Komm gut heim - Andrea Revers - E-Book

Komm gut heim E-Book

Andrea Revers

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Beschreibung

Der Tod geht durchs Dorf - Ein neuer Fall für die Eifeler Miss Marple "Ich fresse einen Besen, wenn das ein natürlicher Tod ist!" - Während Doktor Hoffmann bei der toten Martha Bethmann auf Herzinfarkt tippt, ist sich Frederike Suttner sofort sicher: Hier hat irgendjemand nachgeholfen. Mit ihrem Mordverdacht sorgt die pensionierte Kriminalkommissarin in dem beschaulichen Eifeldorf für erhebliche Aufregung. Eigentlich wollte sie gemeinsam mit Kater Hannelore in Ruhe ihre Rente genießen, doch plötzlich stolpert sie über mehrere "natürliche" Todesfälle. Ihr Misstrauen ist geweckt. Geht es hier wirklich mit rechten Dingen zu? Wer hat Martha auf dem Gewissen? Und was ist mit den anderen Toten? Unterstützt von ihrer Freundin Klara, versucht Frederike, dem Mörder auf die Spur zu kommen. Und das hat für sie fatale Folgen ...

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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Schlaf schön

Andrea Revers wurde 1961 in Brühl/Rheinland geboren. Sie ist Diplom-Psychologin, studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaften und machte eine Ausbildung zur Journalistin und Marketing-Beraterin. Sie lebt in der Eifel und widmet sich nach langjähriger Tätigkeit als Management-Trainerin und Coach nun voll und ganz dem Schreiben. Sie verfasste Bücher, Fachartikel und zahlreiche Kurzkrimis. 2011 wurde sie für den »Deutschen Kurzkrimipreis« nominiert.

www.andrearevers.de

Andrea Revers

Komm gut heim

Eifelkrimi

Originalausgabe

© 2021 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung von

© kasparart - stock.adobe.com

Lektorat: Nicola Härms, Rheinbach

Print-ISBN 978-3-95441-578-6

E-Book-ISBN 978-3-95441-590-8

Für Claus

Inhalt

PRÄLUDIUM

Donnerstag, 29. Oktober

INTERLUDIUM

Montag, 2. November

Dienstag, 3. November

Donnerstag, 5. November

Freitag, 6. November

Samstag, 7. November

Sonntag, 8. November

Montag, 9. November

Dienstag, 10. November

INTERLUDIUM

Mittwoch, 11. November

Donnerstag, 12. November

Freitag, 13. November

Samstag, 14. November

Montag, 16. November

Mittwoch, 18. November

Donnerstag, 19. November

INTERLUDIUM

Samstag, 21. November

Sonntag, 22. November

Montag, 23. November

Dienstag, 24. November

Mittwoch, 25. November

Freitag, 27. November

Montag, 30. November

Dienstag, 1. Dezember

Mittwoch, 2. Dezember

Donnerstag, 3. Dezember

Freitag, 4. Dezember

Samstag, 5. Dezember

Montag, 7. Dezember

Dienstag, 8. Dezember

Mittwoch, 9. Dezember

Donnerstag, 10. Dezember

Freitag, 11. Dezember

Samstag, 12. Dezember

Montag, 14. Dezember

INTERLUDIUM

Dienstag, 15. Dezember

INTERLUDIUM

Mittwoch, 16. Dezember

Donnerstag, 17. Dezember

Freitag, 18. Dezember

Fine

Dal Segno

Danke!

PRÄLUDIUM

Er spürte, wie sie in seinen Armen erschlaffte. Vorsichtig ließ er sie zu Boden sinken. Nun, das war nicht wie geplant gelaufen, aber auch kein Beinbruch. Er ging in die Küche und holte ein Paar Einweghandschuhe aus der Spenderbox an der Spüle, die er eben entdeckt hatte. Wie praktisch. Dann packte er die Leiche und zog sie ins Schlafzimmer. Er musste sich beeilen, um alles zu erledigen, bevor die Leichenstarre einsetzte.

Eine halbe Stunde später blickte er auf die Frau, die leblos in ihrem Bett lag. Im Schlaf verschieden. Welch schöner Tod. So friedlich! Da musste man ja fast schon dankbar sein. In seinem Kopf hörte er bereits die Gespräche auf der Beerdigung und grinste maliziös.

Er warf der Leiche ein letztes Luftküsschen zu, einen letzten Gruß. Komm gut heim! Oder geh zum Teufel. Wo immer es dich hinzieht …

Jetzt würde er das Haus auf den Kopf stellen. Bitter verzog er das Gesicht, als er an die zahlreichen Schränke und Kommoden dachte. Da kam noch einiges an Arbeit auf ihn zu. Aber das war es wert.

Donnerstag, 29. Oktober

Behutsam strich Frederike mit der Hand über die Bettdecke. Patchwork mit roten Rosen und verschiedenen grafischen Mustern. Echte Handarbeit. Da hatte sich jemand richtig Mühe gegeben. Die Decke lag am Fußende des altmodischen Doppelbetts aus weißem Schleiflack und bedeckte die Beine einer Frau. Einer toten Frau. Frederike seufzte leicht. So schnell konnte es gehen. Gestern noch putzmunter und dann in der Nacht friedlich entschlafen. Eigentlich ganz schön, so zu sterben. Sie betrachtete das entspannte Gesicht der Toten, die über dem Bauch gefalteten Hände. Anscheinend hatte der Tod sie im Schlaf erwischt, ein sanftes Hinübergleiten, ein verlöschender Atemzug. Frederike hatte schon einige Leichen gesehen – als pensionierte Kriminalkommissarin und ehemaligen Mordermittlerin war das lange Jahre ihr »Tagesgeschäft« gewesen – doch selten war ihr der Tod so friedvoll erschienen.

Grete betrat das Schlafzimmer, die Arme voller Bügelwäsche. »Mensch, ich bin froh, dass du hergekommen bist! Irgendwie ist das schon gruselig. Ich habe den Eindruck, Martha schlägt jeden Moment die Augen auf und wundert sich, was wir in ihrem Schlafzimmer treiben.«

»Apropos treiben: Was treibst du da eigentlich?« Frederike beäugte den Wäscheberg, den Grete, ihre Freundin und Sangesschwester, inzwischen in einem Korb deponiert hatte.

