen.

Der kleine Mann ging in die andere Richtung die Promenade hinab. Carl zog ein Tuch aus dem Jackett und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Frau trat an ihn heran.

„Alles in Ordnung?“

Carl hätte aufstehen müssen, so gehörte sich das. Aber er konnte nicht.

„Es geht schon, danke. Haben Sie vielen Dank.“

„Was waren denn das für Leute? Kennen Sie die?“

„Noch nie gesehen. Muss auch nicht nochmal sein.“

Der Mann kam zurück. Er stellte sich neben die Frau und lachte. Er war mittelgroß und kräftig, Hemd und Binder waren verrutscht.

„Als er weit genug weg war, hat er mir mit seinem albernen Stock gedroht. Aus sicherer Entfernung könnte man meinen“, sagte der Mann.

„Ich danke Ihnen“, sagte Carl.

„Es war mir eine Ehre, Sir.“

Carl konnte seinen Blick nicht von der Frau abwenden.

„Meine Frau hatte solches Haar wie Sie.“

Die Frau setzte ihren Hut ab. Strähnen lösten sich. „So?“, fragte sie.

„Ja“, sagte Carl. „Genau so.“

„Margarethe, richtig?“, fragte der Mann. „Sie haben ihren Namen mir gegenüber einmal erwähnt.“

Carl legte sich eine Hand auf die Brust. Sein Herz trommelte.

„Nach der Schlacht bei Gettysburg, Sir.“

Gettysburg. Die schreienden Augen des kleinen Trommlers. Margarethe. Was war denn hier los?

„Ohne Sie, Mister Schurz, würde ich nicht hier stehen“, sagte der Mann. „Und ich hätte nie diese Frau geheiratet. Ich bin hier, weil Sie hier sind, Sir.“

„Gettysburg ist fast 40 Jahre her“, sagte Carl.

„1863, Sir. Drei Tage lang.“

„Das weiß ich auch“, sagte Carl. Er klang als wäre er gebissen worden, der Ton war zu scharf geraten. „Es tut mir leid. Aber so auf Anhieb erinnere ich mich nicht an Sie. Bei allem Respekt.“

Carl lächelte die Frau an. „Setzen Sie sich doch.“

„Ja, mach das Mary. Dann sitzt du neben einem großen Mann.“

„Um Himmels Willen“, sagte Carl. „Hören Sie bloß auf damit.“

Die Frau setzte sich neben Carl und legte einen Arm auf die Rückenlehne.

„Glauben Sie Ihrem Gatten kein Wort, gnädige Frau. Große Männer? Jede Menge Blut und Leichen. Und Gerede. Lügen. Blablabla. Bla.“

Carl wusste, es gab Sätze, die beendeten ein Gespräch fallbeilartig. Das wollte er nicht. Seine Allergie gegen bestimmte Ausdrücke hatte ihn überrannt. Er schnallte seine lederne Aktenmappe auf.

„Was haben wir denn da? Zwei Manuskripte, damit können wir jetzt nicht so viel anfangen. Aber, oho, ein Flachmann mit Whisky. Und ein Kistchen Zigarren. Würde Ihnen etwas davon gefallen?“

Der Mann wies aufmunternd auf seine Frau. Carl verstand die Euphorie nicht, dennoch waren ihm diese beiden Menschen sympathisch. Sie wirkten so frisch und zufrieden. Sie hatten ihn gerettet.

„Eine Zigarre sicherlich nicht“, sagte Mary. „Aber nach dem Schreck könnte ich einen Schluck nehmen, auch wenn sich das nicht ziemt.“

Carl schraubte den Flachmann auf und reichte der Frau die Metallflasche.

„Also, guter Mann, wer sind Sie denn nun?“

„Es ist ein wenig peinlich, Sir.“

„Nun kommen Sie schon. Was soll ich denn sagen? Bei dem, was hier gerade passiert ist.“ Die Frau hüstelte, nachdem sie einen Schluck aus dem Flachmann genommen hatte. „Oder weiß Ihre bezaubernde Gattin nicht davon?“ „Sie weiß alles von mir, Sir. Auch …“ Der Mann atmete tief ein und sah die Promenade in beide Richtungen entlang.

