Lass die Vergangenheit ruhen - Andrea Revers - E-Book

Lass die Vergangenheit ruhen E-Book

Andrea Revers

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Beschreibung

Die Eifeler Miss Marple und ein jahrzehntealter Fall Ein alter Kollege klopft eines Nachts an die Haustür der pensionierten Kriminalkommissarin Frederike Suttner, um sie zu warnen: Der Prostituiertenmörder, den sie vor dreißig Jahren ins Gefängnis gebracht hat, ist wieder auf freiem Fuß. Er hat Rache geschworen, und er weiß, wo sie wohnt. Der Fall ruft bei Frederike bittere Erinnerungen wach, denn bei Thomas Wilhahns Verhaftung hatte sie dafür gesorgt, dass er übel zusammengeschlagen wurde. Das hat zwar ihre Karriere beschädigt, doch sie hatte damals ihre Gründe. Tatsächlich taucht Wilhahn schon bald in der Eifel auf, und plötzlich ist Frederikes Nichte Angela spurlos verschwunden. Selbstverständlich hat Frederike sofort ihren alten Widersacher im Verdacht, doch so einfach ist die Sache nicht. Wilhahn versteht es perfekt, Menschen zu manipulieren und zu instrumentalisieren. Es dauert eine Weile, bis Frederike erkennt: Er nimmt Rache, doch er wird sich nicht die Finger schmutzig machen.

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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Schlaf schön

Komm gut heim

Hab keine Furcht

Andrea Revers wurde 1961 in Brühl/Rheinland geboren. Sie ist Diplom-Psychologin, studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaften und machte eine Ausbildung zur Journalistin und Marketing-Beraterin. Sie lebt in der Eifel und widmet sich nach langjähriger Tätigkeit als Management-Trainerin und Coach nun voll und ganz dem Schreiben. Sie verfasste Bücher, Fachartikel und zahlreiche Kurzkrimis. 2011 wurde sie für den »Deutschen Kurzkrimipreis« nominiert. Ihre Romanreihe um die Ex-Kommissarin Frederike Suttner hat der Palette der Eifelkrimi-Literatur eine neue Farbe hinzugefügt und umfasst nun bereits vier Bände.

www.andrearevers.de

Andrea Revers

Lass die Vergangenheit ruhen

Eifelkrimi

Originalausgabe

© 2023 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von © kichigin19 - stock.adobe.com

Lektorat: Nicola Härms, Rheinbach

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-662-2

E-Book-ISBN 978-3-95441-670-7

INHALT

PROLOG

14. März

15. März

16. März

17. März

18. März: mitten in der Nacht

18. März: früher Morgen

18. März: Mittag

18. März: Abend

19. März: Mitternacht

19. März: am Morgen

20. März

20. März, zur Mittagszeit

20. März, Nachmittag

21. März

22. März

22. März, später Nachmittag

EPILOG

Danke

PROLOG

Er saß mit geschlossenen Augen auf seinem Bett und meditierte. Seine Atmung war langsam und regelmäßig. In Gedanken saß er am Strand, nahm das Rauschen des Meeres wahr, Wellen, die auf den Strand auf- und wieder zurückliefen. Diese Übung hatte in den vergangenen Jahren geholfen, die Ruhe zu bewahren und die Zeit zu ertragen. Auch heute entwickelte sie ihre Kraft. Ein und aus … ein und aus …

Die Augen öffneten sich – kalte, blaue Augen – und fixierten die gegenüberliegende Wand. Er kannte diese Wand, jeden einzelnen Zentimeter, jeden Kratzer, jede Verunreinigung, jedes Graffiti, gleichermaßen vertraut wie verhasst. Ja, er hasste diese Zelle, hasste sie inbrünstig. Wie viele Minuten und Stunden hatte er damit verbracht, die Wände und die Decke anzustarren. Das Einzige, was ihn in den Jahren aufrecht gehalten hatte, war der Plan.

Wie oft hatte er sich ausgemalt, Rache zu üben, doch war er hier eingesperrt bis zum Sankt Nimmerleinstag. Aber er hatte nie zugelassen, dass ihn die Resignation überkam. Er war kein Opfer, er nicht. Und so hatte im Laufe der Jahre sein Plan Gestalt angenommen und eigentlich Unmögliches möglich gemacht. Bald war es so weit.

Die Tür zur Vergangenheit würde geöffnet werden. Sie hatte ihm die Gegenwart gestohlen, er würde ihr die Zukunft rauben.

14. März

Frederike

Bumm, bumm, bumm! Jemand hämmerte wie wild an die Haustür. Frederike war verwirrt. Sie hatte sich gerade bettfein gemacht und kam aus dem Badezimmer. Ein Blick auf die Uhr – es ging auf Mitternacht zu. Wer wollte um diese Uhrzeit noch etwas von ihr? Und warum, zum Teufel, klingelte derjenige nicht einfach?

Entschlossen schnappte sie sich den Besen, der im Badezimmer hinter der Tür stand, stapfte zur Haustür und riss sie auf. »Was zum Teufel …« Sie erstarrte kurz, dann verzog sich ihr Mund zu einem breiten Lächeln.

»Klaus Wieland! Mit Ihnen hätte ich ja nun überhaupt nicht gerechnet.«

Der stämmige Mann blickte sie erleichtert an.

»Gott sei Dank! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, als niemand auf das Klingeln reagierte.« Er schob sich an ihr vorbei und ging rasch ins Haus. Dabei beäugte er misstrauisch den Besen. »Sind Sie am Fegen oder wollten Sie noch weg?« Frederike schaute ihn erbost an. »Sind Sie etwa gekommen, um mich zu beleidigen? Ich kann Ihnen gerne mal demonstrieren, was so ein Besen alles kann.«

Doch Wieland grinste nur schief. »Los, schließen Sie die Tür.« Er ging in Richtung Küche.

»Was ist denn bloß los?« Frederike blickte verwirrt hinter ihm her, schloss dann aber die Tür und folgte ihm. Wenn ihr alter Kollege von der Düsseldorfer Mordkommission so forsch unterwegs war, hatte das sicher seine Gründe.

