Königsweg oder Sackgasse? - Dieter Freiburghaus - E-Book

Königsweg oder Sackgasse? E-Book

Dieter Freiburghaus

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Beschreibung

Nun ist es also passiert: Der Königsweg ist zur Sackgasse geworden! Immer wieder hatte es die Schweiz in den vergangenen 60 Jahren geschafft, in der Europapolitik einen eigenen Weg zu gehen, mit der Europäischen Union aufs Engste verbunden zu sein, ohne ihr beizutreten. Das Zauberwort hiess Bilateralismus. Die Schweizer Wirtschaft profitierte vom freien Zugang zum grossen Binnenmarkt, und doch blieb das Land weitgehend souverän. Die Personenfreizügigkeit führte allerdings zu einer Zuwanderung, die man in dieser Grösse nicht erwartet hatte. Die Ängste vieler Bürger geschickt nutzend, gewann die Schweizerische Volkspartei am 9. Februar 2014 ihre Initiative 'Gegen Masseneinwanderung'. Doch die EU wird die geforderten Einschränkungen nicht akzeptieren. Nun ist guter Rat teuer. Dieses spannend und verständlich geschriebene Buch vermittelt das Hintergrundwissen, auf das wir in der heutigen Situation mehr denn je angewiesen sind.

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Dieter Freiburghaus

Königsweg oder Sackgasse?

Schweizerische Europapolitik von 1945 bis heute

2., überarbeitete Auflage

Verlag Neue Zürcher Zeitung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2., überarbeitete Auflage 2015

© 2009 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 2. Auflage 2015 (ISBN 978-3-03810-018-8)

Titelgestaltung: unfolded, Zürich

Titelabbildung: Alina Günter, Zürich

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-03810-054-6

www.nzz-libro.ch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1Die Anfänge der europäischen EinigungDie Sonderrolle der Schweiz Die Jahre 1945 bis 1954

1.1Die Geburt Europas aus dem Ungeist des Krieges

Roosevelts «Grand Design»

US-Einfluss auf Westeuropa: Marshallplan, OEEC und NATO

Europabewegungen und Europarat

Der Schuman-Plan und die Gemeinschaft für Kohle und Stahl

1.2Der Alleingang der Schweiz in der Nachkriegszeit

Reminiszenzen aus der Krisen- und Kriegszeit

Die Schweiz in der Kritik: das Washingtoner Abkommen und die Frage des UNO-Beitritts

Die Europabewegungen und die Schweiz; der Europarat

Neutralität oder Westintegration? Der Marshallplan und die OEEC

Die Schweiz und die Montanunion

1.3Die Akteure der schweizerischen Aussen- und Europapolitik

Das Vollbild der Grossen Konkordanz

Die Handelsabteilung als Hauptakteurin der Aussenwirtschafts- und Europapolitik

2Die Gründung der Europäischen WirtschaftsgemeinschaftDie Gegenstrategien der «Nicht-Sechs» Die Jahre 1955 bis 1960

2.1Die «Relance européenne»

Verschiedene Interessen und Initiativen

Das Ringen um den EWG-Vertrag

Schwieriger Start eines anforderungsreichen Projekts

2.2Britische Störmanöver in der OEEC

Die OEEC als Forum der Auseinandersetzung

Wo stand die Schweiz?

Eine grosse Freihandelszone als Alternative zur Zollunion?

2.3Eine grosse Freihandelszone als Ergänzung zur EWG?

Das Ringen um die Freihandelszone

Die Schweiz in turbulentem Fahrwasser

Der neue schweizerische Zolltarif und der provisorische Beitritt zum GATT

2.4Die EFTA – eine kleine Freihandelszone als Ersatzlösung

Die Sieben rücken enger zusammen

Schaffners «Beamtenverschwörung» und die Entstehung der EFTA

Ausgestaltung und Bedeutung der EFTA

Die Dillon-Runde des GATT und die Umwandlung der OEEC in die OECD

3Turbulente Jugendjahre der GemeinschaftErfolglose Annäherungsversuche der EFTA-Staaten Die Jahre 1961 bis 1968

3.1Die EWG ist mit sich selbst beschäftigt

De Gaulles Europapläne

Der Aufbau der Gemeinschaft

Die Bemühungen um einen Brückenschlag scheitern

3.2Grossbritanniens Beitrittsgesuch und der London Pledge

Gründe für den Sinneswandel in London

Heftige Reaktion der EFTA-Partner

Die Verhandlungen zwischen London und Brüssel

3.3Der Assoziationsversuch der Neutralen

Interessen und (fehlende) Alternativen der Schweiz

Die Zusammenarbeit der Neutralen zur Vorbereitung der Assoziationsgesuche

Die Behandlung der Assoziationsgesuche durch die Gemeinschaft

3.4Die Vorbereitungsarbeiten in der Schweiz

Interne Koordination und die Schaffung des Integrationsbüros

Materielle Fragen einer Assoziation

Institutionelle Fragen einer Assoziation

3.5Wie weiter nach de Gaulles Nein?

Reaktionen auf das Nein

Fortschritte bei der Realisierung der Kleinen Freihandelszone

Die Kennedy-Runde des GATT

Der Beitritt der Schweiz zum Europarat

4Von hochfliegenden Unionsplänen zur EuroskleroseEndlich Freihandel für die EFTA-Staaten! Die Jahre 1969 bis 1983

4.1Die Norderweiterung, hochgemute Integrationspläne  und die Eurosklerose

Die Norderweiterung

Unionspläne – und was aus ihnen geworden ist

Die sogenannte Eurosklerose

4.2Die Freihandelsabkommen mit den EFTA-Staaten

Die Ausgangslage

Drôle de guerre

Das Treffen auf Ministerebene und die Erkundungsgespräche

Die Verhandlungen und ihr Resultat

Die Genehmigung in der Schweiz

4.3Die weitere Entwicklung

Die Bemühungen um ein Versicherungsabkommen

Zusammenarbeit im Bereich Forschung und Technologie

Der Flirt mit der Schlange

Die Weiterentwicklung der EFTA und die Tokio-Runde des GATT

5Aufbruch zum BinnenmarktDer Luxemburger Prozess Die Jahre 1984 bis 1988

5.1Das Binnenmarktprogramm der EG

Von Fontainebleau nach Mailand

Die Einheitliche Europäische Akte

5.2Der sogenannte Luxemburger Prozess

Das Ministertreffen in Luxemburg

Einige Ergebnisse des Luxemburger Prozesses

Gründe für die magere Ausbeute

5.3Die europapolitische Debatte in der Schweiz

Abkommen, Institutionen und Personen

Die Uruguay-Runde und die UNO-Abstimmung

Was das Volk meint

Parlamentarische Geschäftigkeit

Stimmen der Wissenschaft, der Politik und der Wirtschaft

Der Integrationsbericht des Bundesrates von 1988

6Die Union von Maastricht und der EWRDie Schweiz im europäischen Malstrom Die Jahre 1989 bis 1992

6.1Die Europäische Union – eine Zangengeburt

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen!

Der Vertrag von Maastricht

6.2Worum es beim Europäischen Wirtschaftsraum ging

«Binnenmarktähnliche Verhältnisse»

Die Quadratur des Zirkels: Recht und Institutionen im EWR

Das Verhandlungssystem

Nachtrag: die Uruguay-Runde des GATT

6.3Delors Vorschlag für eine neuartige Assoziation

Anlass, Inhalt und Kontext von Delors Vorschlag

Erste Reaktionen der EFTA-Länder

Die Haltung der Schweiz gegenüber Delors Vorschlag

6.4Die Arbeiten der High Level Steering Group

Der informelle Dialog

Die Sondierungsgespräche

Die Position der Schweiz am Vorabend der Verhandlungen

6.5Die EWR-Verhandlungen und das Transitabkommen

Die Verhandlungen im zweiten Semester 1990 unter Schweizer Vorsitz

Krisen und Durchbrüche im Jahre 1991

Nachspiel vor dem EuGH

Das Transitabkommen

6.6Die Vorbereitungen der Schweiz auf den EWR

Die interne Koordination

Eurolex

Der Einbezug der Kantone

Staat und Verfassung

6.7Die politische Auseinandersetzung in der Schweiz

1989/1990: Die grosse Herausforderung des EWR wird allmählich sichtbar

1991: Der EWR droht zu scheitern, und der Beitritt tritt in den Vordergrund

1992: das europapolitische Schicksalsjahr

7Die Europäische Union lernt laufenBeitritt oder Bilateralismus? Das war nun die Frage Die Jahre 1993 bis 2000

7.1Erweiterung der Union und Revisionen ihrer Verträge

Korrekturen am Maastrichter-Vertrag in Amsterdam und in Nizza

Erweiterungen im Norden, im Osten und im Süden

Die Verwirklichung der Währungsunion

7.2Nachbeben der EWR-Abstimmung in der Schweiz

EWR-Folgeprogramm und marktwirtschaftliche Erneuerung

Europapolitische Strategien, Initiativen und Referenden

7.3Der «neue» Bilateralismus

Der Rahmen der bilateralen Verhandlungen

Zentrale Rechtsfragen

Der Einbezug der Kantone

Die sieben Abkommen

Abschluss der Abkommen, Debatte und Referendum

Kleiner Nachtrag: die Revision der EFTA-Konvention

8Die Union ringt um ihre Verfassung8 Die Union ringt um ihre Verfassung«Bewährte Bilaterale» in der Schweiz Die Jahre 2001 bis 2008

8.1Braucht Europa eine (neue) Verfassung?

Der «Vertrag über eine Verfassung für Europa»

Weitere Aspekte des Integrationsprozesses

8.2Die bilateralen Abkommen II

Rahmen und Gang der Verhandlungen

Die einzelnen Abkommen

Genehmigung und Umsetzung

8.3Der Alltag des Bilateralismus

Gemischte Ausschüsse und andere Koordinationsgremien

Folgen des Freizügigkeitsabkommens

Der Kohäsionsbeitrag

Konflikte mit der EU

Neue Themen für Verhandlungen

8.4Der Fortgang der europapolitischen Diskussion

Die Legislaturplanung 2003 – 2007 und der Europabericht 2006

Weitere europapolitische Positionsbezüge

9Die Union in der BewährungsprobeDer bilaterale Weg führt in die Sackgasse Die Jahre 2009 bis 2014

9.1Die Europäische Union im Krisenmodus

Wie weiter im Südosten Europas?

