Permafrost-Dämmerung - Tove Blaustedt - E-Book

Permafrost-Dämmerung E-Book

Tove Blaustedt

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Beschreibung

„Long… was?“ Leo starrte die Studienkoordinatorin an. „Longyearbyen“, wiederholte sie. „Das ist eine Siedlung auf Spitzbergen. In der Arktis. Dort liegt die nördlichste Universität der Welt.“ Von der Freundin betrogen und verlassen, setzt der Physikstudent Leo eine wichtige Klausur in den Sand. Dadurch platzt sein Traum von einem Auslandssemester im sonnigen Kalifornien. Ausgerechnet auf der Insel Spitzbergen in der Nähe des Nordpols ist noch ein Platz frei. Monatelange Kälte und winterliche Dunkelheit? Leo ist nicht begeistert. Zu seiner Überraschung fühlt er sich in der gemeinschaftlichen Atmosphäre mit den Bewohnern und Studierenden aus aller Welt gleich wohl. Dazu trägt vor allem der attraktive Tourguide Tom bei, der Leo von der ersten Begegnung an fasziniert. Zwischen Schneemobilfahrten, Polarlichtern und Eisbärwachen entdeckt Leo allerdings auch dunkle Geheimnisse seiner Mitmenschen, die diese um jeden Preis verbergen wollen. Und nicht nur das Tauen des Permafrostes kann in der Arktis eine tödliche Gefahr bedeuten …

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Table of Contents

Title Page

Kapitel 1: „Das Schwarze Loch“

Kapitel 2: „Der Weiße Fleck“

Kapitel 3: „Die Küstenseeschwalbe“

Kapitel 4: „Der Wegweiser“

Kapitel 5: „Der Zusammenstoß“

Kapitel 6: „Zufälle im Universum“

Kapitel 7: „Fun Facts“

Kapitel 8: „Straßen ohne Namen“

Kapitel 9: „Relativ normale Atmung“

Kapitel 10: „Sprung ins kalte Wasser“

Kapitel 11: „Klimakiller“

Kapitel 12: „Elektrisch geladene Teilchen“

Kapitel 13: „Scharf und beißend“

Kapitel 14: „Gutes Zeug“

Kapitel 15: „Das Imposter-Syndrom“

Kapitel 16: „Schmelzendes Eis“

Kapitel 17: „Die neueste Kreation“

Kapitel 18: „Untertauchen“

Kapitel 19: „Rohstoffhandel“

Kapitel 20: „Energiebooster“

Kapitel 21: „Nachtwache“

Kapitel 22: „Ungemütlich“

Kapitel 23: „Eisbäralarm“

Kapitel 24: „Der Teenie-Slasher“

Kapitel 25: „Happy Birthday“

Kapitel 26: „Bad Habits“

Kapitel 27: „Genug Unheil angerichtet“

Kapitel 28: „Steh endlich dazu!“

Kapitel 29: „Alles verloren“

Kapitel 30: „Bei Tageslicht betrachtet“

Kapitel 31: „Schockiert“

Kapitel 32: „Die Scherungskraft“

Kapitel 33: „Zur Aufklärung beitragen“

Kapitel 34: „Ein kleiner Nebenerwerb“

Kapitel 35: „Hypothetische Szenarien“

Kapitel 36: „Verschwunden“

Kapitel 37: „Der Schneesturm“

Kapitel 38: „Donnergrollen“

Kapitel 39: „Naturgewalten“

Kapitel 40: „Ein besonderer Tag“

Epilog: „Alle Farben des Regenbogens“

Anmerkungen der Autorin und Danksagung

Kontrollierter Höhenflug

 

 

 

 

 

 

Permafrost-Dämmerung

 

 

 

 

 

 

 

Ein Roman von Tove Blaustedt

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Copyright © 2025 Tove Blaustedt

© 2025 Traumtänzer-VerlagLysander Schretzlmeier

Ostenweg 5

93358 Train

www.traumtaenzer-verlag.de

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte sind vorbehalten.