„Auch, dass ich bei Gettysburg getürmt bin. Desertiert. Dass ich hingerichtet werden sollte. Und, dass es einen deutschen General gab, der das verhindert hat.“

„Nein.“ Carl sah den Mann an. Kanonen stürzten aus dem Himmel seiner Erinnerungen, sie donnerten, Musketen knallten. Soldaten hatten qualmgraue Gesichter und ihre Münder sahen aus wie entzündet, vom Aufbeißen der Patronenpäckchen. Der Boden war rot. Carl kniff die Bilder von Angst und Schreien weg und blinzelte seinen Retter gegen das Sonnenlicht an. Etwas weiches Schwarzes schien ihm über die Augen zu streichen.

„Sie sind das?“

„Ich bin es, Sir.“

Wahrscheinlich erwartete dieser Mann, dass Carl seinen Namen kannte. Aber so tief er auch grub, da fand sich nichts.

„William Burton, Sir.“

„Ich weiß, ich weiß. Denken Sie, ich hätte Ihren Namen vergessen? Wie geht es Ihnen, William Burton?“

„Gut, Sir, danke. Ich habe Mary. Und ich baue Brücken. Hier in New York.“

„Sehr schön“, sagte Carl. Er versteckte die Augen hinter der Hutkrempe. Da rettete er in einem Krieg, der Hunderttausenden das Leben weggefetzt hatte, einen einzelnen Mann und traf ihn Jahrzehnte später am Südzipfel New Yorks wieder. Ein Bote aus der Vergangenheit, ein Engel mitten aus dem Lärm des größten Gemetzels auf amerikanischem Boden. Und er hatte ihn vergessen.

„Auch einen Schluck, William Burton? Aber nur wenn Sie aufhören, mich Sir zu nennen.“

„Wie soll ich Sie anreden, Sir?“

„Sie sagen, ich habe Sie damals gerettet?“

„Das wissen Sie doch, Sir.“

Carl war froh, dass Burton nicht nachhakte. Er schien ein diskreter Mann zu sein, er musste merken, dass irgendetwas Löcher in Carls Erinnerungen stanzte.

„Ich würde meinen“, sagte Carl, „in diesem Fall ist der Vorname angebracht. Was halten Sie davon?“

„Ich glaube, das kann ich nicht.“

„Carl“, sagte Mary. „Ist ganz einfach, William. Carl. C.A.R.L.“

„Sehen Sie. Die Frauen“, sagte Carl. Mary schien sein altes Gesicht zu studieren und nachzudenken. Carl hätte gerne ihr Margarethehaar berührt.

William Burton gab den Flachmann an Carl weiter. Das Himmelblau spiegelte sich im Metall und rutschte dann weg. Carl nahm einen kleinen Schluck und spürte die Schärfe auf den Lippen und im Mund. Das Whiskytrinken tat ihm in letzter Zeit besonders gut. Er gönnte es sich.

William setzte sich, Carl war jetzt in ihrer Mitte und fühlte sich aufgehoben wie lange nicht mehr. Sein Herz schlug wieder den langsamen Alterstakt.

„Wie haben Sie mich erkannt?“

„In unserer Wohnung hängt ein Bild von Ihnen“, sagte Mary. „Aus einer Zeitung.“

„Und als ich sah, was hier los war“, sagte William Burton, „tja, ich hätte Ihr Gesicht auch ohne Zeitung nie vergessen.“

„Hatte ich damals den Vollbart schon?“

„Schnurrbart, Sir.“

„New York ist zu groß für zufällige Begegnungen“, sagte Mary. „Und jetzt das. Es ist schön, Sie einmal kennenzulernen, Mister Schörts.“

„Schurz.“

„Hm?“

„Schon gut.“ Carl sah zwischen den beiden hin und her. „Das Wohlgefühl, nachdem eine solche Sache ausgestanden ist. Das Herz ist dann so verliebt. Sie wirken so jugendlich. Dabei müssen Sie doch auch schon …“

„Über 50“, sagte William.

„Ich nicht. Bitte, ja“, sagte Mary. „Dennoch habe ich letztlich ein graues Haar in meiner Mähne gefunden. Komplett grau. Von der Wurzel bis zur Spitze.“

„Ein paar graue Strähnen werden Sie gut kleiden“, sagte Carl.

„Abwarten“, sagte Mary. Sie streckte die Hand nach dem Flachmann aus und spitzte die Lippen, als sie die Flasche ansetzte.

