Konfuzius - Michael Schuman - E-Book

Konfuzius E-Book

Michael Schuman

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Auch 2500 Jahre nach Konfuzius bestimmen die die Ideale des alten Lehrmeisters, wie 1,6 Milliarden ihre Identität verstehen. Je einflussreicher Asien auf der Weltbühne agiert, umso wichtiger wird deshalb Konfuzius auch für die globale Kultur.

Michael Schuman, Sinologe und langjähriger Südostasien-Korrespondent des Time Magazine, hat ein umfassendes Portrait des enigmatischen Philosophen geschaffen.

  • Das Standardwerk über Asiens einflussreichsten Philosophen
  • Eine faszinierende Kombination aus Kulturgeschichte und Reportage

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 604

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Auch 2500 Jahre nach Konfuzius bestimmen die Ideale des alten Lehrmeisters, wie 1,6 Milliarden Menschen im Fernen Osten ihre Identität verstehen. Je ­einflussreicher Asien auf der Weltbühne agiert, umso wichtiger wird deshalb Konfuzius auch für die globale Kultur.

Michael Schuman, Sinologe und langjähriger Süd-ostasien-Korrespondent des Time Magazine, hat ein umfassendes Portrait des enigmatischen Philosophen geschaffen. Eine faszinierende Kombination aus Kulturgeschichte und Reportage.

Michael Schuman studierte Sinologie, Politik und Internationale Beziehungen. Seit 2002 ist er China-Korrespondent für das Time Magazine. Zuvor war er Korrespondent des Wall Street Journal in Südkorea, Singapur und Indonesien und berichtete für das Forbes Magazine. Der Autor lebt in Peking.

Michael Schuman

KONFUZIUS

DER MANN UND DIE WELT, DIE ER SCHUF

Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Liebl

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröff entlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfl uss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Confucius – And the World He Created © Basic Books, A Member of the Perseus Books Group, New York.Copyright © 2016 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotiv: plainpicture / ponton / Bildnr. p662m1018098 f

ISBN 978-3-641-18224-3V001www.koesel.de

INHALT

EINFÜHRUNG

TEIL I

1 Konfuzius, der Mensch

2 Konfuzius, der Weise

3 Konfuzius, der König

4 Konfuzius, der Unterdrücker

TEILII

5 Konfuzius, der Vater

6 Konfuzius, der Lehrer

7 Konfuzius, der Frauenfeind

TEILIII

8 Konfuzius, der Geschäftsmann

9 Konfuzius, der Politiker

10 Konfuzius, der Kommunist

NACHWORT

DANKSAGUNG

ANHANG

ANMERKUNGEN

LITERATUR

REGISTER

Für Eunice,meine Lieblings-Konfuzianerin

EINFÜHRUNG

Wie Konfuzius die Welt veränderte

2500 Jahre nachdem Konfuzius seine Lehren darlegte, sind sie immer noch eng verflochten mit der Gesellschaft in den ostasiatischen Ländern. Sie haben zahllose ­politische Umstürze, wirtschaftliche Umwälzungen und einen nimmer endenden Strom fremder religiöser und politischer Doktrinen bzw. kultureller Einflüsse überlebt. Obwohl Ostasien in den letzten Jahrzehnten den Übergang zur Moderne im Schnelldurchgang vollzogen zu haben scheint, kann man selbst heute noch keine gelingende Unterhaltung mit einem Chinesen, Koreaner oder Japaner führen, ohne die althergebrachten Ideale des Konfuzius verstanden zu haben. Seine Lehren sprechen aus den Aktivitäten von Ministerien und Parlamenten, prägen die politischen Maßnahmen und bestimmen, wie Funktionäre mit den Bürgern umgehen. Sie machen sich in Vorstandsetagen genauso bemerkbar wie in der ­Fabrikhalle. Direktoren richten ihre Unternehmensstrategien und ihre Personalentscheidungen danach aus. Sie reichen bis hinein ins Klassenzimmer, wo sie die Bildung der Schüler beeinflussen, ja selbst bis ins Ehebett, weil sie heute noch die Beziehungen zwischen Mann und Frau regeln. Konfuzius bestimmt, was Ostasiaten über Demokratie, Kindererziehung, Berufswahl, Kontakte zu Kollegen und ihre höchsteigene Identität denken. Ohne ein grund­legendes Verständnis der konfuzianischen Ideen können Sie dort kein Unternehmen führen, mit Regierungsbeamten verhandeln oder sich einen Reim auf die komplexen Vorgänge bei Verabredungen zwischen den Geschlechtern machen.

Das macht Konfuzius zweifellos zu einem der wichtigsten Männer, die je gelebt haben. Seine Lehren prägen das Leben von gut 1,6 Milliarden Menschen, fast einem Viertel der Weltbevölkerung. Seine geografische Einflusssphäre erstreckt sich vom nördlichen ­Japan bis zur indonesischen Insel Java. Nur das Christentum kann heute noch von sich behaupten, einen größeren Einfluss auf die moderne globale Kultur auszuüben. Obwohl Asien heutzutage von äußeren Einflüssen geradezu überrannt wird – vom Kommunistischen Manifest über die Bibel bis hin zu Harry Potter, von der Latte macchiato über McDonald’s hin zu Britney Spears –, haben die Lehren des Konfuzius überlebt, weil sie viel zu sehr in der Alltagskultur verwurzelt sind, als dass man sie einfach ausreißen, ersticken oder ersetzen könnte. Konfuzius steht als Begründer der modernen Zivilisation gleichberechtigt neben Abraham, Jesus, Mohammed und Siddhartha Gautama (den man als Buddha kennt), aber auch neben Platon und Aristoteles.

Trotzdem wissen die Menschen im Westen nur wenig über Konfuzius. Dieses fehlende Wissen aber ist riskant. Asien gewinnt an globaler Bedeutung. Ihm kommt heute schon deutlich mehr Gewicht in der globalen Wirtschaft und der internationalen Geopolitik zu, als es über mehrere Hundert Jahre hatte. Damit gewinnt auch Konfuzius an Bedeutung und die Kultur, die er geschaffen hat. Um mit den neu erstarkten Nationen Ostasiens in Wettbewerb treten zu können, um zu begreifen, was die Geschäftsleute, Politiker und Strategieplaner antreibt, muss der Westen Konfuzius, seine Philosophie und sein Erbe verstehen lernen. Wir in den Vereinigten Staaten und in Europa müssen uns klarmachen, dass die ostasiatische Zivilisation auf völlig anderen philosophischen Grundfesten errichtet wurde als die westliche – und diese wiederum gehen zum Großteil auf die Lehren Konfuzius’ zurück.

Gelehrte und Politiker der westlichen Welt haben jahrhundertelang die griechischen Philosophen (Sokrates, Platon, Aristoteles) studiert, sie haben die Bibel gelesen und andere Schriften der jüdisch-christlichen Tradition. Sie haben sich mit den Denkern auseinandergesetzt, die die Grundlagen unserer modernen Gesellschaft gelegt haben, wie John Locke, Thomas Hobbes und Adam Smith. In Ostasien ist das anders. Dort haben Akademiker, Schriftsteller und Staatsbeamte die konfuzianischen Klassiker gelesen, die das ideologische Rückgrat der ostasiatischen Institutionen bildeten, der Lehrpläne und der Normen des sozialen Diskurses. In China war die Kenntnis des konfuzianischen Kanons mit seinen zahllosen Kommentaren und Aufsätzen die Grundvoraussetzung für gesellschaftlichen und beruflichen Erfolg, ja das Herzstück der Erziehung, die man besitzen musste, wollte man zu den gebildeten Menschen gehören. Mehr als 1900 Jahre lang wurden chinesische Beamte zu einem Amt nur dann zugelassen, wenn sie in Prüfungen ihre Kenntnis dieser klassischen Texte unter Beweis gestellt hatten. In Ostasien war es Konfuzius, nicht Moses, der den Menschen ihre moralischen Maßstäbe gab. Es war Konfuzius, nicht John Locke oder Thomas Jefferson, dessen Lehren die Beziehung zwischen Bürger und Staat prägten und die Stellung des Individuums in der Gesellschaft. Der Konfuzianismus war keineswegs der einzige Einflussfaktor in der ostasiatischen Gesellschaft. Auch der Buddhismus spielte eine entscheidende Rolle. Und die Religionen und Ideologien, die sich in den letzten zweihundert Jahren in Ostasien verbreiteten, vom Christentum bis hin zum Marxismus. Konfuzius ist nicht der einzige brillante Philosoph Asiens. Laozi, der (möglicherweise mythische) Begründer des Daoismus, ist nur einer von vielen wichtigen Denkern, deren Einfluss noch heute im asiatischen Leben spürbar ist. Doch keiner von ihnen war für Ostasien über so lange Zeit so bedeutsam wie Konfuzius. Tatsächlich ist die Historie der ostasiatischen Zivilisation gleichzusetzen mit der Entwicklungsgeschichte der konfuzianischen Lehren.

Die meisten Menschen können auf Befragen einen Lehrer nennen, der einen bleibenden Einfluss auf ihr Leben gehabt hat. Gute Lehrer bringen in ihren Schülern mehr zum Vorschein als nur die Fähigkeit, Gleichungen zu lösen oder die Namen aller Präsidenten aufsagen zu können. Sie haben Einfluss darauf, was ihre Schüler glauben und wie sie ihr Leben führen. Und sie können in ihnen die Leidenschaft zu lernen wachrufen, den Wunsch, über sich hinauszuwachsen.