»Ich räume schon mal ein bisschen. Bis sie kommen, um Martha abzuholen, dauert es ja noch eine Weile.« Grete sank auf einen Stuhl und schaute die Tote an.

»Ich habe sie heute Morgen so gefunden. Das war …«, sie schluckte hörbar, »… schrecklich! Normalerweise sitzt Martha um die Zeit schon in der Küche und wartet auf mich. Seit sie die Schulter gebrochen hatte, helfe ich ihr bei der Hausarbeit, denn sie konnte den Arm nicht mehr über den Kopf heben. Aber heute war alles so still …«

Frederike betrachtete ihre Freundin voller Mitgefühl. Normalerweise war Grete nicht kleinzukriegen, aber nun, so zusammengesunken auf ihrem Stuhl, wirkte sie richtig zerbrechlich.

»Wie war sie so?«

Grete zuckte zusammen, die Frage hatte sie aus ihren Grübeleien gerissen.

»Martha? Eine tolle Frau. Sie ist gerade siebzig geworden, aber das hast du ihr nicht angesehen. Sie war noch eine richtige Schönheit. Allerdings hat ihr die Schultergeschichte wirklich zu schaffen gemacht. Es war ihr ziemlich unangenehm, mich um Hilfe zu bitten.«

Frederike betrachtete die Tote. »Echt? Siebzig? Da hat sie sich gut gehalten!«

»Ja, sie hat sehr auf sich geachtet, immer zurechtgemacht und schick gekleidet. Da kam ich mir mit meiner Kittelschürze ganz schön altbacken vor.« Grete schaute auf ihren blau-grau karierten Kittel. »Aber praktisch sind die Teile schon!«

Frederike schnaubte: »Praktisch, aber potthässlich. Ich frage mich schon lange, warum du die Dinger noch trägst.«

Grete schaute sie erzürnt an. »Hallo? Mal ein bisschen nett, ja! Ich habe gerade einen Schock erlitten.«

Frederike biss sich auf die Lippen und schmunzelte dann in sich hinein. Gut so, sie hatte es geschafft, Grete aus ihrem Trübsinn herauszureißen.

»Wie gut kanntest du sie?«

»Na ja, ich habe jetzt seit drei Monaten bei ihr nach dem Rechten gesehen. Am Anfang musste ich ihr sogar aufs Klo helfen, weil sie mit einem Arm nicht parat kam. Das schweißt zusammen. Sie war wahnsinnig witzig …«

Grete verstummte, Tränen traten ihr in die Augen, und sie schniefte leise.

Frederike seufzte. Es hatte wohl doch nicht so gut geklappt mit der Ablenkung! Sie ging zu Grete und nahm sie in den Arm. Schweigend standen die beiden Frauen zusammen, Grete hatte den Kopf auf Frederikes Schulter gelegt und schluchzte leise. Frederike tätschelte ihr den Rücken.

»Ist schon gut! Lass es raus!«

Da klingelte es an der Tür. Grete schniefte noch einmal, dann machte sie sich los und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Das ist bestimmt der Doktor.«

Sie öffnete die Tür, und ein kleiner Mann mittleren Alters schob sich an ihr vorbei. Er hantierte mit einem nassen Regenschirm. Anscheinend goss es draußen gerade in Strömen.

»Guten Tag, die Damen. Es tut mir leid, aber es ging nicht früher. Mein Wartezimmer ist immer noch voller Patienten. Wo finde ich Frau Bethmann?«

Grete deutete auf die Schlafzimmertür. »Da drinnen. Sie liegt im Bett!«

Der Mann schob sich mit seiner Arzttasche an Grete vorbei, nickte Frederike zu und betrat das Schlafzimmer. Die Frauen folgten ihm. Stumm betrachtete er die tote Frau.

»Der Notarzt hat den Tod heute früh festgestellt, meinte aber, Sie müssten die Leichenschau noch vornehmen«, versicherte Grete eilig.

Doktor Hoffmann zückte den Totenschein. Ohne auch nur die Bettdecke zu heben oder einen näheren Blick auf den Leichnam zu werfen, beeilte er sich, das Formular auszufüllen. Als er Frederikes fragenden Blick bemerkte, ging er in die Offensive.

»Frau Bethmann war viele Jahre meine Patientin. Ihr Blutdruck war viel zu hoch, und sie hat ihre Medikamente nur unregelmäßig genommen. Da ist ein solcher Todesfall nicht unüblich.«

»Ja, aber muss man das denn nicht genauer untersuchen?«, wunderte sich Frederike.

»Du liebe Güte, wenn wir bei jedem alten Menschen, der im Bett stirbt, eine Obduktion durchführen ließen, würde uns die Staatsanwaltschaft ganz schön aufs Dach steigen. Nein, nein, bei dem Alter, der Vorerkrankung und der Art und Weise, wie sie hier liegt, ist die Sache klar.« Er füllte das Formular zu Ende aus. Dann guckte er auf seine Uhr.

»Ich muss dringend zurück, gleich kommen auch noch die Terminpatienten. Heute ist aber auch wirklich der Wurm drin!« Er beeilte sich, die Tasche zu packen, schnappte seinen Schirm und nickte Grete zu. »Sie können die Leiche jetzt abholen lassen!«

Grete hob den Wäschekorb hoch. »So ein Arsch! Die Leiche! Martha war mehr als zwanzig Jahre seine Patientin, und er nennt sie nicht mal beim Namen. Ich rufe noch mal beim Bestattungsunternehmen an und sag Bescheid. Dann kümmere ich mich um die Wäsche.«

Frederike schaute sie verwirrt an. »Du willst jetzt bügeln?«

»Ja, Bügeln hilft! Ich gehe in die Küche.« Grete verließ das Zimmer mit Korb und Bügeleisen.

Frederike betrachtete erneut das Bett. Anscheinend hatte Martha schnell gefroren, denn obwohl die Heizung lief, war sie mit einem Federbett zugedeckt und hatte zudem die schwere Patchworkdecke auf den Füßen. Frederike geriet schon beim bloßen Anblick ins Schwitzen.

