Komplizen - Dietmar Gaumann - E-Book

Komplizen E-Book

Dietmar Gaumann

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Beschreibung

in Liebespaar, das einen verzweifelten Plan schmiedet, ein eifersüchtiger Polizist, der eine Katastrophe heraufbeschwört, ein einsamer Wachmann, eine Fernsehmoderatorin und ihr größter Fan … 'Komplizen' erzählt Geschichten von ganz gewöhnlichen Menschen in ungewöhnlichen Situationen. In einer direkten, lakonischen Sprache berichten die zehn Storys von traurigen und komischen Alltagsdramen, von gebrochenen Figuren, die das Richtige wollen und das Falsche tun. Wie etwa, im ungünstigsten Augenblick eine Waffe zu ziehen.

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Printausgabe gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur Rheinland-Pfalz

Die Edition Schrittmacher wird herausgegeben von Marcel Diel, Sigfrid Gauch, Arne Houben und Thomas Krämer.

© 2006 eBook-Ausgabe 2011RHEIN-MOSEL-VERLAGZell/Mosel Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel.: 06542-5151, Fax: 06542-61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN: 978-3-89801-785-5 Lektorat: Marcel Diel Umschlag: Arne Houben/Dietmar Gaumann

Dietmar Gaumann

Komplizen

Erzählungen

Edition Schrittmacher Band 9

Rhein-Mosel-Verlag

Inhalt:

PolizeigriffBlutprobenSchusswechselWüstenbewohnerKomplizenSprayerVorkehrungenPhantomschmerzenBuschfeuerTom Petty T-Shirt

»Die Lebensgeschichte des Iwan Iljitsch ist sehr einfach und sehr gewöhnlich und doch entsetzlich.« Lew Tolstoj, »Der Tod des Iwan Iljitsch«

»You woke up this morning got yourself a gun ...« Alabama 3

Polizeigriff

Ulf blutet. Er sitzt auf einem der Drehstühle, den Kopf in den Nacken gelegt und kann sich gar nicht beruhigen.

»So ein Arschloch«, flucht er, »ist der jetzt vollkommen irre?«

»Da ist Blut«, sage ich und zeige auf den dunklen, fünfmarkstückgroßen Fleck auf dem blauen Uniformhemd.

»Vielen Dank für deine Hilfe, Ronnie.« In Ulfs Nasenloch steckt ein gezwirbeltes Taschentuch. Vielleicht hat Helmut ihm die Nase gebrochen. Zu sehen ist allerdings nichts. Wir warten auf den Sanitäter.

»Was lässt du dir auch eine verpassen«, sage ich. »Mir wäre das nicht passiert.«

»Erzähl keine Märchen, Ronnie.« Ulf ist sauer wegen dem Schlag, das ist alles. Eigentlich verstehen wir uns bestens. Er nimmt mich mit zur Nachtschicht, seit ich bei Nadja ausgezogen bin. Der Job als Wachmann ist in Ordnung, meist gibt es wenig zu tun. Ein bisschen Pförtner spielen, ein paar Runden auf dem Sendergelände drehen, mehr nicht. Es sei denn, der irre Helmut taucht auf und stellt seiner Ansagerin nach.

»Ehrlich, ich hätte ihn aufs Kreuz gelegt«, sage ich und deute einen Polizeigriff an.

»Ja ja, Ronnie, du bist der Beste. Wissen wir doch.«

»Ich hab’s halt trainiert.«

»Möchte wissen, was in ihn gefahren ist«, mischt sich Benno ein. Er lehnt an der Schaltkonsole und zieht sich mit eingehakten Daumen den Hosenbund über den Bauch. »War ja sonst der reinste Engel.«

»Ist mir egal, was in den gefahren ist«, mault Ulf. »Der ist verrückt. Dass der überhaupt frei rumlaufen darf.«

»Er ist kein schlechter Kerl«, sage ich und reiche Ulf ein weiteres Taschentuch. »Nur bekloppt.«

Draußen hat einer der Polizisten Helmut eine Wolldecke übergeworfen. Es ist Ende Oktober, der erste Nachtfrost glitzert auf der Straße und Helmut ist wie üblich splitternackt. Sie haben ihm Handschellen angelegt und drücken ihn sanft auf die Rückbank. Als sie die Tür schließen, presst Helmut sein Gesicht gegen die Scheibe. Man sieht den kondensierenden Atem und seine Nase, die sich an dem kalten Glas grotesk verformt.