Carl sah über das Wasser auf Lady Liberty. Das Schiff seiner Gedanken kreuzte über das Meer und dann wurden immer mehr Schiffe daraus und er bekam sie nicht eingefangen. So viele Männer waren getötet worden, weil er Befehle gegeben hatte. Er hätte Namen aufzählen können, jetzt, hier. Aber William Burton, der Zentimeter von ihm entfernt auf der grünen Bank saß, der war verschwunden. Carl sah ihm kurz ins Gesicht, dann wieder in die Steinmiene der großen Lady.

„Was haben Sie diesem kleinen Mann eigentlich gesagt, Mary? Der schien ziemlich beeindruckt.“

„Das möchte ich lieber nicht wiederholen.“

Carl schmunzelte. Er nahm Marys Hand, er nahm Williams Hand und drückte sie. So etwas tat er normalerweise nie, aber jetzt musste das sein. Und die beiden ließen es sich nicht nur gefallen, sie erwiderten den Druck seiner Hände.

„Spektakulärer Mittag“, sagte Mary.

„Oh ja“, sagte Carl. „Wenn Sie wüssten.“

Auf dem Wasser schwamm ein breiter Streifen Sonnenlicht, ab und an wehte jetzt ein leichter Wind und Carl hörte die quäkenden Signale der Personenfähren und das Rauschen des Wassers. Lady Liberty hielt Ausschau.

Als Mary und William sich verabschiedeten, drückte William Carl fest und lange die Hand.

„Wissen Sie noch, was Sie mir damals gesagt haben, Sir? In all dem Schlamassel bei Gettysburg?“

„Natürlich, William.“

„Ich habe mich darangehalten, Sir, äh Carl. Mein Leben lang. Immer. Es ist, ich weiß auch nicht, es ist, als habe immer Ihre Hand über mir und Mary geschwebt.“

Was hatte er nach Gettysburg zu diesem Jungen gesagt? Was, was, was? Carl stolperte durch das Gedränge auf dem Broadway. Der Weg zu seiner Wohnung am Central Park war weit, aber er musste jetzt laufen, musste seinen Körper der Wärme und der Anstrengung aussetzen. Auf Höhe des Madison Square bog er ab und irrte durch schmale Seitenstraßen. Stände, an denen Obst und Gemüse verkauft wurden, Zeitungen oder Hüte reihten sich aneinander, lackiert glänzende Kutschen bahnten sich ihren Weg. Er hörte einen disharmonischen Chor von Stimmen, Französisch, Chinesisch, Italienisch, Deutsch und Englisch und die Kanten der Hochhäuser schwirrten über ihm. Sein Strohhut war nass von Schweiß. Irgendwo wurde auf offener Straße gekocht, er roch Gemüse und dieser Duft löste etwas in ihm aus, einen fernen Hauch, ein sinnliches Detail. Doch von überallher wurde er bedrängt. Blut, aufgedunsenes Fleisch, ein Kind in seinen Händen, Soldaten, Attentäter, Küsse, Margarethes Stimme, von ihm betrogene Indianer, ein Segelschiff in wogender See und wieder schlug ihm etwas Schwarzes sanft vor die Augen.

2

Wenn sie jetzt hier wäre

Deutschland, 1849

Die Frau stand am Wegesrand. So erinnerte er sich in seinem duftgetränkten Taumel durch die große Stadt New York. Sie hielt einen Korb mit Kohlköpfen in den Armen. Ihr Kleid war blau, die Schürze von der Farbe nassen Sandes. Von der Spitze seiner Revolutionärstruppe aus sah Carl sie an. Die Frau war ein Stück zur Seite getreten, als sie die Männer hatte kommen sehen. Sie wirkte einsam vor der Ackerfläche und den entfernten grünen Wellen des Waldrands. Die Schritte der Männer klangen dumpf, Säbel schlugen gegen menschliche Flanken, Dreschflegel klockten. Einer der Männer trug eine Mistgabel, an die er kleine Glöckchen gebunden hatte. „Schöne Frau“, hatte einer der Männer gesagt, ein anderer „Hoho“ und der nächste hatte gefragt, ob sie wohl noch da sei, wenn er später zurückkomme. Carl empfand das als unverschämt, konnte es aber kaum verbieten. Mit einem Wink ließ er die Männer weitermarschieren und ging zu der Frau zurück. Sie hatte krauses Haar und die Augenbrauen in die Stirn gehoben als sei sie belustigt oder irritiert über diesen Haufen schlecht bewaffneter Freiheitskämpfer.