Ihr Blick glitt durch das Zimmer. Doppelbett. Anscheinend war Martha geschieden oder verwitwet. Das Mobiliar stammte sicher aus den Siebzigern. Gute Qualität, aber inzwischen unmodern. Ein Toilettentisch mit großem Spiegel stand an der Wand. Zahlreiche Tiegelchen und Schminksachen verrieten, dass sich Martha viel Zeit für ihre Schönheitspflege genommen hatte. Tja, von nichts kommt nichts!

Frederike zögerte kurz, dann öffnete sie die oberste Schublade. Irgendwie konnte sie nicht aus ihrer Haut. Unterwäsche! Eine bunte Mischung aus Liebestötern, praktischen weißen Schlüpfern und – sie staunte nicht schlecht – zwei Stringtangas in roter und schwarzer Spitze. Eine Erinnerung an bessere Zeiten? Frederike überprüfte die Kleidergrößen. Alles Größe 40. Nicht schlecht für das Alter! Anscheinend passten die Teile noch. Sie verschloss die Schublade und ließ den Blick weiterwandern.

An der Wand hingen zahlreiche Fotos: Martha allein, Jugendfotos, eine wirklich hübsche junge Frau. Martha mit einem Mann. Der Ehemann? Aber es gab kein Hochzeitsfoto. Ein Paar mit kleinem Jungen. Die Ähnlichkeit zwischen der Frau und Martha fiel ins Auge. Ihre Schwester?

Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Hoffentlich kam der Leichenbestatter bald. Grete hatte Frederike vor einer guten Stunde angerufen und sie gebeten rüberzukommen, um ihr beizustehen. Sie hatten dann gleich den Arzt und das Bestattungsunternehmen informiert.

Grete hatte die Tote heute früh in ihrem Bett liegend gefunden und den Notarzt kommen lassen. Sie war schwer getroffen von Marthas Tod. Frederike war froh, dass sie jetzt bügelte und damit anscheinend einen Weg für sich gefunden hatte, mit der Situation zurechtzukommen. Jeder hatte da ja so seine Methoden!

Frederikes Methode war es, sich alles genau und in Ruhe anzuschauen, als wäre sie an einem Tatort. So verschaffte sie sich professionelle Distanz zum Geschehen. Sie hatte Martha zwar nicht gekannt – sie wohnte am anderen Ende des Dorfes –, aber Gretes Trauer hatte auch Frederike berührt.

Sie öffnete den Schrank. Definitiv keine Kittelschürzen! Martha war anscheinend der romantische Typ. Alles sehr verspielt, Rüschen. Frederike schauderte. Das war nicht ihr Stil. Sie bevorzugte es eher sportlich.

Ihr Blick ging wieder zurück zu Martha. Sie trug offenbar ein Nachthemd. Frederike hatte sich die Tote noch nicht näher angeschaut. Sie konnte sich denken, dass Grete damit nicht einverstanden wäre. Sie horchte auf die Geräusche aus der Küche, dann wandte sie sich wieder dem Bett zu und hob vorsichtig die Bettdecke. Ja, ein Nachthemd, alles gut sortiert. Anscheinend war Martha eine sehr ruhige Schläferin. Woran sie wohl gestorben war? Sollte Doktor Hoffmann richtig liegen mit seiner Vermutung? Sie schnaubte. Was sollte das denn für eine Leichenschau gewesen sein, wenn man sich nicht mal die Leiche anschaute? Sie scannte aufmerksam mit ihrem Blick den kompletten Körper. Auf jeden Fall gab es keinerlei Spuren von Fremdeinwirkung. Aus Gewohnheit überprüfte Frederike den Hals. Keine Strangulationsspuren. Wieso tat sie das gerade? Sie hielt unvermittelt inne, schob die Bettdecke wieder zurück und schüttelte über sich selbst den Kopf. Irgendwie hatte sie doch einen Schaden!

Sie wandte sich ab und ging in die Küche. »Gibt es hier vielleicht eine Tasse Tee?«

Grete stand am Bügelbrett. Der Haufen war schon merklich kleiner geworden, dafür stapelte sich die sauber gefaltete Wäsche auf dem Esstisch. Jetzt bügelte sie gerade mit Vehemenz eine hellgrüne Chiffonbluse und hatte prompt, von Frederike abgelenkt, eine Falte hineingebügelt.

»Scheibenkleister!« Sie griff nach einem feuchten Tuch und versuchte, den Schaden zu beheben. »Da ist der Wasserkocher, Teebeutel sind im Schrank. Ich denke, Martha hätte nichts dagegen.«

»Jesses! Warum bügelst du denn die Bluse? Zum Ablenken würden doch Handtücher völlig reichen!«

Grete schaute das Wäschestück frustriert an. »Das war Marthas Lieblingsbluse. Ich dachte, so für den letzten Weg …« Sie schniefte. »Ich wollte sie dem Beerdigungsinstitut mitgeben! Aber das kann ich jetzt wohl knicken!«

Frederike bereitete ihnen eine Tasse Tee zu.

»Wenn ich das richtig gesehen habe, hat Martha im Schrank noch einige sehr schöne Blusen und auch Kleider. Wir suchen gleich etwas Passendes für sie aus.«

Grete schob das Bügelbrett zur Seite, und sie setzten sich an den kleinen Küchentisch unter dem Fenster.

»Ich hoffe wirklich, dass der Bestatter bald kommt«, meinte Grete und nippte an ihrer Teetasse. »Wir sind jetzt schon fast zwei Stunden hier, und irgendwie macht mich das alles fertig.«

Frederike legte Grete tröstend eine Hand auf den Arm. »Das ist bestimmt schwer für dich! Komm, wir suchen etwas zum Anziehen aus, dann verabschiedest du dich von Martha und gehst nach Hause. Ich halte hier die Stellung.«

Die beiden gingen zurück ins Schlafzimmer. Während sich Grete zu Martha hinunterbeugte und ihr etwas zuflüsterte, wandte sich Frederike ab und ging zum Fenster. Was für ein Ausblick übers Tal! Endlich kam die Sonne raus. Ein einsamer Sonnenstrahl bohrte sich durch die Wolkendecke und fiel direkt aufs Bett. Irgendwie magisch. Vielleicht wurde Martha gerade vom Himmel abgeholt. Ins Licht gehen und so weiter. Ein tröstlicher Gedanke. Frederike betrachtete fasziniert das Sonnenlicht, das sich vom Bettende bis hin zu Marthas friedlichem Gesicht schob.

