Kommunikologie weiter denken - Vilém Flusser - E-Book

Kommunikologie weiter denken E-Book

Vilém Flusser

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Beschreibung

Anlässlich seiner ersten Gastprofessur in Deutschland im Jahr 1991 wollte Vilém Flusser seine Kulturkritik im Angesicht der neuen Medien noch einmal grundlegend durchdenken. Eine Neufassung seines Hauptwerks, der Lehre von der menschlichen Kommunikation, sollte daraus hervorgehen. Es musste bei den Vorlesungen bleiben. Wenige Monate später starb er bei einem Verkehrsunfall. Im Vilém-Flusser-Archiv sind die Bochumer Vorlesungen zu einem konzentrierten Text redigiert worden. Er ist das kommunikologische Vermächtnis des Prager Kulturphilosophen.

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Vilém Flusser

Kommunikologie weiter denken

Die »Bochumer Vorlesungen«

Fischer e-books

Vorwort

Friedrich A. Kittler

Die Ruhr-Universität Bochum, betongewordene Trutzburg eines verflossenen Reformgeistes, lag in der Frühlingssonne. Vilém Flussers Gastsemester begann. Aber wie um daran zu erinnern, dass Bochum in Westfalen und Westfalen in Bauernhand gelegen hatte, empfing die philologische Fakultät ihren hohen Gast außerhalb der eigenen Mauern. Auf einem grünen Hügel, der sanft zu den Mäandern der Ruhr abfiel, stand seit alters ein Bauernhof, den die Ruhr-Universität renoviert und für Festakte reserviert hatte. Der Kontrast konnte größer nicht sein: Verflossene Wagenräder und Sensen, Pflugscharen und Eggen schmückten einen Vorlesungssaal, in dem Flusser das Ende aller Geschichte und den Siegeszug der Computertechnik zu verkünden gedachte.

Man schrieb das Sommersemester 1991. Edith Flusser hatte ihren Mann viele Male schon vom provenzalischen Robion nach Deutschland und zurück gefahren, aber immer nur auf Kongresse oder in Wissenschaftszentren. Seine Bücher waren erschienen und sogar eine Festschrift. Aber von den verschiedenen Gastprofessuren in Europa und Nordamerika, die sie ihm zuschrieb, konnte keine Rede sein. In Deutschland, dessen Denker Flusser doch geprägt hatten, blieb er ein Fremder, prophetisch, verstörend, unakademisch. Umso größer war seine Freude über die Gastprofessur, die Bochum ihm ein ganzes Semester lang anbieten konnte. Flusser ging auf seinen 71. Geburtstag zu; es sollte der letzte werden. Noch im Herbst desselben Jahres, bei Nacht zwischen Prag und Eger unterwegs, traf Flusser der Tod. Und als hätte er ihn schon vor Augen, fiel damals im Bauernhof, vor versammelter Professorenschaft, ein Wort, das seinen Hörern durchs Mark ging: Abkratzen nannte Flusser nicht nur, was ihm bevorstand, sondern ihn auch bewogen hatte, unsere Einladung überhaupt anzunehmen.

Pythagoras, den Flusser so entschieden über Picasso stellte, soll einmal gesagt haben, zwischen Alten und Jungen sei es nicht leicht. Ihre Schönheit könnten Eltern, auch wenn sie es sehnlich erhofften, den Kindern doch nicht zwingend weiterschenken. Ihre Macht müssten die Alten, auch wenn sie an ihr hingen, doch einmal an Jüngere übergeben. Nur Bildung, auf griechisch paideía, die Sache mit den Kindern, sei anders: Die Alten geben, die Jungen nehmen, aber keine Seite verliert.

Genauso, aber strenger als Pythagoras, dachte Flusser, schon weil er den eigenen Tod beim Namen nannte. Seine »Bochumer Vorlesungen« richteten sich zugleich an junge Studenten und technische Medien, also an die Nachwelt. Dass ein Tonband mitlief, überbrückte zu seiner Freude jene Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, der Flussers letzte Vorlesungen den Kampf ansagten. Nur die Hoffnung, sie bald gedruckt zu sehen, sollte sich noch lange nicht erfüllen. Deshalb konnten ganze Generationen von Studenten seither kommen und gehen, ohne von Flusser als einem Gründerhelden heutiger Medienwissenschaft mehr als Gerüchte gehört zu haben. Denn so gesammelt und gerafft wie die »Bochumer Vorlesungen« schien ihm selber kaum eines der Bücher, die auf Deutsch erschienen waren und noch erscheinen sollten.

Kaum dass Flusser die Brille über die Stirn geschoben hatte, sprach er frei. Aus dem Bart des Propheten kamen Worte wie Blitze, weil sie immer auch Urteile waren. Sie wagten, das Reden von Demokratie eine Demagogie zu nennen; sie verstummten nicht wie Wittgenstein vor dem, was man nicht sagen kann. Denn Flusser ging es zuerst und zuletzt darum, einer neuen, nämlich alphanumerischen Elite ihren Begriff, ja mehr noch ihre Ehre zu geben. Bei aller Achtung vorm Namen seines jüdischen Gottes war Flussers Botschaft keine Mystik, sondern Algebra: die Zahl, wie sie in Computeralgorithmen die Grenzen unserer Sprachen übersteigt. Und das zu einer Zeit, wo die Ruhr-Universität genug damit getan zu haben glaubte, ihre Theaterwissenschaft um eine Film- und Fernsehwissenschaft zu erweitern. Zu einer Zeit, wo auch Flussers Freunde und Bewunderer unter hochtechnischen Medien vor allem eigene Video-Installationen und Computer-Animationen verstanden.

Ich weiß nicht, ob Vilém Flusser je einen Algorithmus geschrieben oder auch nur abgeschrieben hat. Aber er war von ihnen hingerissen wie nur Orakel und Propheten von ihren Göttern. Flussers Vater hatte an einem deutschsprachigen Prager Gymnasium Mathematik gelehrt und, als der Direktor das Bildnis Masaryks gegen ein Hitlerfoto auswechselte, vergebens protestiert. Das mag den Sohn bewogen haben, von seinem großen Vorbild, nämlich der Phänomenologie, immer dort abzuweichen, wo Husserl die moderne Algebra wieder an lebensweltliche Böden rückzubinden suchte (was bekanntlich ein Wortsinn von »religio« ist). Weit davon entfernt, in ihr eine Krise des europäischen Geistes zu sehen und den Ursprung der Geometrie im fruchtbaren Nilschlamm auszumachen, blickte Flusser gerade von dieser Algebra her auf Ur- und Vorgeschichte zurück. In seinen Augen war schon der homo erectus ein Computer. Ganz wie Flusser selbst prozessierte, speicherte und übertrug er etwas, das sich schlichtweg nicht vererben lässt: Sprache, Kultur, Information. So schlagend bewährte sich der Medienhistoriker einmal mehr als rückwärtsgewandter Prophet.

Man darf heute wohl sagen, dass wir medienhistorisch weiter sind. So viele neue Einzelheiten sind ans Licht gekommen, so manche Fehler richtiggestellt und so große Schneisen durch die Jahrtausende geschlagen, dass Deutschlands Medienwissenschaft heute weltweites Ansehen genießt. Aber wenn es erlaubt ist, ein Wort anzuwenden, das Blaise Pascal von Peter von Blois übernahm: Wir sehen nur deshalb weiter als Riesen, weil wir als Zwerge auf ihren Schultern sitzen. Wenn Flusser nicht nur die Brille über seine hohe Stirn schob, sondern sich mitten im Vortrag zu voller Größe aufrichtete, mochte der Bochumer Stiftungsrat etwas davon ahnen.