„Guten Tag, gnädige Frau.“

„Mein Herr.“ Sie machte einen Knicks und sah ihm in die Augen.

„Schönes Gemüse“, sagte er.

Die Frau lachte. „Finden Sie, ja? Sind Sie gekommen, um mir das zu sagen?“ Carl fluchte leise. Hatte er sich vor Minuten noch über die Bemerkungen seiner Männer geärgert, kam er jetzt mit Ästhetikbekundungen zu Gemüse daher.

„Nun“, sagte er, „wie soll ich es ausrücken?“ Er zog sich die schwarz-rot-goldene Schärpe zurecht. „Ich bin vielleicht bald nicht mehr.“

„Deswegen?“ Die Frau zeigte den Männern hinterher.

„Wir ziehen ins nächste Dorf. Da sollen einige Konterrevolutionäre unter Leitung eines Pfarrers stecken. Leute, die gegen unsere Unternehmungen sind.“ Er klopfte auf die Pistole, die er unter den Ledergürtel gesteckt hatte.

„Ungeheure Schurkerei“, sagte die Frau. Die nahm ihn nicht ernst. Stand da am Wegesrand, lächelte und schien fest aufgehoben in ihrem Leben.

Er musste es jetzt machen, er musste sie fragen. Er war so jung. Er wollte noch so viel. Komm schon, dachte er, tue es. Vielleicht hast du in einer Stunde eine Kugel im Kopf. Oder Schlimmeres passiert.

„Ich habe noch nie eine Frau geküsst.“

Jetzt war es raus. Eine so lebensumgreifende Aussage.

„Das ist ja dumm.“

Das war alles, was diese vitale Erscheinung am Rande des Ackers dazu zu sagen hatte.

„Vielleicht wird mein Leichnam heute noch irgendwo verscharrt“, sagte Carl.

„Wird ein Mordsloch. Sie sind ja doch recht groß geraten. Was kann ich für Sie tun, junger Mann?“

Die Aussage über die Größe seines Grabes minderte Carls Aufregung nicht. Er musste sich konzentrieren.

„Ich wollte Sie fragen, mit allem Respekt, ob ich …“

Verschwinde einfach, dachte er. Geh zu deinen Männern und tu, was du zu tun hast.

„Ob Sie was?“, fragte die Frau.

„Ob ich … ob ich einmal Ihre Wange küssen darf?“

Die Frau lachte. „Was?“

„Einmal. Ich …“

„Dürfen Sie nicht.“

„Nur Ihre schöne Wange?“

„Nein, mein Herr.“

Carl ließ den Kopf hängen.

„Sie kämpfen für irgendeine komische Freiheit, richtig? Ich habe die Freiheit, Ihnen einen Kuss zu verwehren.“ „Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten.“

„Zieht in den Krieg und hat noch nie geküsst. Oh je. Ich hoffe, Sie finden die Frau, die unbedingt von Ihnen geküsst werden will. Bevor es zu spät ist. Gehen Sie besser nicht weiter in diese Richtung.“ Die Frau wies mit dem Kinn auf die Männer.

„Die Märzforderungen aus dem letzten Jahr. Demokratie. Pressefreiheit. Keine alleinherrschenden Fürsten mehr. Ein vereintes Deutschland. Ein Parlament. Nicht mehr Knecht sein, sondern wahlberechtigter Bürger. Versammlungsfreiheit. Gleichheit vor dem Gesetz.“ Carls Gedanken rasten. „Weg mit den Monarchen von Gottes Gnaden. Sind Sie denn nicht auf unserer Seite?“

Sie hob den Korb mit dem Gemüse an.

„Schnuppern Sie mal.“ Carl beugte sich vor. Die Kohlköpfe rochen erdig, sauer und frisch. Sein Scheitel war den Brüsten der Frau ganz nah.