»Ich habe bestimmt fünfmal geklingelt. Zuerst dachte ich, Sie würden schon schlafen, aber ich sah noch das Licht. Da habe ich angefangen, mir richtig Sorgen zu machen. Wenn Sie die Tür jetzt nicht aufgemacht hätten, wäre ich reingegangen.«

Reingegangen! Frederike wusste, was damit gemeint war. Klaus Wieland war einer von den Handfesten. Ein Tritt, und das Schloss wäre nur so rausgeflogen. Zumindest war das früher so gewesen. Sie betrachtete ihren alten Kollegen. Na ja, vielleicht hätte er heute doch einige Tritte mehr gebraucht. Die Muskelpakete waren inzwischen einigen Fettpölsterchen gewichen.

»Ich habe mir gerade die Zähne geputzt. Bei dem Krach der elektrischen Zahnbürste höre ich nichts. Los, kommen Sie in die Küche. Da ist es gemütlicher.« Sie schob ihn entschlossen vor sich her. »Ich mache uns einen Kaffee!«

»Gerne!«, schnaufte Wieland und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er griff in die Manteltasche, holte eine in ein Tuch gewickelte Waffe hervor und legte sie auf den großen Eichenküchentisch. Frederike zog die Augenbrauen hoch. Was sollte das jetzt? Doch sie beschloss, sich zunächst einmal eine Koffeindröhnung zu gönnen, bevor sie nachfragte. Irgendwie war sie mental schon im Halbschlaf. Wo zum Teufel hatte sie die Filtertüten hingetan?

Als der Kaffee fertig war, schob sie Wieland eine volle Tasse hin und setzte sich ihm gegenüber. »Heraus mit der Sprache! Warum überfallen Sie mich zu später Stunde und bringen eine Waffe in mein Haus?«

Wieland blickte seine alte Chefin besorgt an. »Weil Sie in Gefahr sind!«

Zwei Tassen später war Frederike hellwach und unternehmungslustig. Sie griff nach der Pistole, packte sie aus dem Tuch und zerlegte sie fachmännisch.

»Sie glauben also, dass Wilhahn es auf mich abgesehen hat?«

Die seit nunmehr sieben Jahren pensionierte Kriminalkommissarin konnte sich noch gut an Thomas Wilhahn erinnern. Ein echter Womanizer, gut aussehend und eloquent, dabei ein liebender Familienvater wie aus dem Bilderbuch, gut situiert, Einfamilienhaus, Frau und zwei hübsche Kinder. Doch das war nur Fassade. Denn Wilhahn hatte die wirklich üble Angewohnheit, Prostituierte zu vergewaltigen und anschließend zu erwürgen. Das war jetzt mehr als dreißig Jahre her. Frederike war zu jener Zeit noch im Dienst und hatte den Fall als Kriminalhauptkommissarin geleitet. Klaus Wieland war gerade frisch von der Polizeischule gekommen. Die Morde gingen groß durch die Presse. Nach der dritten Leiche hatte es Vorwürfe gehagelt, dass sich die Kripo nicht genügend kümmere. Nach der fünften Leiche stand der Stadtdirektor persönlich in ihrem Büro. Dabei gab es so gut wie keine Anhaltspunkte. Man hatte das Opferprofil und wusste, dass zwei der Opfer in der Nähe des Unterbacher Sees auf dem Straßenstrich gearbeitet hatten, aber das war es auch schon. In der Szene redete man nicht gerne mit der Polizei. Frederike hatte beschlossen, mit einem Köder zu arbeiten. Sie hoffte, den Täter auf frischer Tat zu ertappen. Und weil Klaus Wieland und die anderen Kollegen so gar nicht dem Opferprofil entsprachen, war sie selbst aktiv geworden. Netzstrümpfe, Stöckelschuhe, ein roter Ledermini mit einem passenden Bustier, das sie vorsichtshalber noch ein wenig ausgestopft hatte, die damals braunen Haare verwegen gestylt und stark geschminkt – so ausstaffiert, hätte die eigene Mutter sie nicht erkannt. Wieland hatte bei ihrem Anblick gepfiffen, was ihm eine Kopfnuss eingebracht hatte.

»Schade, dass wir damals kein Foto gemacht haben.« Anscheinend konnte Wieland immer noch ihre Gedanken lesen. Sie grinste.

»Vor allen Dingen nach der Schlägerei!«

Ihr Einsatz hatte nur vier Tage gedauert beziehungsweise vier lange Nächte, in denen sie sich von zahlreichen Freiern anbaggern ließ. Es war nicht immer leicht gewesen, die Einzelnen davon zu überzeugen, dass heute kein guter Tag für sie war. Manch einer hatte ihre Polizeimarke für eine Fälschung gehalten und das Ganze für ein sexy Rollenspiel. Irrtum! Doch dann war es plötzlich ernst geworden. Ein Mann war auf den Parkplatz gefahren, hatte sie kurz gemustert und zu sich gewunken. Doch statt mit ihr zu verhandeln, hatte er versucht, ihr ein mit Chloroform getränktes Tuch aufs Gesicht zu halten. Doch nicht mit Frederike! Sie war eine hervorragende Zweikämpferin und hatte Thomas Wilhahn fachgerecht zerlegt. So sehr, dass er anschließend zwei Wochen im Krankenhaus lag und sein gutes Aussehen deutlich gelitten hatte. Frederike hatte das ein Disziplinarverfahren eingebrockt wegen übermäßiger Gewaltanwendung, doch man war so froh gewesen, den Serienmörder gefasst zu haben, dass sie glimpflich davonkam. Oder vielleicht doch nicht ganz so glimpflich, denn für den weiteren Verlauf ihrer Karriere war das ein deutlicher Dämpfer gewesen. Sie wurde bei Beförderungsrunden übergangen, und jemand steckte ihr, dass man an ihrer emotionalen Stabilität zweifelte und sie nicht geeignet für weitere Führungspositionen hielt. Sie hatte damals überlegt, ob sie kämpfen sollte, letztendlich war ihr aber die Aussicht auf einen Leitungsposten am Schreibtisch mit den ganzen politischen Spielchen nicht wirklich erstrebenswert erschienen, und so hatte sie es gelassen.

»Er ist draußen und hat noch eine Rechnung mit Ihnen offen.« Klaus Wieland unterbrach Frederikes Gedankengänge.

