Kontrollierter Höhenflug - Tove Blaustedt - E-Book

Kontrollierter Höhenflug E-Book

Tove Blaustedt

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Beschreibung

Der 18-jährige Noah hat in seinem durchgetakteten Alltag alles unter Kontrolle: Als Einser-Schüler im elitären Sportinternat ist er ein Ass in Mathe und dazu die Nachwuchshoffnung im Stabhochsprung. Im letzten Schuljahr gilt es nun für ihn herauszufinden, wie es danach weitergehen soll – Wissenschaftskarriere oder Olympiaträume? Doch plötzlich wird sein Leben auf den Kopf gestellt. Nach dem tragischen Tod seines Mitbewohners macht sich Noah Vorwürfe, weil er nichts von dessen Problemen geahnt hat. Mitten in seine Nachforschungen tritt dann auch noch ein neuer Mitschüler, der Noahs Herz höher schlagen und seine Gefühle Achterbahn fahren lässt. Aber ist es im richtige Leben nicht wie im Stabhochsprung und man muss sich trauen zu springen, um vor Glück zu fliegen?

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Table of Contents

Titelseite

Copyright

Übersicht der wichtigsten Personen

1. Kapitel: Im Tunnel

2. Kapitel: Frühstück in Eppendorf

3. Kapitel: Polizei im Haus

4. Kapitel: Druck und Dämonen

5. Kapitel: Wellen am Ufer

6. Kapitel: Der Springertisch

7. Kapitel: Irrelevant

8. Kapitel: Der härteste Teil des Tages

9. Kapitel: Aufroller am Seil

10. Kapitel: Teuer und sexy

11. Kapitel: Alte Sagen

12. Kapitel: Lieblingsplatz

13. Kapitel: Nicht dein Ernst

14. Kapitel: Axolotl und Neuanfänge

15. Kapitel: Ein längerer Stab

16. Kapitel: Das Geschehene verarbeiten

17. Kapitel: Ein virtuelles Fussballspiel

18. Kapitel: Sweet Dreams

19. Kapitel: Nicht mein Typ

20. Kapitel: Drogen-Lieder

21. Kapitel: Eistee im Studierendenwohnheim

22. Kapitel: Wolkenbruch

23. Kapitel: Sushi to go

24. Kapitel: Ein neues Gleichgewicht

25. Kapitel: Sprachnazi

26. Kapitel: Nicht bei der Sache

27. Kapitel: Brainstorming

28. Kapitel: Logarithmische Integration

29. Kapitel: Mit einer leichteren Kugel stossen

30. Kapitel: Gelogen

31. Kapitel: Perplex

32. Kapitel: Verdammte Scheisse

33. Kapitel: Latino Beach Party

34. Kapitel: Ohne Wecker

35. Kapitel: Treiben lassen

36. Kapitel: Lautsprecherdurchsage

37. Kapitel: Prickelnd

38. Kapitel: Morgensonne

39. Kapitel: Etwas zu schnell

40. Kapitel: Total ausgerastet

41. Kapitel: Spaghettieis mit Pistaziengeschmack

42. Kapitel: Nine Eleven

43. Kapitel: Der USB-Stick

44. Kapitel: Unter Wasser

45. Kapitel: Surreal

46. Kapitel: Verdammt verarscht

47. Kapitel: Erwachsen werden

48. Kapitel: Gummibärchen im Gemeinschaftsraum

49. Kapitel: Vergangenheit

50. Kapitel: Zukunft

Epilog: Im Tunnel Teil 2

Danksagung

Die stille Seite der Musik

Section 57

 

 

 

KONTROLLIERTER

HÖHENFLUG

 

 

 

 

 

Ein Roman von Tove Blaustedt

 

 

 

Impressum

Copyright

© 2022 Tove Blaustedt

© 2022 Traumtänzer-VerlagLysander Schretzlmeier

Ostenweg 5

93358 Train

www.traumtaenzer-verlag.de

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte sind vorbehalten.

 

ISBN: 978-3-947031-41-2 (Taschenbuch)

ISBN: 978-3-947031-42-9 (E-Book mobi)

ISBN: 978-3-947031-43-6 (E-Book ePub)

 

Autorin: Tove Blaustedt

Covergestaltung: Constanze Kramer

www.coverboutique.de

 

 

 

 

 

Dieses Werk ist eine fiktive Erzählung,

die ganz der Fantasie der Autorin entspringt.

Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits

verstorbenen Personen sind rein zufällig und

nicht beabsichtigt.

 

Übersicht der wichtigsten Personen

Schülerinnen und Schüler des Sportinternats

Noah Bergmann, 18, Stabhochspringer

Thor Neumayer, 16, Stabhochspringer

Aylin Özgün, 17, Stabhochspringerin

Nico Schwarz, 18, Langstreckenläufer

Julius Adam, 18, Langstreckenläufer

Cem Özgün, 19, Langstreckenläufer

Malte Vogt, 18, Langstreckenläufer

Amelie Trobolsky, 15, Langstreckenläuferin

Luisa Regner, 17, Siebenkämpferin

Nele Heukamp, 16, Weitspringerin

Felix Pohl, 17, Hochspringer

 

Weitere wichtige Personen

Miriam Bergmann, 44, Noahs Mutter, Übersetzerin

Andreas Bergmann, 47, Noahs Vater, Architekt

Martin Zerkow, 39, Stabhochsprung-Trainer

Jörg John, genannt J.J., 54, Langstreckenlauf-Trainer

Johannes Freitag, 34, Physiotherapeut

 

1. KAPITEL: IM TUNNEL

Samstag, 13. August 2022, 17:33 Uhr

 

 

 

Er war in seinem Tunnel, den Blick nach vorn gerichtet, die Gedanken auf Autopilot. Entfernt nahm er von der Tribüne das anfeuernde Klatschen und Rufen des Publikums wahr, zu dem auch seine Eltern gehörten. Im Augenwinkel sah er die Handzeichen des Trainers und die anspornenden Blicke der Teamkolleginnen und -kollegen. Doch sie waren kaum mehr als Schemen, nur ein Rauschen, das den Tunnel umgab.

Volle Konzentration. Nicht nachdenken, keine Nerven zeigen. Keinen Gedanken an die unglaubliche Physik hinter der Aktion, die er jetzt ausführen musste. Keinen Gedanken an die enormen Kräfte, die gleich auf seinen Körper einwirken würden. Keinen Gedanken daran, dass er nun etwas schaffen musste, was er vorher noch nie geschafft hatte. Wann, wenn nicht jetzt? Es war absolut windstill. Gut so. Jetzt war der Moment. Er war in seinem Tunnel.

Noah holte noch einmal tief Luft und verteilte das Magnesiumpulver auf seinen Händen. Dann packte er den 4,50 Meter langen Aluminiumstab, wog sein vertrautes Gewicht in den Armen und lief los, schneller und immer schneller, die Knie hochgezogen und den Stab leicht geneigt. Genau 20 Schritte bis zur Sprunganlage, alles exakt austariert. Dann kam der entscheidende Augenblick, der Einstich. Wenn man mit 30 Kilometern pro Stunde auf den Einstichkasten zurast, muss schließlich alles stimmen. Ist das nicht der Fall, laufen selbst erfahrene Springer durch; es ist reiner Instinkt, der vor schweren Verletzungen schützt. Das wusste Noah. Aber er spürte, dass alles passte. Ganz in seinem Tunnel stach er den Stab in den Kasten, während er die Arme gestreckt über seinen Kopf hielt. Dabei bog sich der Stab, und Noah sprang ab. Jeder Muskel war aufs Äußerste angespannt, während in diesem Moment das Dreifache seines Körpergewichts an seinem rechten Arm lastete. Nur dadurch, dass die Energie des Einstichs auf den Springer übertragen wird, ist es möglich, der Erdanziehungskraft zu trotzen und mit einer aufrollenden Bewegung nach oben zu schnellen. Noah schwang in einem Sekundenbruchteil erst das rechte und dann das linke Bein so hinauf, dass er kopfüber am Stab hing. Nun kam der wirklich spannende Teil: Als sich der Stab nach der Biegung wieder zu strecken begann, spürte Noah, wie er fast senkrecht nach oben katapultiert wurde.

Mit den Füßen oben und dem Kopf unten war dieser Moment der Beschleunigung fast wie fliegen und ließ stets Glücksgefühle durch Noah strömen. So auch jetzt. Aber im Tunnel war er immer noch; volle Konzentration war weiterhin gefragt, denn nun näherte er sich der Latte. Er drehte sich um seine Körperlängsachse, die Beine vorne weg, die Brust ihr zugewandt. Und dann spürte er es.

Als er mit den Füßen die Latte überquert hatte und den Stab wegstieß, befand sich sogar noch ein komfortabler Abstand von ein paar Zentimetern zwischen seinem Körper und der ruhig daliegenden Begrenzung. Keine Berührung! Das war der Augenblick, in dem er wirklich flog, wörtlich und emotional. Der Augenblick, für den er alles tat. Während er seinen Körper im Fallen auf die Landung vorbereitete, verließ er bereits den Tunnel.