„Ihre Revolution ist zum Scheitern verurteilt. Sie werden verlieren“, sagte die Frau. „Sie haben schon verloren.“

„Wir haben Niederlagen eingesteckt. Aber Baden und die Pfalz … warten Sie es ab. Wir schaffen das. Für die Amerikaner sah es anfangs auch schlecht aus. Aber die haben das große Britannien besiegt. In Amerika herrscht Demokratie. Freie Wahlen. Die haben dort einen Präsidenten. Vom Volk gewählt.“

„Amerika? Großer Gott.“

„Da ist nur ein bisschen Wasser zwischen uns und Amerika.“

Die Frau lachte wieder. Fältchen sichelten in ihre Wangen, die Lippen spannten sich. „Ich wünsche Ihnen Glück“, sagte sie. Carl sah nach seiner Truppe. Die Männer waren etwa 30 Meter weiter stehen geblieben, einige saßen am Wegesrand, viele tranken Bier aus Feldflaschen. Alle beobachteten ihn.

„Ihre schöne glatte Wange?“

„Nein.“ Wie freundlich sie das sagte. Da war keinerlei Aggression oder Widerwille. Die ganze Zeit nicht.

„Passen Sie auf sich auf, junger Mann.“

„Ist nicht mein größtes Talent. Leben Sie wohl. Es war schön, Sie gesehen zu haben.“

Er ging, drehte sich wieder um und kratzte sich den Schnurrbart.

„Habe ich Sie belästigt? War das sehr ungehörig?“

„Sie haben eine Frage gestellt. Ausgesucht höflich, muss ich sagen. Andere Männer fragen nicht. Sie, junger Mann, müssen mit der Antwort leben. Wie heißen Sie?“

„Schurz, Carl Schurz.“

„Margot Werner. Ich werde unser Treffen nicht vergessen, Carl Schurz.“ Die Frau neigte den Kopf ein wenig, um an ihm vorbei auf die Männer zu schauen.

„Nicht gerade eine Elitetruppe“, sagte sie.

„Aber vom richtigen Gedanken beseelt.“

„Na dann. Auf Wiedersehen, Carl Schurz. Gehen Sie sterben.“

Das klang so freundlich und lieb. Wie machte diese Frau das? Welche Gefühle schwangen durch diese Seele, dass sie so liebevoll sagte, er solle sterben gehen?

„Ich gehe leben“, sagte er.

Die Frau zwinkerte und ging.

„Das Blau Ihres Kleides passt gut hier in die Natur“, rief Carl. Ohne sich umzudrehen hob die Frau eine Hand. Der Saum ihres Kleides streifte über den Feldweg. Carl zog den Gürtel hoch, die Pistole wog schwer und der Gürtel wollte ständig rutschen.

Andere Männer machen einfach, das hatte sie gesagt. Carl ahnte, er würde diese Formulierung so schnell nicht vergessen können. Hatte diese Frau ihm sagen wollen, andere Männer seien mehr Kerl als er? Könnten sich besser durchsetzen? Von Fragen und Zweifeln durchzuckt trat er in einen Kuhfladen, halbtrocken. Er hob den rechten Fuß, stand da auf einem Bein und versuchte durch Tretbewegungen, die von Heu durchzogene Kacke vom Stiefel zu bekommen. Er hörte einige der Männer lachen. Als er wieder bei ihnen war, erhoben sie sich.

„Was war denn das mit dieser Frau, Schurz? Hast du sie nach dem Weg gefragt?“

„Ich kenne den Weg, Habermas. Weiter jetzt.“

Befehle zu erteilen war schwer für Carl. Aber er gewöhnte sich daran und aus Unsicherheit erwuchs langsam Gefallen. Meist wurden seine Befehle befolgt, nicht immer. Die Revolutionsarmee war schlecht ausgebildet und in großen Teilen miserabel bewaffnet. Für die Pistole, die er im Gürtel trug, hatte er keine Munition. Aber es sah gut aus, sie quer vor dem Körper zu tragen.

Von der Spitze der Truppe sah er sich noch einmal um. Die Frau war verschwunden. Ich wünsche dir Glück, Margot Werner. Sie schien nicht böse auf ihn gewesen zu sein. Welch souveräne Frau. Welch eine Frohnatur. Und welch ein schönes Wort: Frohnatur.

Lass es hinter dir, dachte er. Schau nach vorne. Wir müssen siegen. Es sind schon viele gestorben für die Sache. Komm, Junge, mach.