Sie schüttelte die Erinnerungen ab und blickte ihn erstaunt an. »Aber wieso? Er hatte doch lebenslänglich. Und wurde nicht sogar die besondere Schwere der Schuld festgestellt?«

»Stimmt. Aber er hat einen guten Anwalt. Es gab letzte Woche wieder eine Bewährungsanhörung. Er ist ein Vorzeigehäftling, hat im Knast nach seiner Therapie sogar noch eine Ausbildung zum Sozialarbeiter gemacht, pflegt regelmäßigen Kontakt mit seinen Kindern und Enkeln – ja, selbst seine Frau hat sich damals nicht von ihm scheiden lassen und will ihn wieder aufnehmen. Eine Resozialisation wie aus dem Bilderbuch.«

»Na ja, vielleicht ist er ja wirklich resozialisiert«, äußerte Frederike hoffnungsvoll. Irgendwie hatte sie gerade überhaupt keine Lust auf Mörder, die es auf sie abgesehen hatten.

»Dachte ich zuerst auch. Aber heute früh rief mich der Anwalt eines früheren Zellengenossen an, den ich persönlich gut kenne. Er wollte wohl für seinen Klienten etwas rausschlagen. Wilhahn hat seinem Zellenkumpel akribisch seinen Plan dargelegt, wie er sich an dieser Kriminalkommissarin rächen will, die ihn damals reingelegt hat.«

Frederike winkte ab. »Das ist doch bloß Gequatsche. Warum sollte er seine Freiheit gleich wieder aufs Spiel setzen? Ich bin in Rente.«

»Das war auch mein Gedanke.«

»Und wieso sind Sie jetzt hier?«

»Weil Thomas Wilhahn weiß, wo Sie wohnen!«

Frederike hatte sich einen Whisky geholt. Klaus Wieland hatte abgewunken. »Würde ich gerne, aber ich habe noch einen langen Heimweg.«

»Wie zum Teufel ist dieser Typ an meine Adresse gekommen?« Frederike konnte sich gar nicht beruhigen. Durch diese Information war die Bedrohung plötzlich real geworden. Sie wohnte noch nicht so lange hier in der Eifel. Erst nach ihrer Pensionierung hatte sie beschlossen, das alte bäuerliche Elternhaus wieder aufzumöbeln und dort ihren Ruhestand zu verbringen. Wenn Wilhahn sich die Mühe gemacht hatte, sie während der letzten dreißig Jahre weiter zu beobachten, und selbst nach ihrer Pensionierung nicht damit aufgehört hatte – dann war die Sache ernst.

»Ich lasse Ihnen die Waffe da. Bitte schließen Sie sie ein. Sind Sie noch aktiv?«

Frederike betrachtete die SIG Sauer. »Nein, eigentlich nicht. Aber ich werde mein Schießtraining wiederaufnehmen. Irgendwo gibt es sicher in der Nähe einen Schützenverein.«

Kurz danach verabschiedete sich Klaus Wieland, aber nicht, ohne darauf zu bestehen, dass sie sich täglich bei ihm meldete. Irgendwie süß, fand Frederike. Sie ging zu Bett, konnte aber nicht verhindern, dass Thomas Wilhahn sie in ihren Träumen besuchte. Immer wieder schreckte sie schweißgebadet auf, und sobald sie die Augen schloss, waren die Bilder wieder da. Die toten Frauen, sein lächelndes Gesicht mit diesen kalten Augen, die Angst, die sie bei seinem Angriff verspürt hatte, das Blut. Wieso war dieser Typ wieder auf freiem Fuß? Wieso war sein geplanter Rachefeldzug gegen sie kein Grund gewesen, ihn in Haft zu behalten? Manchmal konnte man am Rechtswesen wirklich verzweifeln. Sie hatte die Waffe in ihrem Nachttisch versteckt. Gleich morgen würde sie als Erstes nach einem Schießplatz in der Nähe googeln. Mit diesem Gedanken fiel sie endlich in einen traumlosen Schlaf.

15. März

Am nächsten Morgen drehte Frederike ihre morgendliche Runde ums Dorf, um auf dem Schützenplatz ihre Tai-Chi-Übungen zu absolvieren, doch sie war in Gedanken mit Thomas Wilhahn beschäftigt. Hatte er wirklich den Plan, sich an ihr zu rächen? War er schon in der Eifel? Beobachtete er sie vielleicht sogar gerade? Möglicherweise war es keine gute Idee, so früh am Morgen schon unterwegs zu sein. Es war nicht viel los auf den Straßen, war es eigentlich nie im Dorf, aber selbst für die morgendlichen Hunderunden war es noch zu früh. Sie fröstelte. Als ein leichtes Rascheln im Gebüsch hinter ihr ertönte, fuhr sie erschrocken herum und spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Definitiv nicht die richtige Stimmung für Tai Chi! Seufzend machte sie sich auf den Rückweg. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie beobachtet wurde, und beschleunigte ihren Schritt. Meine Nerven sind auch keine Drahtseile mehr, dachte sie frustriert. Eher Seidenfädchen! Vielleicht sollte sie sich irgendetwas mit Baldrian aus der Apotheke besorgen.

Zu Hause angekommen, stand ihre Nichte Angela in der Tür, bepackt mit einer Brötchentüte und frischem Aufschnitt vom Nohner Metzger. Frederike schaute sie erstaunt an.

»Du heute hier? Es ist doch gar nicht Sonntag!« Normalerweise hatten die beiden die Angewohnheit, sonntags gemeinsam zu frühstücken und die Woche Revue passieren zu lassen, wenn Angelas Dienst es zuließ. Sie arbeitete inzwischen als Krankenpflegerin im Dauner Krankenhaus.

»Ich kann Sonntag nicht. Gerade hat man mich angerufen, ob ich meinen Dienst tauschen kann. Eine Kollegin hat sich den Fuß verstaucht und muss ein paar Tage aussetzen. Da dachte ich, ich gucke mal bei dir vorbei, ob du heute Zeit und Muße hast für ein gemeinsames Frühstück. Wenn es nicht passt, nehme ich die Sachen einfach mit in die Klinik.«

»Nein, das ist prima. Komm rein. Da kannst du mich gleich auf andere Gedanken bringen.«

»Was ist los?« Angela blickte Frederike, die sich bereits in Richtung Küche aufgemacht hatte, erstaunt hinterher. »Ist was passiert? Du siehst angespannt aus.«

»Kann man so sagen!« Frederike machte sich daran, Wasser aufzusetzen. Angela beäugte erstaunt die beiden leeren Tassen auf dem Küchentisch.

»Hattest du schon Kaffee heute Morgen?«

»Nein, in dieser Nacht. Ich hatte unerwarteten Besuch.«

»Erzähl!«

»Hol schon mal Tassen aus dem Schrank und deck den Tisch. Ich bin gleich fertig.«

Endlich saß Frederike Angela gegenüber, die sie schon ungeduldig betrachtete.