Von der Finanz- zur Staatsschuldenkrise

Wahlen zum Europäischen Parlament

9.2Courant normal des Bilateralismus und neue Verhandlungen

Noch mehr Marktzugang!

Teilnahme an Programmen und Projekten

Andere Formen der Zusammenarbeit

9.3Drei heisse Eisen

Steuerprobleme

Die Personenfreizügigkeit

Die institutionelle Frage

9.4Der Weg ins Abseits

Die Entwicklung der Personenfreizügigkeit

Die Initiative gegen Masseneinwanderung

Das Resultat, seine Interpretation und die politischen Reaktionen

Fazit

Rekapitulation

Vom Sonderfall zum Sonderfall

Die Schweiz reagiert auf die europäische Integration

Der Primat der Wirtschaft

Vom Serail auf den Marktplatz

«Beitrittsfähig bleiben …»

Institutionen, Traditionen und politische Kultur

Die Neutralität

Der Föderalismus

Die direkte Demokratie

Das Regierungssystem

Die heutige Situation

Vorwort zur zweiten Auflage

Sechs Jahre sind seit der Publikation der ersten Auflage dieses Buches vergangen– Zeit für eine zweite. 2009 hielten sich die Varianten «Königsweg» und «Sackgasse» noch die Waage, inzwischen sieht es mehr nach Sackgasse aus. Damals durfte man «Bewährte Bilaterale» noch im Brustton der Überzeugung ausrufen, und auf Plakatwänden verhalf dieser Slogan den Volksabstimmungen über europäische Angelegenheiten zu einem positiven Resultat. Doch dann geriet Sand ins Getriebe: Streit bei verschiedenen Steuerfragen, Forderungen der EU nach einem institutionellen Rahmenabkommen und, entscheidend, die Abstimmung über die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» vom 9.Februar 2014. Sie fiel mit 50,3Prozent sehr knapp, jedoch zulasten der bisherigen Europapolitik aus. Im Herbst 2014 ist noch nicht einmal in Umrissen erkennbar, wie der Volkswille umgesetzt und gleichzeitig der Bilateralismus gerettet werden könnte. Eines aber ist sicher: Die Schweiz wird nicht umhin kommen, ihr Verhältnis zur Europäischen Union grundsätzlich zu überdenken. Dazu möchte dieses Buch beitragen.

Die Kapitel eins bis acht konnten wir weitgehend übernehmen. Für die Zeit von 2008 bis 2014 gibt es ein neuntes Kapitel mit einem ähnlichen Aufbau wie die bisherigen. Inhaltlich konnten wir uns dabei auf die jährlichen Chroniken stützen, die wir für das Schweizerische Jahrbuch für Europarecht verfassen. Die Einleitung und das Fazit wurden den Entwicklungen angepasst. Die methodischen Überlegungen (Gedanklicher Rahmen) haben wir weggelassen, interessierte Leserinnen und Leser verweisen wir auf die erste Auflage. Wir danken für die hilfreiche und angenehme Zusammenarbeit mit dem Verlag NZZ Libro.

Solothurn, November 2014

Vorwort zur ersten Auflage

Dieses Buch beruht auf Erkenntnissen und Erfahrungen, die ich während einer fast zwanzigjährigen Lehr- und Forschungstätigkeit am Institut de hautes études en administration publique (IDHEAP) in Lausanne zusammengetragen habe. Mein Lehrstuhl an diesem Institut war für die Themen Europäische Integration und Schweizerische Europapolitik zuständig. Im Rahmen der Europaseminare Solothurn unterrichtete ich zusammen mit meinem Team eine grosse Anzahl von Beamten, Politikern und Journalisten. Dies gab uns Gelegenheit, im Laufe der Zeit über dreihundert Referentinnen und Referenten einzuladen, welche die schweizerische Europapolitik in der einen oder andern Weise mitgestaltet haben. Wir konnten diese Politik also über längere Zeit gleichsam teilnehmend beobachten und manchen Blick hinter die Kulissen werfen. Wir führten auch Kurse in Brüssel durch und lernten dabei, wir man dort die Schweiz wahrnimmt. Drei Hauptakteure der schweizerischen Europapolitik standen mir auch in den letzten beiden Jahren weiterhin Rede und Antwort und waren bereit, Teile dieses Buches kritisch zu kommentieren: der frühere Delegierte für Handelsverträge Silvio Arioli, alt Staatssektetär Franz Blankart und alt Nationalbankpräsident Pierre Languetin. Allen diesen Personen möchte ich herzlich danken.

Selbstverständlich stützt sich das vorliegende Buch auch auf die reichlich vorhandenen wissenschaftlichen, publizistischen und amtlichen Texte zu diesem Thema ab. Sie werden durch Erkenntnisse ergänzt, die wir aus Forschungsprojekten unseres Lehrstuhls gewonnen haben. Die Mechanismen der europäischen Integration wurden uns klarer, als wir die sogenannte Differenzierte Integration untersuchten (Freiburghaus 2002). Laurent Goetschel nahm 1994 die behördliche EWR-Kampagne unter die Lupe. Edith Honegger setzte sich 2004 mit den Gemischten Ausschüssen in den bilateralen Abkommen auseinander. Martin Zbinden legte 2006 eine umfangreiche Dissertation zum Assoziationsversuch der Schweiz von 1961/1963 vor. Markus Grädel befasste sich 2004 mit den Europabewegungen in der Schweiz nach dem Krieg. 2007 führte er eine vergleichende Untersuchung des EWR- respektive des Beitrittsprozesses für Österreich, Schweden, Norwegen und die Schweiz durch. Felix Buchli schliesslich untersuchte die Rolle der Handelsabteilung – des späteren Bundesamtes für Aussenwirtschaft– für die Aussen- und Europapolitik. Dort, wo weiterhin Lücken bestanden, führte ich noch einige ergänzende Forschungsarbeiten und Interviews durch. So wurde etwa zum Freihandelsabkommen von 1972 der umfangreiche persönliche Nachlass von Paul Jolles im Archiv für Zeitgeschichte in Zürich gesichtet. Ich danke den Mitarbeitern dieses Instituts für ihre Unterstützung. Für das hier vorliegende Destillat aus all diesen Informationen übernehme ich selbstverständlich die Verantwortung.

Um die redaktionelle Arbeit haben sich vor allem Simon Jakob und Felix Buchli verdient gemacht, und das IDHEAP hat die Publikation finanziell unterstützt. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag NZZ Libro war angenehm und effizient. Wir danken allen, die in der einen oder andern Weise zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben.

Einleitung

Political Science without History has no root;

History without Political Science bears no fruit.

Herman Finer

Unter schweizerischer Europapolitik wollen wir hier die Gestaltung der Beziehungen der Schweiz zu den europäischen Gemeinschaften und zur Union verstehen– zu jenen Organisationen also, welche aus dem europäischen Integrationsprozess hervorgegangen sind. Dieser Prozess war eine Antwort auf den Zweiten Weltkrieg: Da man die Nationalstaaten als mitschuldig an diesem Unheil erachtete, sollten sie durch die Einbindung in ein neues politisches System gezähmt werden. Die Schweiz, welche weitgehend verschont geblieben war und sich in ihrer nationalen Identität sogar gestärkt fühlte, zeigte dafür kein Interesse. Aber auch sonst zog sie sich hinter die sogenannte integrale Neutralität zurück und beteiligte sich nicht an den neu entstehenden internationalen Organisationen. Doch eine Ausnahme machte sie: Sie wurde 1948 Gründungsmitglied der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), denn auf die Öffnung der Märkte war sie existenziell angewiesen. Im Übrigen schloss sie zu diesem Zwecke bereits damals eine grosse Zahl bilateraler Handelsverträge ab.

1951 wurde von Frankreich, Deutschland, Italien und den Beneluxstaaten die Montanunion gegründet– die erste supranationale Gemeinschaft. Die Schweiz blieb ihr fern, denn erstens produzierte sie kaum Kohle und Stahl, und zweitens betrachtete sie diesen sogenannten Schuman-Plan als ein französisches politisches Projekt zur Kontrolle der Ruhr. Mit dieser Haltung gehörte sie damals zur Mehrheit der europäischen Länder. Doch dann entwickelten die sechs Staaten der Montanunion die Idee eines umfassenden gemeinsamen Marktes auf der Basis einer Zollunion. Dies nun drohte zu einer beträchtlichen wirtschaftlichen Diskriminierung all jener zu führen, welche sich nicht daran beteiligten. Seite an Seite mit Grossbritannien und den skandinavischen Staaten bekämpfte deshalb die Schweiz diesen Plan. Die «Nicht-Sechs» entwarfen eine grosse Freihandelszone und hofften, Deutschland und die Niederlande auf ihre Seite zu ziehen. Doch dann entschieden sich Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1958 aus politischen Gründen für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG. Diejenigen, die draussen vor der Tür blieben, bildeten daraufhin die kleine Freihandelszone EFTA. Die Schweiz beteiligte sich sehr aktiv an deren Aufbau, denn man hatte in Bern begriffen, dass nun die Zeit der multilateralen Handelspolitik gekommen war.

Doch schon kurze Zeit später wollte Grossbritannien der EWG beitreten– wiederum in erster Linie aus politischen Gründen. Für die neutralen EFTA-Staaten Österreich, Schweden und die Schweiz kam dies weiterhin nicht infrage. In enger Zusammenarbeit entwarfen sie den Plan für eine Assoziation mit der EWG. Sie wurden sich aber rasch bewusst, dass eine solche Teilnahme am Gemeinsamen Markt nur um den Preis einer institutionellen Satellisierung zu haben war, und waren deshalb erleichtert, als de Gaulle zum Beitritt Grossbritanniens Nein sagte und damit auch die Assoziationspläne hinfällig wurden. Die handelspolitische Spaltung Westeuropas bestand also weiter. Überwunden werden konnte sie erst Anfang der siebziger Jahre, als nach dem Rücktritt des Generals Grossbritannien, Dänemark und Irland der Gemeinschaft beitraten und die andern sieben EFTA-Staaten mit ihr Freihandelsabkommen abschlossen. Die Schweiz spielte dabei eine führende Rolle. Inzwischen war sie auch dem Europarat und dem GATT beigetreten, ihre Beziehungen zur Völkerfamilie hatten sich also normalisiert. Als Nichtmitglied der Gemeinschaft war sie immer noch in der guten Gesellschaft kleiner, wohlhabender Länder.