Sie würde ihr Treffen nicht vergessen, auch das hatte sie gesagt. Wenn er also in einer Stunde blutend am Boden läge, würden nicht nur Mutter und Vater und seine Freunde um ihn trauern, sondern auch Margot Werner, erführe sie überhaupt von seinem Tod. Was sehr unwahrscheinlich war. Aber vielleicht würde sie gelegentlich an ihn denken und sich fragen, was aus dem Mann geworden sein mochte, der sie einst während der Revolutionswirren fragte, ob er ihre Wange küssen dürfe.

„Weiter, Männer. Wir erledigen das jetzt.“

„Wissen die, dass wir kommen?“, fragte einer. Carl schämte sich, seinen Namen nicht zu kennen.

„Kann ich mir nicht vorstellen.“

„Du gehst voran, Schurz“, sagte der rothaarige Habermas.

„Ja“, sagte Carl. „Ja, ich gehe voran.“ Er griff nach Pistole und Säbel, suchte Halt und spürte das Schlagen seines Herzens.

Wie gerne Carl Mutter und Vater oder einen seiner Freunde an der Seite gehabt hätte, einen Vertrauten für vielleicht letzte Worte. Was hätte er gesagt? Dass er es bereue? Nein. Dass er nie eine Frau im Arm gehalten hatte? Das hätte er nicht zugegeben. Was also? Dass die Sonne schien? Ja, dachte er, das konnte sein.

Mit jedem Schritt kam er dem Dorf der Konterrevolutionäre näher. Hatten die eine Verteidigungsstellung bezogen? Besaßen die Musketen? Nicht weichen, dachte er. Bloß nicht weichen. Immer einen Fuß vor den anderen. Sie marschierten in den Schatten eines Waldes.

Nahe Siegburg-Mülldorf war einer Truppe, der er sich angeschlossen hatte, nachts befohlen worden, sich in die Büsche zu schlagen und abzuhauen – und das nur, weil das Getrampel der Pferdehufe nahender Dragoner zu hören gewesen war. Er erinnerte sich genau an das Rauschen des Siegflusses, an den Geruch nachtfeuchter Gräser und daran, wie er sich mit der Säbelklinge in die Handfläche tippte und drauf und dran war, den Offizier anzuschreien.

„Lassen Sie uns diese Dragoner aufhalten“, flüsterte Carl dem Hauptmann zu. „Was da angeritten kommt, das ist die Staatsmacht. Das sind die, gegen die wir kämpfen. Fürstendiener.“

„Was da angeritten kommt, sind Menschen“, sagte ein Mann aus der Dunkelheit.

„Halt die Schnauze“, sagte Carl.

„Halten Sie die Schnauze, Schurz“, sagte der Hauptmann. „Verstecken Sie sich. Wir haben gegen diese Männer keine Chance. Die Sache hier ist gelaufen. Wer weiter Revolutionär spielen will, soll nach Baden oder in die Pfalz gehen.“ „Das ist doch nicht Ihr Ernst, verdammt noch mal.“ „Hören Sie mal zu, Grünschnabel. Ich habe hier das Kommando. Und Sie tun, was ich Ihnen sage.“

Das schwere Schlagen der Hufe kam immer näher, die Erde bebte, und Carl versteckte sich hinter einem Baum. Er sah das weiße Mondlicht auf den Brustpanzern der Reiter, auf ihren Säbelscheiden und Helmen durch die Dunkelheit schnellen. Er fluchte. So ging das nicht. Also war er gewandert, bis er zu den Truppen in Siegburg stieß und dort auch seinen früheren Professor Kinkel wiedertraf. Kinkel war es gewesen, der ihm heute den Auftrag gegeben hatte, den Pfarrer zu verhaften.

Hinter der nächsten Biegung erblickte Carl das Dorf. Vom Wald aus führte kein weiterer Weg in den Ort. Er sah kaum Menschen vor den niedrigen Häusern, nur rechts auf den Ackerflächen erkannte er gebückte Figuren und einen Mann, der Pfeife rauchte. Carl ließ seine Männer am Wegesrand pausieren. Er winkte Habermas und zwei andere zu sich.

„Hört zu, der Pfarrer dieses Dorfes hält mit größter Eloquenz …“

„Was?“, fragte Habermas.