»Jetzt leg los. Wer besucht dich des Nachts und bringt dich so aus dem Gleichgewicht?«

»Sieht man mir das an?« Frederike strich sich verlegen die Haare aus dem Gesicht.

»Hör auf, an deinen Haaren zu zubbeln«, rügte Angela sie. »Das machst du immer, wenn du dich massiv unwohl fühlst. Jetzt siehst du aus wie ein Wischmopp.«

Frederike blickte sie erbost an. »Hallo? Mal ein bisschen Respekt! Ich habe die Haare schön!«

»Nicht wirklich! Aber jetzt mal Klartext – was ist los?«

»Klaus Wieland war gestern hier.«

»Der Name sagt mir jetzt nichts – oh, warte, ist das nicht ein alter Kollege von dir aus deinen Düsseldorfer Zeiten?«

Frederike nickte nur.

»Was wollte der denn?«

»Anscheinend hat es jemand auf mich abgesehen. Wieland wollte mich warnen.«

»Warum locht er denn den Betreffenden nicht einfach ein?« Angela biss angriffslustig in ihr Brötchen.

»Gar nicht so einfach! Der Betreffende wurde von mir vor rund dreißig Jahren eingebuchtet – lebenslänglich. Aber jetzt wurde die Strafe auf Bewährung ausgesetzt, und er darf raus.«

»Lebenslänglich sogar? Und wieso ist er dann draußen?«

»Weil lebenslänglich halt nicht lebenslang heißt, sondern nur ziemlich lange. Manchmal sogar nur fünfzehn Jahre. Danach gibt es eine Anhörung. Bei ihm wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Aber anscheinend hat man den Eindruck gewonnen, dass er inzwischen vollständig resozialisiert ist.«

»Ein Eindruck, den dein alter Kollege anscheinend nicht teilt?«

»Nein, tut er nicht.« Frederike verschwieg Angela, dass Wieland es sogar für nötig befunden hatte, ihr eine Waffe vorbeizubringen. Ihre Nichte machte sich auch so schon genug Sorgen.

»Nun, ich sage auf jeden Fall Frank Bescheid.« Angela war mit Frank Junge, einem Kriminalkommissar von der Wittlicher Polizei, liiert.

»Wie geht es Frank eigentlich?«, wollte Frederike angelegentlich wissen.

»Tu nicht so! Ich weiß genau, dass du nur wissen willst, ob er schon bei mir eingezogen ist.« Angela grinste sie an und schob ihr den Brötchenkorb hin. »Hier! Iss noch was.«

Frederike grinste zurück und griff sich ein Croissant. »Stimmt. Und? Ist er oder ist er nicht?«

»Nein, ist er nicht. Du kannst es anscheinend gar nicht abwarten, mich unter die Haube zu bringen.«

»Was für eine charmante Redewendung!« Frederike beließ es dabei und widmete sich gemütlich der Lektüre der Tageszeitung. Doch so schnell ließ Angela nicht locker.

»Und? Macht dir das jetzt Angst? Was wirst du tun?«

»Was ich eigentlich immer tue: Ich halte die Augen offen und passe auf mich auf.«

»Na, dann sollte ja nichts schiefgehen!«, entgegnete Angela vorsichtig optimistisch.

Frederike lächelte sie an, doch tief in ihrem Inneren teilte sie Angelas Zuversicht nicht. Wenn Klaus Wieland sich extra aus Düsseldorf auf den Weg zu ihr machte, durfte sie die Bedrohung nicht auf die leichte Schulter nehmen, doch wollte sie das Thema mit Angela auf keinen Fall vertiefen. Stattdessen würde sie mit Frank Junge reden und sich gleich nach Angelas Abfahrt auf die Suche nach einem Schießstand begeben.

Angela blätterte in der Zeitung, während sie mit der anderen Hand nach einem Croissant tastete.

»Das ist jetzt schon dein drittes Brötchen!«, rügte Frederike.

Angela hob den Blick. »Zählst du etwa mit? Du gönnst mir aber auch gar nichts.«

»Doch, tue ich! Ich frage mich nur, wo du das hintust.« Frederikes Blick fuhr über Angelas schlanke Figur. »Ich mache mir schon Gedanken, mit welchen Übungen ich das Fett wieder von meinen Rippen kriege.«

»Ach, das macht mir nichts. Ich habe hohle Beine.« Angela widmete sich wieder der Zeitungslektüre, als ihre Augen auf einmal an einer Stelle hängen blieben.

»Sag mal, hier ist ein ganz interessanter Vortrag von den Landfrauen: Heilpflanzen und ihre Nebenwirkungen. Das würde ich mir gerne anhören. Wäre das nicht auch was für dich?«

»Wieso?«

»Dann kommst du auf andere Gedanken, leistest mir Gesellschaft und lernst noch etwas dabei. Wer weiß, für was das gut ist. Außerdem hast du einen Garten. Vielleicht entdeckst du geheime Schätze in deinen Beeten und kannst dir zukünftig den einen oder anderen Gang zum Arzt sparen.«

Frederike rollte mit den Augen. »Sehe ich schon so gebrechlich aus, dass du mich jetzt mit Tee und Naturheilkunde aufpäppeln musst?« Dabei fiel ihr ein, dass sie in der Früh selbst schon über Baldrian und Schafgarbe nachgedacht hatte, und sie errötete leicht.

Doch Angela beachtete das gar nicht. »Mit vielen Heilpflanzen kannst du gepflegt Menschen ins Jenseits befördern. Die Menge macht das Gift. Interessiert dich das gar nicht?«

Frederike nickte leicht. »Doch, die Nebenwirkungen finde ich tatsächlich wesentlich interessanter als die Hauptwirkung. Von Medizin verstehe ich nichts. Mir reicht ein Aspirin.«

»Weidenrinde!«, grinste Angela. »Auch ein Naturheilmittel. Siehst du? Ist doch praktisch.«

»Apropos Garten: Komm mal mit nach draußen und bewundere meine Krokusse!« Frederike stand auf und zerrte Angela von ihrem Stuhl. »Los! Den Kaffee kannst du mitnehmen. Draußen scheint die Sonne.«

Angela ließ sich gerne mitziehen. Auch Hannelore, Frederikes schwarzer Kater, folgte auf dem Fuße. Das Wetter war viel zu schön, um drinnen zu sitzen. Außerdem gab es schon die eine oder andere dicke Hummel, die man jagen konnte!