Die Krisen der siebziger Jahre brachten den Integrationsprozess beinahe zum Erliegen. Auf der Basis der Entwicklungsklausel des Freihandelsabkommens konnte die Schweiz ihre Beziehungen zur Gemeinschaft dennoch in kleinen Schritten ausbauen. Die achtziger Jahre wurden dann wieder zu einer Zeit unerwarteter Dynamik: Zuerst lancierte die Gemeinschaft das Binnenmarktprogramm, dann wollte sie in Richtung einer Währungs- und einer politischen Union weiterschreiten. Der neue Integrationsschub drohte die EFTA-Staaten wiederum wirtschaftlich zu diskriminieren. Sie versuchten zuerst, die neuen Hürden mittels konventioneller Abkommen aus dem Weg zu räumen. Doch dieses schwerfällige Verfahren liess sie hinter der Binnenmarktdynamik herhinken. Delors schlug deshalb 1989 eine neue Assoziation mit «gemeinsamen Entscheidungs- und Verwaltungsorganen» vor: den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Trotz erheblicher Bedenken liess sich auch die Schweiz auf Verhandlungen ein, denn eine völlige Isolierung konnte sie sich nicht leisten.

Zur selben Zeit liessen die Ereignisse von 1989 erahnen, dass Europa künftig mit Problemen einer neuen Grössenordnung konfrontiert sein würde. Die EWR-Verhandlungen verliefen äusserst beschwerlich, die EFTA musste ihre Positionen eine nach der andern preisgeben. Die Gemeinschaft verlangte weitgehende Anpassungen an ihr Recht, war jedoch nicht bereit, ihren Partnern eine wirksame Mitbestimmung einzuräumen. Einige EFTA-Staaten warfen deshalb das Steuer herum und beantragten den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft EG. Damit wurde die EFTA-Position noch schwächer, das Abkommen noch ungünstiger. Auch der schweizerische Bundesrat gelangte deswegen zur Überzeugung, der EWR tauge höchstens noch als Übergangslösung, und stellte ebenfalls ein Beitrittsgesuch. Doch diesen Schwenk vollzog er nach helvetischen Massstäben zu rasch, was ein heilloses Durcheinander der Positionen zur Folge hatte. Das Resultat war das Scheitern des EWR in der Abstimmung vom 6.Dezember 1992.

Die Schweiz fand sich in ziemlich isolierter und unbequemer Position wieder. Die wirtschaftliche Diskriminierung würde nun nicht mehr nur von der Gemeinschaft, sondern auch vom EWR ausgehen. Der Bundesrat legte ein umfangreiches Programm zur marktwirtschaftlichen Erneuerung vor, denn die Schweizer Wirtschaft zeigte Schwächezeichen. Da die Schweiz inzwischen keine Partner mehr hatte, blieb ihr für den Abbau von Hürden zur EG nichts anderes übrig, als es erneut mit bilateralen sektoriellen Abkommen zu versuchen. Nach verständlichem Zögern liessen sich die Gemeinschaft und später die Union darauf ein, denn die Schweiz war nach wie vor einer ihrer wichtigsten Handelspartner. Die Verhandlungen wurden schwierig, doch man tastete sich an Lösungen heran, und nach der Jahrtausendwende sind zwei grössere Pakete von sehr nützlichen Verträgen zustande gekommen. Dabei musste die Schweiz allerdings verschiedene Konzessionen machen, welche sie früher weit von sich gewiesen hätte. Doch die Wirtschaft war zufrieden, und die Bevölkerung hat zu dieser Politik mehrmals Ja gesagt. Die Beitrittsdiskussion, welche während der neunziger Jahre hohe Wellen geworfen hatte, ist längst abgeflaut. Doch inzwischen ist Sand ins Getriebe des Bilateralismus geraten, denn erstens verlangt die EU von der Schweiz, alle Abkommen in einen dem EWR vergleichbaren institutionellen Rahmen zu stellen, und zweitens führt die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative am 9.Februar 2014 die bisherige Europapolitik in die Sackgasse.

Diese Geschichte wollen wir hier erzählen. Nicht dass es dazu keine Literatur gäbe, doch soweit wir wissen, fehlt eine gleichmässig dichte Gesamtdarstellung. Wir hoffen, diese Lücke füllen zu können. Bei wichtigen Weggabelungen werden wir innehalten und fragen, wie die damaligen Entscheide zustande gekommen sind. Sie wurden in aller Regel von gut informierten und verantwortungsbewussten Leuten gefällt und lassen sich also weitgehend nachvollziehen– insbesondere dann, wenn man die Umstände, den Zeitgeist und die damaligen Interessen der Akteure in Rechnung stellt und sie nicht nur aus heutiger Sicht beurteilt.

Doch die Erzählung einer solchen Geschichte kann nicht nur darin bestehen, alles, was man weiss und gefunden hat, chronologisch aneinanderzureihen– ein solcher Text wäre weder lesbar noch verständlich. Man lässt also weg und hebt hervor, man stellt Zusammenhänge her und verweist auf Hintergründe. Kurz, man gibt der Sache eine Struktur und einen Sinn. Wie man das macht, ist eine Frage der wissenschaftlichen Herangehensweise, der Methodologie. Doch welcher? Wir bewegen uns hier auf der Grenzlinie zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft und begeben uns einmal auf dieses und dann wieder auf jenes Territorium. Ausserdem brauchen wir einige ökonomische und juristische Kategorien und Erkenntnisse, und auch die «Internationalen Beziehungen» sowie die «Integrationsforschung» ziehen wir zu Rate. Dass bei einer solchen Herangehensweise eine einzige Standardmethode nicht zum Ziel führen kann, ist offensichtlich, wir werden vielmehr in pragmatischer Weise verschiedene Hilfsmittel und Erkenntnisse der erwähnten Disziplinen verwenden. Um der damit drohenden Beliebigkeit Schranken zu setzen, binden wir die Geschichte in einen gedanklichen Rahmen ein. Interessierte Leserinnen und Leser finden ihn in der ersten Auflage dieses Buches beschrieben.

Doch dann bleibt die Frage, ob eine solche Rekonstruktion der Ereignisse alles ist, was man zur schweizerischen Europapolitik sagen kann. Gibt es nicht auch tiefer liegende Gründe dafür, dass die Schweiz diesen Weg gegangen ist und heute in Bezug auf Europa wieder einen Sonderfall darstellt– gerade noch zu vergleichen mit Monaco, Serbien oder Weissrussland? Solche Ursachen werden oft diskutiert: Die einen meinen, überholte Mythen wie Neutralität und Souveränität würden die Schweiz daran hindern, ihre Situation richtig zu beurteilen. Andere vertreten eine Fehlstartthese: Die Schweiz hätte es nach dem Krieg versäumt, aktiv am Aufbau der neuen Welt- und Europaordnung teilzunehmen, und diese Fehleinschätzung würde bis in die Gegenwart fortwirken. Die Dritten sehen den Grund für die Ablehnung «Europas» in einem Volkscharakter, der skeptisch bleibt gegenüber allem, was aus dem Ausland kommt. Wieder andere meinen, die besonderen politischen Institutionen – direkte Demokratie, Föderalismus und Konkordanz– hinderten unser Land daran, überhaupt je grössere Schritte zu wagen. Und nicht zuletzt, so wird gesagt, seien die Schweizer scharfe Rechner, die nicht zu zahlen bereit sind, wenn es etwas (fast) umsonst gibt. Das ist alles nicht ganz falsch. Doch diese komplexe Geschichte mit all ihren Wechselfällen, Richtungsänderungen, Erfolgen und Rückschlägen auf solche angeblich unveränderliche Faktoren zurückzuführen, ist eine Vereinfachung, welche jedem Verständnis im Wege steht. Sobald wir sie jedoch nicht als determinierend für das konkrete Handeln und Entscheiden betrachten, sondern gleichsam als Residualfaktoren, welche in offenen und ambivalenten Situationen ihre Wirkung entfalten, bereichern sie das Bild, welches wir uns von der Geschichte machen. Wir behalten also solche Besonderheiten der Schweiz im Auge und werden im Fazit Bericht erstatten, welchen Einfluss wir ihnen zubilligen wollen.

Wir werden am Schluss auch über die Zukunft sprechen. Eine sichere Prognose vermögen wir natürlich nicht abzugeben, aber doch eine Einschätzung der Chancen verschiedener Varianten. Der Bilateralismus ist in eine Sackgasse geraten, doch die schweizerische Europapolitik wird so oder so weitergehen!

1Die Anfänge der europäischen Einigung

Die Sonderrolle der Schweiz

Die Jahre 1945 bis 1954

Schweizerische Europapolitik ist – so haben wir gesagt– die Politik gegenüber dem europäischen Einigungsprozess und den Organisationen, die daraus hervorgegangen sind. Dieser Prozess begann nach dem Krieg zögerlich und unsystematisch, und deshalb hatte die schweizerische Europapolitik zunächst noch wenig klare Konturen. Dies änderte sich, als mit der Montanunion sechs Staaten die erste supranationale Organisation gründeten, und vor allem, als sie 1955 beschlossen, eine umfassende Wirtschaftsgemeinschaft aufzubauen. Nun kam der schweizerische Aussenhandel unter Druck. Schweizerische Europapolitik bedeutete fortan vor allem, die Nachteile des Nichtmitmachens zu minimieren. Doch können die ersten zehn Jahre nach dem Kriegsende keineswegs vernachlässigt werden, denn hier entstanden – in der Schweiz, in Europa und weltweit– Ideen, Interessenkonstellationen und Institutionen, welche die Geschichte bis heute prägen.