Er hatte es geschafft. 4,80 Meter. Das erste Mal in seinem Leben war er über 4,80 Meter gesprungen und das ausgerechnet bei den Deutschen Jugendmeisterschaften. Egal, was die Konkurrenten noch überspringen würden, dies war sein persönlicher Erfolg, für den er so hart gearbeitet hatte. Ein weiterer Schritt auf seinem Weg. Eine neue persönliche Bestmarke.

Innerhalb von Sekundenbruchteilen fiel alle Anspannung von ihm ab, und ein Strahlen erfüllte sein ganzes Gesicht. Sein Körper klatschte auf die Matte, aber innerlich flog Noah noch immer. So sprang er direkt wieder auf, riss die Arme nach oben und hüpfte vor Freude beschwingt in die Luft. Was für ein Augenblick!

Nun strömten auch all die Sinneseindrücke auf ihn ein, die der Tunnel bisher abgeschirmt hatte: Das Jubeln der Zuschauer auf der Tribüne, die begeisterten Rufe seiner Teamkollegen und der dröhnende Applaus schlugen wie ein Tosen über ihm zusammen. Wie in Trance nahm er wahr, wie Martin triumphierend die Faust ballte und ihm dann lobend auf die Schulter klopfte: „Sehr gut, Noah! Perfekt umgesetzt! Genauso will ich dich sehen!“ Hinter dem Trainer warteten die Mannschaftskollegen. Aylin kam aufgeregt auf ihn zugelaufen und umarmte Noah überschwänglich: „Glückwunsch! Du bist der Wahnsinn!“ Ihre langen schwarzen Haare wirbelten hin und her. Auch Thor lächelte beeindruckt und zeigte ihm den Daumen nach oben: „Vier achtzig, wie super!“ Für den Halbnorweger, der im Wettkampfmodus die Ruhe selbst war, gehörte das schon zu den größtmöglichen Gefühlsäußerungen.

Noah strahlte zurück. Es war, als würde sein ganzer Körper nur aus Glücksgefühlen bestehen. Er hatte es geschafft, die Erwartungen erfüllt, die er selbst und alle anderen an ihn richteten. Das blau-weiße Trikot und die kurze grüne Hose klebten an seinem schweißnassen Körper. Die wohlbekannten Farben des Sportinternats am Schweriner See, wo er jeden Tag so viel dafür gab, Augenblicke wie diese zu erleben.

Aber es ging noch weiter. Während Noah die Erfrischung aus der Wasserflasche genoss, sah er zu, wie die beiden im Wettbewerb verbliebenen Konkurrenten nachzogen. Martin redete etwas über deren Höhepunkt der Flugkurve, aber Noah hörte nur mit einem Ohr zu. Warum konnte der Wettkampf nicht schon zu Ende sein, jetzt in diesem perfekten Moment?

Er musste noch einmal ran. Ehrfürchtig blickte er nach oben und seufzte, als die nächste Höhe aufgelegt wurde. So schnell drehte sich der Wind während des Wettkampfs. Anstatt seinen Erfolg über den neuen persönlichen Rekord auskosten zu können, musste er sich nun konzentrieren und wieder abliefern.

Über 4,90 Meter zu springen wäre natürlich die absolute Krönung. Könnte es klappen, auf eine persönliche Bestleistung gleich noch eine draufzusetzen? „Alles wie zuletzt mit voller Power! Du hast noch ein paar Zentimeter an Höhe gehabt“, rief ihm Martin zu. Also alles wie gerade und dann hoffen und träumen?

Noah nahm denselben Stab wie zuvor, dehnte noch einmal seine Knie und atmete tief durch. Alles ausblenden, auf den Sprung fokussieren. Hinein in den Tunnel. Ein weiteres Mal musste er alle Kräfte mobilisieren. Noah lief los, die ganze Länge der Bahn, Stab in den Kasten, Absprung. Während er im Nachobenschnellen die Aufrollbewegung vollführte und die Welt erneut Kopf stand, spürte er, dass es ein guter Sprung war. Er war souverän und die Bewegung war sicher. Dennoch fehlte das letzte bisschen. Das war ihm bereits bewusst, bevor er mit dem Rücken die Latte streifte und diese zu Boden schickte. Mist! Die Enttäuschung durchströmte ihn wie eine schmerzhafte Welle, als er auf der Matte landete.

Gleichzeitig ärgerte er sich darüber. Er sollte nicht enttäuscht sein. Nein, er sollte sich über den Erfolg der Bronzemedaille freuen, der in dem Moment besiegelt wurde, als die Mitbewerber die 4,90 Meter knackten. Diese Höhe war einfach noch eine Nummer zu groß für Noah, auch wenn er wusste, dass er sich auf einem guten Weg dorthin befand. So war es in seinem Sport: Der letzte Sprung des Wettbewerbs musste stets ein Fehlversuch sein. Die Höhe, die man noch nicht drauf hatte. Doch dieser letzte Eindruck durfte nicht sein Gefühl dominieren und er musste es schaffen, ihn auszublenden.

Noah sog noch einmal die Atmosphäre im Stadion in sich auf, als er sich seine Trainingsjacke überstreifte. Da waren die Zuschauer auf den Rängen, da war das lächelnde Gesicht des Trainers, da waren all die anderen Sportlerinnen und Sportler, die gerade angestrengt ihren Disziplinen nachgingen. Ja, die Deutschen Jugendmeisterschaften hatten ihren ganz besonderen Reiz, und er würde auf dem Siegertreppchen stehen! Er dachte wieder an das berauschende Gefühl von vorhin, als er im Flug die Latte überquert und gewusst hatte, dass er eine neue persönliche Bestleistung aufgestellt hatte. Stabhochsprung als kontrollierter Höhenflug. Noah lächelte. Er konnte mit dem, was er erreicht hatte, wirklich zufrieden sein und freute sich auf die Siegerehrung.

In der Zeit bis dahin schlenderte er mit seinen Teamkolleginnen und -kollegen durch den Athletenbereich. Aylin redete auf ihn ein und erzählte und erzählte. „Das war für die meisten von uns voll der gute Tag. Hast du mitbekommen, dass Luisa Silber im Siebenkampf hat? Nur bei Felix im Hochsprung war irgendwie der Wurm drin war. Kein einziger gültiger Versuch im Finale…“ Wie Aylin es schaffte, an einem Wettkampftag so viel vom Geschehen um sich herum zu verfolgen – entweder selbst oder durch Hörensagen – und trotzdem eine überzeugende Leistung abzurufen, erstaunte Noah immer wieder. Vermutlich lag es einfach an den unterschiedlichen Persönlichkeiten: Er hätte nicht das Gespräch mit dem Mental-Coach gebraucht, um zu wissen, dass er als introvertierter Mensch die Kraft in großem Maße aus sich selbst schöpfte. Für Extrovertierte wie Aylin waren die Menschen und Ereignisse in der Umgebung von größerer Bedeutung.

So redete sie munter weiter: „Aber, Noah, weißt du, das Krasseste war der Fünftausendmeterlauf. Bei den Mädels ist Amelie richtig abgegangen. Unsere Amelie, stell dir vor, Gold mit gerade mal fünfzehn! Und hast du gesehen, was bei den Jungs – “

„Hat dieser Daniel – wie heißt er – Wiesen… Wagen… Wagenknecht mal wieder gewonnen?“, unterbrach Noah sie, um die Geschichte abzukürzen.

Nicht, dass Noah sich viel für den Langstreckenläufer aus Stuttgart interessierte. Er wusste zwar, dass dieser als großer Nachwuchsstar, aber auch als abgehoben und unnahbar galt, weshalb die Läufer des Sportinternats am Schweriner See gern über ihn herzogen. Noah versuchte sich aus solchen Rivalitäten rauszuhalten und war froh, dass es unter den Stabhochspringern keinen derartig ausgeprägten Konkurrenzkampf gab.

Aylin jedoch klang ganz aufgeregt, als sie weiterredete: „Nein, das ist es ja eben! Malte hat gewonnen! Wer hätte gedacht, dass jemand Daniel schlagen könnte? Aber unsere Jungs haben durchgepowert; es war ein richtiger Dreikampf von Malte, Cem und Daniel. Am Ende hat Malte in einer Wahnsinnszeit gewonnen, vierzehn zehn irgendwas, Daniel war natürlich ziemlich zerknirscht, knapp dahinter zu landen. Und Cem hat Bronze geholt. Da darf man als kleine Schwester ausnahmsweise mal stolz sein.“

„Also Gold und Bronze für unsere Jungs“, fasste Noah zusammen. „Wie hat denn Julius abgeschnitten?“

„Julius? Das war ganz komisch; der ist nämlich gar nicht angetreten. Vielleicht kurzfristig verletzt oder so. Hast du was von ihm gehört?“

Noah runzelte die Stirn. Julius, sein Mitbewohner auf dem gemeinsamen Zimmer im Sportinternat, wirkte stets zurückhaltend, ja sogar verschlossen. Es gab Dinge an Julius, die Noah wohl immer ein Rätsel bleiben würden. Doch es erschien ihm wirklich merkwürdig, dass sein Mitbewohner nicht zum Wettkampf erschienen war. Noah nahm sich vor, Julius nach der Siegerehrung eine Nachricht zu schreiben.