So gesehen ist Konfuzius wohl der größte Lehrer der Menschheitsgeschichte. Obwohl er an einem bestimmten Punkt seiner Laufbahn auch ein mäßig erfolgreicher Beamter und Minister war, brachte er den Großteil seines Lebens lehrend zu. Als Lehrer hinterließ er einen bleibenden Einfluss, der einmal ganz Asien prägen sollte. Das berühmteste Werk, das man mit ihm in Verbindung bringt, sind die Analekten oder Gespräche – Ausschnitte aus Diskussionen mit seinen Schülern, in denen er sie über Tugend, gute Regierungsführung, persönliche Beziehungen, Ethik und Geschichte unterrichtete. Was Konfuzius lehrte, war die Weisheit der chinesischen Vorgeschichte, ein zeitloser Moralkodex und eine ­Vision der Menschheit, die jeden tief berührt, der sie liest. Seine hingebungsvollen Schüler waren überzeugt vom hohen Wert seiner Lehren und gaben sie an die nächste Generation weiter, die sie ­wiederum weitergab. In jedem Jahrhundert nach Konfuzius’ Tod kamen neue Schülergenerationen hinzu, die seine Lehren studierten, Kommentare verfassten und die Weisungen von »Meister Kong« mitunter dramatisch umdeuteten. So bildete sich mit der Zeit eine philosophische Denkschule heraus, die zur Grundlage der Ethik und Staatskunst in Ostasien wurde. Konfuzius wäre nicht Konfuzius, hätten seine Schüler seine Lehren nicht weitergegeben und sein Erbe gepflegt.

Über die Jahrhunderte wurde Konfuzius also zu einer zentralen Gestalt innerhalb der ostasiatischen Gesellschaft, wodurch sich auch sein Bild wandelte. Er wurde nicht länger nur als einfacher Lehrer betrachtet, sondern zum Höchsten Weisen erhoben, zum Gründervater der chinesischen Zivilisation, zu ihrem »Ungekrönten König«, der zwar niemals Regierungsverantwortung getragen hatte, aber vom Himmel zum Herrscher gemacht worden war. Jeder Chinese oder Koreaner, der als wirklicher Ehrenmann gelten wollte, musste sich an Konfuzius messen. James Legge, der berühmte britische Sinologe des 19. Jahrhunderts, schrieb, Konfuzius sei »der Mann, in dem sich alle persönliche Vortrefflichkeit verkörpere und der alle möglichen Lektionen sozialer Tugend und politischer Weisheit gelehrt«1 habe.Es gab sogar Epochen der chinesischen Geschichte, in denen Konfuzius nahezu vergöttlicht wurde als eine Art Superheld mit Wunderkräften und heiligenhafter Erscheinung. Eine Legende macht ihn gar zum Sohn eines Geistwesens – womit er eine Art chinesischer Perseus wäre. Opfer und Zeremonien in Konfuzius’ Namen wurden fast 2000 Jahre lang durchgeführt. Jede Stadt in China, die etwas auf sich hielt, besaß einen eigenen Konfuzius-Tempel. Selbst der Kaiser vollführte gelegentlich den ehrerbietigen Gruß Kotau vor seinem Schrein. Die Liste der Titel, die man Konfuzius nachträglich verlieh, wurde mit der Zeit geradezu lächerlich lang. Im Jahr 1 war er noch ein ein­facher »Herzog«, später aber wurde aus ihm der »Vollendete Heilige«, der »Größte Weise und Antike Lehrer«, schließlich dann der »Lehrer der Klassik und der Vollendete, Außerordentliche und Vollkommene Weise«. Seinen Nachfahren verlieh der Staat Adelsstatus und ausgedehnte Ländereien.

Solcherart pathetisches Lob und pompöse Zeremonien hätten Konfuzius vermutlich zum Erröten gebracht. Nach allem, was wir über den historischen Konfuzius wissen, behauptete er nie, etwas anderes zu sein als ein Mensch. Gelegentlich beschrieb er sich sogar als den »Kaum-Vollendeten«. Der Meister war häufig erstaunlich selbstironisch – er spielte seine geistigen Fähigkeiten herunter, zweifelte an seiner Moral und witzelte über seine Armut. Er selbst bezeichnete sich nie als Weisen, schon gar nicht als Superhelden. »Was Wissen und Bildung angeht, so stehe ich anderen Leuten nicht nach. Aber mich selbst im praktischen Leben immer wie ein Edler zu verhalten, das habe ich noch nicht erreicht«2, gestand er einmal.

Den echten Konfuzius freizulegen, ihn aus Mythen und Legenden herauszuschälen, aus Gerüchten und Anklagen, Märchen und Missdeutungen, ihn unter den Ablagerungen von 2000 Jahren wiederzufinden ist keine leichte Aufgabe. Der Konfuzius moderner Diskurse ist nicht derselbe wie der ein Jahrhundert früher oder der des klassischen Zeitalters. »Jedes Zeitalter hat seinen eigenen Konfuzius, und in jeder Epoche gibt es mehrere Konfuziusse«, schrieb der moderne Historiker Gu Jiegang. »Die Gestalt des Konfuzius verändert sich je nachdem, was die Menschen einer Epoche von ihm denken oder sagen. Doch die meisten Menschen sind sich dessen kein bisschen bewusst, daher erkennen sie das wahre Antlitz des Konfuzius am Ende nicht.«3 Die Fähigkeit des Konfuzius, sich den Anforderungen jedes Zeitalters anzupassen, hat ihn zu einer immer noch lebendigen und interessanten Gestalt werden lassen, die Jahrhunderte des Wandels überstand. Aber sie hat ihn vielleicht auch zu etwas gemacht, was er nie sein wollte.

Konfuzius war mehr ein Symbol als ein Mensch aus Fleisch und Blut, sowohl für seine Anhänger als auch für seine Feinde. Er ist eine Ikone, die stellvertretend für Chinas kulturelles Erbe steht, ein Totem der kaiserlichen Herrschaft, der archetypische Mensch, das Gesicht der Unterdrückung, die Stimme des Wandels, der Schirmherr des Lernens, ein Instrument der Public Relations, ein spiritueller Führer und ein Emblem für alles, was an China groß oder negativ ist. Er war Reaktionär und Revolutionär, Diktator und Demokrat, Feudalherr und Kapitalist, brillanter Gelehrter und Betrüger, Fremdenfeind und Globalisierer, eine Stütze des Staates und ein gefährlicher Dissident, ein vorbildlicher Humanist und ein Zerstörer der Seelen. Er war die Ursache für Asiens wirtschaftlichen Erfolg und Ursache seines ökonomischen Scheiterns, kultureller Fundamentalist und messianischer Visionär, die Quelle von Ost­asiens Stärken und Schwächen. Im Westen gilt Konfuzius als Verkörperung der chinesischen Zivilisation, Quell der uralten Weisheit des Ostens, rollengerecht gewandet in fließende Roben, vom langen weißen Bart ganz zu schweigen. Käme Konfuzius heute noch einmal zur Welt, er würde sich schwerlich wiedererkennen.

Der Konfuzius, den wir heute kennen, ist keine Exklusivschöpfung der Chinesen. Der moderne Konfuzius ist »ein Produkt, das von vielen Händen über viele Jahrhunderte hinweg geschaffen wurde, von kirchlichen ebenso wie von ungläubigen, westlichen genauso wie chinesischen«, sagt der Historiker Lionel Jensen. Jensen geht davon aus, dass Konfuzius zum Teil eine Erfindung der jesuitischen Missionare ist, die im 16. Jahrhundert nach China kamen. Als sie versuchten, diese neue und fremde Zivilisation zu verstehen, fabrizierten sie einen dazu passenden »-ismus«, dessen Begründer natürlich ein großer Heiliger sein musste. So hatten das selbst die Chinesen noch nicht gesehen. Tatsächlich ist der Name Konfuzius eine jesuitische Schöpfung, die seltsame Übertragung des chinesischen Kong fuzi, eine (selten verwendete) Bezeichnung, die einfach »Meister Kong« heißt. Kong war sein Familienname. Der Konfuzius, den wir kennen, so Jensen, ist auf jeden Fall eine »Erfindung der westlichen Einbildungskraft«4.

Die Lehre des Konfuzius ist nicht leichter zu fassen als der Mensch hinter ihr, und das aus ganz ähnlichen Gründen. Wie die historische Persönlichkeit sind auch ihre Lehren wieder und wieder ­interpretiert worden, überarbeitet und erweitert von zahllosen Denkern, Schriftstellern und Kaisern, die mitunter Ideen und Glaubenssätze einbauten, die zu ihrer Zeit gerade im Schwange waren. Mit dem Resultat, dass der Konfuzianismus mittlerweile eine synkretistische Wundertüte aus Traditionen, Ideologien, Zeremonien, Konzepten und Glaubensgrundsätzen ist, innerhalb derer sich die unterschiedlichen Schulen hitzige Debatten liefern, wenn sie sich nicht gleich als eigene Strömung verselbstständigt haben. Menschen, die Konfuzius in ihre nicht-chinesischen Heimatländer brachten, haben seine Lehren mit den dort herrschenden Praktiken und Vorstellungen vermengt.

Die Büfettnatur des konfuzianischen Denkens hat dazu geführt, dass sowohl in Asien als auch in Europa eine anhaltende (und immer noch nicht gelöste) Debatte darüber geführt wird, was Konfuzianismus eigentlich ist. Denn dieser wird sehr häufig mit Vorstellungen aus anderen ostasiatischen Religionen wie Buddhismus oder Daoismus vermengt. Wenn Sie in China, Südkorea oder Taiwan einen Tempel besuchen, werden Sie dort Menschen antreffen, die sich vor einem konfuzianischen Schrein auf dieselbe Weise verneigen wie vor einer Buddhastatue. Außerdem beinhaltet der Konfuzianismus einen Moralkodex, der den Zehn Geboten sehr ähnlich ist. »Es gibt kein im Westen anerkanntes ethisches Prinzip, das sich nicht explizit oder implizit in den konfuzianischen Lehren wiederfindet, keine ›christliche‹ Tugend, die man nicht auch aus einem konfuzianischen Text herauslesen könnte«, schreibt der Sinologe Reginald Fleming Johnston, der Lehrer des letzten Kaisers von China.5

Doch sobald man nur ein wenig tiefer in den Konfuzianismus eintaucht, wird es problematisch, diese Tradition mit anderen ­Religionen, sei es nun östlicher oder westlicher Provenienz, gleichzusetzen. Wir finden nämlich im Konfuzianismus keinen der Fallstricke moderner Religion. Es gibt dort keine echte Priesterschaft, keine klar definierte »Kirche« und keine zentrale Gottheit, auf die sich die Anbetung konzentrieren würde. Obwohl viele Menschen in Ostasien von sich sagen, dass sie stark von Konfuzius beeinflusst seien, würden sich nur wenige unter ihnen »Konfuzianer« nennen, wie die Gläubigen anderer großer Weltreligionen von sich behaupten, Muslime, Christen oder Buddhisten zu sein. Park Kwang Young, Professor für Konfuzianismus an der Sungkyunkwan ­University im südkoreanischen Seoul, schätzt, dass mindestens 100 000 Südkoreaner sich in religiöser Hinsicht als Konfuzianer bezeichnen. Das sind zwar nicht wenige, aber im Vergleich zu der 50 Millionen Menschen zählenden Bevölkerung auch nicht gerade viele. Viele Ostasiaten sagen, dass sie Buddhisten oder Christen sind, wenn man sie nach ihrer Religion fragt. Den Konfuzianismus hingegen rechnen sie zu den kulturellen oder familiären Traditionen. So gesehen ist der Konfuzianismus keine Religion, sondern eine Philosophie, eine Lebensweise, ein Leitfaden ethischen Handelns.

