kollektiv neurotisch - Christian Kohlross - E-Book

kollektiv neurotisch E-Book

Christian Kohlross

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Beschreibung

Sind die westlichen Gesellschaften neurotisch? Christian Kohlross, psychotherapeutischer Coach und Kulturwissenschaftler, bejaht das und unterzieht sie einer psychologischen Analyse. Längst haben Persönlichkeitsstörungen auch von großen Gruppen und Kulturkreisen Besitz ergriffen. Die alarmierende Diagnose dieses Buchs: Narzissmus, Depression, Zwang und Hysterie sind Symptome einer akuten Kollektivneurose, die Europa und die westliche Welt fest im Griff hat. Am Schluss des Buchs skizziert Christian Kohlross mögliche Wege, diesen destruktiven Seelenlagen politisch und sozial zu begegnen. Die tiefere Ursache dieses kollektiven Krankheitsbildes sieht Kohlross in unserer totalen Visionslosigkeit. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, das Ende der Utopien auf dem Scheiterhaufen des Neokapitalismus – sie haben das Gemeinschaftsgefühl zerstört, soziale und politische Bindungen aufgelöst und den Individuen die Hoffnung auf die Zukunft genommen. Politik beeinflusst solche Zustände, steht dem Problem aber rat- und konzeptionslos gegenüber. In einer demokratischen Gesellschaft muss sich das ändern! Sonst verspielen wir unsere Zukunft.

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Seitenzahl: 164

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Christian Kohlross

kollektiv

neurotisch

Warum die westlichen Gesellschaften therapiebedürftig sind

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-7006-3 (E-Book)

ISBN 978-3-8012-0496-9 (Printausgabe)

Copyright © 2017

by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag: Birgit Sell, Köln

Satz: Jens Marquardt, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Gesellschaft und Neurose – Vorwort

Die depressive Gesellschaft

Die hysterische Gesellschaft

Die zwanghafte Gesellschaft

Die narzisstische Gesellschaft

Psychotherapie der Gesellschaft

Über den Autor

Buchempfehlung

Fußnoten

Gesellschaft und Neurose – Vorwort

Wenn man darüber nachzudenken beginnt, wie unsere Nachgeborenen eines fernen, vielleicht gar nicht einmal allzu fernen Tages auf uns Heutige zurückblicken werden, dann kann es sein, dass sie aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen. Denn sie werden große Mühe haben zu verstehen, dass wir zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts immer noch nicht sehen, was ihnen doch offen zutage liegt: dass nämlich, wer Politik begreifen will, ohne Psychologie nicht auskommt. Trotz der Tatsache, heißt das, dass seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts sich Psychologen (Freud als einer der ersten) immer wieder auch massenpsychologischen und politischen Fragestellungen zugewandt haben, zeichnet sich der politische Diskurs der Gegenwart durch eine auffallende, im Grunde: unheimliche Psychologievergessenheit aus. Denn obwohl es seit langem Disziplinen wie Politische Psychologie und Sozialpsychologie gibt, werden politische wie übrigens auch ökonomische Konflikte immer noch als Auseinandersetzungen rationaler, sich ihrer Motive bewusster Akteure aufgefasst. Und es wird immer noch so getan, als käme es in der politischen Auseinandersetzung allein auf Vorstellungen, Inhalte, Überzeugungen an – und nicht auf verborgene, den Akteuren nur halb- oder auch ganz und gar unbewusste Motive. Anderslautende Erkenntnisse tauchen im öffentlichen Diskurs zwar auf, werden aber geflissentlich ignoriert. Häufig ist dann sogleich von Psychologismus die Rede, davon, dass der psychologische Seelenschuster doch bitte bei seinem Leisten zu bleiben, sich tunlichst nicht in anderer Leute Dinge und Denken einzumischen habe. Doch genau das ist seine Aufgabe!