„Und weißt du, was an dem Lauf auch verrückt war?“, fuhr Aylin fort. „Nicht nur, dass Malte Daniel besiegt hat, sondern wie er dabei aussah. Mit einem blauen Auge, als ob er aus einem Boxkampf käme! Er scheint gestern Abend ordentlich mit jemandem aneinander geraten zu sein. Ich muss Cem mal fragen, was da los war.“

Darüber würde in den nächsten Tagen im Sportinternat noch geredet werden; das ahnte Noah schon. Aber für den Moment hatte er mehr als genug vom Klatsch und Tratsch. Er war erleichtert, als Aylins Handy klingelte. Sie begann gleich neben ihm ins Telefon zu plappern, entfernte sich dann jedoch endlich. So konnte er sich wieder ein bisschen in sich selbst und in das Glücksgefühl des erfolgreichen Wettkampfes zurückziehen.

Noah war durchaus stolz auf seine Leistung. Diese Medaille war sein bisher größter sportlicher Erfolg und es war ein absolut befriedigendes Gefühl, dass sich die harte Arbeit der letzten Monate und Jahre auf diese Weise auszahlte. Die unzähligen Stunden Muskel- und Konditions-Training mit eiserner Disziplin am Morgen vor dem Unterricht sowie das Sprung-Training am Nachmittag. All das war es wert für diese perfekten Momente des Höhenfluges, wie vorhin bei der neuen persönlichen Bestmarke. Bei 4,80 Meter stand er also nun, wenige Monate nachdem er die 4,70 Meter erstmalig übersprungen hatte. Eigentlich beflügelte ihn seine bisherige Entwicklung. Eigentlich sollte sie ihm den Mut geben, diesen Weg weiterzugehen, hinauf zu 4,90 Meter und dann über die 5 Meter.

Doch beim Gedanken an diesen weiteren Weg war es, als würde Noah ein kalter Wind entgegenwehen. Er wusste, dass er jetzt in die alles entscheidende Phase kam. Noch ein Jahr lang würde er im Sportinternat zur Schule gehen, Unterricht und Sport kombinieren und bei den U20-Jugendmeisterschaften antreten können. Was kam danach? War er gut genug, um mit den erwachsenen Profisportlern mithalten zu können? Um Deutscher Meister zu werden, musste man fast einen Meter höher springen als Noah es an diesem Tag getan hatte, von den Sechs-Meter-Springern der Olympischen Spiele ganz zu schweigen. Olympia, ach ja. Was für ein Traum!

In den nächsten Monaten musste Noah entscheiden, wie realistisch dieser Traum war. Wollte er das wirklich? Er wusste, dass es andere vielversprechende und spannende Möglichkeiten für ihn gab: Mit seiner mathematischen Begabung und seinem Einser-Notendurchschnitt sollte er problemlos einen guten Studienplatz und später einen Beruf finden können, der ihn intellektuell forderte. Und genau das war das Problem. Er musste sich entscheiden. Stabhochsprung-Profi oder Mathematiker, Olympia oder Wissenschaft?

Er war gerade einmal 18; umso mehr belastete ihn die Vorstellung, eine Entscheidung für sein ganzes Leben treffen zu müssen. Und das auch noch in absehbarer Zeit. Dabei versprach das nun beginnende letzte Schuljahr ohnehin verdammt hart zu werden. Schließlich ging es zusätzlich zu den wichtigen Schritten im Stabhochsprung in die Abiturvorbereitungen, und Noahs Ansprüche an sich selbst waren hoch. Er merkte, wie ihm ein Seufzer entwich. Würde er das alles schaffen?

Zum Glück begann wenig später die Siegerehrung. Als Noah auf das Siegertreppchen stieg und die Bronzemedaille umgehängt bekam, durchströmten ihn Tausende Glücksgefühle. Was für ein Moment, umjubelt im Stadion auf das Erreichte zurückblicken zu können! Fast so schön wie das Fliegen über die Stange. Noahs Augen wurden feucht vor Emotionen. Warum konnte es nicht einfach immer so bleiben, warum musste die Zukunft so kompliziert sein?

 

2. KAPITEL: FRÜHSTÜCK IN EPPENDORF

Sonntag, 14. August 2022, 09:10 Uhr

 

 

 

Die Sonne schien am nächsten Morgen warm durch die Fensterfront der geräumigen Altbauwohnung in einem Jugendstilhaus im Hamburger Stadtteil Eppendorf. Noah schüttete sich etwas Milch über sein Müsli und genoss die ersten Löffel. Seine Mutter blickte ihn über den Frühstückstisch hinweg zufrieden an. Sie hatte ihre dunklen Haare, in denen einige graue Strähnen zu sehen waren, zu einem lockeren Dutt gebunden und trug ein sommerliches gelbes T-Shirt zur engen Jeans. Die Kleidung betonte ihre schlanke Figur. Das dezentes Make-Up überdeckte zudem ihre zarten Falten, so dass sie jünger als ihre 44 Jahre wirkte.

„Tage wie gestern sollte es häufiger geben“, meinte sie.

Noah nickte lächelnd. „Ja, eine Medaille und eine neue Bestmarke, das war schon irre.“

„Und dann noch hier in Hamburg!“ Der Blick seiner Mutter nahm etwas Verträumtes an. „Es ist so schön, dass wir dich mal wieder zu Hause haben.“

Noah musste schlucken. Er war glücklich damit, dass sein Lebensmittelpunkt seit vier Jahren das Sportinternat am Schweriner See war und dass seine Eltern ihm diese Chance ermöglichten. Klar vermisste er sie auch irgendwie, doch das wurde ihm vor allem während seiner seltenen Besuchen zu Hause bewusst. „Ja, dass die Deutschen Jugendmeisterschaften dieses Jahr in Hamburg stattgefunden haben, war wirklich Glück. Mama, ich bin auch gerne zu Hause. Aber …“

„… ich weiß, du hast keine Zeit häufiger zu kommen“, vollendete seine Mutter den Satz mit einem leichten Seufzer. „Ich verstehe mittlerweile, dass dein Trainingsplan so straff ist und Schule und Leistungssport dir viel abverlangen. Damals, als du im Internat angefangen hast, habe ich mir wohl ein paar Illusionen gemacht, dass du die Wochenenden immer hier verbringen würdest. Schließlich ist es von Schwerin nach Hamburg nicht mehr als eine gute Stunde.“

Noah nahm einen Schluck von seinem Fruchtsaft. „Stimmt, es ist eigentlich nicht weit. Aber wir haben samstags häufig Wettkämpfe oder Training, und sonntags bin ich oft am Lernen. Da bleibt echt nicht viel freie Zeit.“

„Das weiß ich ja. Und wir sehen schließlich, wie viel dir der Sport gibt und dass sich das harte Training auszahlt. Aber solange du glücklich bist, ist es doch wunderbar. Du bist einer der besten deutschen Stabhochspringer im Jugendalter und sicher bald auch bei den Erwachsenen! Dein Vater und ich, wir sind unglaublich stolz auf dich.“

„Da kann ich nur zustimmen“, hörte Noah die zufriedene Stimme seines Vaters. Er drehte sich um und sah den schlanken, hochgewachsenen Mann in Jeans und Poloshirt ins Zimmer treten und dabei auf einem Tablet scrollen. Sein markantes Gesicht war von kurzen, grau-braunen Haaren eingerahmt. Wenn Noah ihn ansah, war es ihm, als würden ihn seine eigenen braunen Augen aus dem Spiegel betrachten.

Sein Vater nahm sich seinen Kaffee und setzte sich zum Rest der Familie an den Tisch. Er scrollte auf der Online-Ausgabe der Hamburger Morgenpost zum Sportteil und reichte Noah das Gerät: „Schau mal, hier ist ein Artikel über dich.“

„Schreiben sie wieder, dass ich eigentlich nur aus Langeweile mit dem Stabhochsprung begonnen habe?“, fragte Noah grinsend. Erinnerungen an sein erstes Interview mit einer Lokalzeitung kamen auf. Während einige seiner Mitschülerinnen und Mitschüler im Sportinternat entweder sportlich erfolgreiche Eltern hatten oder von ihren Eltern von klein auf zum Training animiert worden waren, hatte Leistungssport in Noahs Familie früher keinen besonderen Stellenwert gehabt. Sein Vater war Architekt und seine Mutter freiberufliche Übersetzerin, eine klassische gutbürgerliche Hamburger Familie.

„Die Reporterin hätte es damals anders formulieren können, doch in gewisser Hinsicht hatte sie mit der Langeweile recht“, fand seine Mutter. „Ohne die Unterforderung in der Schule wärst du wohl nie zum Leistungssport gekommen. Wenn ich an die Gespräche mit deinen Grundschullehrerinnen zurückdenke, die an dir verzweifelt sind …“

Noah musste kichern: „Ja, das kam nicht so gut an, als ich Frau Müller in der zweiten Klasse nach den Binärzahlen und den Gesetzen der Thermodynamik gefragt habe. Aber den ganzen Kinderkram konnte ich halt schon.“

„Ich weiß noch, wie sie uns dann nach deinem IQ-Test vor die Entscheidung gestellt haben. Du solltest entweder eine Klasse überspringen oder dir eine Freizeitaktivität zur Beschäftigung suchen. Meinetwegen hätte es auch gerne Fußball sein können“, sagte sein Vater.