Es waren schwierige und turbulente Jahre: das Kriegsende, das volle Ausmass des Grauens, die leidvollen ersten Winter in den zerstörten Ländern, die wachsende sowjetische Gefahr. Zusätzlich liessen verschiedene Stellvertreter- und Dekolonialisierungskriege das Klima der Unsicherheit und Bedrohung fortdauern. In solcher Umwelt mussten sich die Ideen für eine Einigung Europas, die während des Krieges entstanden waren, bewähren. Die meisten blieben auf der Strecke; durchgesetzt hat sich am Schluss und für lange Zeit die wirtschaftliche Integration im Rahmen einer supranationalen Staatengemeinschaft. Wir werden diesen Selektionsprozess der Europaprojekte im ersten Abschnitt skizzieren.

Im zweiten dann zur Schweiz: Sie musste ihre Aussenpolitik vom Krieg auf den Frieden umstellen. Während es zwischen 1939 und 1945 ums pure Überleben gegangen war, ging es nun darum, wieder normale Beziehungen zu den andern Staaten aufzubauen und ein Verhältnis zu den neu entstehenden internationalen und europäischen Organisationen zu finden. Die helvetische Politik der Kriegsjahre stiess bei den Alliierten auf wenig Verständnis, ja auf massive Kritik: Neutralität angesichts eines «Reichs des Bösen» wurde als Opportunismus gebrandmarkt, und das Land musste einige Federn lassen, um wieder akzeptiert zu werden. Doch die Neutralität wurde von den Schweizern selbst keineswegs infrage gestellt, im Gegenteil, sie wurde zur wichtigsten Maxime der Nachkriegspolitik. Dies führte zu einem weitgehenden Rückzug des Landes von der internationalen Szene. Davon gab es allerdings eine gewichtige Ausnahme: In der Aussenwirtschaftspolitik war man sehr aktiv. Zu diesem Zweck baute man in jenen Jahren eine institutionelle Infrastruktur aus, die später auch für die Europapolitik im engeren Sinne zuständig wurde. Dies skizzieren wir im dritten Abschnitt.

1.1Die Geburt Europas aus dem Ungeist des Krieges

Die europäische Einigung ist in jeder Beziehung ein Kind des Kriegs, des heissen wie des Kalten. «Nie wieder!» war 1945 die Losung. Physische und moralische Zerstörungen ungeheuren Ausmasses hatten die meisten Länder heimgesucht. Europa würde nie mehr der Bauchnabel der Welt sein, denn nun gaben die USA und die UdSSR den Ton an. Der Krieg war zwar von Nazideutschland entfesselt worden, doch kaum jemand war ohne Schuld geblieben. Auf der Anklagebank sass auch der alte europäische Nationalstaat, der sich offenbar nicht zähmen liess. Neubeginn bedeutete also in erster Linie die Überwindung des «Westfälischen Systems» der souveränen Nationalstaaten durch einen europäischen Bund.1

Doch wie sollte eine solche Verbindung aussehen und herbeigeführt werden? Jede Reichsidee hatte spätestens nach dem Dritten Reich abgedankt, und sowohl das «Konzert der Mächte» wie auch der Völkerbund hatten versagt. An Ideen fehlte es zwar nicht. Einige hatten weit zurückreichende historische Wurzeln, andere entstammten der Zwischenkriegszeit und waren von den Widerstandsbewegungen und Exilregierungen weiterentwickelt worden. Doch für ambitionierte Pläne bot die unmittelbare Nachkriegszeit ungünstige Bedingungen, denn die Regierungen waren vollauf damit beschäftigt, die materielle Not und die kommunistische Gefahr zu bekämpfen. Wären nicht die USA gewesen, Europa wäre wohl im Chaos versunken. Roosevelt war fest entschlossen, eine neue Weltordnung unter amerikanischer Führung aufzubauen und die dafür nötigen Mittel einzusetzen. Diese Pläne brachen sich jedoch teilweise an Stalins kommunistischem Imperium: Die Welt wurde zweigeteilt, zwei feindliche Blöcke standen sich waffenstarrend gegenüber, und der Riss ging mitten durch Europa. Die unmittelbare Aufgabe war nun, Westeuropa zum antikommunistischen Bollwerk zu befestigen, und deshalb wurden die Amerikaner zum wichtigsten Förderer der europäischen Integration.

Idealistische Europaprojekte, Pläne für eine Pax americana und die kommunistische Gefahr: Dies war das Milieu, in welchem in den vierziger Jahren verschiedene europäische Organisationen entstanden. Doch keine vermochte es, den souveränen Nationalstaat ernsthaft infrage zu stellen. Den ersten Ansatz dazu bot der Schuman-Plan für eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl von 1950.2

Roosevelts «Grand Design»

Doch zurück zur amerikanisch inspirierten neuen Weltordnung. 1941 waren sowohl die USA wie auch die Sowjetunion in den Krieg gegen Deutschland eingetreten. Sie verbündeten sich mit dem Vereinigten Königreich, welches bis anhin die Hauptlast des Kampfes gegen Hitler getragen hatte. 1943, nach Stalingrad, begann sich das Geschick zugunsten der Alliierten zu wenden, und 1945 war der Krieg zu Ende. Im Februar wurde in Jalta und im August in Potsdam über das Schicksal der Aggressoren und die Einflusssphären der Sieger verhandelt und beschlossen. In grossen Zügen war damit die Nachkriegsordnung für Europa festgelegt: die Teilung.

Doch Franklin D. Roosevelt, der visionäre und pragmatische Präsident der USA, hatte sich schon seit 1941 mit Plänen für eine neue Weltordnung beschäftigt. Er war vom Versagen des Völkerbundes – welchem die USA fern geblieben waren– und den Folgen der grossen Wirtschaftskrise tief geprägt. Sein «Grand Design» war universalistisch: Er wollte die bestehenden Staaten in ein institutionelles System einbinden, welches die ganze Welt umspannen und Frieden, Wohlstand und Menschenrechte garantieren sollte. Regionale Bündnisse hatten darin anfänglich keinen Platz. Erforderlich war nicht nur eine politische und sicherheitspolitische Gesamtorganisation, welche gegen Friedensbrecher vorgehen konnte, sondern auch ein stabiler Rahmen für die Weltwirtschaft sowie Fachorganisationen, welche die drängenden Probleme der Menschheit (Ernährung, Bildung, Gesundheit usw.) zu lösen imstande waren. Dieses Konzept fand seine erste Ausformulierung in der Atlantikcharta, die am 14.August 1941 von Roosevelt und Churchill auf einem amerikanischen Kriegsschiff vereinbart worden war: Verzicht auf Gewalt, Selbstbestimmungsrecht der Völker, freier und gleicher Zugang zu den Rohstoffen, Aufbau eines Systems kollektiver Sicherheit.

Ohne stabile und konvertible Währungen konnte es keine funktionierende Weltwirtschaft und auch keinen Frieden geben. 1944 kamen deshalb 44Staaten in Bretton Woods im Staat New Hampshire zusammen und beschlossen den Aufbau eines neuen Währungssystems, in dessen Zentrum der an das Gold gebundene US-Dollar stand. Ein Internationaler Währungsfond sollte dieses System überwachen, und eine Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank) die Mittel bereitstellen, um die kriegszerstörten Länder wieder aufzubauen. 1946 trat diese Ordnung in Kraft.

Der zweite Akt war die Schaffung der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) als System kollektiver Sicherheit. Im Gegensatz zum Völkerbund sollte sie durch die starke Stellung der Siegermächte im Sicherheitsrat wirksam gemacht werden: Dieser konnte gegen fehlbare Staaten Sanktionen verhängen. Ständige Mitglieder dieses inneren Kreises wurden die USA, die UdSSR, das Vereinigte Königreich, China (Taiwan) und, ein wenig später, Frankreich. Daran hat sich bis heute nichts geändert, ausser dass Taiwan durch die Volksrepublik China ersetzt worden ist. Die Charta der Vereinten Nationen wurde am 26.Juni 1945 in San Francisco von 50Staaten unterzeichnet und trat am 24.Oktober in Kraft. Verschiedene Spezialorganisationen – teils vom Völkerbund übernommene, teils neu gegründete– wurden zur Lösung der grossen Probleme der Menschheit eingerichtet.

Ein zentrales Anliegen Roosevelts war der Welthandel. Die grosse Krise der dreissiger Jahre war weitgehend das Resultat eines Teufelskreises von nationalen Krisen, protektionistischen Massnahmen, Schrumpfung des Welthandels und dadurch Verschärfung der Krisen gewesen. Eine internationale Handelsorganisation sollte nun den Welthandel liberalisieren und Rückfälle in den Protektionismus verhindern. Doch der entsprechende Vertrag, die Havanna-Charta, konnte nicht in Kraft gesetzt werden, da er vom amerikanischen Kongress nicht ratifiziert wurde. Ein wichtiger Teil daraus, das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), bedurfte dieser Ratifikation nicht und trat am 1.Januar 1948 für 23Gründungsmitglieder in Kraft. Es diente in den folgenden Jahrzehnten dazu, durch Zollabbau nach dem Prinzip der Meistbegünstigung↑ den Handel unter den Mitgliedern zu erleichtern. (Anmerkung für den Leser: Die mit ↑ gekennzeichneten Begriffe und Konzepte werden im Glossar näher erläutert.) Dies schloss im Prinzip regionale präferenzielle Abmachungen↑ aus, doch sah das GATT zwei Ausnahmen vor: Zollunionen↑ und Freihandelszonen↑, die beiden Formen, deren sich später die Europäer bei ihren Einigungsbestrebungen bedienen werden.

Soweit diese Ansätze zu einer internationalen Ordnung. Der Kalte Krieg beraubte sie eines Teils ihrer Wirksamkeit, doch die meisten Organisationen überlebten ihn und bilden heute noch den Rahmen für die weltweite Zusammenarbeit der Staaten. Diese Ordnung stand also in grossen Zügen schon, als die Westeuropäer begannen, sich aus eigener Kraft näher zusammenzuschliessen.