Die Rolle, die Konfuzius innerhalb seiner Lehre spielt, trägt weiter zu den Unklarheiten bei. Anders als Moses oder Mohammed behauptete Konfuzius nie von sich, dass seine Lehren Resultat einer göttlichen Offenbarung seien. Er scheint seine Lehren sogar eindeutig von der Religion abgegrenzt zu haben. »Die Gegenstände, über die der Meister niemals sprach, waren außerordent­liche Begebenheiten, Heldentaten, Chaos oder spirituelle Wesen«, berichtet ein alter Text. Konfuzius bot keine Antworten auf die grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz, um die sich Religionsgründer im Allgemeinen bemühen – woher wir kommen, warum wir hier sind und was aus uns werden wird. Er spann keine Sagen über die Erschaffung der Welt oder den Ursprung des Menschen. Es gibt keinen Garten Eden, keine Vertreibung aus dem Paradies, keine Einnahme von Mekka, die zum Gründungsmythos einer Religion hätten werden können. Er spekulierte auch nicht über das Leben nach dem Tod. Obwohl er anscheinend daran glaubte – er übernahm die Ahnenverehrung, die zu seiner Zeit in China schon recht verbreitet war –, lehrte er nie ausdrücklich über das Schicksal der Seele. Tatsächlich scheint er dem Gespräch über den Tod geflissentlich aus dem Weg gegangen zu sein. Auf eine solche Frage eines Schülers meinte er einmal nur: »Wer noch nicht einmal das Leben kennt, wie will der wohl den Tod begreifen?«6

Für Konfuzius waren solche Überlegungen Zeitverschwendung. Er war ein Mann des Hier und Jetzt, den in erster Linie interessierte, wie die Menschen ihre Probleme in der realen Welt lösen konnten. Vor allem aber suchte er, die Menschen zu moralischem Verhalten zu bewegen, gute Regierungsführung zu sichern, die Familie zu stärken und der Gesellschaft Wohlstand zu bringen. Sein Ziel war es, die Menschen zur Tugend anzuhalten, diese Tugend zu leben und so eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Wilde Spekulationen über das Nicht-Wissbare waren seiner Meinung nach nur Ablenkung von der weit wichtigeren (praktischen) Aufgabe, die Welt zu einem harmonischeren Ort zu machen.

Konfuzius verwies seine Anhänger nicht auf die nächste Welt, sondern wollte, dass sie sich in dieser betätigten. Er versprach jenen, die seinen Lehren folgten, keinerlei persönliche Belohnung, sei sie nun materieller oder spiritueller Natur. Es gab keine sich öffnenden Himmelstore, keine schönen Jungfrauen für die Frommen, keine Versicherung, dass die Seele aus den Fesseln des Fleisches gelöst würde. Jenen aber, die seine Ermahnungen nicht befolgten, drohte er auch nicht mit schrecklichen Strafen. Im Konfuzianismus gibt es keinen Teufel und keine ewige Verdammnis. Sie können auch nicht als Schnecke wiedergeboren werden. Wie die Religionswissenschaftlerin Lee Dian Rainey anmerkt: »Wenn sich in der konfuzianischen Tradition jemand schlecht benimmt, ist alles, was Sie sagen können: ›Sie sind kein edler Mensch!‹« Konfuzius erwartete, dass die Menschen das Richtige tun, eben weil es das Richtige ist, nicht weil sie irgendwann in der Zukunft dafür belohnt werden. Der Lohn für gute Taten war das Wissen, dass sie sich ehrenhaft benommen und vielleicht Gutes für die Welt bewirkt haben. Das konfuzianische Leben besteht in erster Linie aus einem Streben nach Selbstvervollkommnung. »Darum achtet der Edle auf sein Inneres, ob er keinen Makel hat, ob er nichts Böses hat in seinem Willen«, heißt es in einem der klassischen konfuzianischen Texte. Und weiter: »Worin der Edle unerreichbar bleibt, sind lauter Dinge, die die Menschen gar nicht sehen.«7

Der mitunter fast schon klinische Pragmatismus der konfuzianischen Lehren hat Legge zu der Erklärung veranlasst, der Weise sei »areligiös« und seine Lehren hätten die Chinesen zu einem ebensolchen Volk gemacht. »Die Kälte seines Temperaments und Intellekts«, so Legge, habe dazu geführt, »dass sein Einfluss sich auf die allgemeine Entwicklung inniger religiöser Gefühle unter den chinesischen Völkerschaften negativ auswirkte.« Und doch scheint Konfuzius geglaubt zu haben, er erfülle eine gottbefohlene Mission, die Wahrheit zu verkünden und die Welt zu retten. Er sah sich selbst als den letzten lebenden Menschen, der das alte Wissen besaß, das China den Frieden bringen konnte, als letzte Hoffnung der Menschheit. Diese Rolle verlieh ihm seiner Ansicht nach einen gewissen Schutz. Ein Ausschnitt aus einem alten Text erzählt uns die Geschichte, wie Konfuzius von Männern aus einem feind­lichen Ort namens Kuang belagert wurde. Sein Leben schien in Gefahr, doch Konfuzius sorgte sich nicht. Der Himmel würde ihn beschützen, damit er seine Aufgabe erfüllen könne. »Sind die Prinzipien von Sitte und Ordnung nicht mir anvertraut«, rief er aus. »Wollte der Himmel, dass sie untergehen, dann wären sie mir nicht anvertraut worden. Will der Himmel das aber nicht, was können mir da die Leute von Kuang anhaben.«8 Er beschwerte sich einmal, dass die Menschen seiner Zeit ihn und seine Art nicht verstünden, doch es sei ihm ein Trost, dass er vom Göttlichen geschätzt würde.

Konfuzius’ Worte zeigen, dass es hier um mehr geht als nur um einen neuen Leitfaden der Moral. Was hier auf dem Spiel steht, ist die Verbindung zwischen Mensch und Universum. Das Herzstück der Philosophie des Konfuzius ist der Glauben an die Macht des Individuums. Wenn die Menschen tugendhaft handeln, wird die Welt Frieden erfahren. Und umgekehrt ist eine chaotische Gesellschaft, die von Armut und Krieg geplagt wird, Resultat von Selbstsucht und fehlender Moral. In Konfuzius’ Augen hat der Mensch im Kosmos eine Rolle inne – was wir Tag für Tag tun, hat Auswirkungen auf alles um uns herum. Wir wandern nicht einfach ziellos auf Erden herum und begegnen einander ohne Sinn und Zweck. Unser Tun ist verantwortlich für den Unterschied zwischen Reichtum und Armut, Krieg und Frieden, Ordnung und Chaos. Das ­tugendhafte Handeln eines Menschen hat die beinah magische ­Eigenschaft, dass es die Welt verändert.

Denn über allem steht etwas, was Konfuzius »den Himmel« nennt. Er hat nie klar definiert, was der Himmel ist, doch es gibt Hinweise, dass der »Himmel« eine bewusste Kraft ist, die Fehlverhalten bestraft und gute Taten belohnt, ganz ähnlich wie der jüdisch-christliche Gott – eine Vorstellung, die Konfuzius später aufnahm. Die Konfuzianer stützen sich dabei auf ein Konzept der chinesischen Vorzeit: Ein tugendhafter König bekam das »Mandat des Himmels«, das göttliche Recht zur Herrschaft, das widerrufen werden konnte, wenn der Herrscher sich als grausam oder unfähig erwies. Über die Jahrhunderte entwickelte sich aus den wenigen religiösen Anklängen in Konfuzius’ Worten eine komplexe Kosmologie. Seine häufig recht dürren Äußerungen bekamen allmählich mehr spirituelle Tiefe. So wurde aus seinen Lehren mehr als nur eine Anleitung zu edlem Verhalten: Man schrieb sie um zum Weisheitspfad. Vielleicht ist der Konfuzianismus tatsächlich keine Religion im selben Sinne wie das Juden- oder Christentum oder wie der Hinduismus und seine diversen Ableger. Doch ist der Konfuzianismus sicher auch nicht steril und frei von jeglicher Spiritualität bzw. unfähig, die grundlegenden Fragen der Menschheit zu lösen.