Flusser selber wusste, wen und was er unseren Ohren weitergab: »Alle Personen, mit denen ich in Prag verbunden war, sind gestorben. Alle. Die Juden in den Lagern, die Tschechen im Widerstand, die Deutschen in Stalingrad.«

Zu den »Bochumer Vorlesungen« Vilém Flussers

Editorische Vorbemerkung der Herausgeber

Von Ende Mai bis Ende Juni 1991 hatte Vilém Flusser an der Ruhr-Universität Bochum auf Einladung Friedrich Kittlers eine Gastprofessur inne. In diesem Rahmen hielt er Lehrveranstaltungen zu den Themenkomplexen »Kommunikationsstrukturen«, »Phänomene der menschlichen Kommunikation« und »Kommunikologie als Kulturkritik«. Ausdrücklich vermerkt er in seiner Antrittsvorlesung vom 31. Mai 1991 die Anwesenheit eines seiner Verleger, der in Deutschland sein Werk herausbringen sollte, und er äußert den Wunsch, dass diese Vorlesungen umgehend auch als Buch erscheinen mögen. Studierende fertigten im Auftrag der Universität Tonaufzeichnungen auf damals handelsüblichen analogen Kassettenrecordern an. Anders als bei seinen Vorlesungen in Frankreich und Brasilien, zu denen Flusser im Vorhinein umfangreiche Manuskripte angefertigt hatte, die zum Teil später publiziert wurden,[1] sprach er in Bochum frei.[2] Von seiner Rede und dem Dialog mit dem Publikum erwartete sich der als spontan und leidenschaftlich geltende Kulturphilosoph ein noch beweglicheres Denken. Wenig bescheiden formulierte er es für die Studierenden in Bochum: »Das ist schrecklich unbefriedigend, was ich Ihnen da erzähle. Sie sind Zeugen – das ist nicht oft, ich möchte das doch nicht untertreiben – Sie sind Zeugen einer Philosophie in fieri. Ohne mir etwas anzumaßen, ich glaube, so ungefähr muss es ausgeschaut haben, als Hegel nach Berlin berufen wurde oder als Husserl nach Göttingen kam, oder, [...] der Vergleich ist besser: als der Bergson an die Akademie kam, oder als Bachelard an der Sorbonne vorlas.«[3] Vilém Flusser, der wenige Monate später bei einem Autounfall ums Leben kam, hinterließ seine letzten Vorlesungen wie ein kulturkritisches Vermächtnis – über fünfzig Stunden Aufzeichnungen von seiner Rede, die Transkription umfasst neunhundert Seiten.

Zum Zeitpunkt seiner »Bochumer Vorlesungen« waren im deutschsprachigen Raum bereits zwei Werkausgaben Flussers auf den Weg gebracht. Andreas Müller-Pohle begann mit seinem Verlag European Photography[4] 1983 mit Für eine Philosophie der Fotografie eine auf zehn Bände angelegte Werkausgabe, die mit dem 2006 erschienenen Band Vom Zweifel vorläufig abgeschlossen wurde.[5] Von Stefan Bollmanns Ausgabe der Werke Flussers wurden sechs auf den Markt gebracht. Nach der finanziellen Abwicklung des Bollmann-Verlags übernahm Fischer diese Veröffentlichungen. Versuche, die »Bochumer Vorlesungen« Flussers in Buchform herauszubringen, gab es einige. Sie scheiterten an unterschiedlichen Schwierigkeiten, soweit wir wissen nicht an der Finanzierung. Flusser war zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt und etabliert. In den frühen 1990er Jahren, zur Zeit der massenhaften Durchsetzung des Internets in den post-industriellen Ländern, gab es nicht nur prinzipiell ein recht großes Interesse an medienphilosophischen und -kritischen Schriften. Eine neue Generation von Designern, Intellektuellen und Künstlern, die mit den telematischen Kulturtechniken aufzuwachsen begann, war begeistert von konstruktiven Visionen zu den neuen Technologien. Flusser wurde wesentlich in dieser Perspektive eines Neuerers wahrgenommen.

Ausschlaggebend dafür, dass die Vorlesungen nicht unmittelbar veröffentlicht wurden, war sicher in erster Linie das Material selbst und sein Zustand. Die Aufzeichnungen waren umfangreich, aber gleichwohl nicht vollständig. Es fehlten ganze Tonkassetten, einzelne Passagen waren versehentlich überspielt worden, und im Text selbst gab es erhebliche inhaltliche Redundanzen, sowohl hinsichtlich bereits publizierter Schriften als auch thematische Überschneidungen, welche die einzelnen Kurse der »Bochumer Vorlesungen« betrafen. Eine elektronische Transkription der vorhandenen Aufzeichnungen existierte nicht. Es gab lediglich einen Stapel schlechter Kopien der auf elektrischer Schreibmaschine abgetippten Vorträge. Die freie mündliche Rede Flussers während der Vorlesungen ließ zudem von vornherein an eine Publikation nur als erneuter Niederschrift denken, also eine aufwendige Neuedition der vorhandenen Texte. Damit hätte man allerdings die Schwierigkeiten der oft engen Verflechtungen von Fragen und Diskussionen mit dem Vortrag und seinem Verlauf noch nicht gelöst.

Fünf Jahre nach dem Tod Flussers merkte Stefan Bollmann im Nachwort des 1996 von Edith Flusser und ihm herausgegebenen Bandes Kommunikologie[6] an, dass von einer Publikation der »Bochumer Vorlesungen« Neues zu erwarten wäre, und er stellt eine Veröffentlichung in Aussicht.[7] Bis zum Zeitpunkt einer ersten Veröffentlichung als elektronische Netzedition vergingen noch weitere neun Jahre.

Netzedition

1998 schenkte Edith Flusser den Nachlass ihres Mannes der Kunsthochschule für Medien Köln zur weiteren Betreuung. Unter der Leitung von Siegfried Zielinski wurde dort das _Vilém_Flusser_Archiv aufgebaut,[8] die wissenschaftliche Projektarbeit übernahm verantwortlich Silvia Wagnermaier.

Das Archiv verstand sich von vornherein nicht als Verlag, sondern als eine Forschungseinrichtung, die publizistische Projekte anderer unterstützt oder solche in Kooperation entwickelt. Ihr ging es vor allem darum, das Denken Flussers für die nächsten Generationen von Intellektuellen lebendig und entwickelbar zu halten. In einem sehr unmittelbaren Sinn gehört für uns dazu, die Präsenz des dialogisierenden Denkers aus Prag auch denen zugänglich zu machen, die ihn nicht erleben konnten – zumindest in einem nicht auratischen Sinn, soweit es eben durch technische Reproduktionen möglich ist. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte »Intermediale Editionsprojekt« ging zudem davon aus, dass nicht nur der Wechsel zwischen verschiedenen Sprachen für Flusser charakteristisch war, sondern auch das Springen zwischen unterschiedlichen medialen Praxen und Ausdrucksformen, das er gern noch viel intensiver betrieben hätte, als es ihm zu Lebzeiten technisch und ökonomisch möglich war.

Die systematische Rekonstruktionsarbeit begann mit der Digitalisierung des vorhandenen Tonmaterials und der Herstellung einer korrekten Umschrift desselben. Daneben ging es laufend darum, Lücken im vorhandenen Material zu schließen. Sehr hilfreich wurden die Tonaufnahmen Vila Richters, einem der ehemaligen Hörer der »Bochumer Vorlesungen«. Er brachte seine privaten Audiomitschnitte von einigen Vorlesungen 2003 in das Flusser-Archiv und stellte sie für die Bearbeitung zur Verfügung. Seine Aufzeichnungen waren von erheblich besserer Qualität als die vorhandenen und ermöglichten es, fehlende Vortragspassagen zu ergänzen und manche der Lücken zu verkleinern oder ganz zu schließen. Nach wie vor sind allerdings die vorhandenen Aufzeichnungen nicht ganz vollständig.

2005 konnte die Netzedition Bochumer Vorlesungen 1991 online gestellt werden[9] und ist seitdem ständig verfügbar. In einer eigens dafür konzipierten Programmierung David Links wurde das gesamte Audio- und Textmaterial eingepflegt und online synchronisiert. So können die Vorträge und Diskussionen mit den Studierenden über die Homepage des _Vilém_Flusser_Archivs abgerufen, gleichzeitig gehört und gelesen werden. Über eine Suchfunktion können einzelne Begriffe abgefragt und so der umfangreiche Korpus gezielt studiert werden.

Ausschlaggebend für die Publikation des Audio-Textes der »Bochumer Vorlesungen« im Netz waren weniger die absehbaren Schwierigkeiten für eine Bearbeitung des Manuskripts als Monographie, denn diese hatten wir von vornherein für einen späteren Zeitpunkt anvisiert. Wichtiger waren die Vorzüge und Stärken des akustischen Materials in Verbindung mit dem lesbaren linearen Text. Der streitbare Geist und emphatische Redner Vilém Flusser kommt zur Geltung. Das Audiomaterial ist stark im Ausdruck, lebendig, widersprüchlich, provokant, und es ist wunderbares Anschauungs- und Hörmaterial für das Erlebnis von Denkbewegungen, die sich im Dialog mit anderen entwickeln.