Politik, das ist dem psychologischen Blick eben keine Sache nur für Politiker, sondern eine Sache der Grenzüberschreitung, der Kunst, wie Brecht es einmal genannt hat, in anderer Leute Köpfe zu denken. Des Psychologen liebste rhetorische Form ist schon deshalb die Metapher. Denn sie ermöglicht es, Grenzen zu überschreiten und etwas so zu sehen, als ob es etwas anderes wäre: Gesellschaften zum Beispiel so, als ob sie Personen wären und deshalb auch an Persönlichkeitsstörungen, wie es Hysterie oder Depression, Narzissmus oder Zwang sind, erkranken können.

Dass wir diese, dem metaphorischen Blick so offensichtliche, kollektivneurotische Seite unseres Gesellschaftslebens bislang schlicht übersehen haben, könnte etwas sein, das unseren Nachgeborenen einmal rätselhaft sein wird.

Doch wie sollte das möglich sein, dass auch Gesellschaften Persönlichkeiten, Persönlichkeitsstile, gar Persönlichkeitsstörungen haben? Und vor allem: Was eigentlich sind Persönlichkeiten?

Persönlichkeiten, auch wenn sie manchmal den Eindruck erwecken, als seien sie unabänderlich, wie in Stein gemeißelt, sind nicht von Beginn eines Lebens an da. Sie entwickeln sich. Alles fängt damit an, dass Leben nicht einfach Leben, sondern bereits ganz zu Anfang ein mit Wünschen, Bedürfnissen ausgestattetes Lebens ist. Als ein solches wird es in eine Welt hineingeboren, die es zwingt, seine Wünsche und Bedürfnisse der Wirklichkeit, also den Wünschen und Bedürfnissen anderer Menschen anzupassen – nicht aus freien Stücken, sondern aus der Hilflosigkeit und Verwundbarkeit des Kleinkindes heraus. Ein solches Kleinkind aber kann nicht anders, es muss sich unterordnen. Es muss Kompromisse bilden aus Wunsch und Wirklichkeit, um zu überleben. Verweigert es diese Unterordnung, verweigert es die Kompromissbildung, so droht aus der Sicht des Kindes zuletzt das Ausgestoßen-, das Verlassenwerden, also die für das emotionale wie physische Überleben des Kindes schlimmstmögliche Konsequenz.

Daraus erklärt sich der eine Teil des emotionalen Terrors, als den Kinder diese Urszene der Persönlichkeitsbildung erleben. Den anderen Teil erklärt die Unbedingtheit und Grenzenlosigkeit, man könnte auch sagen: die Reinheit des kindlichen Wunsches. Ein Säugling, der nach der Mutterbrust schreit, ein Dreijähriger, der einfach nur spielen möchte, kennt im Moment seines Wünschens nur diesen Wunsch. Er hat ihn nicht, diesen Wunsch, er ist dieser Wunsch. Diese unbedingten, grenzenlosen, den ganzen Organismus ergreifenden Wünsche immer wieder den Ansprüchen der zunächst meist durch die Eltern repräsentierten Wirklichkeit unterordnen, sie also kontrollieren zu müssen, erzeugt immer wieder nur ein Gefühl: Ärger, Aggression. Und eben, weil auch dieser Ärger wiederum ein unbedingtes, grenzenloses Gefühl ist, kann auch er nicht ausgelebt, sondern muss kontrolliert, verborgen werden. Das Zeigen von Ärger und Aggression würde sonst eben die Gefahr heraufbeschwören, der das Kind doch um alles in der Welt zu entgehen sucht: der Gefahr verstoßen, verlassen zu werden.

Die Struktur aus Verhaltens- und Erlebensstrategien, die Menschen in Kindheit und Jugend herausbilden, um diese mit dauernder Frustration einhergehende Konfrontation eigener Wünsche und fremder Wirklichkeiten zu verarbeiten, heißt Persönlichkeit. Persönlichkeiten bestehen also aus Formen der Aggressionsbewältigung. Und damit aus Strategien des Umgangs mit einem schier unlösbaren Problem: dem Versuch, Wunsch und Wirklichkeit, die eigenen Wünsche mit den Wünschen anderer in Übereinstimmung zu bringen.