Noah dachte daran zurück, wie er im Fußballverein nicht besonders glücklich gewesen war. Ja, er war athletisch gebaut, kam von der Größe her auf seinen Vater und konnte immer schon schnell laufen, doch ihn störten die Unwägbarkeiten im Mannschaftsspiel. Er genoss es, die Energie und Kraft zu spüren, die in ihm steckten. Und er liebte es, Disziplin und Kontrolle über das zu haben, was er tat, so wie es in der Leichtathletik der Fall war.

Im Sprint war er gut, doch das war ihm zu monoton. Weitsprung und Hochsprung mit ihrer Kombination aus kontrolliertem Anlauf zum perfekten Absprung und den anschließenden Sekundenbruchteilen in der Luft interessierten ihn mehr. Doch da war noch eine Trivialität im gesamten Ablauf, wie Noah fand. Er brauchte eine größere Herausforderung. Und als er im Alter von elf Jahren den Stabhochsprung ausprobierte, war es um ihn geschehen. Die hohe Komplexität dieser Sportart, die Idee den Stab als Katapult zu verwenden, um der Schwerkraft zu trotzen und sich in unvorstellbare Höhen zu schwingen, die Vereinigung aus totaler Kontrolle der Bewegung einerseits und dem Fluggefühl andererseits – all das faszinierte Noah. Kontrolliertes Fliegen begann er es zu nennen. Disziplin und Freiheit.

„Ich bin jedenfalls happy, dass ich am Ende nicht beim Fußball gelandet bin.“ Noah blickte seinen Vater an, während er seinen Saft austrank. Seine Eltern hatten ihn auch unterstützt, als aus der Freizeitbeschäftigung ein Leistungssport wurde, der immer mehr Stunden in der Woche beanspruchte. Welche Rolle seine weiterhin sehr guten Schulnoten dabei gespielt hatten? Denn ehrgeizig war er immer gewesen, auch als durch das viele Training weniger Zeit zum Lernen blieb.

Im Sportinternat am Schweriner See konnte er seit vier Jahren beides miteinander verbinden. Sein Leben war so, wie er es sich wünschte, harte Arbeit in der Schule für super Noten, harte Arbeit im Training für sportlichen Erfolg. So wie gestern. Noah überflog den Zeitungsartikel über seine Medaille und spürte die Erinnerung an das Glücksgefühl während des Vier-Meter-Achtzig-Sprungs zurückkehren.

Sein Vater riss ihn plötzlich aus seinen Gedanken: „Und morgen geht es für dich gleich weiter mit dem neuen Schuljahr. Das letzte Jahr vor dem Abitur. Ich weiß noch, wie es bei uns damals war … Wir konnten es kaum erwarten, dass die Schule vorbei war. Ach, hätten wir damals bloß gewusst, dass das Leben dann erst so richtig ernst wird. Ernst, aber auch schön.“ Ein zugleich nostalgischer wie nachdenklicher Ausdruck glitt über sein Gesicht.

Noah merkte, wie sich in ihm eine Unruhe ausbreitete. Er dachte an das Ende des vorgezeichneten Weges, des kontrollierten Lebens. „Ich würde mir eigentlich wünschen, dass es im Sportinternat noch weiterginge. Dass nicht alles in einem Jahr vorbei ist.“

„Klar wird es anders, wenn man plötzlich auf eigenen Beinen steht und die volle Verantwortung trägt“, meinte sein Vater. So etwas wollte Noah jetzt erst recht nicht hören. Er musste wohl ziemlich erschreckt dreingeblickt haben, denn sein Vater fügte hastig hinzu: „Wobei das Studentenleben echt eine tolle Zeit ist. Und gerade du wirst dich an der Uni pudelwohl fühlen, dann kannst du endlich so tief in die Materie einsteigen, wie du willst. Durch Praktika und Jobs am Lehrstuhl kannst du neue Erfahrungen sammeln und interessante Leute kennenlernen. Das wird dir guttun. Noah, du wirst sehen, das wird schon. Was für eine Fächerkombination hattest du dir fürs Studium nochmal überlegt?“

„Ich … äh …“, stammelte Noah, während die Unruhe nun seinen ganzen Körper erfüllte. Vor ein paar Wochen hatte sein Vater sich mit ihm zusammengesetzt und ihn ermuntert, neben der Mathematik als Studienfach ein stärker angewandtes Fach wie BWL oder VWL oder gleich Informatik dazuzunehmen. Dabei war sich Noah noch gar nicht so sicher, ob er wirklich Mathe studieren wollte. Erst recht nicht jetzt nach der neuen Bestleistung.

Doch bevor er noch mehr sagen konnte, schaltete sich seine Mutter ein: „Und was wird aus dem Stabhochsprung?“

„Den Stabhochsprung kann Noah bestimmt neben dem Studium als Hobby machen, oder?“ Sein Vater lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stellte seine Kaffeetasse ab.

„Hobby?!“ Seine Mutter riss die Augen auf. „Du meinst so ein Hobby wie die Campingausflüge von dir und deinen Kumpels? Oder deine Joggingrunde einmal die Woche? Ganz nett so nebenbei.“ Sie blickte Noah mit einem etwas sanfteren Blick an: „Schatz, wenn du das willst, ist das natürlich in Ordnung. Es ist deine Entscheidung. Ich dachte nur… Ich dachte, dass du den Leistungssport weiterführen willst, der dir so viel gibt. Dass du möchtest, dass sich die Arbeit und die Entbehrungen der letzten Jahre auszahlen.“

Noah sah, wie sie sich wieder an den Vater richtete: „Unser Sohn gehört zu den besten jungen Stabhochspringern in Deutschland und hat die Möglichkeit bei weiterem Training als Profisportler zu den besten der Welt zu gehören.“

Noahs Blick wanderte von seiner Mutter zu seinem Vater und wieder zurück. Ihm war bewusst, dass sie seine Leidenschaft für den Stabhochsprung in den letzten Jahren immer besser nachvollziehen konnte und ihr mehr Bedeutung beigemessen hatte als es bei seinem Vater der Fall war. Dennoch überraschte ihn, wie vehement sie für seine sportliche Karriere eintrat..

„Miriam, es geht hier um Noahs berufliche Zukunft!“ Die Stimme seines Vaters polterte mit einem Mal durch den Raum, so dass Noah erschreckt zusammenzuckte. Mit geröteten Wangen funkelte er seine Frau an. „Natürlich bin ich stolz auf Noah und all das, was er im Stabhochsprung erreicht hat und wieviel Spaß ihm das macht. Aber nach dem Abitur werden die Weichen fürs Leben gestellt. So sehr ich unserem Sohn auch wünsche, Deutscher Meister, Europameister und was weiß ich nicht für Titel zu erlangen, so müssen wir doch den Tatsachen ins Auge sehen. Man kann sich mit Stabhochsprung nicht den Lebensunterhalt verdienen.“

Noah wollte am liebsten fliehen. Er konnte kaum glauben, was plötzlich los war. Seine Eltern stritten selten, doch nun fixierten sie einander mit Blicken und diskutieren seine berufliche Zukunft, als ob er gar nicht im Raum wäre. Wie konnte er am besten eingreifen? Noch während er verzweifelt nach Worten suchten, redete seine Mutter bereits wieder.

„Lebensunterhalt … Wenn es nur ums Geld geht, sollte es ja kein Problem sein, dass wir Noah noch ein paar Jahre länger unterstützen. Aber es gibt auch mehrere Möglichkeiten, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen und dabei Sport auf Weltklasseniveau zu betreiben. Du weißt sicher, dass viele der besten deutsche Leichtathleten als Sportsoldaten beim Bund oder bei der Bundespolizei beschäftigt sind. Damit haben sie ein gesichertes Einkommen und können trotzdem den Sport fast in Vollzeit ausüben.“

„Aber Bund oder Polizei, das passt doch nicht zu Noah!“, stieß sein Vater entrüstet aus. Dann wandte er sich an Noah: „Im Ernst, würdest du beim Strammstehen als Soldat Erfüllung finden? Du warst doch schon immer jemand, der erforschen wollte, was die Welt im Innersten zusammen hält. Jetzt im Studium hast du endlich die Möglichkeit dazu, kannst an anspruchsvollen Forschungsprojekten mitarbeiten, vielleicht ein Auslandssemester einlegen. In dir steckt so viel Potential! Soll der Einserschnitt etwa umsonst sein?“

Noah schmerzten die Worte seiner Eltern nicht nur deshalb so, weil sie seinetwegen diskutierten und er sich ausgeschlossen fühlte. Nein, sie schmerzten auch, weil sowohl sein Vater als auch seine Mutter mit ihren Argumenten irgendwie recht hatten und seinen eigenen inneren Zielkonflikt verkörperten. Er liebte die logische Struktur der Mathematik und die intellektuellen Herausforderungen genauso wie den Stabhochsprung und alles, was er in den Sport investiert hatte. Konnten sich seine Eltern überhaupt vorstellen, wie er sich an diesem Scheideweg fühlte?

Noah schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück. „Ich… ich muss mal aufs Klo.“

Er spürte nun die Blicke seiner beiden Eltern auf sich. „Schatz, ist alles in Ordnung?“, fragte seine Mutter besorgt. „Ich weiß, als wir das letzte Mal darüber gesprochen haben, warst du dir über deine Zukunft noch unsicher. Aber auch wenn dein Vater und ich offensichtlich unterschiedliche Ansichten haben, ist es am Ende deine Entscheidung. Wie ist das? Hast du dir inzwischen nähere Gedanken –?“

In diesem Moment klingelte es an der Tür. Noah zuckte erstaunt zusammen, empfand aber gleichzeitig eine gewisse Erleichterung über die Unterbrechung. Seine Mutter blickte ihn überrascht an: „Erwarten wir jemanden?“ Dann stand sie auf, um nachzusehen.