Plötzlich stutzte sie. Was war das? Sie ging entschlossen zum Bett und schob Grete beiseite, die prompt laut protestierte. »Hey, was soll das?«

Frederike beugte sich zu Marthas Gesicht hinunter. Was hatte sie da gerade gesehen? Marthas Augen waren geschlossen, doch nicht vollständig. Und als der Lichtstrahl schräg auf die Lidspalte traf, hatte Frederike vom Fenster aus etwas beobachtet, was sie nun gar nicht erwartet hatte: Petechien. Während Grete sie irritiert betrachtete, hob sie vorsichtig Marthas Augenlid. Ja, jetzt waren die Einblutungen in den Augen der Toten deutlich zu sehen.

»Ich fresse einen Besen, wenn das ein natürlicher Tod ist!«

Dieser Doktor Hoffmann! Wütend schob die ehemalige Kriminalkommissarin die widerstrebende Grete aus dem Schlafzimmer und schloss die Tür von außen ab. Während ihre Freundin noch zeterte, griff Frederike bereits zu ihrem Mobiltelefon und wählte die Nummer von Frank Junge. Sie war sich sicher, der Wittlicher Kriminalkommissar würde sich sehr für die Tote interessieren.

INTERLUDIUM

Er sah den Polizeiwagen vor ihrem Haus stehen. Verdammt! Er fluchte leise und ausgiebig vor sich hin. Wer hatte denn die Bullen gerufen?

Am Morgen hatte noch alles ganz normal gewirkt. Die Tote war am frühen Morgen entdeckt und der Notarzt gerufen worden. Zwei alte Frauen im Haus kümmerten sich anscheinend um alles. Der Arzt war eingetroffen und nach zehn Minuten wieder gefahren. Das sah gut aus!

Er selbst hatte das Ganze aus der Distanz beobachtet. Jetzt hätte eigentlich der Leichenwagen kommen sollen. Stattdessen kam die Polizei angerückt. Verdammt, verdammt, verdammt!

Er packte sein Fernglas weg. Anscheinend war er nicht gründlich genug gewesen. Er zermarterte sich das Hirn, wieso sein genialer Plan gescheitert war. Was hatte er übersehen?

Er musste nachdenken.

Montag, 2. November

Frederikes Finger trommelte auf den Küchentisch. Sie blickte nach draußen in den strömenden Regen. Hannelore, ihr schwarzer Kater, hatte sich schon in eine Ecke zurückgezogen und dort zusammengerollt. Ja, der Name war dämlich, aber als das kleine Katzenkind vor drei Jahren bei ihr einzog, hatte man ihr versichert, es handele sich um ein Mädchen. Erst bei der Impfung war der Irrtum aufgefallen, und da hatten sich beide schon an den Namen gewöhnt. Hannelore machte es richtig, der verschlief einfach dieses Dreckswetter. Doch Frederike fehlte die Bewegung im Garten. Sie seufzte. Gott, war ihr langweilig! Nachdem sie Frank Junge von dem Todesfall berichtet hatte, war sie nach Hause gegangen und hatte gehofft, dass sich Frank bei ihr melden würde. Doch seit drei Tagen hatte sie nichts mehr gehört. Ihre Nichte Angela ließ sich dieser Tage auch kaum blicken. Anscheinend war sie immer noch böse auf Frederike, weil diese ihr nicht die Wahrheit über ihren Ex-Freund Jochen erzählt hatte. Warum hatte Frederike nicht einfach weiterhin den Mund gehalten? Aber durch das gemeinsame Wellnesswochenende und die gute Flasche Wein hatte sich ihre Zunge gelockert, und sie hatte Angela gestanden, dass sie Jochen schon länger in Verdacht gehabt hatte, für die Todesfälle im Hillesheimer Altenheim Sankt Ägidius verantwortlich gewesen zu sein. Angela hatte sie stumm angesehen, war dann aufgestanden, hatte gepackt und das Hotel verlassen. Seit diesem Tag redeten sie nur das Nötigste miteinander. Frederike seufzte erneut. Wahrscheinlich hatte sie es verdient, aber ihr fehlte die junge Frau, die gemeinsamen Frühstücke und Spaziergänge. Und im Moment fehlte ihr auch der Garten. Doch bei dem Wetter war nichts zu machen, und selbst wenn, hätte sie nicht gewusst, was noch zu tun wäre. Alles war winterfest eingewickelt, die Bäume und Büsche bereits kahl und das Laub gefegt. Als sie sich dabei ertappte, Luft zu holen, um wieder zu seufzen, sprang sie auf. So ging das nicht weiter! Kurz entschlossen schnappte sie sich ihre Regenjacke und verließ das Haus. Hannelore hob verschlafen den Kopf, als sie so aus dem Zimmer stob, gähnte ausgiebig und rollte sich dann wieder zusammen. Menschen!

Frederike drehte eine Runde ums Dorf. Das brachte sie auf andere Gedanken. Der Regen mutierte langsam von langen Bindfäden hin zu einem feinen Niesel. Man konnte die Hügel der Hohen Acht und der Nürburg nur erahnen. Das Herbstbunt war verschwunden und hatte einem tristen Graubraun Platz gemacht. Wenn Frank sich wenigstens mal gemeldet hätte! Zier dich nicht und ruf ihn einfach an, schalt sie sich selbst, er weiß doch sowieso, dass du vor Neugier platzt.

Mit neuem Tatendrang machte sie sich auf den Weg nach Hause. Vor dem Haus traf sie ihren Nachbarn, der gerade die Mülltonnen an die Straße stellte.

»Ist es schon wieder so weit? Gut, dass du mich dran erinnerst!«

Max nickte ihr zu. »Ja, Restmüll und Papier werden morgen abgeholt.«

Frederike war nach Plaudern, Nieselregen hin oder her! »Was ist eigentlich mit deinen Enkeln? Die habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen!«

Max zog sich unters Vordach zurück, und Frederike rückte nach.