„Der Pfarrer“, sagte Carl, „verbietet den Leuten, in unsere Volkswehr einzutreten. Für unsere Sache zu kämpfen. Wir werden ihn festsetzen. Ihr drei marschiert jetzt gemütlich in das Dorf und findet heraus, wo das Pfarrhaus steht. Lasst eure Waffen hier.“

„Wenn wir angesprochen werden“, sagte Habermas, „behaupten wir, wir sind auf der Suche nach dem Wirtshaus. Glaubt jeder.“

Carl setzte sich und lehnte sich an einen Tannenstamm. Er nahm die Pistole aus dem Gürtel, zog den Hahn nach hinten, bis es klickte und drückte ab. Klack. Keine einzige Kugel. Den Truppen der Obrigkeit fehlte es nicht an Munition. Dafür war immer Geld da. Er spürte den Waldboden am Hintern, den Tannenstamm hart im Rücken und das Gewicht der nutzlosen Pistole. Margot Werner hatte gesagt, sie hätten verloren. Es sah ganz so aus. Dabei waren sie schon so weit gekommen. Die Paulskirche, die Zugeständnisse des Königs und dann die Barrikadenmassaker in Berlin und das völlige Umschwenken der Reaktionäre gegen das Volk. Blut auf den Pflastersteinen, Hinrichtungen, die chaotische provisorische Regierung in Baden und der Pfalz. Die militärische Unfähigkeit vieler Offiziere. Carl hatte seit Ausbruch der Unruhen alles gelesen, was er an Militärhistorie in die Finger bekommen hatte. Und die freie Regierung? Hatte einen altgedienten General aus Polen geholt, der ständig fragte: „Was gibt es zu essen?“

Carl sah die Männer an, die am Wegesrand hockten. Einige hatten sich hingelegt und dösten. Nur ein einziger trug eine Uniform, jeder aber irgendwo an den Kleidern ein schwarz-rot-goldenes Emblem. So unentschlossen sie auch wirken mochten, sie waren dabei. Sie riskierten ihr Leben.

„Schön hier in Deckung bleiben“, sagte er. Er trat über Geäst einige Meter in den Wald hinein, schob Unterholz am Fuße einer Tanne zur Seite und lehnte sich an den Stamm. Er roch Sommer und Boden und Harz und dachte daran, wie schön ein Wald aussah, wenn hinter ihm die Sonne versank und die Baumstämme immer dünner zu werden schienen. Ein Wald war stets ein großes Versprechen.

Habermas und seine Begleiter kamen zurück.

„Straße rein, drittes Haus links“, sagte Habermas. „Gutes Ackerland. Kräftige Kühe. Keine Waffen zu sehen.“

„Die Männer mit Musketen nach vorne zu mir“, sagte Carl. Er spannte die Beinmuskeln an, um ein Zittern der Knie zu verhindern.

Carl hatte das Pfarrhaus umstellen lassen. Der Großteil seiner Truppe stand in Reih und Glied in der Sonne auf dem Dorfweg. Frauen, Kinder, Männer waren aus den Häusern getreten und schauten. Einige lachten. „Geh spielen, Jungchen“, sagte ein älterer Mann. Carl zog den Säbel. Er schlug mit dem Griff hart gegen die Holztür. Die Tür schwieg. Carl drückte sie auf.

„Herr Pfarrer?“

„Kommen Sie rein. Kommen Sie nur. Keine Bange.“

„Ich habe keine Bange.“

Aus der Stube kam ihm ein kräftiger Mann entgegen. Es war dunkel im Haus, die Vorhänge gegen die Mittagssonne zugezogen. Ein Geruch von Dung hing schwer in der Luft.

„Herr Pfarrer, im Namen der provisorischen Regierung verhafte ich Sie.“

„Schluck Wein?“

„Wie bitte?“

„Ich habe eine schöne Flasche offen. Kommen Sie. Setzen Sie sich.“ Carl ließ den Säbel in die Scheide gleiten. Er folgte dem Mann in die Stube. Grobe Holzmöbel standen auf den Dielen, vor einem Fenster bewegte sich ein roter Vorhang. Der Pfarrer griff die Weinflasche hoch oben am Hals.

„Sie sehen nicht aus, als würden Sie mich verhaften.“

Das konnte doch nicht wahr sein. Erst lachte einer über ihn, dann nannte ihn jemand Jungchen und jetzt das. Dabei hatte er die ganze Zeit über ernst und entschlossen dreingeschaut.

Der Pfarrer stieß mit ihm an.

„Sie haben ihre Leute daran gehindert, in die Volkswehr …“ begann Carl.