 

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und

Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden

oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht

beabsichtigt.

 

ISBN: 978-3-947031-59-7 (Taschenbuch)

ISBN: 978-3-947031-60-3 (E-Book mobi)

ISBN: 978-3-947031-61-0 (E-Book ePub)

 

Autorin: Tove Blaustedt

Covergestaltung: Constanze Kramer, coverboutique.de

Bildnachweise: ©Maximages – stock.adobe.com

©Denis Belitsky, ©Blue Background, ©Mats Brynolf – shutterstock.com 

freepik.com

 

 

 

 

 

Kapitel 1: „Das Schwarze Loch“

Mittwoch, 20. November 2024

 

Er befand sich in einem Schwarzen Loch. Alles war nur noch ein schwarzes Nichts. All das, was er gelernt hatte, all das Wissen, welches er angehäuft hatte, war plötzlich verschwunden, verschluckt vom Schwarzen Loch. Ein Zentrum extremer Masse und doch ein leeres Nichts. Und mittendrin das Gesicht von Nadine, das ihn mit einer Mischung aus Überheblichkeit und Mitleid anstarrte.

Leo wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gleichzeitig spürte er, wie er zitterte. Konzentrier dich! Reiß dich zusammen!, versuchte er sich einzuschärfen. Rasch nahm er einen Schluck aus der Wasserflasche im verzweifelten Versuch, damit die Leere des Schwarzen Loches hinunterzuspülen. Als er die Flasche mit einem dumpfen Geräusch vor sich auf dem Pult abstellte, spürte er den strengen Blick der Aufsicht in seine Richtung.

Schnell wandte Leo sich wieder der Aufgabenstellung zu. Stellen Sie die stationäre Schrödingergleichung auf. Das konnte er doch eigentlich, verdammt noch mal! Quantenphysik war sein Spezialgebiet und die Zukunft, die er sich erträumte. Er musste nur diese Klausur so souverän wie gewohnt bestehen, um die Voraussetzung für das Auslandssemester am California Institute of Technology zu erfüllen. Ein halbes Jahr am Caltech samt Stipendium – dieser Traum, auf den er jahrelang hingearbeitet hatte, war nun in greifbarer Nähe. Es stand so viel auf dem Spiel. Es musste klappen!

Einfach die Gleichung aufschreiben, die Energieniveaus und die Eigenfunktionen ausrechnen und dann weiter … Aber die Formel blieb vom Schwarzen Loch verschluckt, so sehr er auch den Stift zwischen den Fingern hin- und herdrehte. Was war plötzlich los mit ihm? Wie sollte es weitergehen, wenn er schon die Gleichung aus Aufgabenteil (a) nicht hinbekam, die er sonst im Schlaf beherrschte?

Schlaf war ein gutes Stichwort. Zuletzt hatte er noch neben Nadine geschlafen, auch wenn die letzten Nächte bedingt durch die Klausurvorbereitung viel zu kurz gewesen waren. Hätte er mehr Zeit mit ihr anstatt mit seinen Physikbüchern verbringen sollen? Nicht immer absagen, sondern mitkommen, wenn sie mit ihren neuen Kollegen aus der Marketingfirma um die Häuser zog? War alles seine Schuld? Eigentlich nicht, aber irgendwie doch. So klang es zumindest aus ihrem Mund.

Verdammt, ich muss Nadine vergessen! Es geht hier um meine Zukunft! Wenn ich jetzt wegen ihr diese alles entscheidende Klausur nicht bestehe … Leo schloss kurz die Augen und massierte sich die Schläfen. Konzentration!

Vielleicht würde er in die nächste Aufgabe besser reinkommen. Teilchenspin. Wie man die Wahrscheinlichkeiten für die z-Komponente des Teilchenspins ausrechnete, hatte er sich am Abend vorher noch angeschaut. Wie lange war das her? 14 Stunden? 16 Stunden? Aber Raum und Zeit haben im Schwarzen Loch keine Bedeutung mehr. Es konnte genauso gut unendlich lange her sein, dass er diesen ganzen Stoff perfekt beherrscht hatte.