Die Frage, ob der Konfuzianismus eine Religion ist, hängt im Wesentlichen davon ab, wie wir »Religion« definieren. Der Westen hat versucht, Konfuzius’ Lehren an seinen religiösen Vorstellungen zu messen. Das begann schon, als man im Westen zum ersten Mal vom Konfuzianismus hörte. Die ersten Jesuitenmissionare, die nach China kamen und sahen, wie die Chinesen sich in konfuzianischen Schreinen ehrerbietig verneigten und Opfergaben darbrachten, fragten sich zunächst, ob sie damit eine Art Eingeborenenreligion entdeckt hatten. Nach einigen Nachforschungen aber kam man dahinter, dass die Chinesen Konfuzius nicht als Gott anbeteten, sondern ihn nur als Weisen verehrten. Bald hieß es, die konfuzianischen Riten seien eher eine soziale als eine religiöse Praxis. Für die Jesuiten bedeutete das, dass man sehr wohl Konfuzius ehren und Jesus folgen konnte. Die Chinesen, die sich damals zum Christentum bekehrten, durften in die Kirche gehen und im Schrein des Konfuzius Räucherstäbchen anzünden. Christliche Missionare anderer Orden wie Franziskaner oder Dominikaner kamen zu ­einem anderen Schluss. Sie hatten beobachtet, dass die Chinesen ihre Ahnen verehrten, und erklärten, der Konfuzianismus sei eine Religion, schlimmer noch: eine heidnische Religion. Alle chinesischen Christen müssten daher ihrem Weisen abschwören. Die folgende Kontroverse um die konfuzianischen Riten dauerte mehr als ein Jahrhundert an. Schließlich gab Papst Clemens XI. 1715 eine Bulle heraus, die sich gegen die jesuitische Position entschied und erklärte, chinesische Christen dürften nicht an konfuzianischen Zeremonien teilnehmen. Woraufhin der erzürnte chinesische Kaiser die christlichen Missionare aus dem Land warf.

Wer sich in religiöser Hinsicht für einen Konfuzianer hält, betrachtet gewöhnlich das westliche Verständnis des Konfuzianismus schlicht als falsch. Konfuzius’ Lehren können nicht einfach mit dem jüdisch-christlichen Glauben verglichen werden. »Die meisten Religionen haben ein oder mehrere heilige Bücher, in denen geschrieben steht, dass Sie das Heil erlangen, wenn Sie tun, was sie Ihnen vorschreiben. Wir haben auch Bücher, aber in denen steht so etwas nicht«, erklärte mir Park Kwang Young, der sich selbst als praktizierenden Konfuzianer sieht, vor dem konfuzianischen Schrein der Universität. »In anderen Religionen brauchen Sie einen Gott und Zeremonien, doch im Konfuzianismus geht es einfach nur darum, in der Welt, in der wir leben, das Beste zu tun. Alles beruht auf der Selbstkritik, der wir unser Verhalten unterziehen. Sie glauben daran, dass Sie anderen Menschen gegenüber freundlich, gut und großzügig sein sollten. Das heißt es, Konfuzius’ Lehren zu folgen.«

Trotz seiner überragenden Bedeutung stieß Konfuzius nicht immer auf wohlwollende Aufnahme. Vermutlich hat kein Religionsgründer oder Philosoph je so viele Kontroversen ausgelöst. Asiaten wie Nicht-Asiaten haben Konfuzius verantwortlich gemacht für alle möglichen zivilisatorischen Übel. So warf man ihm unter anderem vor, die Frauen zu unterdrücken, jede Innovation im Keim zu ersticken, die Landarbeiter zur Armut zu verdammen, Despotismus zu fördern und Finanzkrisen auszulösen. Seine Kritiker behaupten, China habe nur seinetwegen den Kapitalismus später angenommen als Europa und die Vereinigten Staaten und liege deshalb technologisch hinter den westlichen Staaten zurück. Viele moderne Ostasiaten, die sich mit den westlichen Ideen der Bürgerrechte und der politischen Freiheit auseinandergesetzt haben, sehen Konfuzius als Hindernis auf dem Weg zu Demokratie und Menschenrechten.

Wie viel von dieser Kritik kann als fair bezeichnet werden? Konfuzius’ Erbe ist nicht nur positiv, vor allem aus westlicher Sicht. Die Gesellschaften, die sich auf der Grundlage seiner Philosophie herausbildeten, sind durch und durch hierarchisch. Wer eine übergeordnete Position einnimmt – Vater, Ehemann, Herrscher – benutzt und missbraucht Konfuzius’ Lehren dazu, die Kontrolle über jene auszuüben, die einen untergeordneten Status haben – Kinder, Ehefrauen und Bürger. Fast alle ostasiatischen Regierungen waren (bis vor Kurzem) zentralistisch und diktatorisch organisiert. Die mangelnde Flexibilität der von Konfuzius beeinflussten Regierungen zwang die Unterdrückten häufig dazu, zur Gewalt zu greifen, um politische Veränderungen herbeizuführen. Frauen, die in Konfuzius’ Ideal eine untergeordnete Stellung einnehmen, haben lange gebraucht, um den Weg ins öffentliche Leben zu schaffen. Viele Frauen in Ostasien haben deshalb keinerlei Ausbildung oder Erziehung erhalten. Viel zu viele wurden von ihren Eltern bei der Geburt oder gar noch im Mutterleib getötet. Konfuzianische Unternehmensführung, in der junge Belegschaftsmitglieder wegen der strikt hierarchischen Top-down-Entscheidungsfindung nichts zu sagen haben, verhinderte, dass Unternehmen in Ostasien innovativ auf den globalen Wettbewerb reagieren konnten. In den Wohnzimmern, Management-Etagen und Schulhäusern Ostasiens führt die streng hierarchische Struktur des Konfuzianismus nicht selten zu grausamen Exzessen. Weil er jahrelang von Schülern höherer Klassen schikaniert worden war, meinte mein Schwager James einfach: »Konfuzius hat mein Leben ruiniert.«

Ich bin des Öfteren persönlich Zeuge destruktiver Verhaltensweisen geworden, die auf den Konfuzianismus zurückgehen. In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre war ich für das Wall Street Journal als Korrespondent in Seoul. Einen Teil meiner Zeit dort verbrachte ich mit zwei Kolleginnen, die beide nicht allzu traditionell schienen. Beide hatten lange im Ausland gelebt. Doch ich ließ mich von ihrer äußerlich westlichen Erscheinung täuschen. Nur allzu schnell orientierte sich ihr Verhältnis zueinander an der konfuzianischen Hierarchie, die man in einem koreanischen Büro erwartete. Die Ältere schikanierte die Jüngere, lud ihr viel zu viel ­Arbeit auf und zwang sie, persönliche Botengänge für sie zu erledigen. Die junge Journalistin war viel zu eingeschüchtert, als dass sie mich um Hilfe gebeten hätte. Ich spürte die Spannung und versuchte, das Büro auf entspannt amerikanische Weise zu managen. Ich bemühte mich um offene Diskussionen und führte Regeln ein, was das Höchstmaß an Überstunden anging – völlig sinnlos. Konfuzius war stärker als ich.

Und als meine Kolleginnen. Ich sah, wie die Frauen im Büro während der Arbeit alle möglichen Demütigungen hinnehmen mussten – Herabsetzung, Druck und sexuelle Annäherungsversuche. Eine Journalistenkollegin schäumte vor Wut, als zwei Hyundai-Manager uns zum Essen in ein Restaurant einluden, wo spärlich bekleidete Frauen uns kniend das Essen servierten. Bei anderer Gelegenheit kam eine Journalistin wutschnaubend von einer Pressekonferenz zurück, bei der männliche Kollegen sie von ihrem Platz ganz vorne auf die Hinterbänke abgedrängt hatten. Ich unterstützte die Frauen, so gut ich konnte, doch Diskriminierung von Frauen war in Korea so weit verbreitet, dass sie einfach Teil der täglichen Geschäftspraxis war.

Solche Ungerechtigkeiten haben Konfuzius in ein schlechtes Licht gerückt. Viele halten ihn heute für hoffnungslos autoritär, frauenfeindlich und konservativ und glauben, seine Zeit sei lange vorüber. Man denkt, seine Ideen hätten in der modernen Gesellschaft keinen Platz mehr. Nicht wenige Ostasiaten glauben, dass die Region nicht modernisiert werden kann, solange Konfuzius im Alltag eine so bedeutende Rolle spielt, und wollen daher mit dem Konfuzianismus nichts zu tun haben. »Der Konfuzianismus ist ein historisches Relikt«, meinte Yan Zhang, ein chinesischer Hightech-Unternehmer bei einem Burger in Beijing. »Er ist einfach dysfunktional. Die wesentlichen Lehren stehen im Widerspruch zu den ­Idealen der modernen Gesellschaft.«

Doch Konfuzius die Schuld für Vorurteile im sozialen Umgang zu geben ist eigentlich nicht gerecht. Seine Lehren wurden durch die Eigeninteressen von Kaisern, Gelehrten und Beamten jahrhundertelang verzerrt, sodass sie sich teilweise drastisch von dem unterscheiden, was Konfuzius selbst dachte. Man wirft ihm Dinge vor, die er niemals vertreten hatte und hätte. Das gesteht sogar Li Dazhao ein, einer der Gründer der Kommunistischen Partei Chinas und ein ganz dem 20. Jahrhundert verhafteter Kritiker des Weisen: »Unsere Kritik richtet sich nicht auf Konfuzius selbst, sondern auf den Konfuzius, den die letzten Kaiser zum politischen Idol und zur Autoritätsfigur aufgebaut haben – nicht auf Konfuzius selbst, sondern auf den Konfuzius, den die Herrscher mit einer tyrannischen Seele ausgestattet haben«, schrieb er. Das Resultat dieser Kritik ist, dass viele moderne Gelehrte den Menschen und Philosophen Konfuzius von den Konfuzianern, die ihm nachfolgten, zu trennen versuchen. Man versucht, seine ursprünglichen Lehren zu unterscheiden vom Konfuzianismus, der sich über mehrere Hundert Jahre chinesischer Geschichte entwickelte. Wer Konfuzius mit all den Grausamkeiten gleichsetzt, die in seinem Namen begangen wurden, kann auch sagen, dass Mohammed an den Anschlägen vom 11. September die Schuld trägt und Jesus für die spanische Inquisition verantwortlich ist. »Unbestreitbar hat der Konfuzianismus über die Jahrhunderte eine Menge Dogmen geschaffen und autoritäre Tendenzen entwickelt«, meint der Konfuziusgelehrte D.C. Lau. »Doch es wäre wirklich unfair, die Verantwortung dafür Konfuzius zuzuschieben. Mit demselben Recht könnte man sagen, Jesus sei schuld an den Kirchenexzessen späterer Jahrhunderte.«9