Thomas

Der hochgewachsene, grauhaarige Mann bummelte die Dorfstraßen entlang und blickte sich neugierig um. Er war fasziniert davon, wie viele Menschen ihre Fensterbänke mit Orchideen schmückten. Ob die alle echt waren? Das war das Interessante an Orchideen, selbst die echten sahen irgendwie künstlich aus.

Es war nicht viel los auf den Straßen. Die wenigen Menschen, denen man begegnete, grüßten freundlich und beäugten ihn neugierig, als wäre er die neue Dorfattraktion. Dabei hatte er nicht auffallen wollen.

Er hob das Gesicht in die Sonne und genoss die Wärme mit geschlossenen Augen. Das hatte er vermisst.

Thomas Wilhahn hatte lange mit sich gerungen, ob er diesen Weg einschlagen sollte. Eigentlich die letzten zehn Jahre. Die erste Zeit seiner Inhaftierung hatte ihn der Wunsch nach Rache aufrechterhalten. Gefängnis bedeutete nicht nur den Verlust von Freiheit, sondern gleichzeitig auch von jeglicher Autonomie. Privatsphäre gab es keine. Man verlor praktisch seine Identität, war nur noch eine Nummer. Er war sich entmenschlicht vorgekommen. Und natürlich war ihm auch klar, wem er das zu verdanken hatte: Frederike Suttner hatte ihm das eingebrockt. Sie hatte ihm sein Leben gestohlen und damit auch das Leben seiner Kinder. Geburtstage, Weihnachten und andere besondere Gelegenheiten – alle ohne ihn. Er hatte sie in den ersten Jahren nur einmal im Monat sehen können, für eine halbe Stunde. Später, als die beiden größer waren, war Alice öfter gekommen, doch Florian hatte sich rargemacht und war später nach Berlin gezogen. Wilhahn war heute nicht mehr Teil von Florians Leben. Und seit Alice ihr erstes Kind hatte, war er auch bei ihr abgemeldet. Jutta, seine Frau, war ein ganz besonderer Fall. Sie hatte ihm die Sache mit den Prostituiertenmorden übel genommen, sogar von Scheidung gesprochen. Er hatte seine ganze Überzeugungskraft aufbringen müssen, um sie davon abzuhalten. Ihre Einwilligung, die Füße stillzuhalten, kam erst, als es eines Abends an ihrer Haustür geklingelt hatte und ihr ein ehemaliger »Zimmergenosse« von Thomas Wilhahn deutlich machte, dass ihr Ehemann auch aus dem Gefängnis heraus Macht über sie ausübte. In den Jahren hatte Jutta sich daran gewöhnt, ohne Mann im Haus auszukommen. Wilhahn war sich nicht sicher, ob sie seine Freilassung wirklich zu würdigen wusste.

Im Gefängnis hatte er inzwischen eine Ausbildung zum Sozialarbeiter abgeschlossen. Das hätte er sich früher auch nicht vorstellen können, mit straffälligen Jugendlichen zu arbeiten, aber zu seinem großen Erstaunen machte ihm die Arbeit tatsächlich Freude. Man ließ ihn nur mit männlichen Jugendlichen arbeiten – nichts, was sein Opferprofil bediente. So viel Vertrauen hatten die Gefängnispsychologen dann doch nicht in ihn. Aber es hatte gereicht. Er war wieder draußen.

Ein Trupp von Frauen kam auf ihn zu, bewaffnet mit Nordic-Walking-Stöcken. Sie plapperten wild durcheinander und waren anscheinend mit der Planung eines Osterbasars beschäftigt. Eine Frau in einem gelben Anorak war so abgelenkt, dass sie ihm fast auf die Füße gestiegen wäre. Er blieb stehen.

»Ach, entschuldigen Sie«, lachte ihn die Frau an. »Ich habe Sie gar nicht gesehen!«

Er lächelte sie freundlich an, und ihr Gesicht blühte richtiggehend auf. Ich habe es noch drauf, freute er sich. »Kein Problem, ist ja nichts passiert!«

»Sie sind aber nicht von hier, oder?«, mischte sich ein älteres Exemplar ein.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich schaue mich hier ein bisschen um. So schöne alte Häuser.«

»Kommen Sie aus der Stadt?«

Was für eine dämliche Frage. Und aus was für einer Stadt? Doch er nickte freundlich. »Ja, ich habe eine alte Freundin hier. Vielleicht können Sie mir helfen? Ich kann die Adresse nicht finden.«

»Wohin wollen Sie denn?«, wollte der gelbe Anorak wissen.

»Und zu wem wollen Sie?«, ergänzte das ältere Exemplar.

»Eichenstraße 15, Frederike Suttner.«

»Ach, zu Frederike? Die wohnt dahinten. Die nächste Straße rein, da ist es das dritte Haus auf der linken Seite. Sind Sie ein alter Kollege von ihr?«

Er grinste innerlich. Was für neugierige Ziegen. Die hatten sicherlich gleich noch ein schönes neues Thema für ihre Tratschereien. »So ähnlich! Wir kennen uns beruflich.«

»Ach, das ist ja schön. Da wird sie sich sicher freuen«, meinte der gelbe Anorak.

Zwei der Frauen waren schon weitergegangen und riefen jetzt nach ihren Freundinnen.

»So, wir müssen los. Noch einen schönen Tag!«

Dann setzten die Frauen ihren Weg fort.

Hier musste es sein. Es war gar nicht so einfach gewesen, das richtige Haus zu finden. Anscheinen hielt man hier nicht viel von Straßenschildern und Hausnummern. Ohne die Hilfe der Frauen hätte er es nicht gefunden. Er zögerte, ob er sich dem Haus nähern sollte. Die Alte würde sicherlich nicht lange fackeln. Wahrscheinlich verstieß er mit seiner Anwesenheit gegen seine Bewährungsauflagen, und er hatte wirklich keine Lust, wieder einzufahren. Zumindest nicht, ohne seine Rache zu vollenden. Also kehrte er zu seinem Auto zurück und parkte es um, sodass er das Haus seiner Widersacherin beobachten konnte. Davor stand ein schnittiger roter MX-5. Ein schönes Auto! Zu der jungen Frau, die ihn damals zu Fall gebracht hatte, würde das Auto gut passen. Aber zu einer Siebzigjährigen? Eher nicht. Wahrscheinlich hatte sie Besuch. Mal sehen, was er beobachten konnte. Er fasste sich in Geduld. Natürlich ging er das Risiko ein, dass sie ihn entdeckte. Doch das war es wert. Merkwürdig, gerade eben hatte er sich noch Sorgen gemacht, dass sie ihn entdeckte und bei seinem Bewährungshelfer verpetzte, und jetzt konnte er es kaum erwarten, ihr in die Augen zu sehen und ihre Angst zu spüren. Der Gedanke erregte ihn. Er fühlte es deutlich: Das Spiel hatte begonnen!