Wir haben ihn auf dem Parkplatz aufgelesen, mit einem Strauß Rosen, die er an seine haarlose Brust gedrückt hielt. Er stand einfach da, neben dem cremefarbenen Saab von Babette Schürenbrand, und wartete darauf, dass die Ansagerin das Sendegebäude verließ. Als wir ihn ansprachen, begrüßte er uns mit einem artigen »Guten Abend«. Wir sagten, dass wir ihn mitnehmen müssten. Er nickte. Dann versuchte Ulf, ihm die Rosen wegzunehmen.

»Das ist wie bei der Seles.« Benno öffnet die Schranke für den Streifenwagen. Der Polizist winkt kurz aus dem Seitenfenster. »Der Typ war auch von ihr besessen.«

»Das war doch ganz was anderes«, sage ich. »Der Typ hat sie gehasst und auf sie eingestochen.«

»Ja, weil er in Steffi Graf verliebt war.« Benno denkt, dass er alles besser weiß, nur weil er hier der Chef ist.

»Ich frag mich, wie Helmut von dieser blöden Kuh besessen sein kann«, sagt Ulf.

Ich zucke mit den Schultern. »Wahrscheinlich, weil sie berühmt ist.«

»Sie ist Ansagerin.«

»Sie ist beim Fernsehen.«

»Wir sind auch beim Fernsehen.« Ulf zieht vorsichtig das Taschentuch aus der Nase, sieht nach, ob es noch blutet.

»Das ist was anderes«, sage ich.

In meiner Wohnung ist es kalt. Cocelli, der Hausmeister, verspricht jedes Mal, wenn ich ihn im Treppenhaus treffe, sich darum zu kümmern. Seit drei Wochen haben wir Heizperiode und mein Apartment ist der reinste Kühlschrank.

Ich lasse die blaue Uniformjacke auf den Boden fallen, hole mir einen sauberen Teller aus einem der Kartons und häufe eine ordentliche Portion Honig-Smacks darauf. Ich habe einen Riesenhunger von den Energy-Drinks, die Ulf seit ein paar Wochen mit zur Arbeit bringt. Er hat die Dosen von einem Kumpel, der versucht, das Zeug an Tankstellen zu verkaufen. Selbst Ulf schmeckt es nicht, aber ich kann von dem klebrigen Geschmack gar nicht genug kriegen.

Die Milch auf der Spüle riecht komisch, also schaufele ich die Smacks trocken in mich rein. Mit meiner Ernährung steht es nicht zum Besten. Das wird sich alles ändern. In ein paar Tagen will Ulf seinen alten Kühlschrank vorbeibringen.

Ich wohne seit zwei Monaten hier – ein Zimmer, Kochnische, Bad. Ich brauche nicht mehr. Und endlich kann ich machen, was ich will. Ich kann die Füße auf den Wohnzimmertisch – zwei Kisten und eine Sperrholzplatte – legen und mir ungestört die Samstagsspiele auf Video ansehen. Niemand fragt mich, wann ich nach Hause komme, niemand hält mir vor, dass ich dieses oder jenes gesagt habe. Ich will es gar nicht mehr anders haben.

Ich nehme das Telefon vom Boden und wähle Cocellis Nummer. Vielleicht erwische ich ihn noch, bevor er zur Arbeit muss. An Schlaf ist im Moment nicht zu denken. Ich hätte weniger von dem Zeug trinken sollen. Mein Herz hört sich ungesund an. Cocelli geht ran. Er klingt noch verschlafen, verspricht aber gleich vorbeizuschauen.

Als Cocelli klopft, hänge ich hastig meine Uniformjacke ins Bad. Ich sollte niemanden in die Wohnung lassen, es sieht hier ziemlich unordentlich aus. Doch Cocelli ist das offenbar egal. Als ich die Tür öffne, grinst er mich an wie immer. Er ist ein fröhlicher Mensch, denke ich. Er inspiziert den Heizkörper und pfeift dabei ein Lied, das sich nach »La Isla Bonita« anhört.

»Was macht die Polizei?«, fragt er, während er die Heizung entlüftet. So redet er immer. Wir haben uns ein paar Mal unterhalten, wenn wir uns im Hausflur trafen. Nichts von Bedeutung. Ich habe ihm ein paar Sachen erzählt, die mir gerade im Kopf herumschwirrten. Ich rede gern mit anderen Leuten. Das ist eine Sache, die ich wirklich gut kann. Mir fällt immer eine gute Geschichte ein.