»Kai und Lena haben im Moment viel in der Schule zu tun. Sie proben für die Weihnachtsaufführung. Da ist der Opa abgemeldet.«

»Na, die werden schon wieder auftauchen«, tröstete Frederike ihn.

»Was ist denn mit Angela? Die kommt dich anscheinend auch nicht mehr so oft besuchen«, wunderte sich Max.

Frederike zuckte mit den Schultern. »Die lässt sich kaum bei mir sehen. Ich glaube, sie ist mir noch böse.«

Max schüttelte bedächtig den Kopf. »Das muss nicht sein. Im Moment ist im Krankenhaus schon einiges los. Es gibt gerade eine ziemliche Grippewelle im Kreis. Vielleicht hat sie einfach nur viel zu tun.«

Frederike erschrak. »Nicht, dass sie sich angesteckt hat. Ich muss sie anrufen!«

Sie wollte ins Haus eilen, doch Max hielt sie auf. »Jetzt mach dich nicht verrückt! Selbst wenn sie sich angesteckt hat, ist sie jung genug, um das gut zu überstehen. Und sollte sie wirklich krank sein, kannst du ihr doch nicht helfen. Sie würde nicht riskieren, dass du dich ansteckst.«

Dann wechselte er das Thema. »Was ist da eigentlich mit Martha Bethmann gelaufen? Ich habe gehört, die Polizei war im Haus. Du hast doch so gute Verbindungen.« Er grinste sie an.

Sie erzählte ihm von Grete und der toten Martha. Max war schon weitgehend im Bilde, der Dorffunk funktionierte anscheinend auch bei schlechtem Wetter.

»Die arme Grete, das war bestimmt ein Schock für sie!«

Frederike nickte bestätigend. »Wir haben am Wochenende versucht, sie aufzumuntern, aber es hat sie schwer getroffen.« Der Kirchenchor hatte wie üblich an Allerheiligen die Messe musikalisch untermalt. »Anscheinend hat sie jetzt Angst vor dem Einschlafen, denn sie befürchtet, nicht mehr aufzuwachen.«

»Mmh, das ist übel!«

»Ja, und dann war es auch nicht hilfreich, dass Eva mit einer Statistik kam, dass die meisten Todesfälle im Bett stattfinden. Jetzt kann der halbe Sopran nicht mehr schlafen!«

Beide grinsten sich an.

»Es gibt Schlimmeres, als im Bett zu sterben. Meine Schwägerin ist letztes Jahr bei der Hausarbeit umgefallen und war tot.«

Frederike nickte verständnissinnig. »Ja, das ist wirklich tragisch. Gerade ist der Boden frisch gewischt, und man hat gar nichts mehr davon.«

Max entgegnete trocken: »Es war doppelt tragisch, denn sie hat im Tod noch alles unter sich gelassen!«

»Du lieber Gott! Du bist ja noch schlimmer als ich!«, kicherte Frederike.

»Humor ist, wenn man trotzdem lacht! So, jetzt bin ich aber wirklich nass genug. Man sieht sich!« Max drehte sich um und ging ins Haus.

Sollte sie nun Angela anrufen oder nicht? Frederike hielt das Telefon in der Hand, konnte sich aber nicht durchringen, die Nummer zu wählen. Stattdessen rief sie Frank Junge an. Der junge Kriminalkommissar arbeitete bei der Wittlicher Mordkommission und hatte sicher neue Informationen über den Tod von Martha.

»Hallo Frederike, ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauert, bis du dich meldest!«, begrüßte Frank sie lachend. Aus dem Hintergrund hörte Frederike eine Stimme rufen: »Frank, du schuldest mir zehn Euro!«

»Habt ihr etwa gewettet?« Frederike wusste nicht recht, ob sie erbost oder amüsiert war.

»Ehrlich gesagt ja. Ich dachte, du rufst gestern schon an, Onkel Willi hat auf heute getippt, und Engel meinte, du wärst klug genug, dich rauszuhalten.«

»Na, dann grüße Willi schön, dem gönne ich das Geld!« Frederike hatte ein Faible für Franks Pflegevater, einen Kriminalpsychologen im Vorruhestand. »Was macht Willi bei euch?«

»Ach, er berät uns in einer Sache. Du kennst ja seine Vorliebe für Motivlagen und Psychopathologie.«

»Das freut mich!« Frederike wurde es ganz warm ums Herz. »Sag ihm, dass ich ihn die Tage mal besuche.«

»Das mache ich gerne. Aber du rufst sicher wegen Martha Bethmann an.«

»Stimmt! Habt ihr schon was Neues?«

»Nicht wirklich. Der Obduktionsbericht liegt mir noch nicht vor. Irgendwo hakte die EDV übers Wochenende. Marthas Haus ist versiegelt. Ich habe inzwischen länger mit Grete Neumann gesprochen und wollte die Tage auch mal bei dir vorbeikommen.«

»Na, ihr lasst euch aber ganz schön Zeit!«, wunderte sich Frederike.

»Hier ist im Moment viel los, und zwei Kollegen sind ausgefallen. Da ist einiges liegen geblieben. Außerdem ist Doktor Hoffmann der Meinung, das wäre alles Unsinn, die Todesursache klar, und von Fremdeinwirkung könne keine Rede sein. Anscheinend fühlt er sich in seiner Ehre gekränkt.«

Frederike hob die Augenbrauen. »Hätte er mal lieber seinen Job ordentlich gemacht. Aber egal! Wann kommst du?«

»Sobald ich die Obduktionsergebnisse habe. Ich nehme an, die interessieren dich brennend.«

»Gut erkannt. Na, dann melde dich, wenn es so weit ist!«

Frederike legte auf. Hier war erst mal nichts zu tun. Obwohl … sie könnte ja mal bei ihrer alten Freundin Klara in Hillesheim vorbeischauen. Die hatte lange im Dorf gelebt. Vielleicht hatte sie Martha gekannt und ein paar interessante Informationen für Frederike. Immerhin hatte sie auch beim letzten Fall der Altersheimmorde entscheidend mitgewirkt.

Unternehmungslustig machte sich Frederike auf den Weg.