US-Einfluss auf Westeuropa: Marshallplan, OEEC und NATO

Schon am Ende des Krieges zeichnete sich ab, dass die Sowjetunion vom Alliierten zum Feind werden würde. Während Roosevelt noch versucht hatte, sich mit Moskau zu arrangieren, schwenkte 1945 sein Nachfolger Harry S. Truman auf einen scharf antikommunistischen Kurs um. Stalin befestigte sein europäisches Glacis durch die Einsetzung kommunistischer Regierungen in den Satellitenländern, und die westlichen Staaten rückten näher zusammen. Ein Eiserner Vorhang trennte fortan Europa mitten durch. 1947 legte Truman die USA auf die nach ihm benannte Doktrin fest, «alle freien Völker zu unterstützen, die sich der Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch Druck von aussen widersetzen». Anlass war die Gefahr kommunistischer Machtergreifungen in Griechenland und in der Türkei. 1947/1948 blockierte die UdSSR die Zugänge zu Berlin, die Westalliierten antworteten mit der Luftbrücke. 1949 wurden die drei Westzonen zur Bundesrepublik Deutschland vereinigt, der Osten reagierte mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Im selben Jahr zündete die UdSSR die erste Atombombe, was das bisherige Monopol der USA brach. Das Gleichgewicht des Schreckens etablierte sich. China wurde kommunistisch. 1950 eskalierte der Koreakrieg, in welchem die Chinesen den Norden und die USA den Süden unterstützten. 1953 starb Stalin. Sein Nachfolger Nikita Chruschtschow setzte gegenüber dem Westen auf «friedliche Koexistenz», im Innern des Imperiums regierte er mit eiserner Faust. 1956 schlug er den Aufstand der Ungarn nieder.

In den ersten Nachkriegsjahren standen die westeuropäischen Länder unter der doppelten Drohung militärischer Angriffe aus dem Osten und kommunistischer Umsturzversuche im Innern– insbesondere in Italien und Frankreich. Die materielle Not der Bevölkerung und der Mangel an Truppen vergrösserten die Probleme. Die USA sahen diese Gefahr und sie wussten, dass die Weltbank nicht über die Mittel verfügte, den wirtschaftlichen Aufbau ausreichend zu fördern. Der Marshallplan (European Recovery Programm ERP) von 1947 sollte Abhilfe schaffen.3 In der Errichtung eines grösseren europäischen Marktes sahen die USA eine Voraussetzung für die wirtschaftliche Erholung des Kontinents und somit für den Widerstand gegen den Kommunismus. Vor ihre Hilfe stellten sie deshalb die Bedingung, die europäischen Staaten müssten sich zu einer Organisation zusammenschliessen, welche die wirtschaftlichen Schranken zwischen ihnen abbauen sollte. Ausserdem, so hofften sie, konnte so die notwendige politische Integration auf den Weg gebracht werden. Dass es auch um den Absatz amerikanischer Waren ging, versteht sich von selbst. Sie offerierten diese Hilfe auch den mittel- und osteuropäischen Ländern, doch Stalin hinderte diese, daran teilzunehmen.

Am 16.April 1948 wurde die Organization for European Economic Cooperation (OEEC) gegründet, und die amerikanischen Hilfsgelder begannen zu fliessen.4 Sie wurde zur ersten neuen westeuropäischen Organisation, allerdings stand sie noch unter dem Patronat der USA. Sie ging zuerst gegen nationale Ein- und Ausfuhrkontingente vor, welche den Handel am stärksten behinderten. Einen wichtigen Schritt tat sie 1950 mit der Errichtung der Europäischen Zahlungsunion (EZU), welche die bisherige Devisenbewirtschaftung und den bilateralen Zahlungsbilanzausgleich in einen multilateralen Rahmen überführte und so den Handel massiv erleichterte. Dann begann die OEEC – parallel zum nun installierten GATT– sich der Zölle anzunehmen, doch in diesem Bereich stiess sie auf Granit, denn die Interessen der Mitgliedstaaten waren noch zu unterschiedlich, die Volkswirtschaften zu wenig gefestigt. Die kleineren Länder, die auf Aussenhandel stärker angewiesen waren als die grossen, hatten in der Regel niedrigere Zolltarife und waren am Freihandel interessiert. Die Schweiz gehörte – zusammen mit den Beneluxstaaten, Dänemark, Norwegen und Schweden– zu diesem sogenannten Low Tariff Club. Die Grossen hielten, nachdem die Ein- und Ausfuhrkontingente reduziert worden waren, umso mehr an protektionistischen Zöllen fest. Der Zollabbau kam damals weder in der OEEC noch im GATT voran.

Das andere Problem bestand im Mangel an Truppen auf dem westeuropäischen Kontinent zur Verteidigung gegen einen jederzeit möglichen sowjetischen Angriff. Die amerikanischen Soldaten hatten sich zu einem guten Teil aus Europa zurückgezogen, die britische Labourregierung unter Clement Attlee stufte die Verteidigung gegenüber innenpolitischen Programmen stark zurück, und Frankreich war militärisch in den Kolonien engagiert. Vorübergehend unterhielt die Schweiz wohl die grösste Armee aller westeuropäischen Länder! Die USA waren besorgt und forderten auch hier die Europäer auf, eigene Anstrengungen zu unternehmen, die sie dann unterstützen würden. Frankreich, das Vereinigte Königreich und die Beneluxstaaten5 – Waffengefährten gegen Deutschland– gründeten mit dem Brüsseler Vertrag von 1948 die Westunion, einen militärischen Beistandspakt mit dem Ziel einer politischen Integration. Ein Jahr später wurde die NATO, die North Atlantic Treaty Organization ins Leben gerufen, ein Verteidigungsbündnis, dessen Rückgrat die USA mit ihrer Atombewaffnung bildete. Neben den Mitgliedern der Westunion machten Dänemark, Island, Norwegen, Italien, Portugal und Kanada mit. 1952 traten Griechenland und die Türkei, 1955 die Bundesrepublik bei. Damit hatte die militärische Verteidigung des Westens für die nächsten vierzig Jahre ihren Rahmen gefunden, und der weitere westeuropäische Integrationsprozess war von dieser Problematik entlastet.

Die UNO und die mit ihr zusammenhängenden Organisationen wurden, wie erwähnt, durch den Kalten Krieg in ihrer Wirksamkeit gebremst, was dazu führte, dass Westeuropa geistig, wirtschaftlich und militärisch primär in einen atlantischen Kontext eingebunden wurde. In diesem wurde der Kampf gegen den Kommunismus geführt und fand die Eingliederung der Bundesrepublik in den Westen statt. Kriege zwischen den westeuropäischen Staaten wurden damit undenkbar. Das «europäische Friedensprojekt» bestand also längst, als die erste Gemeinschaft gegründet wurde. Die Marktöffnung durch Massnahmen der OEEC und die Entlastung von Rüstungskosten führten ausserdem zu einem beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung Westeuropas und der Weltwirtschaft, und die junge Bundesrepublik wurde zu seiner wichtigsten Lokomotive.

Europabewegungen und Europarat

Schon während des Krieges hatte es in den meisten europäischen Staaten Bewegungen geistiger und politischer Eliten gegeben, die über ein vereinigtes Europa nachdachten.6 Nach dem Krieg setzte dann eine nicht mehr abbrechende Folge von Treffen und Konferenzen, von Gründungen und Fusionen verschiedener Organisationen und von heftigen ideologischen Auseinandersetzungen und Verbrüderungen ein. Politisch gab es das ganze Spektrum von sozialistisch inspirierten Plänen bis zu rechtsbürgerlichen Tendenzen. Es gab Idealisten, die hier und jetzt einen europäischen Bundesstaat gründen wollten, und es gab Pragmatiker, die auf kleine, praktische Schritte setzten. Diese Bewegung erreichte eine beachtliche Breite, und es gab kaum mehr öffentliche Stimmen, die an der Notwendigkeit eines europäischen Zusammenschlusses zweifelten. Doch der Funke sprang vorerst weder auf die Regierungen noch auf die breite Bevölkerung über, denn diese waren mit alltäglichen Notwendigkeiten ausgelastet. Immerhin verschaffte Winston Churchill mit seiner berühmten Rede «Let Europe arise» am 19.September 1946 in Zürich diesen Visionen Richtung und Respektabilität:

[…] Our constant aim must be to build and fortify the strength of the UNO. Under and within that world concept we must re-create the European Family in a regional structure called, it may be, the United States of Europe. And the first practical step would be to form a Council of Europe. If at first all the States of Europe are not willing or able to join the Union, we must nevertheless proceed to assemble and combine those who will and those who can. […] In all this urgent work, France and Germany must take the lead together. Great Britain, the British Commonwealth of Nations, mighty America and I trust Soviet Russia must be the friends and sponsors of the new Europe and must champion its right to live and shine (Thürer/Jennings 1997: 158).

Visionär war 1946 die Idee, Frankreich und Deutschland sollten zusammen die Führung übernehmen– was ja dann auch geschah. Die drei grossen Sieger des Zweiten Weltkriegs würden die europäische Einigung freundschaftlich unterstützen, was bedeutete, dass das im Commonwealth eingebettete Grossbritannien sich nicht direkt beteiligen würde. Zudem sollte dieses Europa einen regionalen Verband im Rahmen der UNO bilden. Das zu betonen war wichtig, denn das weitweite Grand Design stand 1946 noch ganz im Vordergrund.

Den organisationsstärksten Strang unter den Europabewegungen bildeten die Föderalisten, die einen europäischen Bund mit einer eigentlichen Regierung anstrebten. Der Föderalistischen Union gehörten 50Organisationen an; ihr Kongress im August 1947 in Montreux war die erste grosse Manifestation des europäischen Vereinigungswillens. Ebenfalls 1947 entstanden eine sozialistische und eine christlich-demokratische Bewegung für Europa. In Grossbritannien gewann das United Europa Movement an Boden, welches einen loseren Staatenbund, eine Art Commonwealth der europäischen Staaten favorisierte. Im selben Jahr gründete der österreichische Graf Coudenhove-Kalergi die europäische Parlamentarierunion, die sich als erstes Ziel setzte, eine europäische parlamentarische Versammlung einzuberufen. Diese Vielfalt von Tendenzen und Organisationen war nützlich, um die Europaidee in alle politischen Milieus hineinzutragen, hinderlich jedoch, wenn es darum ging, Einfluss auf die praktische Politik zu gewinnen.