»Alles prima«, sage ich. Ich lasse ihn besser alleine, denke ich, gehe rüber in die Küche und greife noch einmal in die Smacks-Packung. In meinem Magen rumort es. Man hat zu den seltsamsten Zeiten Hunger, wenn man Nachtschichten schiebt. Man ist aus dem Rhythmus, ein wenig neben der Spur.

Als ich zurückkomme, hält Cocelli prüfend die Hand an den Heizkörper.

»Und«, frage ich, »wie sieht es aus?« Er schüttelt zweifelnd den Kopf. Ich merke, wie ich allmählich müde werde. Ich lege mich aufs Sofa, sehe Cocelli zu, wie er das Entlüftungsventil dreht. Ich sage ihm, dass ich mir zwei Videofilme gekauft habe, »Phantom Kommando« und »Die City Cobra«. Ich weiß, dass er auch Videos sammelt. Aber er nickt nur. Er ist zu sehr mit der Heizung beschäftigt. Ich lege den Kopf auf die Lehne, merke, wie sich mein Puls beruhigt. Ich denke darüber nach, was ich Cocelli noch erzählen könnte, aber ich bin schon zu müde. »Ich glaube, es wird schon warm«, sage ich.

Dennis ist von der Geschichte mit Helmut begeistert. Ich hole ihn sonntags bei Nadja ab, alle zwei Wochen. Sie verbringt dann den Nachmittag mit einer Freundin, deren Namen ich mir nicht merken kann. Wir gehen ins Kino und danach zu McDonald’s. Manchmal bekommt Dennis auch zwei Hamburger, vor und nach dem Film. Ich schärfe ihm jedes Mal ein, dass er Nadja nichts davon erzählen soll. Er nickt, aber ich bin mir nicht sicher, ob er mir wirklich zuhört.

Wir waren in »König der Löwen«. Dennis ist aufgedreht, sein Haar klebt verschwitzt in der Stirn. Er zappelt auf seinem Stuhl herum, während ich mich in die Schlange der wartenden Väter einreihe.

Am Tisch erzähle ich ihm, wie Helmut Ulf auf die Nase geschlagen hat. Als ich Ulf nachmache, wie er auf dem Parkplatz zusammensackt, prustet Dennis so heftig, dass ihm Speichel aus dem Mund tropft. Die Familien an den Nebentischen drehen sich zu uns um.

»Ich hab Helmut in die Mangel genommen«, sage ich.

»War er nicht stärker als du?« Dennis ist sechs, in einem schwierigen Alter. Er will alles ganz genau wissen. Er ist ein schlauer Junge, aber auch etwas misstrauisch. Von mir hat er das nicht.

»Ich habe den Polizeigriff angewendet«, sage ich. Ich drehe meinen Arm auf den Rücken und zeige ihm, wie ich Helmut festgehalten habe.

»Aber er hat Ulf fertig gemacht.« Dennis ist nicht überzeugt. Er glaubt, Ulf ist stärker, weil er einen Kopf größer ist als ich.

»Stärke hat nichts mit Größe zu tun«, sage ich, um ihm auf die Sprünge zu helfen. Dennis fasst sich mit der ketchupverschmierten Hand in das bereits klebrige Haar. Schließlich zeigt er mit dem Finger auf mich und sagt: »O.k., du bist stärker.« Dann sagt er: »Ich will noch ein Eis.« Ich kauf ihm eins, dann fahren wir zurück.

Nadja ist noch nicht da. Da ich keinen Schlüssel mehr habe, warten wir im Auto. Ich stelle das Radio an, Dennis lässt den Gummilöwen aus der Juniortüte über das Armaturenbrett wandern. Er schnieft dabei, wischt sich die Nase mit dem Zeigefinger. Ich habe alle Taschentücher verbraucht, um das Ketchup aus seinen Haaren zu kriegen.

»Wie ist die Schule?«, frage ich und komme mir komisch dabei vor.

»Gut«, sagt Dennis, ohne aufzuschauen. Er ist müde. Ich frage mich, wo Nadja bleibt. Die Standheizung läuft auf Hochtouren. Ich will nicht riskieren, dass ich mit Ulfs BMW hier liegen bleibe. Unsere Schicht fängt in einer Stunde an.