Schon als sie sich der Einrichtung für Betreutes Wohnen näherte, hörte sie den ohrenbetäubenden Lärm. Sie musste mehrfach klingeln und an Klaras Wohnungstür klopfen, bevor diese sich öffnete. Klara strahlte, als sie Frederike sah. »Entschuldige, ich hatte die Hörgeräte nicht drin. Mensch, das ist ja schön, dass du kommst. Ich werde hier noch bekloppt!«

»Dann lass uns doch in die Cafeteria gehen.« Die Seniorenresidenz Sankt Ägidius verfügte über sehr schöne Gemeinschaftseinrichtungen.

Doch Klara winkte ab. »Nee, da war ich schon den ganzen Vormittag. Aber die Stühle sind nicht so bequem.« Sie fasste sich an ihr Hinterteil. »Ich glaube, ich habe schon Druckstellen. Aber hier ist es wirklich nicht auszuhalten. Der Krach macht mich ganz wuschig. Die renovieren die Wohnung von Käthe Gilles.« Klaras Nachbarin war vor einiger Zeit gestorben.

»Was hältst du denn von einem Ausflug in die Stadt, ins Café Sherlock? Da war ich schon ewig nicht mehr!«

»Das ist mal eine tolle Idee!« Klara setzte sich in ihren Sessel und zog ihre Schuhe an. »Schmandkuchen!« Sie leckte sich die Lippen. »Du bist wirklich die Freude meines Lebens!«

»Na, dann mach dich mal schön. Wir zwei gehen auf die Piste!«

Die beiden bequemen Sessel direkt am Eingang waren noch frei, und die Damen ließen sich schnaufend hineinfallen.

»Erzähl! Wie ist es dir ergangen?« Klara schaute sie gespannt an. »Gibt es wieder einen Todesfall oder warum kommst du?«

Frederike grinste. Klara kannte sie einfach zu gut. Sie berichtete ihr von Martha Bethmann.

»Martha ist tot? Die war doch noch jung!«

»Jung ist relativ. Immerhin schon siebzig! Aber danke, ich fühle mich geschmeichelt!« Frederike sah ihre zweiundsiebzig Lenze direkt etwas positiver. »Weißt du was über ihre Familie?«

»Es gibt eine Schwester, Ute. Die hat nach Frankfurt geheiratet. Ich glaube, die haben auch ein oder zwei Kinder. Martha selbst war auch verheiratet, aber der Mann ist bei einem Betriebsunfall ums Leben gekommen. Martha hat damals eine ordentliche Lebensversicherung kassiert.«

»Hat sie was gearbeitet?«

Klara zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht so genau. Sie hat früh geheiratet und ist dann zu ihrem Mann nach München gezogen. Ich habe sie aus den Augen verloren.«

»Hatte sie Kinder?«

»Nicht, dass ich wüsste. Ich habe dann mitbekommen, dass sie vor fast zwanzig Jahren das alte Bommes gekauft und umgebaut hat.«

»Bommes?« Frederikes Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Das ist der Hausname. Das Haus, in dem sie gestorben ist. Du hast also die Vermutung, dass man bei Marthas Tod nachgeholfen hat? Wieso?«

»Na ja, Einblutungen in die Bindehaut können schon verschiedene Ursachen haben, Erstickung ist nur eine davon. Aber mich hat auch gewundert, wie ruhig Martha dalag.«

»Wie meinst du das? Sie war doch tot? Sollte sie da noch tanzen?«, fragte Klara irritiert nach.

»Wenn du im Bett liegst, wie sieht da dein Bett aus? Und dein Nachthemd?«

»Heh, nicht so intim! Du bist mir ja ’ne Wilde!« Klara kicherte.

Frederike grinste. »Du willst mich falsch verstehen! Also, wenn ich im Bett schlafe, drehe ich mich nachts mehrmals um die eigene Achse. Das sieht man meinem Bett auch an. Die Schlafanzughose ist nicht selten an den Beinen hochgerutscht, das Bettzeug ziemlich verdreht.«

Klara nickte. »Ja, das kenne ich. Mein Nachthemd hängt mir manchmal in der Taille.«

»Bei Martha war das Bett fast glatt gezogen. Das Nachthemd lag perfekt gestylt. Im ersten Moment dachte ich sogar an Selbstmord, weil alles so arrangiert wirkte.«

»Na ja, vielleicht hatte sie ja wirklich einen extrem ruhigen Schlaf.« Klara bemühte sich um Objektivität.

»Außerdem hatte sie die Tagesdecke noch über den Füßen. Auf dem schweren Plumeau.«

»Boah, das wäre mir viel zu heiß.«

»Eben, mir auch! Zumal der Heizkörper auf drei stand.«

»Mensch, dir entgeht aber auch gar nichts!«

Frederike zuckte nur mit den Schultern. »Alte Gewohnheiten!«

»Na ja, aber vielleicht war sie wirklich so ein Frisselpeter«, wiegelte Klara ab.

Frederike funkelte sie an. »Ja, und dann bekommt sie wahrscheinlich vor Hitzestau einen Herzanfall und stirbt, ohne es zu merken oder auch nur einen Muskel zu regen! Nee, das passt doch nicht.«

»Aber spricht das denn nicht auch dagegen, dass jemand sie erstickt hat? Da hätte sie sich doch bestimmt gewehrt.«

»Nicht, wenn man sie vorher betäubt hätte«, sinnierte Frederike. »Ich bin mal gespannt, was die Obduktion ergibt.«

»Du hast doch so einen guten Riecher! Was sagt dir dein Bauchgefühl?«

»Im Moment sagt es mir nur, dass an der Sache was faul ist. Aber ich denke, wir müssen die Obduktionsergebnisse abwarten. Todesursache? Todeszeitpunkt? War sie betäubt? Erst wenn wir diese Informationen haben, macht es Sinn, weiter darüber nachzudenken.«

Endlich kam die Bedienung mit den beiden Kuchentellern und zwei Tassen Cappuccino.

»Wunderbar!«, seufzte Klara, »was zählen schon Mord und Totschlag, wenn es was zu schwelgen gibt!« Beide machten sich über den Kuchen her.