Aus diesem Grunde waren 1947 die meisten Gruppierungen bereit, in einem Koordinationskomitee mitzuarbeiten, welches beauftragt wurde, einen Europakongress durchzuführen. Dieser fand vom 7. bis zum 10.Mai 1948 in Den Haag statt und wurde zu einem grossen Erfolg. Etwa 800Persönlichkeiten nahmen daran teil, Ehrenpräsident war Winston Churchill. Doch auch hier war nicht zu übersehen, dass sich die verschiedenen Tendenzen nur schwer unter einen Hut bringen liessen. Es wurden zahlreiche Resolutionen verabschiedet, die allerdings vorerst ohne Folgen blieben. Die Idee einer parlamentarischen Versammlung erhielt Unterstützung, gefordert wurden aber auch eine Charta der Menschenrechte und ein Gerichtshof, welcher deren Einhaltung überwachen sollte. Weitere Themen des Kongresses waren die wirtschaftliche Integration und die Schaffung eines europäischen Kulturzentrums. Mit der «Europäischen Bewegung» wurde eine Dachorganisation geschaffen, der sich die meisten Gruppen anschlossen. Ihr oblag es, an Folgetreffen die aufgeworfenen Ideen zu konkretisieren. Allerdings gewann die britisch-unionistische Auffassung bald die Oberhand über die föderalistische, und mit einer raschen Realisierung einer wirkungsvollen Organisation war nicht mehr zu rechnen.

Während die ökonomische Integration Europas in der OEEC ihren institutionellen Rahmen gefunden hatte und die Westunion sowie kurz darauf die NATO für die Verteidigung zuständig waren, hatte die politische Integration bisher also noch keinen festen und von den Regierungen anerkannten Rahmen. Frankreich ergriff dazu nun die Initiative in der Westunion: Die Basis für eine solche Organisation sollte eine parlamentarische Versammlung bilden. Die meisten Regierungen reagierten positiv, doch das britische Labourkabinett sprach sich dezidiert dagegen aus, einem solchen Gremium substanzielle Entscheidungsgewalt zu übertragen oder auch nur, ihm eine gewisse Unabhängigkeit von den Regierungen zu gewähren. Man fand einen Kompromiss: Es sollte eine konsultative Versammlung nationaler Parlamentarier und einen Ministerrat geben, welcher über die Empfehlungen der Versammlung entscheiden würde. Während in den meisten Staaten die Parlamente direkt ihre Delegationen bestellten, behielt sich die britische Regierung vor, dies selbst zu tun. Auf der Basis dieses schmalen Konsenses luden nun die fünf Minister der Westunion (Benelux, Frankreich, UK) fünf weitere westeuropäische Staaten (Dänemark, Irland, Italien, Norwegen, Schweden) ein, an der Gründung des «Europarates» mitzuwirken. Am 5.Mai 1949 wurde dessen Satzung unterzeichnet, der ständige Sitz kam nach Strassburg– ein Zeichen für die in Gang gekommene deutsch-französische Annäherung.

Der Europarat beschäftigte sich in der Folge mit sämtlichen Themen, die für die europäische Zusammenarbeit infrage kamen– von der Wirtschaft bis zur Wissenschaft, von der Kultur bis zur Sozialpolitik, von der Aussenpolitik bis zur Verteidigung. Am Anfang war die Hoffnung, es könnte sich hier eine europäische Organisation mit echten politischen Kompetenzen entwickeln, noch verbreitet. Doch in den meisten Bereichen blieb die politische Wirksamkeit aufgrund der sehr restriktiven Haltung der britischen Labourregierung und des institutionellen Arrangements beschränkt: Das Ministerkomitee musste in allen wichtigen Fragen einstimmig beschliessen, wobei schon eine Enthaltung zur Ablehnung führte. Es verabschiedete auf Vorschlag der parlamentarischen Versammlung Konventionen, denen die Mitgliedstaaten beitreten konnten. Obligatorisch wurde es, die «Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten» zu ratifizieren. Wichtig wurde der Europarat als eine Vereinigung, die die gemeinsame Wertebasis der westlichen Demokratien – Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat– verkörperte und verbreitete. Die Rechtsprechung zu den Menschenrechten wurde leitbildgebend, die Mitgliedschaft beim Europarat zum Gütesiegel für demokratische Reife. Institutionell von Bedeutung war insbesondere, dass hier erstmals im Rahmen einer internationalen Organisation eine parlamentarische Versammlung eine eigene Dynamik der Thematisierung entwickelte und damit, trotz ihrer institutionell schwachen Stellung, Einfluss auf die europäische Diskussion gewann. Auch ein Gerichtshof, an den sich die Bürger wenden konnten, wenn sie sich in ihren Menschenrechten durch den eigenen Staat verletzt sahen, war neu. Nach und nach traten alle westeuropäischen Staaten bei– die Türkei schon 1949, die Bundesrepublik 1951, die Schweiz erst 1962.

Der Schuman-Plan und die Gemeinschaft für Kohle und Stahl

Mit der OEEC, der Westunion, der NATO und dem Europarat waren also europäische oder euro-altantische Organisationen entstanden, welche wirtschaftlich, politisch und sicherheitspolitisch eine Integration der westeuropäischen Staaten voranzutreiben versuchten. Doch handelte es sich bei ihnen um klassisch intergouvernementale Einrichtungen, welche für wichtige Entscheide auf die Zustimmung aller Regierungen angewiesen waren. Ausserdem blieben verschiedene Fragen ungelöst: Der Mangel an Truppen auf dem Festland bestand weiterhin; das Ruhrgebiet wurde immer noch von den Alliierten kontrolliert (Ruhrstatut), was jedoch mit der Souveränität der neu entstehenden Bundesrepublik unvereinbar war. Ausserdem passte Frankreich die Dominanz der USA im europäischen Gefüge ganz und gar nicht: Man liebäugelte in Paris mit Europa als einer dritten Kraft zwischen den Blöcken. Doch bisher hatte niemand ein Rezept gefunden, wie sich die europäischen Länder zu einem handlungsfähigen politischen System zusammenschliessen konnten.

Frankreich ergriff nun auch hier die Initiative zu einer neuartigen Form des Zusammenschlusses. Dazu gab es zwei unmittelbare Anlässe: das eben erwähnte Ruhrstatut sowie Ungleichgewichte auf den Kohle- und Stahlmärkten. Jean Monnet, der französische Planungskommissar, nutzte die Dringlichkeit dieser Probleme, um eine supranationale Organisation zu entwerfen: Es sollte ein gemeinsamer Markt für Kohle und Stahl entstehen, der von einer relativ unabhängigen Hohen Behörde verwaltet würde. Damit würde die Bundesrepublik gleichberechtigt, doch über die rüstungsrelevanten Güter Kohle und Stahl könnte sie nicht allein verfügen. Diese Ideen legte der französische Aussenminister Robert Schuman in seiner berühmten Presseerklärung am 9.Mai 1950 dar.7

Die einzelnen Elemente dieses Plans waren weder neu noch spektakulär, neu aber war ihre Kombination, der geschickte Zeitpunkt der Veröffentlichung und Schumans Bedingung, es sollten nur diejenigen Staaten zu Verhandlungen nach Paris kommen, welche bereit waren, die supranationale Hohe Behörde zu akzeptieren. Und es kamen nur fünf: die Bundesrepublik, Italien und die Beneluxstaaten. Die andern hatten entweder keine grösseren Montaninteressen, oder sie wollten sich nicht in dieses französisch geprägte System einbinden lassen. Die Sechs arbeiteten in der Folge den «Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)» aus, der am 23.Juli 1952 für fünfzig Jahre in Kraft trat. Die recht lange Dauer der Verhandlungen erklärt sich unter anderem damit, dass die Bundesrepublik unter Adenauer zunehmend selbstsicherer auftrat und sich nicht einfach von Frankreich die Bedingungen vorschreiben liess. Erster Präsident der Hohen Behörde wurde übrigens Jean Monnet.

Das eine Problem war gelöst, das andere bestand weiter: Es gab zwar die Westunion und die NATO, aber, wie gesagt, kaum Truppen auf dem westeuropäischen Festland. Die USA, inzwischen in Korea engagiert, setzten auf die Bewaffnung der Bundesrepublik, doch Frankreich blieb skeptisch. Wenn Paris jedoch seine Führungsrolle auf dem Kontinent behalten wollte, musste es eine eigene verteidigungspolitische Initiative ergreifen. Warum also, so schlug der französische Premierminister René Pleven 1950 vor, nicht nach dem Muster der EGKS eine Verteidigungsgemeinschaft aufbauen, in welcher die Truppen, darunter auch deutsche, unter ein gemeinsames, vornehmlich französisches, Oberkommando gestellt würden? Der Plan löste bei den andern Staaten Skepsis aus, da sie die Amerikaner in Europa halten wollten, dennoch wurde er erst einmal weiterverfolgt. Am 27.Mai 1952 wurde nach heftigen Auseinandersetzungen in allen beteiligten Ländern der «Vertrag über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft» unterzeichnet. Da eine europäische Armee ohne politische Integration schlecht denkbar war, wurde gleichzeitig an einem Statut für eine politische Gemeinschaft gearbeitet und beide miteinander verbunden. In fünf der sechs Staaten gelang die Ratifikation mit einiger Mühe. Es war dann jedoch ausgerechnet die französische Nationalversammlung, die das Projekt am 30.August 1954 scheitern liess: Eine Mehrheit aus Nationalisten und Kommunisten beschloss Nichteintreten!

Das Truppenproblem bestand also weiter, konnte aber, nach dieser Schwächung der französischen Position, bald der einzigen Lösung zugeführt werden, die realistisch war: Aufbau der Bundeswehr und Einbindung der Bundesrepublik in die Atlantische Allianz NATO. Dies wurde mit den Pariser Verträgen von 1954 realisiert. Darüber hinaus war klar geworden: Mit der Verteidigung hatte man den Gemeinschafts-Bogen überspannt, die weitere Integration würde wieder an der Wirtschaft anknüpfen müssen.