Noah hörte, wie an der Tür jemand etwas sagte, was er nicht verstehen konnte. Kurz darauf vernahm er die gestammelten Worte seiner Mutter: „Guten… Tag. Äh, ja, der ist da… Kommen Sie rein.“ Wer konnte das an diesem Sonntagmorgen sein, der sie so aus der Fassung brachte?

Kurz darauf traten ein Polizist und eine Polizistin in blauer Uniform ins Zimmer. Der untersetzte Mann mit stoppeligen Haaren mochte Anfang 30 sein, die zierliche blonde Frau Mitte bis Ende 20. Noah spürte ihre durchdringenden Blicke auf sich. „Sind Sie Noah Bergmann?“

3. KAPITEL: POLIZEI IM HAUS

Sonntag, 14. August 2022, 11:46 Uhr

 

 

 

Noah merkte, wie er zu schwitzen begann. Er hatte mit der Polizei in den 18 Jahren seines Lebens bisher noch nie etwas zu tun gehabt. Was wollten die beiden Polizisten nun von ihm? Er hatte sich doch nichts zuschulden kommen lassen, oder? Sofort schossen ihm Gedanken durch den Kopf. Was hatte er in den letzten Wochen angestellt? Das Licht an seinem Fahrrad war defekt und sicher war er auch mal bei Rot über eine Ampel gegangen. So ein Quatsch, deswegen würde die Polizei doch nicht an einem Sonntagmorgen bei ihm aufkreuzen …

„Guten Morgen. Wir kommen von der Schweriner Polizei. Mein Name ist Polizeikommissar Brückner und das ist meine Kollegin Polizeikommissarin Priebnitz“, stellte der Beamte die beiden vor, während sie ihre Dienstausweise vorzeigten. „Sie gehen ins Sportinternat am Schweriner See, nicht wahr?“

Noah nickte. „Ja, das stimmt.“

Polizeikommissar Brückner holte ein kleines Portraitfoto hervor und zeigte es Noah. „Kennen Sie diesen jungen Mann hier?“

„Julius?“, entfuhr es Noah überrascht. „Das ist Julius Adam, mein Mitbewohner im Internat.“ Er betrachtete Julius‘ blasses Gesicht, die dunklen Augen, die schmale Nase und die kurzen dunkelblonden Haare. Sein Lächeln war matt; es war ein typisch ausdrucksloses Foto. Eine sorgenvolle Vorahnung durchfuhr Noah. „Was ist mit ihm?“

Die Gesichtszüge der beiden Polizisten wurden plötzlich sanfter. „Es tut mir sehr leid“, erklärte Polizistin Priebnitz mit mitfühlender Stimme. „Julius Adam ist tot.“

Noah erstarrte. „Tot?“

„Es deutet einiges darauf hin, dass er sich das Leben genommen hat. Deswegen möchten wir uns gerne kurz mit Ihnen unterhalten.“

Ganz entfernt, wie durch eine Nebelschicht hindurch, hörte Noah die Stimme seiner Mutter: „Oh Gott!“ Sein Vater schien kein Wort herauszubringen. Danach herrschte für einen Moment Stille.

Noahs Gedanken kreisten um Julius, den verschlossenen, aber dennoch umgänglichen Langstreckenläufer. Das Zusammenleben mit ihm klappte recht problemlos; beide waren eher stille Charaktere mit dem gleichen Tagesablauf und ähnlichen Bedürfnissen nach Ruhe und Unabhängigkeit. Noah konnte nicht behaupten, seinen Mitbewohner gut zu kennen. Doch dass er nun tot sein sollte, konnte er sich überhaupt nicht vorstellen. Tot – das passte einfach nicht in die Realität eines gesunden jungen Sportlers.

„Was… ist denn passiert mit Julius?“, brachte Noah schließlich hervor.

„Julius Adam ist vermutlich vom Dach des Internats gesprungen. Achter Stock“, erklärte der Kommissar langsam.

„Was?!“ Entsetzen breitete sich in Noah aus und ließ ihn schaudern. Er sah das stattliche Hauptgebäude des Internats vor sich aufragen und musste schlucken. Von dort oben? Die bloße Vorstellung, wie jemand all die Stockwerke hinunterrauschte und am Ende … Noah wollte gar nicht soweit denken. Das Internat, sein Zuhause, sollte der Schauplatz eines tragischen Todes sein?

Die Kommissarin setzte sich auf einen Stuhl und holte Stift und Paper hervor. „Wann haben Sie Julius denn zuletzt gesehen?“ Noah überlegte. Er musste nachdenken, sein Gehirn aus der anfänglichen Schockstarre befreien. Die Erinnerungen an den gestrigen Tag kamen zurück. Seine Bronzemedaille, die neue persönliche Bestmarke … und Aylin, die von dem angeblich denkwürdigen Fünftausendmeterlauf plapperte, zu dem Julius nicht erschienen war. Mist. Noah hatte ihm eine Nachricht schicken wollen. Aber nach der Siegerehrung und der kleinen Feier mit den Eltern und den alten Hamburger Freunden hatte er es komplett vergessen.

Wann also hatte er Julius zuletzt gesehen? Er versuchte, seine Gedanken in Worte zu packen: „Also, am Donnerstag und Freitag war ich im Internat und Julius auch. Wir hatten zwar noch Ferien, aber wir mussten uns auf die Meisterschaften vorbereiten. Freitagnachmittag sind wir alle nach Hamburg gefahren und haben uns am Nachmittag die Sportanlagen angeschaut. Da hatten wir auch ein letztes Training. Ich muss sagen, ich habe nicht so auf die Langstreckenläufer geachtet, aber ich glaube … doch, ich erinnere mich … Ja, da war Julius noch dabei.“

Nun setzte sich auch Kommissar Brückner neben seine Kollegin und beobachtete Noah aufmerksam: „Um wieviel Uhr war das?“

„Ich glaube gegen fünf, halb sechs.“ Noah runzelte angestrengt die Stirn. Ja, das kam zeitlich hin.

Kommissarin Priebnitz‘ Kugelschreiber flog regelrecht über ihren Notizblock. Kurz sah sie zu Noah auf. „Was haben Sie nach dem Training gemacht?“

„Es war der letzte Abend vor dem Wettkampf. Wir hatten gestern Deutsche Jugendmeisterschaften“, fügte er erklärend hinzu. „Den Abend davor verbringen wir immer ruhig. Runterkommen, relaxen. Ich war hier bei meinen Eltern; ich glaube, die meisten anderen waren im Hotel.“

Die Köpfe der beiden Kommissare drehten sich wie auf Stichwort zu Noahs Eltern, als erwarteten sie eine Bestätigung. Noah fragte sich, ob sie seine Angaben anzweifelten. Gehörte das zum üblichen Vorgehen? Er hörte seinen Vater das Wort ergreifen: „Ja, Noah war den ganzen Freitagabend bei uns. Wir waren erst bei unserem Lieblings-Chinesen essen und dann hier zu Hause. Dass unser Sohn nach Hause kommt, passiert wegen der doppelten Belastung durch Abiturvorbereitung und Leistungssport nicht so häufig, und da mussten wir die Gelegenheit nutzen. Wir haben den Abend in aller Ruhe verbracht.“

„Haben Sie nach dem Training noch etwas von Julius gehört? Eine Nachricht oder einen Anruf?“ wandte sich Kommissarin Priebnitz wieder an Noah.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, nichts.“ Julius und er schrieben sich nur selten Nachrichten, außer wenn es um etwas ging, das für das Zusammenleben im Internat wichtig war. Seine Gedanken wanderten zu der Nachricht, die er Julius nach den Meisterschaften hatte schreiben wollen. Hätte er damit etwas ändern können? Andererseits ging es hier um den Tag davor. „Wenn Sie so nach Freitagabend fragen, heißt das, dass …?“ Er brach ab.

Kommissar Brückner nickte. „Julius Adam wurde am Samstagnachmittag vom Hausmeister gefunden. Der Tod ist allerdings bereits am Abend zuvor eingetreten. Es schien sonst niemand zu dieser Zeit auf dem Internatsgelände gewesen zu sein, da sich alle für die Jugendmeisterschaften hier in Hamburg aufhielten. Können Sie sich erklären, wieso Julius nach dem Training am Freitagnachmittag noch einmal zurück ins Internat gefahren und dort vom Dach gesprungen ist?“

Das war die große Frage, und so wild Noahs Gedanken auch kreisten, eine Antwort hatte er nicht parat. Das ergab keinen Sinn. Es wirkte alles unwirklich.