Dann klopft sie gegen das beschlagene Seitenfenster. Ich lasse die Scheibe runter und sage: »Hallo.« Sie ist abgehetzt, hat Lippenstift aufgelegt.

»Warum lässt du ihn schlafen?« Sie zeigt auf Dennis, der auf dem Beifahrersitz in sich zusammengesunken ist. »Jetzt kriege ich ihn wieder nicht ins Bett.«

»Hab’s nicht bemerkt«, sage ich. »Tut mir leid.«

Sie erwidert nichts. Sie steht neben dem Wagen und hält mit einer Hand ihre Jeansjacke vor der Brust zusammen, um sich gegen die Kälte zu schützen.

»Steig doch ein«, sage ich.

»Du musst doch gleich weiter. Ulf wartet sicher schon.« Sie schaut weg, sieht einem Sportwagen nach, der die Straße hinunterrauscht.

»Der kann warten«, sage ich. Schließlich warte ich schon seit Wochen auf ihn und den Kühlschrank. Doch davon will ich Nadja nichts erzählen. Ich will einfach nur reden, belangloses Zeug, wie man das eben so macht.

Nadja neigt den Kopf zur Seite und zündet sich eine Zigarette an. Ein kalter Wind weht den Rauch zu mir herein. Sie raucht die Billigzigaretten aus dem Drogeriemarkt, in dem sie jetzt arbeitet.

»Was habt ihr gemacht?«, fragt sie.

»Das Übliche. Kino und McDonald’s.«

»Schön.« Das Wort klingt seltsam aus ihrem Mund. Es ist ein Wort, das sie sonst nie benutzt. Prompt verliere ich den Faden, weiß nicht, was ich sagen soll.

»Dennis und ich sollten jetzt nach oben gehen.« Es ist mein Fehler, dass sie das sagt. Mir fällt nichts ein, was ich erzählen könnte. Ich will nicht, dass sie geht, deshalb sage ich: »Ich mache wieder die Aufnahmeprüfung.«

»Warum tust du das, Ronnie?« Ihr Gesicht ist grau vor Kälte. »Warum kannst du nicht damit aufhören?«

»Diesmal klappt’s. Ganz bestimmt.« Ich habe damit angefangen und kann jetzt nicht mehr zurück.

»Ich will das nicht mehr hören«, sagt sie und wirft die Zigarette in den Rinnstein. Ich will ihr sagen, dass ich nur wegen ihr und Dennis so etwas erzähle. Aber ich weiß, dass sie das nicht versteht. Für sie muss man immer bei der Wahrheit bleiben.

»Dennis hat gefragt, ob wir nächsten Sonntag mal wieder zu dritt zu McDonald’s gehen«, sage ich, als sie die Beifahrertür öffnet.

»Vielleicht«, erwidert sie, ohne mich anzusehen. Sie zupft sanft an Dennis’ Anorak.

»Du musst los, Ronnie«, sagt sie.

Ich übernehme die Heimfahrt. Ulf döst mit geschlossenen Augen auf dem Beifahrersitz. Wir verlassen die Stadtautobahn, zwischen den Wohnblocks lichtet sich blau der Himmel. Auf der anderen Spur beginnt der Berufsverkehr.

Ich bin froh, dass Ulf mal die Klappe hält. Seit der Sache mit Helmut ist er ungenießbar. Die ganze Nacht hatt er gejammert, dass er durch die Nase keine Luft bekäme. Alle fünf Minuten schnaufte er in sein Taschentuch und untersuchte danach den Popel auf Blutspuren. Ich hatte mir vorgenommen, nichts zu sagen. Aber er hörte einfach nicht auf, Helmut zu verfluchen. Schließlich sagte ich, dass ich die Sache nicht so schlimm fände. Ich hatte Mitleid mit Helmut – er war verrückt und das war wohl nicht seine Schuld. Aber das hätte ich nicht sagen sollen. Mit Ulfs Laune war es dann endgültig vorbei und Benno musste ihn raus zu einem Rundgang schicken. »Kannst du verstehen«, sagte ich, als Ulf verschwunden war, »wie man sich nach einer Woche noch so darüber aufregen kann?«

Mein Magen meldet sich mit einem lauten Glucksen. Mir fällt ein, dass ich nichts mehr zu essen im Haus habe. Selbst die Smacks sind mir ausgegangen.