Nach dem Kaffeekränzchen fuhr Frederike ihre alte Freundin wieder zurück zu ihrer Wohnung. Klara wirkte ganz aufgekratzt. »Ach, das hat mal wieder gutgetan. Das sollten wir öfter machen!«

Frederike hob erstaunt die Brauen. »Du hörst dich an, als wärst du seit Monaten nicht mehr unter die Leute gekommen. Was ist los? Triffst du dich nicht mehr mit deiner Clique?«

Klara war im Altersheim Sankt Ägidius gut vernetzt und hatte einen festen Freundeskreis, der aus Horst, einem pensionierten Steuerberater, und den Zwillingsschwestern Helga und Ursula bestand. Helga hatte früher als Sekretärin gearbeitet und Ursula als Grundschullehrerin. Beide waren unverheiratet und wohnten seit ihrer Kindheit zusammen.

»Ach, Ursula hat sich eine Erkältung eingefangen und hütet das Bett, Helga pflegt sie, und Horst ist ein paar Tage zu einem alten Freund gefahren. Im Moment ist echt nichts los«, schnaubte Klara verärgert.

Frederike zögerte kurz. Auch sie hatte den Nachmittag mit ihrer alten Freundin genossen. »Sag mal, was hältst du davon, wenn du einfach ein paar Tage bei mir Urlaub machst? Mir ist im Moment auch mopsig, im Garten ist nichts zu tun, und Angela hält sich fern. Du könntest dem Krach ausweichen und mir die Tage versüßen?«

Klara feixte. »Na, lassen dich deine alten Kollegen nicht mitspielen? Du bist doch bloß gekränkt, dass sich Frank noch nicht mit der Akte unterm Arm bei dir gemeldet hat.«

»Stimmt schon!« Frederike grinste. »Aber im Ernst, komm doch ein paar Tage zu mir. Das Gästezimmer steht leer, und wir können uns eine nette Zeit machen.«

Klara überlegte nicht lange. »Ich freu mich! Hol mich morgen Nachmittag ab. Bis dahin habe ich hier alles geregelt.«

Sie hangelte sich umständlich aus Frederikes Mini. »Komfort geht anders! Kauf dir mal ein größeres Auto!«

Frederike war prompt beleidigt. Auf ihren Mini ließ sie nichts kommen. »Geh du mal lieber öfter zum Turnen. Bewegst dich wie ’ne alte Frau!«

Die zweiundneunzigjährige Klara ignorierte die warmen Worte und warf die Tür ins Schloss. Frederike lächelte und setzte zurück. Das würde eine nette Zeit mit Klara werden! Doch schon, als sich die Worte in ihrem Gehirn formten, stieg leichte Panik in ihr auf. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Und wie würde Kater Hannelore reagieren, wenn er das Gästebett, das er seit ein paar Wochen in Beschlag genommen hatte, für eine Fremde räumen sollte? Sie seufzte.

Vor ihrem Haus stand der Wagen von Frank Junge. Er saß hinter dem Lenkrad und wollte gerade losfahren, als er ihre Ankunft bemerkte.

»Fein, dann treffe ich dich ja doch an. Ich war gerade bei Grete Neumann und dachte, ich schaue mal vorbei.« Er klopfte auf seine Tasche. »Es gibt Neuigkeiten!«

Hannelore strich ihm um die Beine, als er das Haus betrat. Frank bückte sich und verpasste dem Kater, der sich sofort vor ihm auf den Rücken warf, ein paar Streicheleinheiten.

Frederike warf den beiden einen Blick zu. »Ich hole dir ein Sitzkissen, das kann jetzt länger dauern!«

Doch Frank erhob sich grinsend. »Kannst du mir nicht lieber einen Kaffee anbieten?«

Hannelore verzog sich leise grummelnd unter den Küchentisch.

»Was hat die Obduktion ergeben?« Frederike fackelte nicht lange.

Frank beäugte gierig den Filter, durch den gerade der Kaffee lief und verführerisch duftete. »Kann ich nicht erst mal Kaffee haben?«

Frederike schubste ihn auf einen Küchenstuhl. »Nein, den gibt es hinterher zur Belohnung. Sprich!«

Frank seufzte resigniert und packte die Akte auf den Tisch. »Du weißt schon, dass das hier alles streng vertraulich ist und dich eigentlich …«

»Geschenkt!«, unterbrach ihn Frederike. »Weiß ich. Leg los!«

»Hier ist der Obduktionsbericht. Du hattest recht. Es war kein natürlicher Tod. Martha Bethmann wurde erdrosselt.«

»Ach, das ist interessant. Ich habe gar keine Strangmarken gesehen.«

»Na ja, wenigstens du hast dir die Leiche angeschaut. Nein, es gab auch keine Strangmarken. Aber bei der Obduktion hat man festgestellt, dass das Zungenbein gebrochen war. Dazu die Petechien in den Augen. Das deutet auf Ersticken hin.«

»Wie lange war sie schon tot, als wir sie fanden?«

»Das ist nicht ganz klar. Da die Leiche dick eingepackt und die Heizung eingeschaltet war, ist es schwierig, den Todeszeitpunkt genau zu schätzen.«

Frederike studierte den Bericht.

»Wir sollten uns bei dir bedanken. Wenn du nicht so aufmerksam gewesen wärst, wäre Martha Bethmann ohne viel Federlesens begraben worden.«

»Ja, Doktor Hoffmann hat sich wirklich nicht mit Ruhm bekleckert. Ich kapiere das nicht. Er hat sich die Leiche nicht mal genau angeschaut.«

Frank Junge seufzte. »Du weißt doch, wie das ist. Gerade wenn der behandelnde Arzt die Leichenschau macht, weiß der viel zu viel über seine Patientin, um noch ein objektives Urteil fällen zu können. Der hat die ganze Krankenakte im Kopf. Da gibt es keine offenen Fragen.«

»Aber trotzdem, ich erwarte da mehr Sorgfalt.«

»Du bist aus der Stadt sicher anderes gewöhnt.« Frank Junge wusste, dass Frederike viele Jahre in Düsseldorf gewohnt und gearbeitet hatte, bevor sie nach ihrer Pensionierung wieder in die Eifel zurückkehrte. »Bei euch waren wesentlich mehr Mediziner vor Ort. Hier auf dem Land macht das der Landarzt, der die Toten meist schon ein Leben lang kennt und zudem die Praxis voller Leute sitzen hat. Letztens sagte einer zu mir: Ich kümmere mich lieber um die Lebenden als um die Toten!«