Neben der erhofften Buchpublikation, die Flussers Vorträge möglichst schnell einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung stellen sollte, hatte der Prager Kulturphilosoph noch eine andere Form der Verbreitung im Blick. Den Studierenden in Bochum schildert er einen technisch etwas obskuren Weg, über den seine Reden an Interessierte geleitet werden sollten. Obgleich vage, weil zukünftige Techniken der Vernetzung vorwegnehmend, waren die Strukturen dieses Verbreitungswegs klar. Sie entsprachen Flussers Verständnis dessen, was er die »Kommunikationsrevolution« nannte: »Die Kommunikationsrevolution besteht im Grunde daraus, dass sie Kanäle geschaffen hat, die quer durch den ehemaligen öffentlichen Raum Privaträume miteinander verbindet […] Die Kanäle, sichtbar oder nicht sichtbar, verlegen den öffentlichen Raum, sodass der öffentliche Raum hinter den Kanälen verschwindet, und verwandeln den Privatraum in einen Emmentaler Käse. Sie durchlöchern ihn, sodass der Wind der Kommunikation durch die Privaträume wie ein Orkan weht. In so einer Situation kann doch von Politik nicht gesprochen werden. Was heißt denn da veröffentlichen? Es ist zwar wahr, ich schreib’ noch immer Bücher, die dann veröffentlicht werden, das heißt, die dann verteilt werden von meinem Verleger in Ihrem Buchladen. Und dann gehen Sie in den Buchladen und kaufen sich meine Bücher. Und es ist auch wahr, ich fahr’ zu Ihnen nach Bochum und halt’ Ihnen den Vortrag, und Sie sitzen hier in der Schulklasse und hören mich ab. Also machen wir aus der Schulklasse einen politischen Raum. Aber das ist doch nur, weil wir veraltete Idioten sind. In Wirklichkeit sollte ich doch diesen Vortrag da in dieses Maschinchen sprechen, Sie sollten sich von diesem Maschinchen so viele Kopien machen wie Sie wollen und sollten das zu Hause anhören, und also müssen Sie nicht aus dem Haus gehen, sondern Sie lassen das abrufen auf Ihrem Minitape, indem Sie die Nummer, was weiß ich, ›Ruhr 27‹ eingeben, und dann liefert man Ihnen irgendwie dieses Schallband nach Hause. Die Politik ist noch nicht verschwunden, aber sie ist völlig überflüssig geworden.«[10]

Buchedition

Die mittels OCR (Optical Character Recognition) eingelesenen und neu angefertigten Transkripte bildeten das Ausgangsmaterial für die Buchedition der »Bochumer Vorlesungen«. Das umfangreiche Konvolut von mehr als 900 Seiten wurde auf etwa ein Fünftel konzentriert. Auch für die Buchedition wurde die grundlegende Anordnung der Lehrveranstaltungen beibehalten. Es wurden allerdings thematische Schwerpunkte herausgearbeitet und definiert, die für die Gliederung der Texte in Kapitel und thematische Absätze ausschlaggebend wurden, aber auch für die im Sinn der Konzentration vorgenommenen Kürzungen. Die Argumentationsstränge Flussers sollten klar nachvollziehbar sein. So wurde für das Buch auf diverse Exkurse verzichtet, gleichzeitig aber darauf geachtet, die Vielschichtigkeit und Lebendigkeit der Argumentation beizubehalten.

Letztlich wurde Satz für Satz bearbeitet, Konstruktionen von ganzen Sätzen wurden umgebaut und einzelne Wörter ausgetauscht. Wichtigstes Prinzip bei der Edition blieb es, den besonderen Sprechduktus, den Stil und selbstverständlich den Gehalt der Rede Flussers zu erhalten.

Ein so stark eingreifendes Vorgehen mit einem nachgelassenen Text ist ungewöhnlich. Die Bearbeitung ist allerdings an jeder Stelle überprüfbar. Die Buchedition verweist auf die Kapitel der vollständigen Netzedition durch die in eckigen Klammern angegebenen Kapitel und ihre Nummerierungen. Dadurch wird es an jeder Stelle ermöglicht, auf den Kontext der ungekürzten Netzversion zuzugreifen und auch die in der Druckversion zur Gänze fehlenden Diskussionen mit den Studierenden in Bochum zu hören und zu lesen. Die Angaben in Klammern erlauben außerdem Rückschlüsse auf den Grad der Kürzungen, beispielsweise fehlen manche Nummern vollständig.

Zugang zur Netzedition Bochumer Vorlesungen 1991 erhält man über die Homepage des _Vilém_Flusser_Archivs an der Universität der Künste Berlin (www.flusser-archive.org).

Das Nachwort von Silvia Wagnermaier gibt einen Überblick über Flussers Publikationsstand und seine Rezeption in Deutschland, die bislang noch nicht im Zusammenhang präsentiert wurden. Die Veröffentlichung der »Bochumer Vorlesungen« wird so in ihrem Stellenwert deutlich.

Glossare der von Flusser verwendeten lateinischen und griechischen Wörter im Anschluss an den Text sollen das Verständnis erleichtern. Wir haben sie im Fließtext bewusst in der Originalfassung belassen, weil sie zur besonderen Originalität der Rede gehören.

Zum ersten Mal enthält das Buch auch eine Auswahlbibliographie, welche die sogenannte Reisebibliothek Flussers betrifft. Edith Flusser stellte dem Archiv nicht nur sämtliche erhaltenen Manuskripte, Korrespondenzen, Veröffentlichungen zur Verfügung, sondern auch die Bibliothek, die ihr Mann in Europa ständig benutzte. Sie ist nicht sehr umfangreich, aber hochinteressant im Hinblick auf die Arbeitsweise des Kulturphilosophen. Wir veröffentlichen die Auswahl nicht zuletzt, um zur Erforschung des Quellenzusammenhangs für das Flusser’sche Denken anzuregen.

Dank

Allen, die dazu beigetragen haben, dass die »Bochumer Vorlesungen« Vilém Flussers zustande kommen und schließlich sowohl als Netzedition als auch in dieser Buchfassung entstehen konnten, sind wir zu großem Dank verpflichtet: Marie-Luise Angerer, Tim Elzer, Eckhard Fürlus, Herrn Ganse, Freya Hattenberger, Andreas Henrich, Angela Huemer, Friedrich A. Kittler, David Link, Marcel René Marburger, Dirk Matejowski, Nadine Minkwitz, Anthony Moore, Bob O’Kane, Vila Richter, Nils Röller, Klaus Sander und Lukas Vleck.

Ohne die großzügige Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen und der Kunsthochschule für Medien Köln hätte das Projekt nicht realisiert werden können. Wir bedanken uns ebenfalls bei der Universität der Künste Berlin, die seit Januar 2007 das _Vilém_Flusser_Archiv beherbergt und fördert. Edith Flusser stellte die Rechte für die Veröffentlichung zur Verfügung und – wie immer – ihren wunderbaren allseitigen Beistand.

Netz- wie Buchedition der »Bochumer Vorlesungen« Vilém Flussers wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Projekts »Intermediales Editieren« großzügig gefördert.

Silvia Wagnermaier und Siegfried Zielinski

Berlin, im Mai 2008

Antrittsvorlesung: Vortrag vor dem Stiftungsrat

Motive

[Stiftungsrat 01] Ich habe die Einladung, hier ein Semester lang Lehrveranstaltungen in drei Blöcken zu halten, dankend angenommen, aus zwei offen liegenden und einem etwas tieferen Motiv. Die beiden offen liegenden Motive sind: Erstens, ich möchte den Hörern, so gut ich kann, einen allgemeinen Überblick über die Problematik der menschlichen Kommunikation bieten, damit sie aus eigener Initiative Teilbereiche für ihr eigenes Studium und ihre eigene Arbeit wählen können. Zweitens wird diese meine Intervention hoffentlich audio- und vielleicht sogar videoaufgezeichnet. Einer meiner Verleger wird das sehr schnell in Buchform herausgeben. Diesen Überblick für künftige Studenten festzuhalten, ist ein wichtiges Engagement. Ich habe in São Paulo jahrelang ähnliche Kurse gehalten. Die sind in sogenannten Apostilas[11] festgelegt. Seit meiner Ausreise aus Brasilien habe ich das nie mehr getan. Ich bin sehr dankbar dafür, meine Gedanken wieder sammeln und raffen zu dürfen, denn ich habe mir natürlich in der Zwischenzeit vieles überlegt und meine Meinung geändert.

Natur- und Geisteswissenschaften

Hier und jetzt ist der Moment, Ihnen das wahre, das echte Motiv meines Engagements an dieser Einladung zu erklären. Ich bin seit vielen Jahren der Meinung, fast der Überzeugung, dass das Studium des zugleich geheimnisvollen und faszinierenden Phänomens der menschlichen Kommunikation ein Gebiet ist, auf dem sich die unheilvolle Trennung zwischen den sogenannten exakten und den anderen Wissenschaften überdecken. Diese anderen Wissenschaften werden unsinnigerweise im Deutschen »Geisteswissenschaften« genannt, aber auch das Wort Humanities packt die Sache nicht richtig.