Einige Zeit später öffnete sich die Haustür, und eine junge Frau kam heraus. Hinter ihr konnte Thomas Frederike Suttner entdecken. Jesses, war die alt geworden! Die Haare komplett ergraut und das Gesicht von Falten durchzogen. Er warf einen Blick in den Rückspiegel. War er auch so stark gealtert? Aber Männer alterten anders als Frauen. Während Frauen verblühten, reiften Männer. Zufrieden betrachtete er sein volles Haar mit den grauen Schläfen. Ja, Männer in seinem Alter sahen oft besser aus als so jugendliche Schnösel. Aber alte Frauen? Er schnaufte verächtlich. Da spielte das Mädel doch in einer anderen Liga. Sie verabschiedete sich gerade herzlich mit einer Umarmung von der Suttner. Groß, blond, Ende zwanzig – genau sein Typ. Wer mochte das sein? Es würde sich lohnen, sie im Auge zu behalten.

Die junge Frau fuhr davon, und Frederike Suttner winkte ihr noch hinterher. Dann ging sie lächelnd ins Haus zurück. Interessant! Auch Thomas Wilhahn lächelte. Vielleicht könnte er seine Rache sehr viel freudvoller gestalten als erwartet. Er spürte ein lange vermisstes Gefühl in sich aufsteigen. Jagdfieber!

Frederike

Als Frederike zurück ins Wohnzimmer kam, griff sie zum Telefon. Die Gelegenheit war günstig. Sie wählte die bekannte Nummer der Wittlicher Mordkommission und ließ sich mit Angelas Freund verbinden.

»Junge, Kripo Wittlich.«

»Hallo Frank, ich hätte ein Anliegen!«

Frank lachte. »Wie immer, direkt mit der Tür ins Haus. Was kann ich für dich tun?«

Frederike schilderte ihm den Besuch ihres alten Kollegen. »Ich weiß ja nicht, ob an der Sache etwas dran ist, aber es kann nicht schaden, mich vorzubereiten.«

Frank Junge war besorgt. »Ich werde mit Klaus Wieland sprechen, ob wir dich unter Polizeischutz stellen sollten. Gibst du mir seine Durchwahl?«

Frederike stöhnte innerlich auf. Frank und sein Beschützerinstinkt!

»Das kannst du gerne machen. Aber du weißt, ich kann mich gut um mich selbst kümmern. Du würdest mir helfen, wenn ich auf eurer Schießanlage ein paar Übungsstunden absolvieren könnte.«

»Du hast doch gar keine Waffe!«

Frederike schwieg.

Frank stöhnte auf. »Du hast eine Waffe! Woher?«

»Wieland hat sie mir gegeben.«

»Scheiße! Dann muss er sich richtig Sorgen machen.« Franks Stimme klang aufgeregt. »Ich rufe ihn gleich an.«

»Organisiere mir lieber einen Schießplatz. Ich bin aus der Übung. Und vielleicht kannst du das mit der Waffenbesitzkarte regeln.«

Frank versprach, sich kurzfristig wieder zu melden, und legte auf.

Es war schon spät; wenn Frederike pünktlich bei der Chorprobe sein wollte, musste sie sich beeilen. Sie überlegte kurz, ob sie die Probe sausen lassen sollte, aber irgendwie war der Gedanke doch zu verlockend, auf andere Gedanken zu kommen. Außerdem stand bald der Ostergottesdienst an, und da musste der Kirchenchor parat stehen. Sie zögerte kurz, dann ging sie in ihr Schlafzimmer, nahm die Waffe aus dem Nachttisch und schob sie in ihre Handtasche. Frank hatte ihr zwar erst für Donnerstag eine Übungsstunde einrichten können, aber so ganz hatte sie das Schießen hoffentlich nicht verlernt. Und aus Erfahrung wusste sie, dass eine Waffe nur hilfreich war, wenn man sie im Ernstfall auch bei der Hand hatte. In der Schublade würde sie ihr nichts nutzen.

Sie schob sich die Handtasche über die Schulter. Normalerweise reichten ihr Papiertaschentücher, ein Zehn-Euro-Schein und die Hausschlüssel, aber die Pistole einfach in die Jackentasche zu stecken, schien ihr keine gute Idee. Warum mussten diese Handtaschen eigentlich immer so riesig sein? Wahrscheinlich würde sie die Waffe im Eifer des Gefechtes gar nicht finden zwischen Lesebrille, Portemonnaie, gebrauchten Taschentüchern, alten Einkaufszetteln, Desinfektionsspray, FFP2-Maske, Sonnenbrille, Notizblock, Kugelschreiber, Mobiltelefon und einem kleinen Parfümfläschchen, das sich inzwischen in das Taschenfutter ergossen hatte. Sie warf noch die Papiertaschentücher und den Hausschlüssel hinein und stopfte die Notenmappe dazu. Dann machte sie sich auf den Weg.

Stimmengewirr erfüllte den Probenraum in der Dorfkneipe. Die Probe war gut besucht. Wenn ein Auftritt nahte, nahmen die Chormitglieder die Aufgabe ernst und waren pünktlich zur Stelle. Frederike schob sich an den Tisch der Altstimmen und orderte bei dem Wirt, der gerade bediente, ein Mineralwasser.

»Na, wer war denn der gut aussehende Herr, der dich heute besucht hat?«, wollte Eva wissen. Sie war mit Anfang dreißig die Jüngste im Chor und senkte damit das Durchschnittsalter um einige Jahre. Die meisten Choristen hatten die siebzig bereits überschritten.

»Ach, lass mal hören!« Grete schob sich näher und beäugte Frederike neugierig. »Hast du etwa einen neuen Verehrer?«

Frederike war irritiert. »Was wollt ihr von mir? Neugieriges Pack!«

Doch jetzt hatte der komplette Alt Blut geleckt.

»Frederike hatte heute Besuch. Von einem älteren, durchaus gut aussehenden Herrn, in Ehren ergraut. So ein wenig Typ Armin Müller-Stahl, nur mehr Haare.«

»Huuh! Das hört sich vielversprechend an!« Elsbeth warf sich in die Brust. In viel Brust! Ihr Dekolleté bebte geradezu.