Welche Bedeutung hatte die Montanunion für den Fortgang der europäischen Einigung? Einige Autoren sehen in ihrer Gründung den Samen, in dem alles enthalten war und woraus alles Spätere spross. Die EU-Homepage bezeichnet die Schuman-Erklärung noch heute als «Geburtsurkunde der Europäischen Union», und der Tag ihrer Verkündigung, der 9.Mai, ist zum Europatag geworden. Diese Interpretation ist vor allem bei französischen Autoren verbreitet, denen es darum geht, die Vaterschaft Schumans und Monnets für «das grosse Friedens- und Einigungswerk» zu sichern.8 Es ist nicht zu bestreiten, dass mit der Montanunion institutionell etwas Neues entstanden war, auf dem die weitere Integration später aufbaute. Doch bevor es so weit war, geriet dieses Modell in eine tiefe Krise: Über das vorzeitige Ableben der Verteidigungsgemeinschaft haben wir berichtet. Die Montanunion vermochte die in sie gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen, insbesondere die Bekämpfung der Kartelle gelang ihr nicht (Spierenburg 1993). Die rasch wechselnden französischen Regierungen verloren zudem das Vertrauen in Monnet. Die Gründung der EWG ist, wie wir im folgenden Kapitel zeigen werden, andern Kräften und andern Intentionen zu verdanken; auch institutionell ist sie mit der Montanunion nur entfernt verwandt.

1.2Der Alleingang der Schweiz in der Nachkriegszeit

Die Politik der Schweiz gegenüber dem Aufbau einer neuen Weltordnung und den frühen Bestrebungen für eine europäische Integration war zunächst von grosser Zurückhaltung geprägt. Soweit es um ökonomische, technische und humanitäre Zusammenarbeit ging, beteiligte sie sich, doch sobald es «politisch» wurde, zog sie sich zurück. Das Problem war nur, dass sich diese Sphären nicht sauber trennen liessen: So war etwa die Wiederaufnahme der Beziehungen zur Sowjetunion politisch und wirtschaftlich begründet, und das Mitmachen in der westlich dominierten OEEC neutralitätspolitisch keineswegs unbedenklich. Dies zwang die politischen Eliten zu einem Spagat.

Die Neutralität bildete den Dreh- und Angelpunkt dieser Politik. Sie stand im Zentrum einer Ideologie, eines besonderen Integrations- und Legitimationsmodells dieses Landes, welches während des Zweiten Weltkriegs voll entfaltet worden war, jedoch historisch tiefer wurzelte. Davon handelt der erste Abschnitt. Dann kommen wir auf die Kritik der Alliierten zu sprechen und zeigen, wie die Schweiz sie auffing. Drittens geht es um die Aktivitäten der Europabewegungen in unserm Land, denen die offizielle Schweiz die kalte Schulter zeigte; auch zum Europarat ging Bern auf Distanz. Der vierte Abschnitt handelt von der ersten grossen Ausnahme: Die Schweiz wurde Gründungsmitglied der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, der OEEC. Anders dann bei der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl: Diese hatte nicht nur politische Absichten, sie war vor allem supranational organisiert, und damit wollte man in Bern möglichst wenig zu tun haben. Das zeigen wir im letzten Abschnitt. So formte sich allmählich, anhand von konkreten Herausforderungen, eine aussenpolitische Doktrin, die bis heute weiterwirkt.

Reminiszenzen aus der Krisen- und Kriegszeit

Das Kriegsende in Europa im Mai 1945 hat sich aus verständlichen Gründen den Damaligen tief eingeprägt, doch in mancher Beziehung stellte es keine Zäsur dar. Wir haben schon erwähnt, dass die USA seit 1941 über eine neue Weltordnung nachgedacht hatten und die Alliierten nach Stalingrad begannen, ein Nachkriegsregime zu entwerfen. Auch für die Schweiz gibt es eine solche Kontinuität: 1945 konnte die Armee zwar nach Hause geschickt werden, doch verschiedene Politiken, Doktrinen und Institutionen, die im Krieg und davor entstanden waren, wirkten weiter.9

Die Schweiz erscheint in der Regel als eine friedliche, harmonische Volks- oder Völkergemeinschaft, und den Schweizern wird eine besonders ausgeprägte Fähigkeit zu Kompromiss und Konsens nachgesagt. Gerne wird dieses Bild weit in die Vergangenheit zurückprojiziert. Doch war die Geschichte des Landes bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein immer wieder von Spannungen, Konflikten und Unruhen geprägt gewesen, und erst in dessen dreissiger Jahren begann eine innenpolitische Entwicklung, die zur grossen Konkordanz der Nachkriegszeit führte. Der Bundesstaat von 1848 beruhte auf der Unterwerfung der konservativen Kantone im Sonderbundskrieg. Die bürgerlich-liberalen Kräfte regierten das Land von 1848 bis 1891 allein, wobei sie ihre politische Macht vor allem auf die Majorzwahl zum Nationalrat bauten. Die katholischen und die französisch sprechenden Kantone standen oft in Opposition zur liberalen Politik. «Kulturkampf» und «Referendumsstürme» charakterisierten die siebziger und achtziger Jahre des 19.Jahrhunderts (Freiburghaus/Buchli 2003). Erst 1891 wurde der erste katholisch-konservative Politiker, Joseph Zemp, in den Bundesrat gewählt. Im Ersten Weltkrieg kam es zu heftigen Spannungen zwischen der Deutsch- und der Welschschweiz, unter anderem deshalb, weil die Armeeführung ihre Sympathien für Kaiser Wilhelm II nicht verhehlte. Danach brach der Klassenkampf aus, der Generalstreik, es kam zum Einsatz der Armee gegen Arbeiter. 1922 hatte Mussolini in Italien die Macht ergriffen, und in Deutschland begann der Aufstieg der Nationalsozialisten. Rechts- und linkstotalitäre Ideologien gewannen auch in der Schweiz Einfluss, durch die Wirtschaftskrise wurde er verstärkt. Viele Bürgerinnen und Bürger trauten der liberalen Demokratie die Lösung der gewaltigen Probleme nicht mehr zu.

Die Machtergreifung Hitlers im Jahre 1933 wurde in der Schweiz als grosse Bedrohung wahrgenommen, und zwar längst bevor sie sich als militärische manifestierte. Es entstand im nördlichen Nachbarland eine Diktatur, welche in allen Teilen schweizerischen Vorstellungen von Politik zuwiderlief. «Ein Volk, ein Reich, ein Führer» war das Gegenteil der multikulturellen, föderalen, kleinteiligen und genossenschaftlichen Schweiz. In dieser bedrohlichen Situation begannen nun die Schweizer zu betonen, was sie einte und von Nazideutschland unterschied. Diese Abgrenzung wurde zu einer raison d’être des Landes, lange über den Krieg hinaus. Im Rahmen der «Geistigen Landesverteidigung»10 wurden diese schweizerischen Besonderheiten zu einem Gegenmodell zum Totalitarismus entwickelt und überhöht, wobei man sich selektiv geschichtlicher Fakten und Mythen bediente. Nicht nur das konservative Bürgertum brachte seine Vorstellungen ein, auch die Linke sah die Möglichkeit, die Arbeiterschaft mit diesem Staat zu versöhnen– sofern denn die Bürgerlichen bereit waren, die wichtigsten sozialen Anliegen ernst zu nehmen. Es ging also auch hier um einen «nationalen Sozialismus», der aber stark von den politischen Strukturen und Traditionen der Eidgenossenschaft durchwirkt war. Gewiss kochten da auch nationalkonservative und autoritäre Kreise ihr Süppchen, aber im Grossen und Ganzen blieben Rechtsstaat, Meinungsfreiheit und Demokratie erhalten (Mooser 1997).

Diese Geistige Landesverteidigung war die Voraussetzung für die militärische. Schon 1935 stimmten die Sozialdemokraten grösseren Rüstungskrediten zu, stellten sich also im Gegensatz zu früher positiv zur Landesverteidigung. Entscheidend war dann das Friedensabkommen von 1937 in der Metallindustrie: Diese Abmachung zwischen den Gewerkschaften und dem Arbeitgeberverband überwand den Klassenkampf und bildete die Basis für die Sozialpartnerschaft– bis heute. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg erhielten die Soldaten einen finanziellen Lohnersatz, sodass die Familien nicht in Not gerieten: praktische Solidarität und Beginn der Sozialpolitik des Bundes. 1943 wurde mit Ernst Nobs der erste Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt.

Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich die Schweiz gegenüber der Staatengemeinschaft geöffnet, sie war dem Völkerbund beigetreten und hatte seine Institutionen nach Genf geholt (Kaestli 2005: 89–125). Angesichts der Machtlosigkeit dieses Verbandes bei der italienischen Eroberung Abessiniens 1935, welche in der Schweiz eine tiefe Frustration auslöste, beschloss der Bundesrat 1938, zur integralen Neutralität zurückzukehren, also Sanktionen des Völkerbundes nicht mehr mitzutragen. Der Anschluss Österreichs an Hitlers Reich 1938 machte den Schweizern die unmittelbare Bedrohung durch den Nationalsozialismus klar. Die Landesausstellung von 1939 in Zürich wurde zum Anlass, das neu gewonnene «Schweizertum» und die Wehrbereitschaft zu feiern. Es gab nun in diesem Chor kaum mehr abweichende Stimmen. Gottlieb Duttweiler, der Gründer der Migros, schrieb: «Das ganze Volk dankt der Vorsehung für die grosse Stärkung des nationalen Bewusstseins durch die Landesausstellung in schicksalsschwerer Zeit» (Duttweiler 1939, 173). Mit Henri Guisan wurde vielleicht nicht der beste Militär, aber eine Integrationsfigur zum General gekürt, der das Volk mehr als das landesübliche Vertrauen entgegenbrachte. Der Rütlirapport und der Rückzug der Armee ins Alpenréduit mögen militärisch fragwürdig gewesen sein, sie hatten aber eine unschlagbare Symbolkraft: Die Gotthardfestung wurde zum nationalen Schrein, der Gründungsmythos der Schweiz und ihre aktuelle Verteidigungsbereitschaft fielen in eins.