Genau solche Versuche unternehmen nun auch Gesellschaften. Denn auch Gesellschaften sehen sich wie jeder Einzelne mit dem Problem konfrontiert, Wünsche und Wirklichkeiten, die Bedürfnisse des Einzelnen mit denen anderer Einzelner in Übereinstimmung zu bringen. Politik ist, so gesehen, wesentlich der Versuch, dieses eigentlich unlösbare, paradoxieverdächtige Problem dennoch zu lösen. Aufgabe der Politik ist es, Wünsche und Wirklichkeiten auch da in Übereinstimmung zu bringen, wo sie es nicht sind. Und sich das klarzumachen, mag dazu beitragen, die Frustration manch eines Politikers, aber auch die Unangemessenheit manch einer Politikerschelte besser zu verstehen.

Kompromissbildungen, wie sie auch das Politische hervorbringt, erzeugen, wie jede Einschränkung oder gar Versagung von Wünschen: Frustration, also Aggression, und zwar eine gegen den Aggressor, gegen die Gesellschaft gerichtete Aggression. Die Kontrolle dieser gegen sie gerichteten, zerstörerischen Aggression ist eines der vorrangigsten Ziele einer jeden Gesellschaft. Dabei stellt sich immer wieder heraus: Das probateste Mittel einer kollektiven Aggressionskontrolle ist die Verdrängung. Wenn Einzelne oder Gruppen ihren Ärger gar nicht spüren, muss die Gesellschaft diesen Ärger auch nicht fürchten. Gesellschaften sind daher immer schon Meister der Verdrängung, Sublimierung und Steuerung aggressiver Impulse.

Dabei nehmen Gesellschaften jedoch etwas in Kauf, das sich immer entwickelt, wenn ein Wunsch versagt und der daraus resultierende aggressive Impuls vereitelt wird: die Bildung von Symptomen. Auch Symptome, wie der in modernen Gesellschaften allgegenwärtige Stress, sind metaphorische Phänomene. Sie erwecken den Anschein, als seien sie weder Ärger noch Wunsch, doch tatsächlich sind sie beides zugleich: Ärger, der sich in einen Wunsch (z.B. mehr zu leisten), ein Wunsch, der sich in Ärger (z.B. darüber, dass das einfach nicht gelingen will) verwandelt hat.

Dass man den Symptomen nicht ansieht, nicht ansehen soll, dass sie Symptome sind, macht sie so effektiv.

Symptome sind dabei aber zugleich die Kosten, die Gesellschaften tragen, um ihrer autodestruktiven Potenziale Herr zu werden. Gesellschaften unterscheiden sich jedoch in der Art, wie sie diese Kosten verbuchen, wie sie die Paradoxie von Wunsch und Wirklichkeit durch Symptome zu lösen versuchen, kurzum, sie unterscheiden sich in ihren Persönlichkeiten.

Dabei fallen vor allem vier extreme, den Raum des individuell wie gesellschaftlich Möglichen eröffnende und zugleich begrenzende Persönlichkeitsstile auf: hysterische, zwanghafte, schizoid-narzisstische und depressive.

Was sie unterscheidet, ist der Umgang mit Emotionen, vor allem der Aggression. Depressive und zwanghafte Persönlichkeiten neigen dazu, diese Emotionen für sich zu behalten und zu kontrollieren. Hysterische sowie schizoid-narzisstische Persönlichkeiten tendieren jedoch da hin, genau das nicht zu tun.

Depressive und Zwanghafte zeichnet ein besonderer Bindungswunsch aus. Denn beide sind beständig auf der Suche nach Kontakt, Nähe und Verlässlichkeit, um ihre ursprüngliche Angst vor Verlassenwerden und Unzuverlässigkeit im Zaum zu halten. Hysterische und schizoide-narzisstische Persönlichkeiten hingegen erleben Kontakt, Nähe und Bindung als bedrohlich.