»Jetzt mal Klartext. Ich hatte heute keinen Besuch. Eva, wen meinst du?«

Eva schilderte ihre morgendliche Begegnung der Walkinggruppe mit dem älteren Mann. »Er hat explizit nach dir und deiner Adresse gefragt. Da bin ich mir ganz sicher. Warst du nicht zu Hause?«

Frederike nickte gedankenvoll. »Doch, war ich. Angela war zu Besuch. Sonst niemand.«

»Na, vielleicht hat er ja mitgekriegt, dass du Besuch hattest und wollte nicht stören. Er wird sich bestimmt bei dir melden«, tröstete Grete sie und tätschelte ihre Hand.

Frederike funkelte sie erbost an. »Also wirklich. Anscheinend denken hier alle, ich hätte es mal wieder bitter nötig.« Ihre Gedanken rasten. »Eva, wenn ich dir ein Foto zeige, könntest du mir dann sagen, ob das der Mann war, dem du begegnet bist?«

Eva nickte selbstbewusst. »Klar!«

Frederike schickte an Klaus Wieland eine Whats-App-Nachricht. Hoffentlich saß er noch am Schreibtisch. Kurz darauf pingte Frederikes Handy – Klaus Wieland hatte ihr mit der Frage: »Was ist los?«, ein aktuelles Foto von Thomas Wilhahn geschickt. Frederike studierte es kurz, dann hielt sie es Eva unter die Nase.

»War er das?«

Eva nahm das Handy und betrachtete das Foto. »Ist das etwa ein Polizeifoto?«

Frederike nickte.

Eva guckte entsetzt. »Ach herrje! Und wir haben ihn direkt zu dir geschickt. War das falsch?«

»Jepp!« Frederike stand auf. »Ich muss los!«

»Aber die Probe hat doch noch gar nicht begonnen.« Elsbeth wollte sie aufhalten. »Was ist mit dem Kerl?«

Doch Frederike hatte sich schon auf den Weg gemacht. Die anderen blickten alarmiert hinter ihr her.

Frederike war nervös. Thomas Wilhahn war ihr also schon auf den Pelz gerückt. Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause. Auf dem Weg nach draußen friemelte sie die Pistole aus der Handtasche und schob sie in ihre Jacke. Belauerte er sie gerade? Sie hatte Gänsehaut.

Angela

Als Angela abends die Wohnungstür ihrer gemütlichen kleinen Dachgeschosswohnung aufschloss, war ihr Freund schon da. Sie hatte ihm vor zwei Wochen einen Schlüssel gegeben. Mist, heute hätte sie gerne ein wenig Zeit für sich gehabt, so müde war sie nach ihrem Dienst. Seufzend ließ sie sich von Frank Junge in die Arme ziehen. Der bemerkte ihren Widerstand und ließ sie los.

»Was ist? Geht es dir nicht gut?«

»Ach, nichts. Ich bin nur hundemüde.«

»Soll ich dir den Rücken massieren?« Frank stellte sich hinter sie und begann zärtlich, ihre Schultern zu kneten. Doch selbst das war ihr im Moment zu viel.

»Lass mich einfach ein paar Minuten in Ruhe, ja? Ich lege mich eine halbe Stunde hin. Danach bin ich ein neuer Mensch.«

Frank schaute sie enttäuscht an, zuckte dann aber mit den Achseln und trat einen Schritt zurück. »Na gut! Ich dachte, du freust dich, dass ich heute früher Schluss gemacht habe.«

Angela stöhnte innerlich auf. »Das tue ich auch, aber ich hatte einen harten Tag. Lass mich einfach schlafen.« Sie verschwand im Schlafzimmer und sank auf ihr Bett. Kurz vor dem Einschlafen fiel ihr ein, dass sie Frank dringend noch von Wielands Besuch bei Frederike berichten musste, da fielen ihr auch schon die Augen zu.

Frank hatte sie schlafen lassen, und als Angela erwachte, war es schon kurz nach neun. Aber es hatte sich gelohnt, sie fühlte sich wieder frisch und ausgeruht. Und hungrig! Frank stand in der Küche und blickte sie liebevoll an, als sie eintrat.

»Geht es dir wieder gut? Es tut mir leid, dass ich dich bedrängt habe.«

»Warum hast du mich nicht geweckt?«

»Ach, du hast so müde ausgesehen. Und ich weiß doch, wie es mir manchmal geht. Da ist plötzlich alles zu viel, und ich will nur noch schlafen.«

Angela trat zu ihm und küsste ihn sanft. »Danke. Und jetzt will ich nur noch etwas essen.«

Frank zog sie an sich und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. »Nur noch essen?«, hörte sie sein Gemurmel und lachte auf.

»Alles zu seiner Zeit. Du hast nicht zufällig etwas gekocht?«

Irgendwie roch es in der Küche verdächtig nach Makrelentomatensoße mit viel Zwiebeln und Knoblauch.

»Doch, habe ich. Wir müssen nur noch die Nudeln aufsetzen. Das Wasser ist schon heiß.«

»Du weißt wirklich, was Frauen wünschen!« Angela küsste ihn ein letztes Mal, dann schob sie ihn beiseite. »Los, ran an die Spaghetti. Ich gieße mir derweil ein Glas Rotwein ein und lasse mich verwöhnen.«

Später saßen sie gesättigt und zufrieden an dem modernen gläsernen Esstisch. Angela hatte von Frederikes nächtlichem Besuch erzählt. Sie war erleichtert und gleichzeitig besorgt, als Frank ihr berichtete, dass Frederike ihn bereits angerufen und er sich inzwischen mit Klaus Wieland abgestimmt hatte.

»Wieland hat ihr echt eine Waffe mitgebracht? Das hat mir Tantchen gar nicht erzählt.« Angela war ziemlich sauer.

»Ja, das ist schon heftig. Aber ich bin auch froh darüber. Sie kann mit einer Waffe umgehen und weiß sich zu wehren. Ich mache mir trotzdem Sorgen um sie, nachdem ich mir die Akte von Thomas Wilhahn mal angeschaut habe. Der Typ ist ein Sadist. Was der mit den Frauen angestellt hat, das willst du gar nicht wissen.«

Frank nahm ihre Hand.