Also: Die zunehmende Bedrohung löste bei den Schweizern alte Reflexe des Zusammenstehens einerseits und der Abgrenzung oder Absonderung andrerseits aus. In der Geistigen Landesverteidigung wurden diese mit den besonderen politischen Institutionen der Schweiz zu einer helvetisch-nationalen Ideologie verschmolzen. Die Neutralität stand in deren Zentrum, weil sie eine Brücke zwischen aussenpolitischer Handlungsmaxime und innerem Zusammenhalt bildete: Die Schweizer sollen sich nicht in fremde Händel mischen, weil sie sonst Händel unter sich kriegen. Diese Ideologie vermochte faschistischen und nationalsozialistischen Sirenenklängen zu widerstehen. Es ist verständlich, dass die Damaligen in diesem Widerstandswillen den Hauptgrund für die Kriegsverschonung sahen. Und nach dem Krieg, in weiterhin unsicherer Zeit, gab es keinen Grund, auf diese Ideologie zu verzichten. Sie wurde zur Grundlage der Grossen Konkordanz. Wie kommen im dritten Abschnitt darauf zurück.

Entscheidend für das Überleben der Schweiz war neben der geistigen und militärischen Abwehrbereitschaft die Organisation der Kriegswirtschaft. Viele der bisherigen Aussenhandelsbeziehungen funktionierten seit Kriegbeginn nicht mehr. Die Beschaffung von Rohstoffen und Lebensmitteln wurde zu einer zentralen Sorge der Landesregierung. Diese Aufgabe fiel weitgehend dem Volkswirtschaftsdepartement zu, welches bis 1940 vom freisinnigen Bundesrat Hermann Obrecht und anschliessend von Walther Stampfli von derselben Partei geleitet wurde.11 Fast alle Wirtschaftsbereiche wurden staatlicher Planung und Kontrolle unterworfen, konkret der Zentralstelle für Kriegswirtschaft, deren Chef 1941 Hans Schaffner wurde. Ihr war auch die Abteilung für Handelspolitik in der Kriegszeit angegliedert. Der Plan Wahlen oder die «Anbauschlacht» erhöhte den Selbstversorgungsgrad des Landes mit Lebensmitteln, allerdings blieb man auf Einfuhren angewiesen. Die Linke sah in der staatlich gelenkten Wirtschaft Vorbilder für die spätere Friedenszeit und liess sich einbinden. Dieser kriegswirtschaftliche Apparat bestand nicht nur aus Bundesbeamten: Es wurden viele Praktiker aus der Wirtschaft beigezogen, die Kantone in die Pflicht genommen und auf parteipolitische Ausgewogenheit geachtet. Hier wurde die korporatistische Konkordanz täglich eingeübt, die nach dem Krieg das Grundmuster der Wirtschaftspolitik bildete. Rechtlich beruhten die Kriegswirtschaft– aber auch die Verteidigungs- und die Flüchtlingspolitik– auf einem Vollmachtenregime, das heisst, das Parlament übertrug weitgehende Kompetenzen an den Bundesrat, der sie mittels Verordnungsrecht ausfüllte.

Die Schweiz wurde allmählich von den Achsenmächten vollständig eingeschlossen, der wirtschaftliche Austausch konnte fast nur noch mit ihnen stattfinden. Da die Schweiz in der Lage war, Deutschland und Italien dringend benötigte Waren – insbesondere auch Rüstungsgüter– zu liefern, bildete dieser Handel ein wichtiges Fundament für die Kriegswirtschaft. Das Zweite war die Bereitschaft der Schweiz, «deutsches» Gold entgegenzunehmen und dem Dritten Reich und seinen Verbündeten Kredite zu gewähren. So blieb die Schweiz nicht nur physisch beinahe unverletzt, auch ihre Wirtschaft konnte sich weiterentwickeln und war zu Ende des Krieges, im Unterschied zu 1918, sehr leistungsfähig.

Die Schweiz in der Kritik: das Washingtoner Abkommen und die Frage des UNO-Beitritts

Die Schweiz tätigte während des ganzen Krieges Warenhandel und Finanztransaktionen mit den Alliierten und den Achsenmächten. Sie war überzeugt, dass dies nicht nur wirtschaftlich und sicherheitspolitisch notwendig, sondern auch neutralitätsrechtlich geboten war. Die Alliierten hatten dafür begreiflicherweise nur wenig Verständnis– vor allem in der Endphase des Krieges. Die USA sperrten schweizerische Konten und legten schwarze Listen der Unternehmen an, die im Deutschlandgeschäft tätig waren. Doch der Vorsteher des Politischen Departements, Bundesrat Marcel Pilet-Golaz, hielt trotz zunehmender Kritik auch aus der Schweiz sehr lange an der deutschfreundlichen Linie fest (Kaestli 2005: 346–354).

Dass die Sowjetunion zu den Siegern gehörte, drohte zu einer weiteren Hypothek für die Nachkriegszeit zu werden, denn seit anfangs der zwanziger Jahre gab es keine diplomatischen Beziehungen mehr zwischen ihr und der Schweiz. Dieser Zustand widersprach sowohl der Neutralität als auch schweizerischen wirtschaftlichen Interessen. Um Deutschland nicht zu verärgern, zögerte jedoch Pilet-Golaz ein Angebot an die UdSSR zur Wiederaufnahme der Beziehungen immer wieder hinaus, und als es im Herbst 1944 endlich erging, lehnte Moskau ab. Der Chef des politischen Departements trat zurück, sein Nachfolger wurde der 45-jährige Rechtsprofessor und FDP-Nationalrat aus Neuenburg Max Petitpierre. Aussenpolitik war für ihn neu, doch er fand sich rasch zurecht und beabsichtigte, sie stärker demokratisch zu verankern, etwa indem er mit den aussenpolitischen Kommissionen der Räte regelmässigen Austausch pflegte.12 Petitpierre nahm Kontakte zur Sowjetunion auf, zuerst in der für sie wichtigen Frage der Soldaten, welche in der Schweiz interniert waren. Dies führte zu einer Entspannung. Im März 1946 wurden die diplomatischen Beziehungen normalisiert und in der Folge ein Handelsabkommen abgeschlossen.

Sobald Frankreich befreit war, forderten die Alliierten von der Schweiz, jegliche Zusammenarbeit mit «dem Feind» zu unterlassen, denn sie, die Alliierten, seien nun in der Lage, die Versorgung sicherzustellen. Im Frühjahr 1945 kam eine alliierte Delegation in die Schweiz und verlangte die Einstellung aller Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland und die Einfrierung deutscher Vermögenswerte (Currie-Mission). Obwohl der Bundesrat dies als mit der Neutralität nicht vereinbar erachtete, erfüllte er die Forderungen weitgehend. Daraufhin verlangten die Alliierten eine Abgeltung für das deutsche (Raub-)Gold, welches die schweizerische Nationalbank als Zahlungsmittel entgegengenommen hatte. Es kam zu zähen Verhandlungen. Die Schweiz erklärte sich schliesslich bereit, im Rahmen des Washingtoner Abkommen vom 25.Mai 1945250Millionen Franken an die Interalliierte Reparationsagentur zu zahlen und illegale deutsche Vermögen mit den Alliierten hälftig zu teilen. Dies wurde in der Schweiz als Erpressung angesehen, und es breitete sich eine antiamerikanische Stimmung aus. Doch Bern war damit noch glimpflich davongekommen, denn etwa die ganze Frage der «nachrichtenlosen Vermögen» wurde damals noch nicht aufgerollt.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz übernahm während des Krieges vielfältige und wichtige Funktionen. Die Schweiz betonte, dass auch dafür die Neutralität eine Voraussetzung sei. 1943 wurde die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) ins Leben gerufen, eine Hilfsorganisation für die vom Krieg betroffenen Bevölkerungen. Die Schweiz war aus Neutralitätsgründen nicht bereit, daran mitzuwirken. Da ihr jedoch bewusst war, dass sie bei dieser Aufgabe nicht abseits stehen konnte, wurde 1944 die «Schweizerspende» ins Leben gerufen, die in den nachfolgenden Jahren über 200Millionen Franken an öffentlichen und privaten Mitteln aufbrachte, was nach heutigem Wert etwa einer Milliarde Franken entspricht (Kästli 2005: 354–357). Solche und ähnliche Aktionen des guten Willens und der humanitären Hilfe zeigten, dass die Schweiz bereit war, die strikte Neutralität mit Solidarität zu verbinden– eine Devise, die Max Petitpierre damals in die Aussenpolitik einführte (Petitpierre 1971: 158).

Bezüglich der UNO stellte sich für die Schweiz zum ersten Mal die Frage, wie weit sie sich in die nun entstehenden internationalen Organisationen einbringen sollte. Die UNO war zwar eine Einrichtung für kollektive Sicherheit, aber sie war weltumspannend, und auch die Sowjetunion sass im Sicherheitsrat. Wenn die UNO Sanktionen gegen einen Staat ergriffe, dann täte sie dies im Namen der Weltgemeinschaft und insbesondere mit der Zustimmung aller fünf Siegermächte. Es war also nicht einzusehen, wie die Neutralität der Schweiz hätte verletzt werden können. Der Bundesrat beharrte aber darauf, die besondere Form der immerwährenden Neutralität müsse von der UNO eigens anerkannt werden, wozu Letztere nicht bereit war. Unter diesen Umständen, so befand die schweizerische Regierung, komme ein Beitritt nicht infrage. Dabei spielte aber auch eine Rolle, dass man die UNO als eine von den Grossmächten dominierte Organisation sah, in welcher die kleineren Staaten kaum Einfluss haben würden. Trotzdem kam der europäische Sitz der UNO in den ehemaligen Völkerbundspalast nach Genf, und die Schweiz machte in den folgenden Jahren in fast allen Unterorganisationen mit. Mit der Abstinenz von der politischen Organisation demonstrierte sie jedoch, dass sie eine Sonderrolle in der Völkergemeinschaft einzunehmen gedachte.

Man kann darüber streiten, ob der Bundesrat damals die Schweiz in die UNO hätte führen können, wenn er nur gewollt hätte. Peter Hug (1996: 84–97) meint Ja, er habe es aber nicht getan, weil er einer Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der jüngeren Geschichte aus dem Weg gehen wollte.13