Jeder einzelne dieser Persönlichkeitsstile verkörpert dabei eine extreme oder idealtypische Weise menschlichen – und damit auch sozialen – Erlebens. Das ist der Grund, weshalb die meisten Menschen sowohl hysterische als auch zwanghafte, schizoid-narzisstische sowie depressive Anteile haben. Pathologisch, zur Persönlichkeitsstörung werden diese Erlebnisweisen und Verhaltensstrategien erst, wenn die Kosten der mit ihnen einhergehenden Symptome höher sind als deren Gewinn, wenn die Symptome also den Abstand zwischen dem Wünschbaren und dem Wirklichen nicht verringern, sondern vergrößern.

Und genau das, so die These dieses Buches, zeichnet den gegenwärtigen Zustand westlicher Gesellschaften aus.

Die depressive Gesellschaft

I.

Was eigentlich macht aus dem Leben menschliches Leben? Was, wenn nicht dies, dass Menschen sich binden – an andere Menschen, an sich selbst, an andere Lebewesen, an ihre Umwelt? Wer ohne solche emotionalen Bindungen lebt, mag existieren – leben tut er nicht.

Das gilt ebenso für die Zeit: Wer ohne Bindung an die Vergangenheit lebt, wer nicht erzählen kann, wie er der geworden ist, der er ist, ist sich selbst zum Gespenst geworden. Und auch, wer ohne Bindung an die Gegenwart lebt, lebt nicht, er vegetiert vor sich hin, im Zustand des Traums, der Neurose oder des Wahnsinns.

Wer indes ohne Zukunft lebt, der stößt sogar in jedem Augenblick an die Grenze seines Untergangs. Denn sein Handeln kennt weder wirkliche Ziele und letzte Zwecke noch sonst einen Sinn. Denn die lägen ja in der Zukunft. Mit einem Wort: Wer ohne Zukunft lebt, der lebt im Zustand fortwährender Depression.

Nach dem Ende des Kalten Krieges, nach 1989, hat sich der sogenannte Westen entschlossen, darauf die Probe aufs Exempel zu machen. In einem Akt historisch beispielloser Ignoranz versuchte er fortan, ohne Bindung an die Zukunft auszukommen: nicht mehr zu leben also, sondern nur noch zu überleben.

So hatte, wer das Wort Utopie nach 1989 auch nur in den Mund nahm, sich sogleich um Kopf und Kragen geredet. Utopischen Sinn, gar utopisches Glück sollte es fortan allein in der Beschränkung geben: als Lebensglück des Einzelnen, als Gesundheitsbewusstsein, Selbstverwirklichung oder – auf den Hund gekommen – als Wellness.

Alles, was sich das immer mehr der Depression verfallende kollektive Bewusstsein fortan noch vorstellen konnte, war eine nahende Klimakatastrophe, ein müdes, auf ökonomischen Nutzen zurechtgestutztes Europa, Big Data oder eine trans-, wenn nicht gar posthumane Zukunft. Eben: Science-Fiction.

Utopie, heißt das, gab es nach 1989 nur noch als Zynismus, den die Tagespolitik für sie übrig hatte.

Dass wir es aber seither versäumt haben, über eine für unsere Weltgesellschaft sinnstiftende Zukunft nachzudenken, über wirklich andere Formen des Zusammenlebens und das kollektive Handeln von Gesellschaften darauf auszurichten, hat Konsequenzen, das war nie so deutlich wie 2016: Vor allem die, dass immer mehr Menschen auf diese Utopielosigkeit mit Gewalt oder Depression reagieren.

Die immer selbstverständlicher werdende Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung in den sogenannten neuen Kriegen, die immer alltäglicher und immer unausrottbarer scheinende Gewalt des Terrorismus, aber auch die Gewalt der Weltverteilungskämpfe um Macht, Güter und Lebenschancen, die aus immer mehr Menschen Flüchtlinge macht, all diese Formen der Gewalt sind auch ein Ausdruck unserer fortgesetzten Leugnung des Prinzips Hoffnung.

Eingetauscht haben wir es gegen das Mantra von der Alternativlosigkeit des Status quo oder gegen den Sermon vom Ende der großen Erzählungen oder sonst einem Ende.