Frederike nickte nachdenklich. »Ja, das kann ich schon verstehen. Aber ich möchte nicht wissen, wie viele Todesfälle als natürlich deklariert werden, obwohl da jemand nachgeholfen hat!«

Junge war informiert. »Viele! Ich las kürzlich, dass nur zwei Prozent aller Todesfälle zu einer Leichenöffnung führen. Achtundneunzig Prozent werden einfach als natürlich abgehakt. Und wenn die Leichen nicht verbrannt werden, schaut keiner genauer hin. Man geht davon aus, dass rund zweitausend Tötungsdelikte jedes Jahr nicht als solche erkannt werden.«

»Das heißt, jede zweite Tötung in Deutschland bleibt unentdeckt. Eine ganz schön hohe Dunkelziffer!« Frederike war beeindruckt. »Aber ich habe damit auch meine Erfahrungen machen dürfen. Bei uns gab es mal den Fall, dass der Leichenbestatter beim Umkleiden eines Toten elf Stichwunden entdeckt hat. Auf dem Totenschein war ein Schlaganfall vermerkt.«

»In meiner Ausbildung wurde auch ein drastischer Fall beschrieben – war allerdings kein Tötungsdelikt. Da wurde eine alte Frau als tot deklariert und in die Pathologie gebracht. Dort lag sie zwei Tage bei zehn Grad Celsius nackt auf einem Edelstahltisch, nur mit einem Tuch bedeckt. Als jemand im Raum etwas besorgen wollte, fielen ihm Bewegungen unter dem Laken auf. Die Frau wurde direkt auf Intensiv verlegt. Man konnte sie wohl noch retten.«

Frederike schüttelte sich. »Das ist ja gruselig. Stell dir das mal illustriert vor!«

»Nein, danke, lieber nicht. Aber du siehst, wie schwierig das ist. Wir Mordermittler haben es eigentlich gut; wenn wir zu den Leichen gerufen werden, gibt es meist Blut, Verletzungen, Stichwunden, Strangmarken et cetera et cetera.«

»Stimmt, zu den natürlichen …«, Frederike malte mit ihren Fingern Gänsefüßchen in die Luft, »… Todesfällen werden wir gar nicht erst gerufen. Da ermittelt ja keiner.«

»Und wenn ich dir jetzt noch erzähle, dass dort, wo kein Arzt vor Ort ist, auch ein Laie die Leichenschau vornehmen darf …«

»Jetzt hör aber auf!«

Doch Frank zuckte nur mit den Schultern. »Wenn das mit dem Ärztemangel auf dem Land so weitergeht, kommen wir hier vielleicht auch irgendwann mal dahin. Aber, wie auch immer, Martha kann sich bei dir bedanken. Wenn du nicht so aufmerksam gewesen wärst, wäre hier jemand ungestraft mit einem Mord davongekommen.«

»Na ja, noch haben wir den Mörder nicht.« Frederike schenkte den Kaffee aus. »Gibt es denn schon Hinweise?«

»Ich habe mal rumgefragt. Anscheinend hat niemand etwas Ungewöhnliches beobachtet. Auch deine Freundin Grete nicht. Wir werten jetzt noch die Spuren aus, die wir im Haus gefunden haben.« Frank blickte auf die Uhr und trank dann seinen Kaffee mit großen Schlucken. »Hast du Angela die letzten Tage gesehen?« Er schaute Frederike hoffnungsvoll an.

»Nein, sie macht sich rar. Anscheinend ist sie mir noch böse.«

»Mir geht sie auch aus dem Weg. Ich war einmal mit ihr im Kino, aber seitdem … Sie antwortet nicht auf meine Rückrufbitten und WhatsApp-Nachrichten. Vielleicht habe ich was Falsches gesagt.« Er fuhr sich verlegen mit der Hand durch die Haare.

»Vielleicht ist sie einfach noch nicht über Jochen hinweg«, tröstete Frederike ihn. »Lass ihr Zeit. Das tue ich auch!«

Frank nickte stumm und ging.

Dienstag, 3. November

Was wollen Sie denn hier?« Frederike schaute verwirrt auf ihren frühen Gast. Vor ihrer Tür stand Kriminalhauptkommissar Engel. Nachdem er sie bei den Ermittlungen im Sankt Ägidius keineswegs unterstützt, sondern ihr im Gegenteil immer wieder Stöcke zwischen die Beine geworfen hatte, war er ihr bei der letzten Begegnung unerwartet offen und aufgeschlossen begegnet. Sein Verhalten hatte ihr Rätsel aufgegeben, und sie traute dem Braten nicht.

Während ihr Gehirn noch ratterte, schob sich Kommissar Engel einfach an ihr vorbei und betrat den Flur.

Frederike seufzte resigniert und folgte ihm ins Wohnzimmer. »Sie wissen ja, wo es langgeht.«

»Ich darf mich doch setzen?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, sank Hauptkommissar Engel in den gemütlichen Ledersessel. Und kaum saß er da, kam auch schon Kater Hannelore angeschwänzelt und strich um seine Beine.

Ich verstehe wirklich nicht, was dieses Tier an diesem Menschen findet, dachte Frederike verärgert. Nun gut! Sie nahm ebenfalls Platz.

»Was kann ich für Sie tun?«

Hauptkommissar Engel zögerte kurz, dann fasste er sich ein Herz. »Ich wollte Sie um einen Gefallen bitten.«

Frederike wurde neugierig. Sie schwieg.

»Ich wurde von einem Freund um Unterstützung gebeten. Aber ich weiß nicht recht, wie ich ihm helfen kann.«

Frederike musterte ihn und wartete.

»Um ganz vorne anzufangen: Eine Nachbarin von mir ist kürzlich plötzlich verstorben. Die Frau war Mitte sechzig und wirkte eigentlich noch ganz fit, doch der Arzt hat einen Herzinfarkt festgestellt. Allerdings ist ihr Sohn, mit dem ich seit ein paar Jahren im Schachclub zusammen spiele, davon überzeugt, dass seine Mutter kerngesund war. Er ist der Meinung, es würde mehr hinter ihrem Tod stecken.«

»Aha! Und was soll ich da jetzt tun?«