„Guter Wein, oder?“

Carl kostete. Erstaunlich kühl war der Wein, fruchtig und leicht.

„Kennt er sich aus mit Wein?“, fragte der Pfarrer.

„Mein Vater handelt damit. Nebenbei.“

„Nehmen Sie sich ein Beispiel an dem guten Mann, statt hier solch ein Theater zu machen. Klar, habe ich meinen Schäfchen gesagt, sie sollen diesen Blödsinn lassen. Die Preußen, die Ihnen und Ihrem Haufen entgegenrücken, das sind ausgebildete, befehlshörige Kämpfer. Die bringen Sie alle um, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihre Revolution ist längst vorbei. Denken Sie, ich lasse Leute für diesen Unsinn sterben?“

„Das ist die größte Erhebung, die es in Deutschland je gegeben hat. Ich darf ja wohl sehr bitten.“

„Es gibt schon genug Tote. Das lohnt nie.“

„Doch. Doch, verdammt nochmal.“

„Ach, und Sie entscheiden darüber, junger Mann? Wie heißen Sie?“

„Carl Schurz.“

„Also, die Preußen rücken Ihnen auf die Pelle. Dann sind Sie es, Herr Schurz, der den Männern da draußen sagt, sie sollen sich denen entgegenstellen? Sie sollen sich durchlöchern lassen? Stellen Sie sich selbst auch in den Kugelhagel?“

„Ja.“

Carl neigte das Glas und kippte den Rest auf den Holzboden.

„Arroganter Pinsel. Tja, Carl Schurz, spitzen Sie mal die Ohren.“

Die Kirchenglocken schlugen. Carl schaute auf die Standuhr. Keine Zeit, eine Glocke läuten zu lassen. Der Pfarrer grinste und trank von seinem Wein. Carl eilte den Flur entlang. Als er die Tür aufzog war es als betrete er den Tag durch eine Pforte. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Von überall her näherten sich Dorfbewohner. Sie waren mit Mistgabeln und Sensen bewaffnet, manche mit Knüppeln. Metall blitzte auf.

„Alle Männer hier ans Haus“, befahl er. Seine Leute wichen zurück und stellten sich im Halbkreis vor das Pfarrhaus. Sie hielten ihre Waffen schräg vor dem Körper, einer der wenigen Musketenträger pflanzte ein Bajonett auf. Carl hörte den Pfarrer hinter ihm im Flur kichern.

„Was jetzt, Junge?“

Margot Werner, dachte Carl. Was würde ich tun, wenn Margot Werner jetzt hier stünde, ihren Gemüsekorb hielte und zwischen diesem Pfaffen und mir hin und her sehen würde? Was?

Er drehte sich zum Pfarrer um. Der stand mit der Schulter an die Wand gelehnt und grinste. Nicht mit mir, dachte Carl. Er spürte seine Hände feucht werden. Er zog die Pistole aus dem Gürtel, spannte den Hahn und richtete den Lauf auf den dicken Bauch des Gottesmannes. Der Pfarrer wich zurück und starrte die Pistole an. Sein Blick rätselte.

„Sie sagen Ihren Leuten jetzt, dass sie gehen sollen. Sie sagen ihnen, dass ich Sie sicher in die Stadt bringe, wo Sie eine Aussage zu machen haben. Sie sagen, dass keiner auf die blöde Idee kommen soll, uns zu folgen.“

„Sie schießen nicht auf mich.“

„Machen Sie, was ich Ihnen befehle. Sofort. Reden hier rum von wegen all der Toten und hetzen uns dann Ihre Sensenträger auf den Hals.“

„Die hätten nichts getan.“

„Los jetzt.“

Der Pfarrer ging an ihm vorbei zur Tür. Carl sah auf die Pistole in seiner Hand hinab. Abgegriffenes Holz, ein silberner Lauf, der Hahn gespannt, das Ladestöckchen in einer Führung unter dem Lauf. Er legte sich die Pistole an die Wange, das Metall war warm, das Holz glatt. „Danke“, flüsterte er. Er hörte den Pfarrer reden, verstand ihn aber nicht.

Hätte er die Pistole auch auf diesen Mann gerichtet, wäre sie geladen gewesen? Carl sah in den Pistolenlauf, ein rundes schwarzes Loch, unendlich tief, ein Tunnelblick ins Weltall.