Ich will Ihnen kurz sagen, warum ich sehr engagiert bin, an einem Überholen dieser verderblichen Trennung zwischen Naturwissenschaften und Humanities mitzuarbeiten. Sie wissen, dass seit ungefähr vierhundertfünfzig Jahren der starke Verdacht aufgekommen ist, dass die Natur unbeschreiblich ist, aber zählbar; dass also, wenn es darum geht, Wissen zu formulieren, Texte kein guter Code sind, sondern dass man die Erkenntnisse mathematisch zu formulieren hat. Ich werde Ihnen zwei Gründe zu diesem aufkommenden Verdacht geben. Erstens sind die Zahlen klar und deutlich. Sie sind klar, weil jede Zahl eine einzige Bedeutung hat. Zahlen sind univok. Zum Beispiel berührt die Zahl 2 eindeutig die Menge aller Paare. Und zweitens sind Zahlen deutlich, weil zwischen jeder Zahl und jeder anderen ein Intervall ist. Sie sind deutlich voneinander getrennt. Der Zahlencode ist klar und distinkt, während der Sprachcode, der ja von den Buchstaben wiedergegeben wird, mehrdeutig ist. Wörter können nicht so definiert werden wie Zahlen. Es gibt noch einen tieferen Grund. Das Alphabet wurde erfunden, um die sogenannten flektionierenden Sprachen, das heißt die indoeuropäischen und die hamito-semitischen, sichtbar zu machen. Das Alphabet ist auch für andere Sprachgruppen verwendbar, aber nicht sehr gut. Diese Sprachen haben die Eigenschaft, dass sie Propositionen aussagen, das heißt, sie sagen vor einem Subjekt Prädikate aus. Das ist eine sehr starre Struktur, während man mit Zahlen ganz anders spielen kann. Algorithmen folgen einer viel flexibleren Struktur. Infolgedessen sind Sprachen und daher auch Buchstaben nicht gut geeignet, Erkenntnismodelle zu formulieren. Seit dem fünfzehnten Jahrhundert, mindestens seit dem Cusaner, gehen die Forscher vom Alphabet zu Zahlen über. Die Naturwissenschaften verwenden immer weniger Buchstaben. Die sogenannten Naturwissenschaften sind Disziplinen, welche die Naturgesetze mathematisch formulieren. Die Buchstaben werden als Code der Erkenntnis immer weiter verdrängt. Die Gebiete, in die sie verdrängt wurden und die nach Erkenntnis suchen, heißen Geisteswissenschaften, was eine Beleidigung für den Geist ist, denn das bedeutet, dass es Wissenschaften sind, die sich nicht exakt formulieren lassen. Nach dem alten Witz: Ein Soziologe ist ein Ökonom, der keine Mathematik kann. Diese Trennung zwischen hart und weich, zwischen Zahl und Buchstabe, ist ungefähr im fünfzehnten Jahrhundert geschehen. Sie ist von einem außerordentlichen Übel, weil man der Ansicht sein kann, dass die exakten Erkenntnisse quantifizieren und die unexakten qualifizieren. Um es einfacher zu sagen: dass man in der Naturwissenschaft »warum?« zu fragen hat und dass die Frage »wozu?« für die Kulturwissenschaften reserviert ist. Wenn ich frage: »Warum regnet es?«, dann stelle ich eine naturwissenschaftliche Frage. Wenn ich frage: »Wozu regnet es?«, dann mache ich, sagen wir, Mythologie. Dieses Definieren der Natur als jenes Gebiet, auf dem teleologische Fragen, Wozu-Fragen, nicht gestattet sind, stellt das Problem der Anthropologie auf eine grundsätzliche Art in Frage. Wohin gehört der Mensch als Forschungsgebiet? Ich habe mir gedacht, so wie viele andere, dass die Fragestellung falsch ist.

Seit dem Zusammenbruch des Humanismus und daher seit dem Zusammenbruch der [Stiftungsrat 02] Aufklärung, also kurz gesagt seit Auschwitz und Hiroshima, haben wir kein Menschenbild mehr. Das, was man in Deutschland Geisteswissenschaften nennt und in Amerika Humanities, bietet es nicht. Vielleicht können wir auf dem Gebiet der Forschung der menschlichen Kommunikation zu einem neuen Menschenbild gelangen. Wenn uns das gelingt, dann haben wir die Trennung zwischen exakten und weichen Wissensgebieten vielleicht bezwungen. Vielleicht ist die menschliche Kommunikation nicht, wie ich eingangs sagte, ein Gebiet, worin sich Natur- und Kulturwissenschaften überdecken, sondern im Gegenteil jenes Gebiet, von wo diese Wissensdisziplinen überhaupt ausstrahlen. Viele Kritiker werfen mir vor, dass ich versuche, naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf Kulturprobleme anzuwenden. Das klingt schrecklich, so wie technokratisch. Man will exakt denken in Kulturdingen. Das heißt, man will die Kultur entwerten. Ich glaube, diese Kritiker haben Unrecht. Was ich versuche (und einige andere) ist, diese Trennung zwischen exakt und unexakt zu überholen. Was ich Ihnen gesagt habe, klingt wie ein methodologisches Problem, aber Sie werden vielleicht aus meiner Ausführung ersehen haben, dass das ein heißes, nicht ein kaltes Problem ist.

Kommunikationslehre

Worum geht es in der menschlichen Kommunikation? Es geht darum, erworbene Informationen zu speichern, zu prozessieren und weiterzugeben. Was ich jetzt gesagt habe, klingt wie nichts, ist aber kolossal. Es scheint einem der Grundsätze der Natur zu widersprechen, nämlich der Entropie. Die Entropie, der zweite Grundsatz der Thermodynamik, sagt, dass das Universum, als ein geschlossenes System betrachtet, immer wahrscheinlicher wird, dass sich die Elemente, aus denen das Universum besteht, immer gleichförmiger streuen, dass also Informationen verloren gehen und dass die Zeit aus ist, wenn keine Information mehr da ist. Selbstredend gibt es Epizyklen, worin sich Informationen sozusagen negativ entropisch bilden, aber die Grundtendenz ist der Verlust der Informationen.

Ich habe gerade gesagt, die menschliche Kommunikation zielt darauf ab, Informationen zu speichern. Die Kultur ist eine Vorrichtung zum Speichern von Information. Das heißt, der Mensch ist grundsätzlich gegen die Natur engagiert, ohne dabei allerdings das zweite Prinzip außer Kraft zu setzen. Der Mensch ist in der Natur. Er ist ein Teil der Natur, er funktioniert innerhalb ihrer. Dennoch ist alles, was wir Mensch nennen, antinatürlich, der Grundtendenz der Natur entgegengesetzt. Dann habe ich gesagt, es geht nicht darum, irgendwelche Informationen, sondern erworbene Informationen zu speichern. Das widerspricht den Mendel’schen Gesetzen. Die Mendel’schen Gesetze besagen, dass nur ererbte genetische Informationen vererbt werden können. Aber die Kultur ist auch eine Vorrichtung zum Vererben erworbener Informationen. Ich will nicht sagen, dass der Mensch das einzige Wesen ist, das das tut, aber dieses Engagement zum Weitergeben erworbener Informationen, dieses Engagement an der kommenden Generation, also dieses Engagement gegen den eigenen Tod und gegen den Tod der Nächsten, das ist anti-biologisch. In dem scheinbar banalen Satz: »Die menschliche Kommunikation ist das Speichern, Prozessieren und Weitergeben von erworbenen Informationen«, steckt eine violente Verneinung, sowohl eines Grundsatzes der Physik als auch eines Grundsatzes der Biologie. Sie erlaubt, ein neues Menschenbild wenigstens zu ahnen. Daher mein Engagement. Vielleicht ist die Kommunikationslehre in der Zukunft jenes Gebiet, das im Mittelalter von der Theologie eingenommen wurde. Vielleicht ist es das Gebiet eines neuen postreligiösen Glaubens. Das habe ich versucht, methodologisch zu sagen, weil wir doch an einer Universität sind und solche saftigen Sachen trocken ausdrücken sollen. Das ist ein Gebiet, das weit über die Kompetenz eines Menschenlebens reicht, und weit über die Kompetenz der gegenwärtigen, an diesem Problem beschäftigten Denker.