Fair oder nicht fair – die Globalisierung jedenfalls sprang nicht gerade freundlich mit Konfuzius um. In den letzten zweihundert Jahren wurde die ostasiatische Gesellschaft von westlichen Ideen überschwemmt, die viele ihr konfuzianisches Erbe kritisch überdenken ließen. Die politische und soziale Philosophie des Westens brachte andere Vorstellungen von Familien- und Geschlechter­beziehungen mit sich, von Regierungssystemen, Erziehung und Unternehmensführung. Die Demokratie machte sich breit und mit ihr westliche Vorstellungen von Geschlechtergleichheit, persön­licher Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Die ostasiatische Gesellschaft wird von diesen Ideen profund verändert. Die neuen Demokratiebewegungen bringen autoritäre Regime in Schwierigkeiten. Frauen kämpfen um ihren Platz in Politik und Wirtschaft. In den letzten zweihundert Jahren hat Ostasien Fortschritt mit Verwestlichung gleichgesetzt und versucht, die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Systeme des Westens zu kopieren. Kapitalismus und Modernisierung sollen die Armut beenden und Ostasien erneut Geltung auf der internationalen Bühne verschaffen. Wahlen erscheinen mittlerweile als das beste Mittel für ein Volk, seine politischen Führer einzusetzen und die Grenzlinien innerhalb der Gesellschaft zu überwinden. Der Weg zum Erfolg führt nicht mehr länger über die konfuzianischen Akademien, sondern über Harvard und Yale. Westlich zu sein in Sprache, Kleidung und Sozialverhalten hieß modern sein und wettbewerbsorientiert. Politiker und Reformer in ganz Ostasien versuchten mitunter gewaltsam, den Einfluss des Konfuzianismus zurückzudrängen in ihrem eifrigen Bestreben nach Leben, Freiheit und Glück. Viele Ostasiaten wünschten sich nun, nicht mehr zu sein wie Konfuzius, wie das jahrhundertelang der Fall war. Sie wünschten sich vielmehr, ihn endlich vergessen zu können.

Auf den ersten Blick scheint Ostasien in diesem Bemühen erfolgreich gewesen zu sein. Wohin man heute auch schaut, bekommt man den Eindruck, die Tradition sei unter dem Ansturm der globalen Kultur auf dem Rückzug. Japanische Kimonos und koreanische Hanboks trägt man nur noch zu Hochzeiten und anderen Familienfeiern. Stattdessen dominieren der Anzug, die Nike-Sneakers und die Miniröcke, die man überall sonst auf der Welt trägt. Koreanische und chinesische Popstars rappen und tanzen zu denselben Hip-Hop-Beats wie in denUSA oder in Europa. Chinesische Familien kaufen sich Buicks und iPhones und essen bei Kentucky Fried Chicken. Das Haus meiner Schwiegereltern in Seoul könnte auch in einem Vorort Chicagos stehen. Das einzige Zeichen, dass sie in Korea sind, ist der Geruch von Kimchi, der durch die Küche weht, und im Winter die traditionelle Fußbodenheizung. Als wir in den Weihnachtsferien einmal gemeinsam unter dem Christbaum saßen, versuchte mein Schwager Steve mich davon zu überzeugen, dass der Konfuzianismus und die asiatische Kultur im Allgemeinen von den westlichen Importen längst verdrängt worden sei: »Schau dich nur um, hier ist doch nichts asiatisch.«

Meine Antwort war, dass der Anschein leicht täuschen könne. Sicher, viele Asiaten wünschen sich einen BMW und ein Diplom von einer amerikanischen Eliteuniversität wie alle Menschen auf der Welt. Doch liegt Konfuzius gleich unter der äußersten Schicht von Starbucks-Tassen, Sex-in-the-City-DVDs und T-Shirts von Brooks Brothers. Konfuzius war eine so erstaunlich lange Zeit integraler Bestandteil des Lebens in Asien, dass er immer dann in Erscheinung tritt, wenn Ostasiaten miteinander und mit der Welt um sie herum umgehen. Die konfuzianischen Lehren zu befolgen ist ihnen so selbstverständlich geworden, dass sie sie einfach für Alltag halten.

Außerdem erfreut sich die Region gerade in letzter Zeit eines neuen Reichtums. Und dieser veranlasst ihre Bewohner, ihre uralte Kultur mit neuem Selbstbewusstsein und frischem Blick zu ­betrachten. Erfolg heißt heute nicht mehr automatisch Verwest­lichung. Die Ostasiaten finden neue Werte in ihren alten Umgangsformen, Lehren und Traditionen. »Die zweihundert Jahre westlicher Kolonialisierung und Herrschaft waren, als hätte man Asiens Geschichte zubetoniert«, meint Kishore Mahbubani, Dekan der Lee Kuan Yew School of Public Policy an der Nationalen Universität von Singapur. Er gehört zu den einflussreichsten Akademikern ­Asiens und erzählte mir beim Mittagessen in Beijing: »Damit Asien sich modernisieren konnte, musste es seine Vergangenheit ablegen. Asiens Vergangenheit war eine Bürde, also konzentrierte man sich darauf, das Beste aus dem Westen zu übernehmen. Jetzt aber hat man damit Erfolg gehabt und kann sich der eigenen Vergangenheit auf andere Weise zuwenden. Dabei muss man etwas entwickeln, das ich ›kulturelles Selbstvertrauen‹ nenne. Jetzt bohrt Asien sich durch die Betondecke durch und nimmt erneut Verbindung zur Vergangenheit auf. Es wird in Asien eine kulturelle Renaissance geben.« Für ihn ist dieser Trend die »bedeutsamste Entwicklung im heutigen Asien«.

So mancher betrachtet die Vorstellung, Konfuzius habe an Bedeutung verloren, ohnehin als Form des kulturellen Imperialismus, den Jahrhunderte westlicher Dominanz im politischen und sozialen Diskurs Asiaten und Nicht-Asiaten gleichermaßen eingehämmert hätten. Wenn die Ideen westlicher Philosophen wie Aristoteles oder Kant heute noch als nützlich gelten, warum dann nicht auch die des Konfuzius? Der einzige Grund, weshalb wir uns das nicht vorstellen können, sei – so Li-hsiang Lisa Rosenlee, die in Taiwan geborene Philosophieprofessorin an der Universität von Hawaii – die weltweite Tendenz zur Diskreditierung nicht-west­licher Denkformen oder Traditionen. In einer E-Mail schreibt sie: »Diese Ungleichheit in der Behandlung von westlichen und nicht-westlichen Philosophen ist Zeichen einer kolonialistischen Haltung, welche die nicht-westliche Welt als Opfer sieht, das, an seine nutzlosen Traditionen gekettet, darauf wartet, dass der Westen es erlöst und in die Moderne führt.«

Die moderne Geschichte aber lehrt uns, dass Ostasien keinen Grund hat, sich so wahrzunehmen. Konfuzianische Gesellschaften gehören seit dem 2. Weltkrieg zu den erfolgreichsten weltweit. Südkorea, China und andere ostasiatische Länder haben die höchsten Wachstumsraten der Geschichte. Sie legen innerhalb weniger Jahrzehnte ihre jahrhundertealte Armut ab und erlangen so Einfluss in der Weltwirtschaft. Dafür macht man u. a. konfuzianische Werte wie Fleiß und die Neigung zu harter Arbeit verantwortlich. Ostasiatische Länder haben im Vergleich mit anderen Entwicklungsländern starke Regierungen. Was unter anderem daran liegt, dass in diesen Ländern die begabten Studenten in den öffentlichen Dienst gehen – auch dies eine Neigung, die auf Konfuzius’ Lehren zurückgeht. Ostasiatische Studenten studieren an den besten Universitäten der Welt dank ihrer positiven Einstellung zum Lernen, die ebenfalls eine konfuzianische Eigenart ist. Die Unternehmen in einer konfuzianischen Gesellschaft sind harte Wettbewerber, nicht zuletzt aufgrund der von Konfuzius beeinflussten Management- und Arbeitstechniken. Wohlstand und Stabilität in Ostasien haben ein alternatives Modell einer modernen Gesellschaft hervorgebracht, ein konfuzianisches Modell, das als Gegenbeweis für die These gelten kann, dass die besten Institutionen, Traditionen und Ideen aus dem Westen kommen. Ostasiatische Politiker und Denker verkünden stolz, dass den Westen zu kopieren keineswegs der einzige Weg zu Fortschritt und globalem Einfluss sei und westliche Ideale keineswegs universell gültig und für alle von gleichem Wert seien. »In der Welt von morgen«, meinte Mahbubani, »werden wir von der Mono-Kultur der Welt unter westlicher Dominanz zu ­einer Multi-Kultur vieler erfolgreicher Gesellschaften übergehen.«

Das unerwartete Resultat dieser Bewegung ist, dass Konfuzius’ Einfluss wieder zunimmt. Derselbe Konfuzius, der noch vor nicht allzu langer Zeit den meisten Ostasiaten so antiquiert erschien, wird wieder attraktiv. In China, das sich mehr als hundert Jahre lang vom konfuzianischen Einfluss zu befreien suchte, werden wieder konfuzianische Zeremonien abgehalten und die konfuzianische Erziehung gelangt zu neuen Ehren. Die Kader der Kommunistischen Partei Chinas verbeugen sich vor dem konfuzianischen Schrein wie die kaiserlichen Mandarine es 1900 Jahre lang taten. Das soll nicht heißen, dass die Kontroversen und Debatten über den Wert des Weisen aufgehört haben. Seine Wiederauferstehung muss in dem ein oder anderen Fall gar mit einem gewissen Zynismus betrachtet werden. In China und auch andernorts versuchen die Machthaber einmal mehr, Konfuzius für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren und mit seiner Hilfe Verhaltensweisen zu rechtfertigen, die er verurteilt hätte. Der Kampf zwischen Konfuzius und der Globalisierung verläuft so lebhaft wie eh und je. Die Ostasiaten entdecken ihre alte Kultur neu. Sie versuchen zu entscheiden, welche Traditionen ihnen in der Moderne dienlich sind und welche nicht. Und wie sie ihre neuen Prioritäten und west­lichen Ideale am besten mit den Werten ihres konfuzianischen Erbes vermitteln können. Tatsache ist, dass die Entwicklung Ost­asiens – politisch, wirtschaftlich und sozial – zu einem großen Teil davon abhängen wird, wie moderne Ostasiaten mit Konfuzius zurechtkommen.