Ein Detail fiel Noah allerdings ins Auge: „Auf dem Dach ist, äh, war Julius tatsächlich ab und zu.“ Die beiden Polizisten blickten Noah überrascht an. Ihm wurde klar, dass er das näher erklären musste. „Julius ist, äh, war sehr zurückgezogen und verbrachte gerne etwas Zeit komplett alleine und ungestört. Im Internat haben wir Zweierzimmer und die Aufenthaltsräume sind auch Gemeinschaftszimmer. Da ist er ab und zu abends alleine aufs Dach gestiegen. Er sagte, er liebte die Freiheit und Einsamkeit dort oben… Das ist eigentlich verboten, doch er hat irgendwie herausgefunden, wie man den Riegel umlegt und die Tür aufbekommt.“ Bei dem Gedanken durchfuhr ihn ein plötzliches Schaudern. Julius‘ Rückzugsort war auch zum Ort seines Todes geworden.

Kommissar Brückner kramte in seiner Tasche. Noah fragte sich, was er wohl suchte. Hatte er noch etwas vorbereitet und wollte seine Informationen nur Schritt für Schritt preisgeben? „Wir haben einen Abschiedsbrief gefunden. Auf Julius‘ Schreibtisch in Ihrem gemeinsamen Zimmer lag dieser Brief.“ Er holte ein DIN-A4-Blatt hervor, das bis knapp zur Hälfte mit computergeschriebenen Zeilen bedruckt war. Darunter prangte die krakelige Unterschrift von Julius:

„An alle die mich kennen:

Es tut mir leid das ich euch das antue. Aber ich muss diesen Schritt gehen, es gibt keine andere Möglichkeit. Ich halte den Druck einfach nicht mehr aus. Ich habe immer gern Sport gemacht und bin gerne gelaufen aber ich bin einfach kein Gewinner so sehr ich mich auch anstrenge. Ich habe keine Kraft mehr weiter in diesem Hamsterrad zu laufen. Schule und Sport ist zu viel, ich kann das nicht leisten. Jeden Tag früh aufstehen und von morgens bis abends ackern im Training und im Unterricht und wofür das alles? Was habe ich davon, von Wettkampf zu Wettkampf, von Klausur zu Klausur. Ich kann das nicht mehr. Ich will das nicht mehr. Es macht mich kapputt. Ich kenne keinen Ausweg. Mein ganzes leben besteht nur aus Druck und Leistung, ich kann so nicht mehr leben. Bitte verzeiht mir.

Julius Adam“

„Ist das die Unterschrift von Julius?“, fragte Kommissarin Priebnitz.

Noah betrachtete das geschwungene J und die krakeligen Bögen der darauffolgenden ineinander gehenden Buchstaben. „Ja“, antwortete er. „Julius hat … äh hatte eine total unleserliche und krakelige Schrift. Die Lehrer haben sich bei Klausuren immer beschwert.“ Noah dachte daran, dass Julius froh über jede Hausaufgabe war, die er am Laptop schreiben durfte.

Dann lenkte er seinen Fokus von der Unterschrift wieder zum Inhalt des Briefes, dessen Worte ihn gleichermaßen entsetzten wie verblüfften. Julius war vom Leistungsdruck in Sport und Schule so ermattet, dass er nicht mehr weiterleben wollte? Ausgerechnet am Tag vor der Deutschen Meisterschaften? Und er, der zwar kein naher Freund, jedoch immerhin sein Mitbewohner war, hatte nichts davon gemerkt? Hätte er mehr auf Julius‘ Wohlbefinden achten, mehr nachfragen müssen? Ein schmerzhaftes Gefühl der Schuld breitete sich in ihn aus.

Das schien auch den beiden Polizisten nicht verborgen zu bleiben. „Hat Julius Ihnen gegenüber einmal geäußert, dass er Selbstmordgedanken hatte?“, fragte Kommissarin Priebnitz sanft.

„Nein.“ Noah schüttelte den Kopf. „Julius hat seine Gedanken nicht gerne mit anderen Menschen geteilt. Dass er den Druck so empfindet, also dass das alles für ihn so viel war, dass er… dass er nicht mehr leben wollte … Das hat er nie gesagt. Das hätte ich bei ihm auch nicht gedacht.“

„Wie war Julius in der Schule und im Sport? Gab es Anzeichen dafür, dass er unter besonders hohem Druck stand?“

„Wir stehen im Sportinternat alle unter einem hohen Druck. Wir müssen viel mehr leisten und haben einen härteren Alltag als andere Jugendliche, die keinen Leistungssport machen.“ Noah überlegte, ob das vielleicht zu abgebrüht klang. Er bemühte sich hinzuzufügen: „Aber wir haben es uns ja so ausgesucht und der Erfolg gibt einem so viel zurück!“

„Wenn man Erfolg hat, dann ja“, meinte Kommissar Brückner. „Hatte Julius denn Erfolg in Schule und Sport?“, hakte er nach.

Erst dadurch wurde Noah bewusst, dass er gerade nicht über Julius geredet hatte, sondern über den Druck allgemein und darüber, wie er diesen selbst erlebte. Vielleicht klappte es bei Noah, der sich vom Erfolg antreiben lassen konnte, besser als bei Julius? Er rief sich Julius‘ Leistungen ins Gedächtnis.

„In der Schule war er eher mittelmäßig. Leistungskurse Deutsch und Geschichte. Mit Mathe und den Naturwissenschaften kam er nicht so klar. Doch es hat gereicht. Das Abi hätte er sicher geschafft, wenn auch nicht mit dem besten Schnitt.“

„Und im Sport? Er betrieb Langstreckenlauf, nicht wahr?“, fragte Kommissarin Priebnitz und sah wieder von ihren Notizen auf.

„Ja.“ Noah überlegte. Während sie die Schulfächer gemeinsam hatten, fiel es ihm als Stabhochspringer schwerer, die Läufer einzuschätzen. „Ich glaube, im Leistungssport war es für Julius ähnlich wie in der Schule. Mit dabei, aber nicht top. Wobei… wenn ich mich recht erinnere, hat er sich in den letzten Monaten gesteigert. Aber einige seiner Teamkollegen waren immer noch besser. Malte zum Beispiel. Und Cem.“

„Malte?“ Die Kommissarin hielt ihren Kuli in die Luft.

„Malte Vogt und Cem Özgün. Sie können bestimmt mehr über Julius‘ sportliche Performance sagen. Auch wenn sie keine engen Freunde waren. So etwas hatte Julius nicht.“ Es fühlte sich hart an, das auszusprechen. Noah musste schlucken.

„Verstehe“, sagte Kommissarin Priebnitz mit ausdruckslosem Blick. Sie kehrte wieder zu ihren Notizen zurück. „Sind Ihnen denn in der letzten Zeit irgendwelche Veränderungen bei Julius aufgefallen? Wirkte er bedrückter aus vorher?“

Noah überlegte. In den Sommerferien hatte er Julius nicht viel gesehen. Erst war Noah unterwegs gewesen im Trainingscamp, auf Wettkämpfen und im Urlaub, und zuletzt hatte Julius zwei Wochen an einem Lauf-Trainingscamp in Bayern teilgenommen. Sie hatten sich nur in den Tagen vor den Meisterschaften kurz gesehen. Wie war ihm Julius da vorgekommen? Schweigsam, eigentlich wie immer. Das erzählte Noah auch den beiden Polizisten.

„Das führt uns zu unserer letzten Frage“, sagte Kommissar Brückner. „War Ihnen bewusst, dass Julius schon früher unter psychischen Problemen gelitten hatte? Wir haben ältere Narben entdeckt, die darauf hindeuten, dass er sich vor einiger Zeit an den Handgelenken selbst verletzt hat. Geritzt, wie man sagt.“

Noah nickte. „Das muss in seiner Pubertät gewesen sein, vor einigen Jahren. Er hat nicht viel darüber gesprochen, natürlich nicht.“ Er seufzte. „Die Narben waren ein offenes Geheimnis. Als ich ihn einmal danach gefragt habe, meinte er, er hätte damals eine schwierige Phase durchgemacht. Aber das war wohl für ihn Vergangenheit und er hat mir versichert, sich nicht mehr selbst zu verletzen. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln. Wie gesagt, er war kein besonders fröhlicher Mensch, aber er wirkte nicht bedrückt oder sorgenvoll. “

„Hmm.“ Kommissarin Priebnitz packte ihren Block ein. „Das Ritzen in der Pubertät passt dazu, dass Julius ein Mensch war, der seine Probleme eher in sich hineingefressen hat, als sie nach außen zu zeigen. Dem Abschiedsbrief nach zu urteilen, schien das auch dieses Mal der Fall gewesen zu sein.“

„Sie haben uns sehr weitergeholfen, vielen Dank!“, sagte Kommissar Brückner freundlich. Beide Polizisten schüttelten Noah die Hand. Dann gab die Kommissarin Noah ihre Visitenkarte: „Falls Ihnen noch etwas einfällt, das uns helfen könnte, den Freitod von Julius endgültig zu klären, sagen Sie uns doch bitte Bescheid.“

Damit verließen sie das Haus und ließen Noah völlig aufgewühlt zurück.

4. KAPITEL: DRUCK UND DÄMONEN

Sonntag, 14. August 2022, 16:08 Uhr

 

 

 

Der sanfte Bass der Imagine Dragons erfüllte Noahs ganzen Körper. Er liebte den Indie-Rock der Band. Die schnellen, harten Klänge von Believer und Whatever It Takes waren die ideale Kopfhörer-Begleitung beim morgendlichen Muskel- und Konditionstraining. In manchen der Texte ging es darum, Widerstände zu überwinden, das Adrenalin im Blut zu spüren und nicht aufzugeben. Für Noah drückten sie perfekt seine Gedanken beim Sport aus. Anders war es bei den langsameren, gefühlvolleren Songs wie Demons. Diese hörte er dann, wenn ihm melancholisch zumute war. Und wenn er zu viele Gedanken im Kopf hatte, so wie jetzt.