Das aber heißt, eingetauscht haben wir das utopische Bewusstsein von einst gegen die bekannten Symptome einer agitierten Depression: gegen eine allgemeine ängstliche Unruhe, ein gesteigertes mediales Mitteilungsbedürfnis, eine notorische Unzufriedenheit – und eben Hoffnungslosigkeit.

II.

Die Depression ist die derzeit häufigste seelische Erkrankung. Etwa 8 Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind an ihr erkrankt. Jede und jeder Zehnte. Hinzu kommen diejenigen, bei denen die Depression nicht diagnostiziert wird und eine hohe Dunkelziffer. Angst vor sozialer Zurückweisung, Ausgrenzung seitens der Betroffenen ist meist ein Grund dafür, dass die Krankheit unerkannt und unbehandelt bleibt; Scham ein anderer. Namen wie die des ehemaligen deutschen Nationaltorhüters Robert Enke oder des Piloten des Germanwings-Fluges 9525, Andreas Lubitz, stehen emblematisch für die kollektive Unter- und Fehleinschätzung der Depression.

Dabei erkranken 18 Prozent aller Menschen im Laufe ihres Lebens einmal an einer Depression – zweimal mehr Frauen als Männer. Gut 10 Prozent aller Besuche beim Hausarzt gehen auf diese Erkrankung zurück. In den sogenannten entwickelten Ländern steigt die Zahl der Erkrankungen von Jahr zu Jahr. Die im Januar 2015 veröffentliche Depressionsstudie der Techniker Krankenkasse ermittelte allein für Deutschland 30 Millionen Fehltage, die ihren Grund in dieser Erkrankung haben.

Eine Depression ist nicht immer leicht zu diagnostizieren. Denn ihre Erscheinungsformen sind uneinheitlich: Mal überfällt die Betroffenen große Traurigkeit, ohne dass sie genau wüssten, warum. Mal ist, was sie spüren, überhaupt keine Traurigkeit, sondern ein Gefühl der Gefühllosigkeit. Ein anderes Mal ist ihr Antrieb vermindert. Die einfachsten Tätigkeiten fallen schwer, sich zu ihnen aufzuraffen noch schwerer. Dann wieder sind manche der Betroffenen hyperaktiv, agitiert, arbeitswütig. Auch das meist, ohne zu wissen, warum.

Manche Arten der Depression sind dabei nur von kurzer Dauer, vorübergehende Reaktionen der Seele auf vorübergehende Belastungen. Da sie meist ohne Vorankündigung über die Betroffenen hereinbrechen, kommen sie einer plötzlichen Lähmung gleich, einem Schrecken, der kommt und wieder vergeht, ohne dass die Betroffenen wüssten, wie ihnen geschieht.

Die ICD 10, die International Classification of Diseases, kennt den Charakterzug der Schwermut unter dem Namen Dysthymia. Die solcherart Schwermütigen leiden an einer andauernden depressiven Verstimmung, die nur von kurzen Phasen, in denen sich die Stimmung der Betroffenen aufhellt, unterbrochen wird.

Diese schleichende, nie ganz verschwindende Form der Depression ist an ihren Leitsymptomen Antriebsminderung, Ich-Schwäche, sozialer Rückzug, Grübelzwang, Konzentrationsschwierigkeiten und – im Falle depressiver Erkrankungen – notorischer Hoffnungslosigkeit zu erkennen. Unter der Last der Symptome verlieren die Betroffenen dann meist irgendwann das Vermögen, mit den Routineanforderungen des täglichen Lebens fertig zu werden. Oft erst nach Jahren des Leidens ist dann für viele Depressive der Zeitpunkt gekommen, an dem sie sich in therapeutische Behandlung begeben.

Fragt man heute nach den Ursachen der Depression, so lautet die Antwort immer noch: Es sind viele. Erbliche Vorbelastung, Funktionsstörungen des Hirnstoffwechsels, andere körperliche Erkrankungen und anhaltende, nicht näher spezifizierte seelische Belastungen werden als Gründe genannt. Doch in der einschlägigen Literatur findet sich, obwohl es sich so augenscheinlich um eine Volkskrankheit mit epidemischem Ausmaß handelt, kein Hinweis auf die Gesellschaft als krankheitsverursachenden Faktor. Dass es die Gesellschaft ist, die krank macht, wird meist nur bei leichteren Depressionen, den sogenannten Burnouts, stillschweigend konzediert. Auf den naheliegenden Gedanken, dass eine depressive Gesellschaft depressive Menschen hervorbringt, kommen nur wenige.