Wie dieser Prozess auch verlaufen mag, seine Folgen werden global spürbar werden. Nach 150 Jahren Hinwendung zum Westen beginnen viele Ostasiaten mittlerweile zu glauben, dass ihre ­eigenen Traditionen Werte und Weisheiten zu bieten haben, auf die der Westen nicht mehr länger herabschauen kann. Auch der Politikwissenschaftler Zhang Weiwei verwies auf das konfuzianische Erbe Chinas, als er in der New York Times schrieb: »Möglicherweise ist es nun an der Zeit, dass der Westen ›sich geistig emanzipiert‹ und über Chinas große Ideen erfährt bzw. von ihnen lernt, wie merkwürdig sie ihm auch erscheinen mögen – zu seinem eigenen Besten.«10

Ich habe diesen Schritt bereits vollzogen. Ja, es gibt Aspekte von Konfuzius’ Denken, die uns heute überholt, sogar erschreckend erscheinen. Doch das könnte man schließlich auch von der Bibel sagen. Wir in der jüdisch-christlichen Tradition haben die Weisheit der Bibel neu interpretiert, sodass sie für uns auch heute noch ihre Bedeutung entfalten kann. Es gibt keinen Grund, warum dies mit Konfuzius nicht gelingen sollte. Auch in seinen Worten findet sich eine humanistische Vision des Menschseins, die für jede Zeit, jedes politische System, jede Kultur anwendbar ist. Den Lehren des Konfuzius ist eine Zeitlosigkeit eigen, eine Universalität, die bedeutsam ist, welcher Nation, Ethnie oder Religion Sie auch angehören mögen. Und der weise Konfuzius ist ein Mensch, der für die Zukunft genauso wichtig ist wie für die Vergangenheit.

TEIL I

KONFUZIUS WIRD KONFUZIUS

1 Konfuzius, der Mensch

Wie kann ich mir erlauben, mich behandeln zu lassen wie einen Kürbis, der da hängt und den ­keiner essen will?

Konfuzius

Im Jahr 500 v. Chr. errang Konfuzius den beeindruckendsten Sieg seiner politischen Laufbahn. Er war damals Minister im Staate Lu, der auf dem Gebiet der heutigen Provinz Shandong lag. Lu und der Nachbarstaat Qi waren in eine Reihe blutiger Kämpfe verwickelt gewesen, doch nach neun Jahren Krieg beschlossen die Regierungen beider Staaten, dass es an der Zeit sei, ihre Differenzen beizulegen. Ein Gipfeltreffen zwischen den Herrschern beider Staaten wurde arrangiert. Es sollte in Xiagu stattfinden, einer vergleichsweise noch wenig zivilisierten Region an der Grenze zwischen Lu und Qi. Der Herrscher von Lu, Herzog Ding, ernannte Konfuzius für die Verhandlungen zum Zeremonienmeister – eine naheliegende Entscheidung, galt der Gelehrte im Reich doch als ausgewiesener Experte für Zeremonialpraxis. An ­einem Sommertag machten Konfuzius und der Herzog sich also auf den Weg nach Xiagu in Erwartung des baldigen Friedens.

Doch die Führer von Qi führten anderes im Schilde. Herzog Jing, der Herrscher von Qi, und seine Berater sahen die Verhandlungen in Xiagu als Gelegenheit, sich über Lu einen Vorteil zu verschaffen. In einer historischen Quelle heißt es, sie hätten ein schändliches Komplott ausgeheckt. Einer von Herzog Jings Ministern überzeugte diesen, den Herrscher von Lu mithilfe des nicht-chinesischen [und damit »barbarischen«, A.d.Ü.] Stammes der Lai zu entführen. Konfuzius, so meinte er, sei doch viel zu verweichlicht. Er würde die Entführung nicht verhindern können. »[Konfuzius] ist bewandert in Zeremonien, aber er besitzt keinen Mut«, meinte der Minister zu Jing. »Wenn Ihr die eingeborenen Lai mit ihren Waffen scheinbar im Tanz voranschickt und von ihnen den Herzog von Lu entführen lasst, könnt Ihr fordern, was immer Ihr wollt.« Herzog Jing ließ sich überzeugen und stellte die Falle.

Doch die Verschwörer hatten Konfuzius arg unterschätzt. Dieser war von Natur aus vorsichtig und überzeugte Herzog Ding, kein Risiko einzugehen und den älteren und jüngeren Kriegsminister zum Gipfeltreffen mitzunehmen: »Euer Untertan hat gehört, dass man bei friedlichen Unternehmungen Vorbereitungen für den Krieg treffen sollte; ebenso wie man bei kriegerischen Unternehmungen Vorbereitungen für den Frieden treffen muss. Wenn in alten Zeiten Fürsten ihr Landesgebiet verließen, so wurden sie von einem Gefolge von Kriegsleuten begleitet. Ich bitte Eure Majestät, den Oberbefehlshaber unserer Armee und dessen Stellvertreter mitzunehmen.« Herzog Ding befolgte diesen Rat und reiste mit seinen Kriegsministern an.

Nach der Ankunft in Xiagu begann das Treffen zunächst sehr vielversprechend. In wechselseitiger Respektsbezeugung verneigten sich die beiden Herzöge voreinander, dann erklommen sie die drei Stufen zu den Thronen, die auf einer aus Erde aufgeschütteten Plattform errichtet worden waren. Gerade als die Verhandlungen beginnen sollten, schickten die Führer von Qi die Lai-Krieger nach vorne. Diese näherten sich – schwer bewaffnet – der Plattform. »Daraufhin zogen unter Trommelgedröhn Männer mit Wimpeln und Standarten, mit Federschmuck, mit Speeren, Hellebarden, Schwertern und Schilden vor den beiden Herzögen auf«, heißt es bei Sima Qian, einem zeitgenössischen Historiker.11 Konfuzius spürte sofort, dass sein Herrscher in Gefahr war, und verlangte, die Lai-Krieger sollten sich zurückziehen. Herzog Ding, erinnerte er die Qi-Führer, habe dem Treffen zugestimmt unter der Bedingung, dass dieses freundschaftlich verlaufe. Diese barbarischen Zurschaustellungen aber widersprächen dem freundschaftlichen Geist des Treffens. Konfuzius hielt Herzog Jing die Unangemessenheit seines Verhaltens vor. Kriegswaffen hätten bei einer freundschaftlichen Begegnung nichts zu suchen, belehrte er ihn. »Was die Geister angeht, so ist dies unheilvoll. Was die Tugend angeht, ist es das Gegenteil von dem, was rechtschaffen ist. Was die Beziehung zwischen Mensch und Mensch angeht, so ist dies mangelnde Sittlichkeit. Der Herrscher [von Qi] sollte nicht so handeln.« Von Konfuzius’ Vorwürfen beschämt sah sich Herzog Jing gezwungen, seinen schändlichen Plan fallen zu lassen. Er befahl den Lai abzuziehen.

Nun befand sich der beschämte Herzog in der schlechteren ­Position, was die Friedensverhandlungen anging – was Konfuzius sicher und geschickt ausnützte. Die beiden Staaten unterzeichneten ein Abkommen, doch für Dings Unterschrift forderte Konfuzius unverblümt, dass dem Reich Lu drei Provinzen zurückgegeben würden, die Qi durch seine kriegerischen Vorstöße erobert hatte. Die Mitglieder der Delegation von Qi hatten keine Wahl. Sie mussten zustimmen. Bis auf die Knochen blamiert kehrten sie in ihre Heimat zurück. Herzog Jing aber schalt seine Minister ob dieses peinlichen Debakels und wies auf Konfuzius’ Weisheit hin: »In Lu stehen die Würdenträger ihrem Fürsten nach dem Rechten Weg des edlen Menschen bei. Ihr aber beratet euren Fürsten nach dem Weg der Barbaren.«12

Obwohl die historischen Annalen das, was in Xiagu geschah, mit unterschiedlichen Details ausschmücken – in einer Version forderte Konfuzius, dass die Lai-Krieger exekutiert würden (was allerdings unwahrscheinlich ist)13 –, so sind sie sich doch einig, was das Ergebnis angeht: Das Treffen war ein überwältigender Triumph für Konfuzius. Er hatte all seine Fähigkeiten und Talente – sein Wissen über Staatsdinge, seinen Mut und seine intellektuellen Gaben sowie sein umfassendes Wissen – zum Wohle seines Herrschers und seines Landes eingesetzt. Das Ergebnis des Treffens katapultierte ihn auf den Gipfel seiner Macht in der politischen Sphäre von Lu.

Nur drei Jahre später allerdings floh Konfuzius mit einigen seiner Anhänger aus Lu und übte künftig nie mehr wieder ein Amt in diesem Staate aus. Er hatte Herzog Ding nicht überzeugen können, seine Philosophie einer moralischen Herrschaft umzusetzen, und so gab er enttäuscht seinen Ministerposten auf und verließ das Land, um unter den chinesischen Herrschern einen zu suchen, der bereit war, seinen Rat anzunehmen. Jahre vergingen, doch wie viele Meilen er auch reisen mochte, Konfuzius fand seinen tugendhaften Herrscher nicht. Trotz seiner unermüdlichen Bestrebungen scheiterte seine lebenslange Mission, das zerrissene, im Chaos versunkene China zu reformieren.