Die Mecklenburgische Landschaft zog vor dem Fenster des Regionalexpresses vorbei. Noah blickte auf die abgeernteten Weizenfelder, auf denen nun die Heuballen lagen. Auf einer Weide standen ein paar Kühe und waren mit dem Wiederkäuen beschäftigt. Noah lauschte der Musik aus seinen Kopfhörern. Dämonen. Mit welchen inneren Dämonen hatte Julius gekämpft?

Er musste sich eingestehen, dass er tatsächlich recht wenig über Julius wusste. Dabei waren sie seit vier Jahren in der gleichen Jahrgangsstufe und seit einem Jahr auf dem gleichen Zimmer gewesen.

Als Noah in der 9. Klasse ins Sportinternat wechselte, ging Julius bereits auf die Schule. Noah hatte sich damals relativ schnell an den harten Trainings- und Schulalltag gewöhnt. Bei praktischen Dingen half ihm sein damaliger Mitbewohner Clemens. Er dachte zurück an Clemens, den zwei Jahre älteren Speerwerfer. Das Internat achtete bei der Zimmerverteilung bewusst auf eine Kombination aus jüngeren und älteren Schülern und eine Vermischung der sportlichen Disziplinen, um den Zusammenhalt über Jahrgangsstufen und Sportarten hinweg zu stärken.

Noah fand, dass das gut funktionierte. Mit der Zeit hatte er dann unter den Mitschülerinnen und Mitschülern ein paar Freundschaften geschlossen, insbesondere mit der Siebenkämpferin Luisa sowie mit Thor und Aylin aus seinem Stabhochsprung-Team. Aber mit dem Einzelgänger Julius hatte er nie viel zu tun gehabt – bis Clemens im vergangenen Jahr Abitur machte und Noah mit Julius zusammen auf einem Zimmer landete.

Wenn Noah an das Zusammenleben dachte, kam ihm der Ausdruck „klappte problemlos“ in den Sinn. Julius hielt sich an Abmachungen, war leise und ruhig, was wollte man mehr? Nein, eine Freundschaft hatte sich nicht zwischen den beiden entwickelt. Es gab nichts Negatives, aber auch nicht viel Positives im Zusammenleben, kaum schöne gemeinsame Erlebnisse, kaum Dinge, die sie freudig miteinander geteilt hätten. Hätte Noah sich so etwas gewünscht? Er wusste es nicht. Noah musste zugeben, dass er nicht unglücklich darüber war, wenn Julius mal wieder zwei abendliche Stunden auf dem Dach verbrachte und er dadurch mehr Ruhe zum Lernen hatte.

Aber nun konnte er sich nicht des inneren Vorwurfs erwehren, dass er sich mehr für Julius hätte interessieren sollen. Was wusste er wirklich über ihn? Von den wichtigen Dingen, nicht von den Belanglosigkeiten des Mitbewohneralltags, wie der Marke der Zahnpasta oder dem Klingelton des Handys? Das war die Star Wars Anfangsmelodie; genau wie auch der Star Wars Sticker auf Julius‘ Laptop davon zeugte, dass er ein Fan der Saga war.

Er wusste, dass Julius aus Wismar stammte, der kleinen Hansestadt an der Ostsee. Viele Internatsschüler kamen aus dem Norden oder aus der Mitte Deutschlands, aber mit seiner Heimatstadt war Julius besonders nah am Ort des Internats. Über seinen familiären Hintergrund konnte Noah nicht viel sagen – bis auf die Tatsache, dass Julius mal eine ältere Schwester erwähnt hatte. Sabine hieß sie und studierte irgendetwas in Rostock. Oder war es Greifswald?

Was waren abseits von Star Wars noch Julius‘ Interessen, was waren seine Träume gewesen? Der Langstreckenlauf, für den er mit seiner kleinen und schmächtigen Statur passend gebaut war, schien ihm Kraft zu geben. Zuletzt hatte er seine Zeit verbessert, kam aber an Malte und Cem sowie den dominierenden Jungstar des Fünftausendmeterlaufs, Daniel Wagenknecht aus Stuttgart, nicht heran.

Julius war kein Überflieger, weder in der Schule noch im Sport, doch hatte ihn das so belastet, dass er es nicht mehr aushielt? Der Gedanke passte nicht zu Julius. So wie Noah seinen Mitbewohner eingeschätzt hatte, schien dieser nicht unglücklich damit, der zurückhaltende Läufer im Hintergrund zu sein. Der Läufer, der dem Sport in erster Linie um des Laufens willen nachging und nicht um als strahlender Sieger im Rampenlicht zu stehen. Doch was wusste er schon über seinen Mitbewohner? Wahrscheinlich träumte Julius genauso wie alle davon, einmal eine Olympiamedaille zu gewinnen, so unrealistisch es für ihn auch war. Er war kein Gewinner, wie er im Abschiedsbrief schrieb. Aber sich deswegen das Leben zu nehmen? Dazu musste er sich in einem bodenlosen seelischen Tief befunden haben. Noah dachte daran, wie Julius ihm mit Blick auf seine Narben versichert hatte, sich nicht mehr selbst zu verletzen. Doch womöglich waren die inneren Dämonen, die Julius schon früher zum Ritzen getrieben hatten, zurückgekehrt. Und er, Noah, hatte nichts davon mitbekommen.

Die Durchsage „In wenigen Minuten erreichen wir unsere Endstation Schwerin Hauptbahnhof“ riss Noah aus seinen Gedanken. Jetzt schon? Er hatte gar nicht darauf geachtet, wie schnell sich die Felder vor dem Zugfenster in die Dächer Schwerins verwandelt hatten. Er packte seine Sachen zusammen und verstaute die Kopfhörer, nachdem die letzten langgezogenen Töne von Birds verklungen waren.

Um vom Bahnhof Schwerin aus ins Sportinternat zu kommen, musste Noah noch ein paar Minuten mit dem Bus fahren. Während er an der Bushaltestelle wartete, versuchte er den Blick in die Zukunft zu richten. Er spürte, dass ihn Julius‘ Tod noch länger beschäftigen würde, doch gleichzeitig galt es, einen guten Start in das neue, letzte Schuljahr zu bekommen und dann die Entscheidung über seinen weiteren Weg zu treffen. Dass viele seiner Mitschülerinnen und Mitschüler ihre Sorgen gerne gegen seine tauschen würden, machte es ihm auch nicht viel leichter. Ja, er hatte ein ausgezeichnetes Zeugnis und nun eine Bronzemedaille mit neuer Bestleistung, doch was sollte er in einem Jahr machen? Und dazu kamen jetzt noch die Gedanken an Julius und daran, was dieser wohl für innere Kämpfe ausgefochten haben musste.

Immerhin wusste Noah, dass ihm der harte, aber geregelte Tagesablauf im Sportinternat Halt geben würde. Seinen Alltag hatte er unter Kontrolle; das war bekanntes Terrain. Es war gut, dass es am nächsten Tag wieder los ging.

Mit einem zuversichtlichen, wenn auch noch etwas schwachen Lächeln auf den Lippen stieg er in der Bus. Da spürte er sein Handy in der Hosentasche vibrieren. Luisa! Sie fragte ihn, wann er ankommen würde, damit sie sich treffen konnten. Das war doch eine gute Idee. Er hatte seine beste Freundin bei all den Urlauben und Trainingslagern zuletzt kaum gesehen. Er schrieb schnell zurück: „Bin gerade im Bus und in ein paar Minuten da. Lass uns um halb sechs am Eingang treffen, dann kann ich vorher noch meine Sachen aufs Zimmer bringen. Okay?“

Der Bus fuhr am Schweriner See entlang. Bald konnte Noah sehen, wie sich die Umrisse des Internatsgebäudes in der Ferne abzeichneten und dann immer größer wurden. Mit seiner Inschrift verkörperte das auf Leichtathletik spezialisierte Sportinternat die Bedeutung des lateinischen Wortes Altius – höher. Laut den hochtrabenden Werbeprospekten wuchsen hier junge Sporttalente an sich selbst und schließlich über sich hinaus; hier sollten sie exzellente Leistungen erbringen und zwar sowohl sportlich als auch schulisch. Kleine Klassengrößen und individuelle Förderung durch die Lehrkräfte sorgten für eine gute schulische Betreuung bis zum Abitur. Die erstklassige Ausstattung der Sportanlagen sowie die Unterstützung durch spezialisierte Trainer-Teams, Physiotherapeuten und, Mediziner lieferten die ideale Voraussetzung für eine sportliche Entwicklung auf internationalem Niveau.

Tatsächlich würde Noah diesen Aussagen uneingeschränkt zustimmen. Er war glücklich, dass er dank seiner Eltern diese Chance hatte. Billig war das natürlich nicht. Jedoch gab es ein großzügiges Stipendienprogramm für all jene Nachwuchstalente aus nicht so gutbetuchten Familien. Nicht zuletzt waren auch verschiedene Stiftungen und Initiativen auf Bundes- und Landesebene zur Förderung des Nachwuchssportes finanziell beteiligt.