»Ich will dich nicht drängen, aber mir wäre wohler, wenn ich in nächster Zeit bei dir wohnen könnte. Ich habe kein gutes Gefühl dabei, dass dieser Wilhahn hier um Frederike herumkreist. Ich möchte nicht, dass du in die Schusslinie gerätst.«

Angela erschauderte. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Diese Kriminalbeamten mussten aber auch immer das Schlimmste vermuten! Sie entzog Frank ihre Hand und stand auf. »Ich hole noch etwas Wein.«

Sein Blick folgte ihr. Anscheinend spürte er ihren Widerstand.

»Sorry, ich wollte dich nicht damit überfallen. Es wäre ja nur für ein paar Tage. Bis sich die Situation geklärt hat. Dann bin ich wieder weg.«

Angela kam zurück, die Flasche in der Hand. »Lass mir ein wenig Bedenkzeit, ja? Ich sage dir am Wochenende Bescheid.«

Frank seufzte. »Na gut!« Er stand auf und blickte auf die Uhr. »Ich muss jetzt los.«

»Bleibst du die Nacht nicht hier?« Angela spürte eine leichte Enttäuschung in sich aufsteigen.

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe heute Nachtschicht und bin schon spät dran. Pass auf dich auf!«

Nachdem er gegangen war, räumte Angela den Tisch ab. Ich bin eine dumme Kuh, schimpfte sie sich selbst. Erst vergraule ich ihn, und dann tue ich mir selbst leid, weil er geht. Sie würde sich der Frage stellen müssen, was stärker war: ihre Sehnsucht nach diesem Mann oder ihre Angst, erneut enttäuscht zu werden.

Thomas

Er lag auf seinem bequemen Bett und horchte auf die Geräusche; ein Knarren im Gebälk, trippelnde Schritte auf dem Dach. Bestimmt ein Marder. Ein Auto fuhr am Haus vorbei. Ein streunender Kater hatte anscheinend Frühlingsgefühle. Wilhahn genoss die Vielstimmigkeit der Nacht, die so ganz anders war als die Geräusche in der JVA. Er ließ die Gedanken schweifen. Es war ein interessanter Tag gewesen, ein Tag, der Erinnerungen geweckt hatte. Vor sich sah er das Gesicht einer jungen Frau, stark geschminkt, die Wimperntusche leicht verschmiert unter dem rechten Auge. Er hatte ihr Kinn angehoben und ihr in die Augen geblickt. Ja, sie war ein Opfer gewesen, das hatte er damals direkt erkannt und sie sofort gewollt. Heute war sie das nicht mehr. Frederike Suttner war nicht nur gealtert, sondern anscheinend auch gereift. Doch das würde ihr nichts nützen. Ein anderes Gesicht schob sich vor sein geistiges Auge: jünger, blonde lange Haare, eine echte Schönheit. Wer mochte das Mädchen bei der alten Schachtel gewesen sein? War sie auch ein Opfer? Er würde es wissen, wenn er ihr in die Augen geblickt hatte.

16. März

Frederike

Am nächsten Abend saßen Frederike und Angela im ehemaligen Rathaussaal in Hillesheim und lauschten wie verabredet dem Vortrag über Heilpflanzen. Frederike hatte eigentlich keine große Lust gehabt, in ihrem Hinterkopf beschäftigte sie sich permanent mit der Bedrohung durch Wilhahn, aber Angela hatte darauf bestanden.

»Mensch, du kommst doch sonst kaum aus dem Haus. Selbst wenn es dich nicht interessiert, kannst du mir wenigstens Gesellschaft leisten. In der Menge bist du sicherer als hier in deinem Haus. Und außerdem glaube ich, dass der Vortrag wirklich interessant sein könnte.«

Also hatte sich Frederike breitschlagen lassen, was sie inzwischen schon wieder bedauerte. Der Raum war recht gut gefüllt und die Luft entsprechend schlecht, obwohl jemand eine Balkontür geöffnet hatte. Frederike fühlte sich in dem Saal nicht besonders wohl – für ihren Geschmack viel zu viel Charme der Siebziger. Der verwinkelte Betonklotz wirkte wie ein Fremdkörper in der kleinen Stadt. Andererseits hatten es die Verantwortlichen damals geschafft, in den Siebzigerjahren ein Stadterneuerungskonzept für Hillesheim auf die Beine zu stellen, das seinesgleichen suchte und sich auch heute noch sehen lassen konnte. Frederike hatte sich schon oft gefragt, wie man es bewerkstelligt hatte, alle Einwohner ins Boot zu holen und ein gemeinschaftliches Gestaltungskonzept für den alten Stadtkern umzusetzen. Selbst jetzt, fünfzig Jahre später, hielten sich die Einwohner an die architektonischen Empfehlungen, wenn mal eine Fassade renoviert werden musste. Deshalb drückte sie beim Rathausbau gnädig ein Auge zu. Aber schön war anders!

Sie hatte sich mit Angela in der dritten Stuhlreihe niedergelassen, weit genug von der Rednerin weg, um nicht plötzlich irgendwie aufgerufen zu werden und eine aktive Rolle spielen zu müssen, aber auch nicht so weit hinten, dass man nichts mehr verstand.

Die Vortragende, Dr. Ingrid Sammer, war auch schon in den Sechzigern, von Hause aus Apothekerin und schrieb anscheinend erfolgreich Kriminalromane. Angela stupste Frederike an und raunte ihr zu: »Siehst du, ich habe dir doch gesagt, dass das für dich spannend sein könnte. Als Krimiautorin weiß sie bestimmt alles über Gift, was man wissen sollte.«

Frederike schmunzelte. Gift! Die Waffe der Frauen. Mit Giftmorden hatte sie kaum zu tun gehabt in ihrer Karriere, eher mit Messerstichen, stumpfer Gewalteinwirkung oder Erdrosseln. Sie setzte sich in Positur. Mal sehen, was sie hier lernen konnte.

Zunächst ging es um die wohltuenden Wirkungen von Löwenzahn, Fingerhut und Konsorten, doch verschob sich der Akzent, nicht zuletzt durch Angelas Nachfragen, schnell in Richtung Nebenwirkungen.

»Mit Löwenzahn können Sie keinen umbringen. Es kann aber eklig werden«, beschied Frau Dr. Sammer.

»Aber man isst den doch im Salat!«, wandte eine Teilnehmerin ein.

Doch anscheinend waren nur die jungen Blätter verträglich. Der milchige Saft in den Stängeln führte zu Magen-Darm-Beschwerden und Durchfall. Überhaupt schien es gar nicht so einfach, einen Menschen zu vergiften.