III.

Die ICD 10 führt unter dem Stichwort der leichten depressiven Episode Symptome an, die nicht nur das individuelle Erleben des Depressiven, sondern zugleich das öffentliche Leben unserer Tage charakterisieren: eine melancholische Grundstimmung, gesteigerte Ermüdung und Überdrüssigkeit (Null-Bock), tiefe Selbstzweifel sowie Konzentrations- und Schlafstörungen samt psychomotorischer Agitiertheit, und all das bei einem ständig gesteigerten, zur Unersättlichkeit neigenden Appetit.

Selbstzweifel, Endzeitphantasien, Antriebsstörungen samt einem damit einhergehenden Gefühl der Hilf- und Ausweglosbarkeit kennzeichnen nun aber auch die Gefühlslage westlicher Gesellschaften seit Beginn des neuen Jahrtausends.

Diese Hilflosigkeit erfährt der Westen seit 9/11 im Zeichen des Terrors, aber nicht nur gegenüber dem Terrorismus. Auch in Sachen Klimaschutz, Überschuldung, Überbevölkerung und Flüchtlingskrise sucht die Politik verzweifelt nach Lösungen. Nur mühsam täuscht eine allgemeine Geschäftigkeit darüber hinweg, die nicht selten zur allgemeinen Aufgeregtheit mutiert (und so im historischen Rückblick die Zeiten des Kalten Krieges geradezu beschaulich aussehen lässt). Mittel und Medium der Täuschung ist der Verstand. Er suggeriert, dass es Lösungen gibt, wir sie nur noch nicht gefunden haben. Tatsächlich aber sind Vernunft und Verstand längst vielfach nur noch als Abwehrmechanismen in Gebrauch, als Widerstände gegen die sich langsam bahnbrechende Einsicht in den allerorts herrschenden Unverstand. – Und man tut so, als sei etwa die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen einer nach wie vor auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen basierenden und dabei im ständigen Wachstum begriffenen Weltgesellschaft ein mit den Mitteln des Verstandes im Prinzip lösbares Problem. Doch das ist es nicht! Denn zu viele der beteiligten Akteure folgen in ihrem Handeln ganz anderen Maximen als denen von Vernunft und Verstand. Und dennoch wird weiterhin im blinden Vertrauen auf Vernunft und Verstand so getan, als übe man Macht und Kontrolle auch da aus, wo man sie doch längst verloren hat.

Der anhaltende, gerade unter Intellektuellen beliebte Kulturpessimismus, der zugleich eines der deutlichsten Symptome der kollektiven Depression ist, reagiert genau darauf. Er ist die Stimme des kollektiven Unbewussten. Und die sagt immer wieder dasselbe, allem voran dies, dass das Projekt der westlichen Moderne in ihren hegemonialen Ansprüchen eines globalisierten Hyperkapitalismus an ein Ende gekommen sei. – Aber selbstverständlich verwundert diese Diagnose niemanden mehr, der in den letzten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts die Diskussionen um das Ende des Subjekts, der Kunst, der Geschichte, der Theorie et cetera mitverfolgt hat.

Gemeinsam war diesen postmodernen Variationen auf das alte Thema vom Ende der Welt, dass sie allesamt Ausdruck eines geheimen, im Grunde unheimlichen Wissens sind. Denn ihnen allen lag die Ahnung zugrunde, dass die Aufklärung insofern an ein Ende gekommen ist, als ihre bevorzugten Mittel – Verstand und Vernunft – nicht mehr reichen, um die Probleme einer Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu lösen.