»Was ist mit dem Kühlschrank?«, frage ich Ulf.

»Müssen wir unbedingt machen, ja«, sagt er abwesend.

»Wie wär’s morgen?«

»Nein, morgen ist«, er öffnet die Augen, schaut durch die vom Regenwasser verschmierte Scheibe, »morgen ist schlecht.« Er fasst sich wieder an seine lädierte Nase.

Ich sage nichts. Er hat mir den Kühlschrank seit Wochen versprochen. Es war seine Idee, nicht meine. Möchte wissen, warum er mir überhaupt das Angebot gemacht hat.

»Wo willst du hin?«, fragt Ulf. Ich bin von der Hauptstraße abgebogen, fahre am Krankenhaus vorbei. Ulf weiß, was ich vorhabe.

Das Haus ist ein sechsstöckiger Flachdachbau ohne Balkone. Die Wohnung liegt in der dritten Etage. Ich gehe mit dem Tempo runter, schaue hoch, ob schon Licht brennt. Nadja hat noch Zeit, aber Dennis muss in zwanzig Minuten den Schulbus bekommen.

Das Küchenfenster ist dunkel. Jemand hat den Rasen vor dem Haus vom Laub befreit, die Büsche zurückgeschnitten. Dennis’ Fahrrad, sein Geburtstagsgeschenk, ist neben der Tür angekettet. Reklamebeilagen liegen, vom Wind verstreut, auf dem Fußweg.

»Das bringt nichts, Ronnie, vergiss es.« Ulf streicht mit der Hand Flusen von seinen Hosenbeinen. »Such dir ne Neue.« Er schnieft. »So mach ich das auch immer.«

Ich höre ihm gar nicht zu. Ich drehe den Kopf zur Seite, sehe die Mülleimer neben dem Haus an mir vorbeiziehen, dann die Querstraße. Ich überlege anzuhalten und zu klingeln. Vielleicht haben sie verschlafen. Nadja kommt immer schwer aus dem Bett. Regelmäßig verschlief sie den Wecker, blieb einfach liegen, die Hand unter das Kinn geschoben, die Lippen leicht zum Atmen geöffnet. Ich schlich dann aus dem Zimmer und machte Kaffee. Erst Dennis’ helles Frühstücksgeplapper trieb sie schließlich aus dem Bett. Sie kam in die Küche, mit dem vom Schlaf verknittertem T-Shirt, sagte leise »Guten Morgen« und griff nach der Cornflakespackung.

»Vielleicht am Wochenende«, sagt Ulf.

Ich bin so in Gedanken, dass ich eine Zeit brauche, bis ich begreife, was er meint.

Nadja vertröstet mich für das Wochenende, redet sich raus auf das übernächste. Sie ist komisch am Telefon. Sie spricht mich mit meinem Vornamen an, als sei ich nur irgendein Bekannter. Ich höre die Pausen am anderen Ende, wenn sie sich eine neue Zigarette ansteckt.

Den Grund für ihr Verhalten erfahre ich, als ich mit Dennis zum ersten Mal den Sonntag in meiner Wohnung verbringe. Er sitzt mit seinem dicken, winterblauen Anorak auf der Couch und wippt mit den Füßen auf und ab. Ich fummele an der Heizung herum und frage mich, wofür ich Cocelli eigentlich bezahlt habe. In meinem Rücken knistert Dennis’ Hand in einer Tüte Erdnussflips, mit der ich ihn ruhig gestellt habe. Er hat bereits gequengelt, als er hereinkam. Er wolle ins Kino, zu McDonald’s, Eis essen. Dabei habe ich mir so viel Mühe gegeben. Ich habe aufgeräumt, die Kleider vom Boden aufgelesen und von Cocelli »Arielle, die Meerjungfrau« ausgeliehen. Und dann das. Ich kenne Dennis’ Gesichtsausdruck, ich weiß, wenn er enttäuscht ist. Doch mit dem, was dann kommt, habe ich nicht gerechnet.

»Mama sagt, du lügst.« Er sagt das einfach so, starrt dabei ein Loch in die Luft, wie er das in letzter Zeit oft macht.

»Sag das noch mal.«

Er schüttelt den Kopf und bleibt stumm. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Ich überlege, was ich Dennis erzählt habe. Was Nadja gemeint haben könnte.