Was ich hier in Bochum versuchen werde zu machen, sind nur ganz zögernde und beginnende Schritte in Richtung einer künftigen Kommunikologie. Wenn Ihnen dieses Motiv, das ich Ihnen jetzt skizziert habe, deutlich geworden ist, dieses Engagement, denn sonst hätte ich ja die Einladung in Wirklichkeit nicht angenommen, sozusagen noch vor Torschluss, bevor ich abkratze, das irgendwie noch zu sammeln, was ich erworben habe, zu speichern, zu prozessieren und weiterzugeben, also, wenn Ihnen das eingegangen ist, dann kann ich Ihnen sagen, was ich vorhabe.

Das Phänomen der menschlichen Kommunikation

Ich habe ein Seminar, dem ich den Namen »Das Phänomen der menschlichen Kommunikation« gegeben habe. Da werde ich versuchen, dieses Problem, das ich Ihnen jetzt gerafft gesagt habe, ein wenig auseinander zu falten. Ich werde also die Kultur, pardon, als einen Apparat ansehen, dessen Zweck es ist, erworbene Informationen in Form von Städten, Ländern, Gebäuden, Bibliotheken und so weiter zu speichern, sie dort zu prozessieren. Ich werde in diesem Seminar stark gegen die Idee der Kreativität und des Autors streiten. Ich werde versuchen zu zeigen, dass keine Information ex nihilo geschaffen werden kann, sondern, dass alles, was wir tun, sich darauf begrenzt, erworbene Informationen zu manipulieren. Ich werde versuchen zu zeigen, wie diese sogenannte Kreativität zu verschiedenen Zeiten vor sich ging. Und ich werde diesen Kurs mit der Betrachtung der gegenwärtigen gewaltigen Krise beenden. Wir sind die erste oder die zweite Generation, die beginnt, eine Theorie der Kreativität zu ahnen. Wir sind vielleicht die Ersten, die nicht mehr nur empirisch, sondern auf exakten Theorien fußend, Informationen manipulieren. Infolgedessen stehen wir einer Explosion der Kreativität gegenüber.

[Stiftungsrat 03] Wenn es uns gelingt, die Trennung zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften zu brechen, wenn es uns gelingt, in Maschinen, in der Technik, ebenso große, kreative Leistungen zu sehen wie in der Musik oder in der Kunst oder in der Politik, und wenn wir beobachten können, wie auf dem Gebiet der Technik bereits jetzt die Kreativität in diesem Sinne explodiert, dann haben wir uns auf eine Team-Workshop-Kreativität sondergleichen vorzubereiten. Das werde ich den Hörern nahezubringen versuchen.

Kommunikationsstrukturen

Im zweiten Seminar, das ich »Kommunikationsstrukturen« zu nennen vorgeschlagen habe, werde ich die sogenannten Speicher oder Gedächtnisstützen nach ihrer Struktur analysieren. Auch das klingt außerordentlich »fußgängerzonisch«. Aber das muss so gesagt werden, denn es ist tatsächlich etwas außerordentlich Aufregendes.

Versetzen wir uns ins Moment der Menschwerdung. Was geschieht da? So ein Äffchen, nennen wir ihn, sagen wir, homo erectus robustus, um der Sache einen Namen zu geben, greift in die Welt und packt aus dieser Welt ein Stück, zum Beispiel einen Stein, und macht es zu einem Objekt, zu einem Problem. Das ist etwas nie Dagewesenes, dass er etwas packt, um mit Kant zu sprechen, das ohne Interesse gefällt, also etwas, womit er nicht kopulieren kann, das er nicht fressen kann, und das nicht gefährlich ist. So etwas reißt dieses Tier aus der Lebenswelt und macht es zu einem Objekt. Er behaut den Stein ja noch nicht, sondern legt ihn einfach vor sich hin. Er macht aus der Lebenswelt eine objektive Welt und wird zu einem Subjekt der objektiven Welt. Es entsteht durch diese Handlung, das kann man wohl schon eine Handlung nennen, der Abgrund der Entfremdung, der Menschwerdung, wo auf der einen Seite das letzte Subjekt steht und auf der anderen Seite die objektive Welt. Worin besteht diese Handlung? Sie besteht in der Geste der Abstraktion. Aus der vierdimensionalen Lebenswelt, die ja aus Phänomenen besteht, die mich angehen, entsteht etwas Dreidimensionales, ein Stein. Ich würde sagen, dieser Stein ist eine dreidimensionale Gedächtnisstütze. Die Dreidimensionalität ist eine Folge der Geste des Begreifens. Wenn ich etwas begreife, ist das Begriffene dreidimensional.

Versetzen Sie sich jetzt bitte beinahe in die Gegenwart, sagen wir an die Dordogne vor dreißigtausend Jahren. Damals, ich spreche jetzt schon von unserer Spezies homo sapiens sapiens, stößt sich der Mensch von allen Seiten an der objektiven Welt. Er versucht, einen Überblick über seine Lage zu gewinnen. Er tut also einen Schritt zurück aus dieser objektiven Welt in die Subjektivität hinein, um die objektive Welt zu überblicken; um sich, wie man sagt, ein Bild von der objektiven Welt zu machen. Ich werde in dem Seminar sehr genau darauf eingehen, was da geschieht, wenn ich von der manifesten Welt zurücktrete, von dem, was man naiver Weise die objektive Wirklichkeit nennt. Von Wirklichkeit ist da eigentlich keine Rede; von objektiv sehr wohl. Die Welt ist da nicht nur objektiv, sondern sie ist ja phänomenal, sie erscheint ja nur. Der Rückschritt, den ich da geleistet habe, vergrößert meinen Abstand, und meine Arme sind nicht lang genug, um die Welt wieder ergreifen zu können. Die Welt ist nicht mehr handgreiflich, sondern sie erscheint nur. Ich rede zum Beispiel vom Filmemacher, aber vorläufig, sagen wir, vom Maler von Ponys in Lascaux, was ja ungefähr auf das Gleiche hinausläuft.

Wenn ich diesen Abstand nehme, und die Welt wird nur eine Welt der Erscheinung, dafür aber überblickbar, dann habe ich zwei Grundprobleme. Das eine Problem ist, dass meine Ansicht flüchtig ist. Das zweite Problem ist, dass meine Ansicht subjektiv ist. Ich muss also meine Ansicht irgendwie festhalten und intersubjektivieren. Zum Festhalten dient zum Beispiel eine Felswand oder ein Zelluloidstreifen. Um aus einer subjektiven Ansicht eine intersubjektive zu machen, muss ich sie symbolisch verschlüsseln und die Symbole in einen Code ordnen, damit der, der diese Information abruft, sie auch entschlüsseln kann. Damit habe ich Ihnen, glaube ich, in nuce das Problem des Bildermachens und dessen, was man Imagination nennt, gegeben. Ich werde also zeigen, wie es uns vor etwa dreißigtausend Jahren gelungen ist, aus dem Begreifen ins Imaginieren zurück zu schreiten, aus der objektiven in eine imaginäre Welt, aus den drei Dimensionen in die zwei Dimensionen der Fläche. Der nächste Schritt geschieht vor ungefähr dreieinhalbtausend Jahren.

Alle Mediationen haben eine sogenannte innere Dialektik. Ich will keinen noblen Blödsinn sagen, aber dieses Wort ist doch unvermeidlich. Im Deutschen lässt sich das gut sagen. Wenn etwas etwas anderes vorstellt, dann stellt es sich auch davor. Wenn ein Bild eine Landschaft vorstellt, dann verstellt sie die Landschaft auch. Das Bild steht vor der Landschaft. Diese innere Dialektik, dass man, gerade weil man sich ein Bild gemacht hat, nicht zu dem hin kann, wovon man sich ein Bild gemacht hat, davon handeln, wie Sie ja wissen, die jüdische Religion und Plato. Die Propheten meinen, das Bildermachen führe zum Bilderanbeten, zur Idolatrie. Plato will den Bildermachern den Eingang in die Republik verbieten. Kurz, um die Faszination des Bildes zu brechen, zerreißt man das Bild. Man reißt Elemente aus dem Bild heraus. Bildelemente heißen Pixel,[12] wie Sie wissen. Man reißt die Pixel aus der Bildoberfläche und macht daraus Perlenketten. So erfindet man die lineare Schrift. Die lineare Schrift wird erfunden, um Bilder zu erzählen, zu erklären, die Welt zu erklären.

Der nächste Schritt, ich habe ihn schon angedeutet, ist aus dem Text zurück in die Nulldimension, ins Kalkül. Auch die Texte führen ja dank ihres inneren Widerspruchs zu einem Verdecken des Gemeinten. Neben der Idolatrie gibt es eine Textolatrie. [Stiftungsrat 04] Wie violent die Textolatrie sein kann, zeigt ja nicht nur die Theologie, sondern zum Beispiel der Marxismus. Um vor der Textolatrie zu schützen, kalkuliert man. Das ist die letzte Abstraktion, zu der man kommen kann, in die Nulldimension der Zahlen.