Darin liegt eine gewisse Ironie der Geschichte. Was Konfuzius als historische Gestalt so faszinierend macht, ist gerade die Tatsache, dass er zu seinen Lebzeiten keinen nennenswerten Einfluss auf das Land hatte. Seine Ideen, die später zum Symbol der gesamten chinesischen Zivilisation werden sollten, fanden bei seinen Zeitgenossen keinen nennenswerten Anklang. In Konfuzius’ Leben deutet kaum etwas auf die beherrschende Rolle voraus, die er einmal in der Geschichte Asiens spielen würde. Seine eigene Geschichte ist letztlich nicht mehr als die überraschende, aber vielsagende erste Zeile in einem biografischen Werk, das über 2500 Jahre fortgeschrieben werden sollte – voll von Fehlschlägen und Fortschritten, Kompromissen und Konfrontationen, Umbrüchen und Aufschwüngen.

Nichtsdestotrotz sind die Ereignisse in Konfuzius’ Leben von höchster Bedeutsamkeit. Was Konfuzius tat und sagte, prägte die chinesische Zivilisation. In späteren Jahren wurde seine Lebensgeschichte von ergebenen Anhängern wie erbitterten Feinden gleichermaßen seziert, analysiert und interpretiert. Man suchte nach dem sprichwörtlichen Körnchen Weisheit, das vielleicht die eigene Karriere befördern und eigene philosophische Positionen stärken könnte, oder nach Belegen für die Haltlosigkeit konfuzianischer Prinzipien und die Folgerichtigkeit der eigenen. Seine Anhänger machten Konfuzius’ Leben zum Modell exemplarischer Lebensführung, sein Verhalten zur Richtschnur für Tugend und Rechtschaffenheit. Was vor 2500 Jahren geschah, entfaltete über die Jahrhunderte seine Wirkung bis in die Gegenwart. Es prägte Asiens Denken und Handeln. Wer Ostasien verstehen will, muss sich mit dem Menschen Konfuzius auseinandersetzen.

Dabei ist es gar nicht so leicht, den wahren Konfuzius zu entdecken. Wie bei antiken Gestalten so häufig der Fall, stammt alles, was wir heute über den historischen Konfuzius wissen, aus Quellen, die uns höchstens einen fragmentarischen Einblick in sein Leben geben. Der Großteil der Daten über ihn ist wenig zuverlässig. Konfuzius hinterließ wie Jesus keine Schriften von eigener Hand. Was wir über ihn wissen, wurde von anderen niedergeschrieben. In einigen Fällen wurden diese Berichte von Autoren verfasst, die lange nach seinem Tod lebten. Dabei muss man stets auch die Intentionen des Schreibers in Betracht ziehen, da Berichte über den Weisen entweder von ergebenen Schülern verfasst wurden, die ihren Meister natürlich so klug wie möglich erscheinen lassen wollten, oder von feindseligen Kritikern, die gegenteilige Absichten verfolgten.

Der Erste, der sich an eine vollständige Biografie des Konfuzius wagte, war Sima Qian, einer von Chinas größten Historikern, der ihm in seinem monumentalen Geschichtswerk Shiji (Aufzeichnungen des Historikers) ein ganzes Kapitel widmete. Doch dieser Text entstand etwa 350 Jahre nach Konfuzius’ Tod, als sein Leben bereits von zahlreichen Mythen und Legenden umrankt war. Sima Qian war ein ausgesprochener Konfuziusanhänger und übertrieb den Einfluss seines Helden auf die frühe chinesische Geschichte vermutlich. Daher gilt Sima Qians Darstellung als nicht zuverlässig. Einige biografische Details lassen sich den Analekten entnehmen, jenem Text, der vermutlich am meisten für die Biografie des Weisen hergibt und als zuverlässigste Quelle über ihn und seine Ideen gilt. Darin finden sich faszinierende Hinweise auf Konfuzius’ Leben – die teilweise sogar ihm selbst zugeschrieben werden. Doch selbst die Authentizität der Analekten muss angezweifelt werden, da auch sie erst nach dem Hinscheiden des Gelehrten entstanden. Historiker haben Jahrhunderte damit zugebracht, einzelne Hinweise aus der Fülle älterer Texte herauszuschälen und Fakten von Falschem, Biografie von Hagiografie und den Menschen Konfuzius von seiner Legende zu trennen.

Ein bisschen mehr wissen wir über die Zeit, in der Konfuzius lebte und die man die Zeit der Frühlings- und Herbstannalen nennt. Sie dauerte von 711 bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. Diese etwa dreihundert Jahre waren von Gewalt und sozialen Umbrüchen geprägt, die sich in Konfuzius’ Leben, Denken und Philosophieren niedergeschlagen haben. Sein oberstes Ziel war es, einem Land, das in die Barbarei abgeglitten war, wieder Ruhe und Frieden zu schenken. Daher bilden den Schwerpunkt seiner Lehren auch Theorien über gute Regierungsführung. Würden diese umgesetzt, so Konfuzius, dann würde das entmutigte und entkräftete China wieder zu Wohlstand und Stabilität finden. Es ist unmöglich, Konfuzius von der Zeit zu trennen, in der er lebte, oder den Konfuzianismus von dem Zeitalter, in dem er entstand.

Die sozialen Verwerfungen hatten ihre Wurzeln im Niedergang der herrschenden Zhou-Dynastie. Zu Lebzeiten des Konfuzius hatten die Zhou etwa fünf Jahrhunderte lang über China regiert, doch die Macht des Herrscherhauses zerbrach allmählich. Sie stützte sich auf feudale Strukturen, was bedeutete, dass loyale lokale Führer die verschiedenen Teile des Reiches im Namen der Zhou regierten. Dem Buchstaben nach war dieses System zu Konfuzius’ Lebzeiten noch in Kraft. Die Herzöge stellten sich zumindest offiziell als Vasallen der Zhou-Kaiser dar. In Wirklichkeit aber war das Zhou-Reich schon längst in verschiedene, sich gegenseitig bekämpfende Länder zerfallen – die historischen Annalen nennen 148 Einzelstaaten. Der Kaiser hatte außerhalb der Hauptstadt kaum noch Kontrolle über das Land. China versank in endlose Konflikte und Intrigen, denn die Adelsfamilien in den kleinen Königtümern stritten um Land und Einfluss.

Doch die zu Lebzeiten des Konfuzius und während der darauffolgenden zweihundert Jahre herrschenden politischen Wirren entzündeten eine intellektuelle Debatte, die einige der wichtigsten philosophischen Strömungen der Menschheitsgeschichte hervorbrachte. Das Chaos entsetzte die schöpferischen Denker Chinas und sie suchten nach Antworten auf die Übel, die ihre Nation plagten. Zu diesem Zweck setzten sie sich mit den grundlegenden Fragen des menschlichen Zusammenlebens und der Existenz auseinander. Welche Rolle kommt der Regierung zu und wie soll ein Volk regiert werden? Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse? Kommt der Menschheit ein gesonderter Rang in der Ordnung des Universums zu und wenn ja, welche Aufgabe hat sie darin? Aus der Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen ging schließlich eine philosophische und literarische Tradition hervor, die in Ostasien zur Basis allen Denkens wurde und nicht minder einflussreich war als die intellektuellen Errungenschaften der griechischen Stadtstaaten oder des indischen Subkontinents. Konfuzius’ Lehren sind Teil dieser Blütezeit innovativen Denkens. Doch seine Stimme war damals nur eine unter vielen. Zu seiner Zeit waren andere einflussreicher als er, was auch noch mehrere Jahrhunderte lang so bleiben sollte. Doch am Ende ging Konfuzius aus dem Wettstreit philosophischer Ideen als der Weise hervor, der Ostasien am nachhaltigsten prägte. Dieser Siegeszug aber dauerte mehr als 1500 Jahre und war auch nie ein endgültiger.

Konfuzianer glauben traditionell, dass der Weise edler Abkunft sei – er soll von niemand Geringerem abstammen als dem Herrscherhaus der Shang, dem ersten empirisch belegten Kaiserhaus Chinas. Als das Shang-Reich zerfiel und die Zhou-Dynastie aufstieg, sollen entfernte Verwandte des Konfuzius unter der neuen Feudalordnung den Staat Song regiert haben. Doch der Klan fiel in Ungnade und floh nach Lu. Man nimmt allerdings an, dass diese edle Abkunft des Konfuzius eine Erfindung seiner Anhänger ist, die ihren Meister durch die Rückverbindung zu historischen und prestigeträchtigen Gestalten zu nobilitieren suchten. Doch selbst wenn Konfuzius’ frühe Vorfahren königlichen Rang besessen haben sollten, zu der Zeit, als er geboren wurde, hatten die Kongs, seine Familie, dieses Privileg schon seit Langem wieder verloren. Konfuzius gehörte einer Klasse niedriger Beamter an – höher im Rang als gewöhnliche Bürger, doch weit unterhalb der Aristokratie stehend. So erzählt Sima Qian, der junge Konfuzius habe Zutritt zu einem Fest der Ji, einer Adelsfamilie im Reich Lu, gesucht, sei jedoch aufgrund seines niederen Standes abgewiesen worden. »Die Familie Ji gibt ein Fest für vornehme Herren«, sagte man ihm. »Sie würde nicht wagen, Euch mit ihnen zu bewirten.«14 In einer Zeit, in der Geburt mehr zählte als geistige Gaben, hatte Konfuzius’ Abstammung sowohl auf sein Leben als auch auf seine Lehren Einfluss. Er trat später stets für den Vorrang der Verdienste vor der Abstammung ein. Ob jemand ein edler Mensch sei oder nicht, hänge von seiner Bildung und Sittlichkeit ab, nicht von seinem Reichtum, Titel oder Geburtsrecht. Obwohl er heute als erzkonservativ gilt, war Konfuzius zu seiner Zeit ein Vorkämpfer für den sozialen Wandel.