Das wiederum ist, um es klar zu sagen, kein Aufruf zur Regression! Es liegt darin kein Appell zur Geringschätzung der Rationalität, sondern ein Aufruf, sich – endlich – der Beschränkung kommunikativer Rationalität bewusst zu werden. Einer Beschränkung, die umso deutlicher, aber auch umso bedrohlicher da ist, wo Rationalität als Rationalisierung, als Mechanismus zur Abwehr innerseelischer Konflikte daherkommt.

Wenn daher die Habermas’sche Theorie des kommunikativen Handelns, einst Streitobjekt heißester intellektueller Debatten, heute so antiquiert und wie aus der Zeit gefallen daherkommt, dann deshalb, weil sie Aufklärung mit den Mitteln der Aufklärung betrieb und glaubte, das Projekt der Aufklärung allein auf Vernunft gründen und mit dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments voranbringen zu können.

IV.

Hilf- und Hoffnungslosigkeit als die zentralen Symptome der gegenwärtigen Großseelenlage sind dabei das genaue Gegenteil der stets vorwärtsgewandten und fortschrittsgläubigen Aufklärung. Die depressive Verfassung des Zeitgeistes zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts unterminiert aber nicht nur das Unternehmen der Aufklärung selbst, sondern auch das der Moderne. Denn die Moderne war niemals nur ein Projekt der Weltbeobachtung, sondern immer auch eines der Weltermächtigung. So ermächtigte sich im kulturellen, technischen, medizinischen Fortschritt der vergangenen 250 Jahre die Menschheit ihrer natürlichen Lebensgrundlagen in einem historisch bis da hin unbekannten Ausmaß. Und die Moderne hat dabei kognitive ebenso wie technische Mittel hervorgebracht, die alles in den Schatten stellten, was Menschen über Jahrtausende hin zur Verfügung stand, um Außen- und Innenwelten zu beeinflussen und zu verändern. Die daraus erwachsende Illusion einer Kontrollier- und Beherrschbarkeit des Wirklichen reduzierte, auch das in einem historisch bis da hin wohl unbekannten Ausmaß, das Gefühl der Angst. Die Ermächtigungsstrategien der Moderne, die sich in Begriffen wie Subjekt, Technik, Fortschritt manifestierten, übernahmen im kollektiven Gefühlshaushalt vor allem eine Aufgabe: die der Angstabwehr. Das aber heißt, dass es Angst ist, die geweckt wird, wenn diese Strategien angegriffen werden – sei es intellektuell, mit den Mitteln des Denkens, sei es brutal, mit den Mitteln von Gewalt und Terror.

Und das, was den sogenannten Westen so eigentümlich hilflos macht, ist dabei eben, dass dem terroristischen Angriff intellektuelle Angriffe vorausgingen. Subjektivität, Technik, Fortschritt waren bereits lange vor 9/11 ins intellektuelle Störfeuer geraten; damit aber eben auch die bevorzugten Abwehrmechanismen der Moderne gegen das Gefühl der Angst. So dass wir gerade erleben, wie es sich anfühlt, den Zusammenbruch dieser Mechanismen zu erleben – als namenlose Angst.

Um sie nicht aushalten zu müssen, verfallen depressive Gesellschaften in einen Zustand notorischer Unruhe und hektischer Betriebsamkeit. Getrieben von einem rastlosen, ins Leere laufenden Aktionismus gleichen sie ziellos umherlaufenden, fahrig wirkenden, sich in einem übermäßigen Mitteilungsbedürfnis ergehenden Depressiven.

Nicht wenige sind darunter, die Gefahr laufen, durch notorisches Klagen und Jammern irgendwann selbst jene in die Flucht zu schlagen, die es wirklich gut mit ihnen meinen.

V.

Eines der augenscheinlichsten Symptome der kulturellen Depression ist das Ende der allumfassenden – der sogenannten großen (mythologischen, theologischen oder philosophischen) Erzählungen.

Was soll’s, erwiderte noch vor kurzem die Postmoderne:

Wo es keine großen Erzählungen mehr gibt, gibt es eben die vielen kleinen Erzählungen.

Wo bitte liegt da das Problem?

Eben in der Erzählung selbst, in der Angewiesenheit auf die Form der Erzählung! Darin, dass wir auf Erzählungen nicht nur nicht