All dies brachte entsprechende Erwartungen mit sich. Gute Abiturnoten und Siege bei den Meisterschaften, das wünschten sich all die Eltern und Lehrpersonen, Trainerinnen und Trainer, bis hin zu den Geldgebern. Noah gelang es meistens, diesen äußeren Druck auszublenden. Ihm war wichtig, dass er selbst mit seiner Leistung zufrieden war. Wenn er den hohen Ansprüchen an sich selbst gerecht wurde, waren alle anderen auch glücklich. Meistens empfand er diesen Druck als Antrieb. Doch wie belastend und negativ der Druck auch sein konnte, zeigte Julius‘ Abschiedsbrief. Noah musste schlucken, als er wieder daran dachte.

Der Bus hielt und Noah legte die letzten Meter zum hohen Internatsgebäude zu Fuß zurück. Malerisch am Schweriner See gelegen, praktizierte das Sportinternat das Konzept der kurzen Wege. Hier fand man alles unter einem Dach. Das Hauptgebäude im nachgebauten klassizistischen Stil war acht Stockwerke hoch. Unten lag der große Speisesaal; in den mittleren Etagen befanden sich die Unterrichtsräume und unter dem Dach die Büros und privaten Räume des Personals. Im linken und rechten Seitenflügel lagen jeweils die Wohneinheiten für die Mädchen und Jungen. Direkt neben dem Hauptgebäude waren das Trainings-Center mit den Geräten für Kraft und Kondition sowie die große Sporthalle mit der Ausstattung für die einzelnen Sportarten. Und daran schloss sich der Freiluftsportplatz an.

Noah steuerte auf den Eingang zu. Es tat gut, aus der Augustsonne ins kühle Foyer zu kommen! Den Bildern an der Wand, die strahlende ehemalige Schülerinnen und Schüler mit ihren Medaillen um den Hals zeigten, warf er nur einen kurzen Blick zu. Am anderen Ende des Foyers sah er ein paar jüngere Mädchen als Gruppe zusammenstehen und plaudern, ansonsten war er allein in der Halle. Er bog nach rechts zum Seitenflügel der Jungen ab und nahm die Stufen in den zweiten Stock.

Vor der Glastür zu seinem Wohnbereich hielt er seine Zimmerkarte ans Lesegerät. Dahinter befanden sich sechs Zweierzimmer und der Gemeinschaftsraum. Noah atmete tief durch, als er auf den Gang trat und zu seinem Zimmer ging. Nach einem weiteren Vorzeigen der Karte öffnete sich die Tür des Zimmers, das er sich bis jetzt mit Julius geteilt hatte. Noah trat hinein und wurde sogleich von einem Gefühl der Beklommenheit übermannt. Es sollte sein Zuhause sein und doch wirkte es plötzlich merkwürdig leer. Alle Sachen, die Julius gehört hatten, waren bereits verschwunden. Julius‘ Bett war abgezogen, sein Schreibtisch war leer, und die Tür zum ebenfalls leeren Kleiderschrank stand offen. Vermutlich hatten Julius‘ Eltern alles mitgenommen, nachdem sein Tod am Tag zuvor entdeckt und die Polizei alarmiert worden war.

Noah seufzte und begann, seine Reisetasche auszupacken. Doch als er die Tür zu seinem Schrank öffnete, erschrak er. Seine Klamotten, Bücher und Schulsachen waren anders angeordnet als sonst. Da hatte jemand in seinen Sachen gewühlt! Eine Unruhe breitete sich in Noah aus.

Dann traf ihn die Erkenntnis. Natürlich musste es die Polizei gewesen sein. Wer auch sonst? Als sie den Abschiedsbrief auf Julius‘ Schreibtisch fanden, hatten sich die Polizisten vermutlich genauer umgesehen und dabei alles, auch Noahs Seite des Zimmers, unter die Lupe genommen. Aber ein schaler Beigeschmack blieb.

Noah blickte auf die Uhr. Mist, schon kurz nach halb sechs. Höchste Zeit, um Luisa zu treffen.

5. KAPITEL: WELLEN AM UFER

Sonntag, 14. August 2022, 17:35 Uhr

 

 

 

Als Noah hinunter ins Foyer kam, wartete Luisa bereits auf ihn. Mit dem bunten T-Shirt im Batik-Look, dem Jeans-Rock und den Riemchensandalen erweckte sie den Eindruck, als käme sie gerade vom Strand. Im Gegensatz dazu stand ihr betroffener Gesichtsausdruck, mit dem sie Noah empfing und fest umarmte. „Mensch, die Sache mit Julius ist so tragisch! Für dich als Mitbewohner sicher besonders. Mein Beileid!“

Noah schluckte. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Am liebsten wollte er das Thema vermeiden. „Äh, danke. Ich … ich kann das noch gar nicht glauben. Wirklich schrecklich.“

Für einen Moment gingen sie schweigend nebeneinander her. Der kleine Weg führte sie vom Internat am See entlang. Noah nahm wahr, wie die Spätnachmittagssonne das Wasser funkeln ließ und die Wellen sanft ans Ufer rollten. Eigentlich viel zu schön für diesen beschissenen Tag, dachte er. Außer ein paar Jugendlichen, die am Rand des kleinen Waldes picknickten, waren keine anderen Menschen in der Nähe zu sehen. Nur ein paar Enten und Wasserhühner schwammen am Ufer entlang. Und jetzt würden Luisa und er hier sitzen und über den Tod reden? Konnte sie ihn stattdessen nicht etwas ablenken?

Luisa ließ sich ins Gras fallen. Mit hochgezogenen Knien setzte Noah sich neben sie und wartete mit einem wachsenden Kloß im Hals darauf, dass sie etwas sagte. „Ich kannte Julius ja kaum. Aber es ist so traurig“, brachte sie mit gesenktem Blick hervor. Dann wandte sie sich Noah zu und ihre dunklen Augen verengten sich: „Ich habe gehört, dass er wieder richtig tief in die Depression gerutscht ist – hast du davon irgendwas mitbekommen?“

Noah horchte auf. Nun wurde es interessant; Luisa schien etwas zu wissen, was er nicht wusste. „Wer sagt das? Und was meinst du mit wieder tief in die Depression?“

„Aylin hat irgendwas in die Richtung erzählt. Keine Ahnung, ob das stimmt. Aber es macht schon Sinn, oder? Ich meine, er hat sich doch früher geritzt; das konnte ja jeder sehen.“

„Hmmm, ja“, überlegte Noah. „Aber das ist schon lange hergewesen.“

„Du weißt auch nicht, ob Julius in letzter Zeit in Behandlung war? Ich meine, wenn man überhaupt nicht mehr leben will, muss es einem schon richtig scheiße gehen. Von daher passt das mit der Depression, oder?“

„Kann schon sein“, hörte sich Noah schnell antworten. Luisas Argumente machten Sinn, keine Frage. Doch wie war es möglich, dass ihm eine solch schwere psychische Erkrankung an seinem Mitbewohner nicht aufgefallen war? Er spürte den Drang, sich zu rechtfertigen, sowohl vor sich selbst, als auch vor Luisa. „Ich habe ihn wegen der Ferien nicht viel gesehen und er war … er war ohnehin nie der gesprächige Typ.“

„Das bist du ja auch nicht gerade“, sagte Luisa geradeheraus. Sie machte eine Pause und blickte ihn eindringlich an. „Noah, du weißt, dass du zu mir kommen kannst, wenn du reden willst. Ob über den Tod von Julius oder irgendwas anderes.“

Noah nickte langsam. „Ja, ich weiß. Danke, es geht schon. So gut hab ich Julius ja auch nicht gekannt.“

Er hörte eine Möwe kreischen. Eine Unterbrechung der Stille – läutete sie vielleicht das Ende dieses Gesprächs ein? Einen Themenwechsel?

„Das Leben muss weitergehen“, sagte Noah schließlich. „Lass uns über was anderes reden.“

Auch Luisa schien über die Gelegenheit dankbar. Sie nickte langsam. Dann hellte sich ihr Gesicht plötzlich auf: „Hey, ich hab dir noch gar nicht zur Medaille gratuliert!“

Stimmt, da war was … am Tag zuvor, der gefühlt schon so weit zurücklag. „Danke! Und dir auch! Silber im Siebenkampf, wie geil!“, fügte er schnell hinzu.

„Ich bin echt happy damit! Es gibt Leute, die behaupten, Silber würde sich nicht so gut wie Bronze anfühlen, weil du dich als Bronzegewinner freust, überhaupt auf dem Treppchen zu stehen, und mit Silber enttäuscht bist, dass es kein Gold ist. Find ich aber nicht. Jede Medaille ist super! Und man muss schließlich noch Ziele für die Zukunft haben!“

Noah konnte nicht anders, als über den üblichen Optimismus seiner Freundin zu schmunzeln. Es war gut, wieder hier zu sein. Fast so, als wäre nichts geschehen.

„Deine neue Bestleistung konnte ich leider nicht miterleben“, sagte Luisa. „Da war bei uns gerade Speerwurf dran. Aber was Thor erzählt hat, ist der Wahnsinn. So cool, wie du da drübergeflogen sein musst!“

Noah dachte zurück an den Moment.

---ENDE DER LESEPROBE---