Konfuzius’ Familienverhältnisse waren nicht nur bescheiden, sondern möglicherweise sogar skandalös. Sein Vater Shuliang He war ein angesehener Kriegsheld. Zu seinen Heldentaten gehörte unter anderem (so will es die Legende), dass er mit herkulischer Anstrengung ein schweres Tor so lange aufhielt, bis seine Kameraden entkommen waren. Als Konfuzius zur Welt kam, war aber Shuliang He schon vergleichsweise alt. Er soll den eher niedrig dotierten Posten eines Präfekten der Kleinstadt Zou in der Nähe der Hauptstadt Qufu im Osten Chinas innegehabt haben. Einer älteren Quelle zufolge hatte Shuliang He zu der Zeit bereits neun Töchter mit seiner ersten Frau und mit einer Konkubine einen Sohn namens Mengpi. Dieser Sohn aber war wohl behindert, es heißt, er habe einen sehr »unglücklichen Fuß« gehabt. Daher galt er nicht als akzeptabler Erbe. Und so machte sich Shuliang He spät im Leben noch einmal auf die Suche nach einer Frau, die ihm einen Sohn gebären konnte. Er wurde bei einer Familie im Ort, der Familie Yan, vorstellig, die drei junge Töchter hatte. Der Vater war mit einer Heirat sofort einverstanden. »Er ist gut zehn Fuß groß, und aufgrund seiner Verdienste im Krieg scheint mir eine Verbindung mit ihm günstig«, erklärte Vater Yan seinen Töchtern. »Er ist zwar alt an Jahren und recht griesgrämig, aber ich glaube, es wäre doch eine zufriedenstellende Beziehung. Welche von euch dreien möchte seine Frau werden?« Die ältere Tochter hielt klug den Mund, die jüngste mit Namen Zhengzai aber antwortete: »Da Ihr, mein Vater, es so beschlossen habt, ist es eine ausgemachte Sache. Was fragt Ihr da noch?« Nur eine solchermaßen gehorsame Tochter, entschied der Vater, wäre eine passende Braut, und so beschloss er, dass die Jüngste Shuliang He heiraten sollte.15

An diesem Punkt aber wird die Geschichte ein wenig abgeschmackt. Sima Qian stattet sie nämlich mit einem saftigen Detail aus. Er behauptet, Chinas größter Weiser sei ein illegitimes Kind gewesen, gezeugt, als das Paar sich »in der Wildnis« vergnügte. Also nicht in Shuliang Hes Bett, wie sich das bei einer ordentlichen Verehelichung gehört hätte. Nicht alle Konfuziusspezialisten stehen hinter dieser Lesart. Der Historiker Lionel Jensen zum Beispiel ist der Ansicht, Sima Qian hätte nur versucht, Konfuzius’ Zeugung mit der Aura des Mystischen zu umgeben, indem er sie in die »Wildnis« verlagerte. Doch wie immer man Sima Qians Worte auch deuten mag, er erwähnt jedenfalls keinerlei formelle Verlobung zwischen Shuliang He und dem jungen Mädchen aus der Yan-Familie.16

Spätere Verehrer des Weisen befanden die Umstände seiner Zeugung und Geburt offensichtlich für etwas zu alltäglich, jedenfalls wurden diese beiden Ereignisse bald mit allerlei Wundern ausgestaltet. Eine Geschichte, die während der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220) entstanden ist, ersetzt den tatsächlichen Vater des Konfuzius durch eine Gottheit. Das erinnert ein wenig an die Geschichten um Göttervater Zeus, der den Beischlaf mit allerlei schönen Frauen vollzog und dabei übermenschliche Wesen zeugte. »Konfuzius’ Mutter, [Yan] Zhengzai, ging eines Abends spazieren und stieß auf einen Grabhügel, an dem sie in tiefen Schlaf fiel. Sie träumte, ein Schwarzer Kaiser lade sie ein«, erzählt die Geschichte. »Sie ging zu ihm hin und hatte im Traum mit ihm Verkehr. Er aber sprach zu ihr: ›Du wirst in einem hohlen Maulbeerbaum niederkommen.‹ Als sie erwachte, fühlte sie sich schwanger und brachte (später) Konfuzius in einem hohlen Maulbeerbaum zur Welt. Deshalb wird er [Konfuzius] der Erste Weise genannt.« Andere literarisch ausgeschmückte Berichte lassen Konfuzius’ Geburt von wunderbaren Zeichen begleitet sein, die auf seine spätere Größe hindeuten. Sonnenfinsternisse, Drachen und himmlische Wesen verkünden seine Geburt, bei der die Mutter keinerlei Schmerzen verspürt habe. Der neugeborene Konfuzius trug eine Schrift auf der Brust, die prophezeite, dass er ein großer Gelehrter werden würde.17

In den gewöhnlichen Biografien lesen sich Konfuzius’ frühe Jahre allerdings weniger ruhmreich. Shuliang starb, als Konfuzius noch ein Kleinkind war. Seine Mutter musste ihn allein großziehen, da Yan und ihr Kind von Shuliangs Familie nach seinem Tod verstoßen wurden – auch dies möglicherweise ein Hinweis darauf, dass Yans Beziehung zu Shuliang illegitim war. Sima Qian jedenfalls schreibt, dass Yan ihrem Sohn nicht einmal erzählte, wo das Grab seines Vaters lag. (Als Yan viele Jahre später starb, musste Konfuzius das Grab mithilfe eines Fremden ausfindig machen, damit er seine Mutter neben seinem Vater bestatten konnte.)18

Wir wissen fast nichts über Konfuzius’ Kindheit. Sima Qian erzählt, der junge Konfuzius habe gerne mit rituellen Opfergefäßen gespielt, die er stets in gerader Reihe aufstellte, als wolle er ein Tempelopfer darbringen. Das Einzige, was wir sicher wissen, ist, dass der junge Konfuzius eine Leidenschaft fürs Lernen besaß: »Als ich fünfzehn war, war mein ganzer Wille aufs Lernen ausgerichtet.«19 Diese einfache Entscheidung veränderte den Lauf der Welt.

Konfuzius widmete sich dem Studium von Schriften und Kulthandlungen, die selbst zu seiner Zeit schon als uralt galten. In seiner Suche nach Strategien, die dem gebeutelten China seiner Tage Hilfe bringen konnten, richtete er seinen Blick zurück auf eine Zeit, die er als goldenes Zeitalter betrachtete. Damals war die Nation noch in Frieden vereint – es ist die Rede von den frühen Jahren der Zhou-Dynastie. In seinen Augen waren die Gründer der Zhou-Dynastie und ihre ersten Herrscher Könige, die von Weisheit erfüllt tugendhaft regierten. Der Grund, weshalb China ins Chaos gestürzt sei, war nach Konfuzius die Tatsache, dass die jetzigen Herrscher des Landes die Pfade der Zhou verlassen hatten. Und so brachte er einen Großteil seines Lebens damit zu, Philosophie, Geschichte, Literatur und rituelle Kulthandlungen der chinesischen Vorgeschichte zu studieren mit dem Ziel, diesen Traditionen wieder einen Platz in der chinesischen Gesellschaft zu geben.

Tatsächlich war Konfuzius zu seiner Zeit vermutlich einer der letzten Experten für Sitten und Kultur der Zhou. Sima Qian zufolge besuchte er sogar die Hauptstadt der Zhou, um die alten Riten aus erster Hand beobachten und sie so besser bewahren und verbreiten zu können. Konfuzius’ politische Karriere war die lange (und letztlich erfolglose) Mission, die Könige, Herzöge und Minister von Chinas kriegführenden Staaten zu überzeugen, von ihren Vorgängern zu lernen und mithilfe von deren Ideen und Zeremonien zu herrschen. Daher ist Konfuzius ein wichtiges Bindeglied zwischen dem chinesischen Altertum und dem neuzeitlicheren China. Als Historiker suchte er nach den Lektionen der Vergangenheit, und mit seinen Bemühungen, diese wieder zum Leben zu erwecken, trachtete er danach, ein stolzes kulturelles Erbe zu bewahren, das Gefahr lief, vollkommen in Vergessenheit zu geraten. In gewisser Weise war er ein kultureller Fundamentalist, getrieben von dem unerschütter­lichen Glauben, nur die Traditionen des chinesischen Altertums hätten den modernen Übeln etwas entgegenzusetzen.

Damit legte er für die nächsten 2500 Jahre die Grundfesten der formalen chinesischen Erziehung. Niemand konnte in China in der Folge noch von sich behaupten, kultiviert oder gelehrt zu sein, wenn er keine profunde Kenntnis der klassischen Literatur, Geschichte und Philosophie besaß. Konfuzius und seine Schüler hatten diesen Kanon festgelegt. Wer immer eine Stelle im Regierungsapparat anstrebte und im Kaiserreich sozial und finanziell aufsteigen wollte, musste ihn studiert haben. Jahrhundertelang saßen chinesische Jungen über denselben Gedichten und Traktaten, die bereits Konfuzius und seine Schüler gelesen hatten, und träumten davon, dass diese Kenntnisse ihnen die Pforten zu Reichtum, Status und Macht aufstoßen würden.

Zu Beginn seiner Laufbahn aber hatte Konfuzius wenig Gelegenheit, von seinem umfangreichen Wissen Gebrauch zu machen. In seiner ersten Stellung war er verantwortlich für die Getreidespeicher des adligen Jin-Klans, der einflussreichsten Familie in Lu, später verwaltete er dessen Vieh. Da er weder Geld noch Status besaß, war es ohnehin ein Glück, dass er eine Anstellung bei einer adligen Familie gefunden hatte. »Ich hatte eine harte Jugend, deshalb musste ich viele gewöhnliche Dinge lernen, die nicht der Bewunderung wert sind«, erklärte Konfuzius einst. Doch er beeindruckte seine Brotherren trotzdem. »Er maß das Getreide gerecht«, berichtet Sima Qian, »und das Vieh gedieh.« Seine Art, die Dinge zu erledigen, zog die Aufmerksamkeit der Regierung von Lu auf sich und so wurde er bald zum Arbeitsminister ernannt – was ihm Gelegenheit gab, sich auf höherer Ebene auszuzeichnen.20