Jetzt komme ich wieder auf die heutige Wende zu sprechen. Wir verfügen jetzt über Maschinen, welche die Welt nicht nur zu Punkten zerklauben können, also kalkulieren, sondern diese zerklaubten Punkte auch wieder zusammenraffen können, also komputieren, und diese gerafften Punkte projizieren und alternative Welten herstellen, Bilder, in einem andern Sinn des Wortes, kalkulierte Bilder, Bilder, die die Kritik schon in ihrem Bauch haben. Natürlich, das typische Beispiel solcher Bilder sind die numerisch generierten synthetischen. Aber schon in der Fotografie und im Film ist dieses Element des Kalküls da. Wer den Film oder die Fotografie macht, das ist nicht der Filmemacher, sondern der Erzeuger der Kamera. Der kalkuliert die mechanischen, chemischen und optischen Prozesse. Das wird das zweite Seminar sein.

Kommunikologie als Kulturkritik

Das dritte Seminar werde ich »Kommunikologie als Kulturkritik« nennen. Ich werde mich da eines Tricks bedienen. Ich werde den Schaltplan der Kanäle geometrisieren. Ich werde sagen: Es gibt Kreise. In diesen Kreisen sind einige Gedächtnisse geschaltet, um gegenseitig die Informationen, die sie speichern, auszutauschen, dialogische Kreise; zum Beispiel die Familie; zum Beispiel, theoretisch, das Parlament. Ich werde die Vor- und Nachteile der Kreisschaltung diskutieren, und ich werde zeigen, wie dieser Dialog droht, in Leerlauf zu verfallen.

Ich werde die Halbkreise diskutieren, also die sogenannte theatralische Struktur, wo der Kreis durchbrochen ist und in der Mitte eine σκηνή (szene) aufgestellt wird und ein προσκήνιον (proscaenium); und mit dieser Zweiteilung des Chors in eine ἀναστροφή (anasthrophe) und eine καταστροφή (katastrophe); und die Rolle des κορυφή (korüfe); und die Rolle des Gottes, der aus der Maschine herauskommt; kurz, das Theater als Typus des Halbkreises. Ich werde zeigen, wie sich das existenzielle Klima ändert, sobald ich aus dem Kreis in den Halbkreis komme.

Vom Halbkreis werde ich dann den Weg in die Pyramide finden, also zum Beispiel in die Struktur der Armee oder der Kirche oder der staatlichen Administration, wo die einzelnen Stufen als Relais für die Informationen funktionieren. Ich werde den Unterschied zwischen Religion und Tradition zeigen. Die Religion führt ja von unten nach oben in der Hierarchie, bis hinauf zu der Spitze, also zu Romulus oder Christus oder zum Staatspräsidenten oder zu was immer. Andererseits geht die Tradition von der Spitze herunter, also von Romulus bis zum letzten Klienten. Ich werde versuchen, dieses Klima, das pyramidale Klima des Autors und der Autorität, dem Hörer so nahe wie möglich zu bringen, denn das sind ja junge Leute, die sich an autoritäre Strukturen überhaupt nicht mehr erinnern können.

Ich werde dann die sogenannte Bündelstruktur erklären, zum Beispiel so, wie sie in den Zeitungen oder im Radio oder im Fernsehen sind. Das heißt, es gibt einen Sender. Der Sender sendet seine Botschaft in Bündeln in Säle, und wer zufällig im leeren Raum schwebt und das erwischt, der wird zu einem Empfänger dieser im wahren Sinne des Wortes faschistischen Schaltung. Fasces heißt ja Bündel. Diese auf dem Buchdruck und auf der Schreibmaschine aufgebaute Struktur des Bündels werde ich als eine Diagnose eines wichtigen Aspektes unserer Zeit beschreiben, nämlich der Tendenz, die ganze Kultur zu bündeln und uns zu einem gleichgeschalteten Totalitarismus sondergleichen zu führen.

Dem gegenüber werde ich die entgegengesetzte Diagnose der Vernetzung stellen. Ich werde zu zeigen versuchen, dass diese Vernetzung schon mindestens seit der Erfindung der Post eingesetzt hat. Das ist eine Vernetzung, in der jeder von uns ein Knotenpunkt von Fäden ist. In diesem Knotenpunkt kommen Informationen herein, werden prozessiert und kommen wieder weg. Ich werde versuchen zu zeigen, dass so ein Netzbild der Gesellschaft, also so eine vision en raison, wenn ich das so sagen darf, den ideologischen Ich-Knoten, die ideologische Ich-Nuss zerbricht. Ich werde zu zeigen versuchen, dass, wo sich ein Netz herstellt, die Identität verloren geht, weil ja die Identität und die Differenz einander implizieren; dass das Dasein zu einem dialogischen wird; dass »ich« als das anerkannt wird, zu dem »Du« gesagt wird. Ich werde diesen Kurs mit der Doppelprognose beenden: entweder Verbündelung oder Vernetzung.

Ausblick

Solche Institute, wie das, zu dem ich eben eingeladen wurde, sind Orte, an denen man sich vielleicht gegen die Bündelung und zugunsten der Vernetzung engagieren kann. Es wurde die Frage gestellt: Es sind tausendzweihundert Schüler. Wozu kommen die eigentlich her? Wovon werden die leben, wenn sie weggehen? Die Antwort ist: Wie die Welt von heute in zehn oder in zwanzig Jahren ausschauen wird, das können wir uns schwer vorstellen; welche Berufe es geben wird. Sicher werden Kommunikationsberufe eine viel wichtigere Rolle spielen, als es jetzt schon der Fall ist. Vielleicht sind diese jungen Menschen da, um sich Rechenschaft zu geben von der Wende, in der wir leben, von dem Mangel eines Menschenbildes, den wir überhaupt erst gemeinsam zu meistern haben. Ich habe keine Ahnung, wie mein Kurs ausfallen wird, denn ich habe keine Ahnung, wie die Buben und Mädel ausschauen, die hinkommen. Falls es ein gutes Menschenmaterial ist, wenn sie mich mit Fragen und Gegenargumenten quälen, werde ich meine Meinung ändern müssen. Infolgedessen kann ich nicht voraussehen, was herauskommt. Jedenfalls sind Sie alle, die hier sind, herzlich eingeladen, an diesem Abenteuer teilzunehmen. Ich danke Ihnen!

1.Von der kommunikologischen Kunst des Definierens

Kultur/Kritik

[Kulturkritik I 1a01] Es ist die Pflicht des Intellektuellen, seine Termini zu definieren. Infolgedessen definiere ich wie folgt: Kommunikologie ist die Lehre von der menschlichen Kommunikation, jenem Prozess, dank welchem erworbene Informationen gespeichert, prozessiert und weitergegeben werden. Kultur ist jene Vorrichtung, dank welcher erworbene Informationen gespeichert werden, um abgerufen werden zu können. Sie werden hoffentlich die Hinterlist sofort bemerkt haben. Ich habe Kultur so definiert, dass die Kommunikologie für sie kompetent wird. Kritik ist jener Akt, dank welchem ein Phänomen aufgebrochen wird, um zu sehen, was dahintersteckt. Wenn ein Kind einer Puppe den Bauch aufreißt, um hineinzuschauen, so ist das ein Akt der Kritik. Wir werden nun versuchen, den Bauch der Kultur aufzureißen, um zu sehen, welche kommunikologischen Schaltungen sich dahinter verbergen.

Es ist sehr typisch für die Gegenwart, dass wir nicht mehr an irgendwelche pyramidal strukturierten Ordnungen der Wirklichkeit glauben. Wir sind antipositivistisch. Im 19. Jahrhundert wurde, neben Marxens Idee der Ökonomie als Unterbau der Gesellschaft, allgemein folgende Struktur der Wirklichkeit angenommen: Die Infrastruktur ist die Physik, die physikalischen Wissenschaften. Die nächste Ebene sind die biologischen, die nächste die psychologischen, die höchste die soziologischen Wissenschaften. Mindestens seit Edmund Husserl, also mindestens seitdem die phänomenologische Schau diszipliniert wurde, glauben wir eher, dass die Ordnungen, die wir in den Dingen entdecken, von uns selbst hineingetragen wurden. Wir nehmen als Unterbau der Kultur und der Gesellschaft überhaupt die Kommunikationsstruktur an.

Dazu noch einige methodologische Bemerkungen. Lange Zeit, insbesondere unter dem Einfluss der platonischen und der aristotelischen Philosophie, so wie sie sich in der kirchlichen Lehre ausgedrückt haben, war man der Überzeugung, dass der Unterbau der Gesellschaft der Glaube ist. Die Leute lebten in einer Stadt, civitas, um gemeinsam und jeder für sich die Seele zu retten und aus diesem Tränental dank Abitur, genannt Tod, ins Jenseits und zum Heil zu gelangen. Wenn Sie einen mittelalterlichen Kulturkritiker gefragt hätten: Was ist Kultur?, hätte er gesagt: Das ist eine Vorrichtung zum Lernen des guten Sterbens, ars moriendi.[13] Infolgedessen wurde die Gesellschaft im Allgemeinen und die Kultur insbesondere als eine Art Schule angesehen, als eine Vorbereitung für die Reifeprüfung in den Himmel. Das ist nicht nur christlich. Das ist älter. Schon die alten Griechen und die alten Juden waren überzeugt davon, dass der Zweck des Lebens hienieden eine Vorbereitung für das andere Leben ist. Muße heißt lateinisch otium. Das Gegenteil, Verlust von Muße, heißt negotium. Arbeit war etwas Negatives; bei den Juden zum Beispiel eine Strafe, die über die Menschheit bei der Austreibung aus dem Paradies verhängt wurde; bei den Griechen ein Zeichen eines minderwertigen Lebens. Wer arbeitete, war kein Bürger. Er war nicht berechtigt, an der Stadt teilzunehmen. Arbeiten leisteten nur Sklaven, Frauen und Kinder. Das Ziel war, in die Schule zu gehen. Daher der bekannte Satz: »Non vitae, sed scholae discimus.« »Wir lernen nicht fürs Leben, sondern für die Schule.«[14] Bei der bürgerlichen Revolution in der Renaissance [Kulturkritik I 1a02] wurde das umgedreht in den Satz: »Non scholae, sed vitae vivimus.«[15]

Dabei geht es nicht nur [Kulturkritik I 1a03] um die Errichtung des freien Marktes. Die Kirche ist außerordentlich interventionistisch. Sie glaubt an einen gerechten Preis, der vom Staat oder vom Bischof festgesetzt wird. Wenn man an die Bürger glaubt und daran, dass die Infrastruktur der Gesellschaft die Wirtschaft ist, dann kann man in der Renaissance die Revolution sehen, die gegen die geplante Marktwirtschaft der Kirche einen freien Markt, also eine kybernetische Ordnung, errichtet. Tatsächlich aber geht es darum, nicht mehr ewige Werte in der Kontemplation zu ersehen, sondern im Gegenteil verbesserbare Werte dank Arbeit herzustellen. Die Zeit der Moderne – im Sinne von neuzeitlich, nicht im Sinne der aktuellen Verwendung als Absetzung zur Postmoderne verwendet – ist die Zeit der Moden, der Modelle und der Modulationen. Die Marx’sche Philosophie, soweit sie den Namen verdient, ist sichtlich in den bürgerlichen Werten der Renaissance verankert. Es beginnt außerdem dieses seltsame Verschweigen des Todes, das die Moderne charakterisiert. Wenn die Arbeit der höchste Wert ist oder sogar die Quelle aller Werte, dann soll vom Tod nicht mehr gesprochen werden. Die Erinnerung an den Tod wäre die Erinnerung daran, dass arbeiten ein frustrierendes Engagement ist. Man kann die Moderne von diesem Standpunkt aus als eine Konspiration definieren, die darauf abzielt, den Tod zu verschweigen, zum Beispiel indem man Informationen an die künftige Generation weitergibt und infolgedessen der Tod gleichgültig wird. Ein gutes Exempel für dieses Verschweigen des Todes ist Darwin: Da wird vom Leben gesprochen, als sei es ein Etwas und nicht ein Wie, und davon, dass sich das Leben entfaltet, aber nie von der Tatsache, dass alles dem Tod geweiht ist, zumindest alles, was über den Einzeller hinausreicht; dass also selbst der sogenannte unsterbliche Fluss der Genotypen zum Untergehen verurteilt ist. Die ganze Moderne mit ihren riesenhaften Taten, vor allem der Naturwissenschaft, kann uns als eine Konspiration zum Verschweigen der Existenz gelten.

Damit zum Standpunkt für diese Kulturkritik: Wir leben in einer Gegenrevolution. Wir sind konterrevolutionäre Elemente, die dieses Umbiegen der gesellschaftlichen Werte zurückdrehen wollen. Wir sind in einer dunklen, reaktionären Periode, um dies modern zu sagen. Oder: Wir sind aus dem dogmatischen Schlummer des Optimismus erwacht. Daher glauben wir nicht, dass es irgendeinen Sinn hat, von einer objektiven Struktur der Gesellschaft zu sprechen, obwohl wir natürlich damit einverstanden sein müssen, dass die Gesellschaft einen Zweck hat. Im Unterschied zur Natur, die ja nur kausal kritisiert wird, muss die Gesellschaft teleologisch kritisiert werden. Wir sehen allerdings in der Gesellschaft nicht mehr den Zweck, Werte herzustellen, sondern jenen, dem Absurden des Lebens angesichts des Todes einen Sinn zu verleihen – Sinngebung, um es wieder mit Husserl zu sagen. Von diesem Standpunkt aus wird Kommunikation als eine mögliche Infrastruktur der Gesellschaft ersichtlich.

Prozessieren: Dialog

In der menschlichen Kommunikation gibt es einen Speicher für erworbene Informationen, lose gesprochen ein Gedächtnis. Dialog ist die Methode, dank welcher Informationen, die in zwei oder mehreren Gedächtnissen gelagert sind, ausgetauscht werden, um zu neuen Informationen zu führen. Zwei der Grenzen des Dialogs will ich angeben. Wenn die Informationen in zwei gegebenen Gedächtnissen einander sehr ähneln, dann ist der Dialog redundant. Leute, die ungefähr die gleichen Informationen haben, können nicht miteinander dialogisieren. Die zweite: Wenn vollkommen unähnliche Informationen in zwei Gedächtnissen gelagert sind, dann sind Dialoge unmöglich, weil jede Information des einen Geräusch für das andere ist. Wenn ich ausschließlich Tschechisch spreche, und Sie ausschließlich Suaheli, dann werden wir einander nicht verstehen können.

Weitergeben: Diskurs

Diskurs ist die Methode, dank welcher Informationen, die in einem Gedächtnis gelagert sind, an andere weitergegeben werden. Dialog erzeugt Informationen, Diskurs erhält sie. Es ist deutlich, dass Diskurs und Dialog miteinander gekoppelt sein müssen, damit die Kommunikation vor sich geht, denn im Diskurs werden Informationen verteilt, die vorher im Dialog ausgearbeitet wurden, und im Dialog werden Informationen getauscht, die vorher dank einem Diskurs ins Gedächtnis gedrungen sind. Ein wichtiges Moment der Kulturkritik ist das Verhältnis von Dialog und Diskurs. Überwiegt der Dialog, dann entstehen sehr schnell Eliten. Die Masse wird immer weniger informiert. Das ist charakteristisch für unsere Zeit. Es gibt einen Dialog, vor allen Dingen in den Disziplinen der Naturwissenschaften, von dem der größte Teil der Menschheit ausgeschlossen ist. Daher kann in unserer Situation von einer Demokratie überhaupt keine Rede sein. Diese Behauptung ist reine Demagogie. Selten war die Kultur so elitär strukturiert wie gegenwärtig. Wir können das sagen, denn wir zählen uns ja alle zur Elite. Wenn wir uns demokratisch aufführen, dann ziehen wir uns Masken an. Wenn der Dialog vorherrscht, dann wird die turba ingrata[16] zu einer turba ignara.[17] Wenn der Diskurs vorherrscht, wie zum Beispiel zur Zeit des Nazismus oder des Stalinismus, verbrauchen sich die Informationen sehr schnell und verfallen. Bei der Vorherrschaft des Diskurses verarmt die Kultur rapide. Das außerordentlich schwierige Gleichgewicht zwischen Dialog und Diskurs ist gegenwärtig nur dank Apparaten zu leisten.

Speichern

Mythisch: Orale Kultur

Als der Mensch auf der Szene erschien, sagen wir, um der Geschichte einen Punkt und ein Datum zu geben, im Quellgebiet des blauen Nils vor zwei Millionen Jahren, als er begann, erworbene Informationen zu speichern, hatte er im Grunde genommen nur zwei Methoden. Erstens: Der Mensch hat Organe, die ihm erlauben, Luftschwingungen zu Phonemen zu verarbeiten. Er hat Stimmbänder, Lippen, Zunge, Zähne und die dazugehörenden, sie dirigierenden Nervenorganisationen, um Töne auszustoßen, die Phänomene vertreten, Symbole. Er kann zum Beispiel einen Ton ausstoßen, der Gefahr bedeutet. Das ist ihm genetisch vorgeschrieben. Er hat das mit vielen anderen Wirbeltieren, insbesondere in großen Details mit den Schimpansen, gemeinsam. Die Fähigkeit zum Sprechen ist vererbt, aber es ist eine erworbene Information, wie Luftwellen zu Phonemen verarbeitet werden. Jede Sprache muss immer wieder neu erworben werden. Es gibt keine natürliche Sprache. Goethe war sich nicht bewusst, wie radikal sein berühmter Satz ist: »Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.«[18][Kulturkritik I 1a05] So können Bestialität und Zivilisation sehr gut unterschieden werden: Eine Ideologie ist desto bestialischer, je mehr sie auf ererbte, und desto weniger bestialisch, je mehr sie auf erworbene Informationen pocht. Für Menschen sind erworbene Informationen unverhältnismäßig entscheidender als ererbte.

Der kolossale Vorteil der Kommunikationsmethode, die Phoneme erzeugt und sie an einen Empfänger ausrichtet, ist, dass sie stark genetisch unterbaut ist. Zwar ist keine Sprache natürlich, aber Sprechen ist doing what comes naturally. Ein Nachteil der sogenannten oralen Kultur ist, dass während der Transmission Geräusche eindringen und infolgedessen schon bei der Transmission ein Großteil der Information verloren geht. Der zweite Nachteil ist, dass der Speicher das Zentralnervensystem des Anderen ist. Zwar wird, wie bei jeder Kommunikation, etwas Privates veröffentlicht. Jede Kommunikation ist politisches Engagement senso stricto. Sie publiziert etwas Privates. Aber gespeichert wird diese publizierte Information in einem Privatraum.

Magisch: Materielle Kultur

Angenommen, nachdem wir von den Bäumen heruntergekommen sind, können wir uns nicht mehr von Nüssen und Beeren und Eiern ernähren, sondern in der Savanne sind wir gezwungen, Eingeweide von großen Grasessern zu essen. Da wir kein Feuer haben, müssen wir den Tieren, sobald sie verendet sind, den Bauch aufreißen, hineinkriechen und die Nieren, Mägen und Herzen noch warm essen. Diese Fähigkeit, Bäuche zu zerreißen, haben wir aber nicht. Unsere Nägel sind nicht eigentlich Reißnägel, unser Gebiss ist nicht zum Zerreißen von Fleisch gemacht. Sehr bald beginnt man also die Information »Wie reiße ich?« zu erwerben. Mein Freund Baudrillard würde sagen: Ich simuliere den Reißzahn. Ich nehme zum Beispiel einen spitzen Stein und benutze ihn als Messer. Dieses Messer ist ein Gedächtnis. In diesem Stein bewahre ich die Information schneiden oder reißen auf. Wer diesen Stein nach mir in die Hand nimmt, kann diese Information aus dem Stein abrufen. Die Information ist im Stein zugleich publiziert, nämlich intersubjektiviert, und festgehalten. Diese diskursive Geste ist strukturell vergleichbar mit dem Fernsehen, dem Radio oder der Zeitung. Die Summe dieser Gedächtnisstützen heißt materielle Kultur. Gegenüber der oralen Kultur hat sie den Vorteil, dass die Informationen außerordentlich lang aufbewahrt werden können. Aus den Faustkeilen können Sie die Information nach einer Million Jahren noch immer ziemlich gut abrufen.

Historisch: Schriftkultur

[Kulturkritik I 1b01] Es ist gelungen, die Vorteile der oralen und der materiellen Kultur zu verbinden und die Nachteile beider zu minimieren. Es ist nämlich gelungen, Phoneme zu visualisieren. Man kann Zeichen machen, dank deren man Töne aus dem Visuellen abrufen kann. Diese Zeichen heißen Buchstaben. Und man kann sich das Eingraben der Buchstaben dadurch bequem machen, dass man die Buchstaben in weichen Lehm hineinritzt, daher das Wort to write, ritzen, obwohl es ja ein Graben ist, daher das Wort Grafie. Danach kann man diesen Lehm härten. Alle Vorteile der oralen und alle Vorteile der materiellen Kultur können dank der Erfindung des Alphabets herumgereicht werden. Damit entsteht eine neue Gedächtnisstütze, nennen wir sie einmal Bibliothek. Die Bibliothek ist ein Ort, der zugleich materiell und oral ist. Es entsteht eine synthetische Kultur, die wir die literarische oder historische nennen können. Die Bibliothek ist während mindestens tausendfünfhundert Jahren die Gedächtnisstütze par excellence.

Das Phänomen der Kommunikation birgt eine innere Dialektik. Im Fall der Bibliothek wird das deutlich. Ursprünglich meint Bibliothek einen Ort, wo ich erworbene Information hineintrage. Dort lagere ich erworbene Informationen ab, die dann prozessiert werden können. Es kann Bibliothekare geben. Dann kommen die Künftigen, rufen die Information ab, tragen sie nach Hause, bearbeiten sie und liefern sie wieder in der Bibliothek ab. Die Bibliothek funktioniert als Zentralstelle der Kultur, als Zentralstelle jenes Engagements gegen den Tod, von dem wir gesprochen haben. Aber sehr bald schlägt die Funktion der Bibliothek um. Anstatt als Stütze des Gedächtnisses zu dienen, wird sie zum Lebenszweck der Kultur. Zwei Beispiele:

Wenn Sie sich die platonische Philosophie überlegen, so sieht die Sache kurz gesagt so aus: Wir sind vom Himmel gefallene Wesen. Beim Sturz aus dem Himmel in die Welt der Erscheinungen haben wir den Fluss des Vergessens durchquert, dessen Fluten zwar alle Informationen des Himmels in uns zugedeckt, aber nicht ausgelöscht haben. Lethe, vergessen, heißt decken. Unsere Aufgabe ist es, uns wieder an die Informationen, die wir im Himmel, im τόπος oὐρανός (topos ouranßs), ersehen haben, zu erinnern. Lernen ist nichts anderes als wiederentdecken, Vergessenes zurückrufen. Bedenken Sie, die Bibliothek ist kein Ort mehr, in den ich erworbene Informationen hineintrage, sondern jetzt schwebt die Bibliothek über uns im Himmel. Dort stehen die ewigen Informationen in logischer Ordnung, und die Aufgabe des Lebens ist, den Weg in diese himmlische Bibliothek wiederzufinden.

Die zweite, noch gewaltigere Umkehrung der Funktion der Bibliothek ist die jüdische. Danach steht über uns die Schrift, und hinter der Schrift steht das ganz Andere. Der Zweck der Schrift, der Lehre, der Zweck der Thora ist, dass wir im Anderen das ganz Andere wiedererkennen, oder besser, dass wir im Antlitz des Nächsten die Gottheit ersehen. Umgekehrt gesagt: Ich darf mir keine Bilder machen, weil es nur ein einziges gültiges Bild gibt. Dieses Bild ist das Antlitz des Nächsten. Dank dem Anerkennen dieses Bildes bekomme ich einen Schimmer des Erkennens des ganz Anderen. So wurde die Bibliothek sowohl seitens der Griechen als auch seitens der Juden reifiziert und sanktifiziert.

Wenn ich Kommunikologie für eine Kulturkritik ansetze, dann komme ich erst mal zu folgender Situation. Es gibt ursprünglich in der sogenannten Vorgeschichte zwei Kulturen, die nebeneinanderlaufen, einander zwar befruchten, aber dennoch strukturell voneinander getrennt sind, nämlich die orale, oder, wie man so schön sagt, die mythische, und die materielle, oder, wie man sagt, die magische. Dank der Erfindung des Alphabets werden oral und materiell, Magie und Mythos, überholt, in einem Hegel’schen Sinn des Wortes, das heißt, auf eine höhere Ebene gesetzt und dabei aufgehoben. Es entsteht die geschichtliche, literarische Kultur.

Diskursstrukturen

[Kulturkritik I 1b02] Für die Diskursstrukturen, wie für alles, was ich sage, gilt: Definitionen sind Hilfsfiguren und sollen ausradiert werden. Die Wirklichkeit kann man nicht einkasteln. Alles verschwimmt, alles überdeckt sich, überall sind Fuzzy sets