Ein Schaudern fuhr durch Leos Körper. Mittlerweile hatte sich ein Schweißfilm auf seiner Haut gebildet. Er wischte sich noch einmal über die Stirn. Fieberhaft versuchte er, sich den Vorabend ins Gedächtnis zu rufen, an dem er eine Aufgabe dieser Art Schritt für Schritt auf seinem Collegeblock ausgerechnet hatte. Dorthin musste er wieder zurück!

Aber es gab kein Zurück. Um zu wissen, dass es aus einem Schwarzen Loch kein Entkommen gibt, hätte er nicht Physik im Master studieren müssen.

Leo streckte seine Beine aus und ließ einmal den Kopf um seine Schultern kreisen. Im Nacken knackte etwas. Kein Wunder nach dieser beschissenen Nacht, einer der schlimmsten Nächte seines Lebens. Wäre das alles nicht passiert, wenn er besser geschlafen hätte? Wahrscheinlich war seine Nervosität vor der Klausur schuld gewesen. Obwohl er die Übungsaufgaben am Abend mit einem guten Gefühl durchgegangen war, hatte ihn doch die Bedeutung der Klausur vom Einschlafen abgehalten. Dabei war er früher als in den vorherigen Lern-Nächten ins Bett gegangen. Nadine war noch längst nicht zu Hause gewesen, sondern tanzte mal wieder auf einer Geburtstagsfeier irgendeines Kollegen. Hätte er das alles viel früher hinterfragen sollen?

Da waren sie wieder, Nadines durch den Eyeliner hervorstechende braune Augen und ihre kichernde Stimme. Er hatte gehört, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Hinein in seine schlaflose Stille waren Schritte gedrungen, dann Lachen, Gepolter, Nadines gedämpfte Worte: „Nein, du kannst nicht mit reinkommen, nicht hier! Pssst, mein Freund ist da.“ Daraufhin hatte eine männliche Stimme irgendwas gesagt, die Schritte hatten sich entfernt. Es herrschte wieder komplette Stille. Aber nicht in Leos Kopf. In T-Shirt und Schlafanzughose war er aus dem Bett geklettert, angetrieben von einer Mischung aus böser Vorahnung und Verzweiflung nach den erfolglosen Einschlafversuchen. Es war dunkel im Flur gewesen, doch aus dem Treppenhaus drangen gedämpfte Geräusche. Der Lichtschein, der durch den Spion schien, hatte Leo wie ein Magnet angezogen. Hätte er bloß nicht durch diesen Spion geschaut! Hätte er nur nicht gesehen, wie seine Freundin ihre Arme um den Hals dieses Typen geschlungen hatte und ihm ihre Zunge in den Mund steckte, während er seine Hände auf ihren Po gelegt hatte und –

„Noch 10 Minuten!“

Die durchdringende Stimme der Aufsicht fuhr Leo bis ins Mark. Ihm war speiübel. Fast so schlimm wie in der Nacht zuvor. Die Erinnerung an Nadines Worte war wieder da: „Oh, äh, das ist jetzt blöd, dass du es so erfahren musst, aber ich wollte es dir sowieso sagen. Mal ehrlich, zwischen uns war doch schon länger nichts mehr.“ Was hatte er darauf eigentlich geantwortet? Vermutlich nicht viel. Er wusste nur noch, dass er perplex und enttäuscht gewesen war. Aber vor allem verletzt. Nadines Worte hatten sich wie Messerstiche tief in ihn hineingebohrt: „Du bist ein lieber Kerl, aber wir leben nun mal in unterschiedlichen Welten. Das weißt du doch auch, und es ist besser für uns beide, wenn wir es akzeptieren!“

Das Schlimmste war, dass sie recht hatte. Er konnte sich abrackern, wie er wollte, er würde nie mithalten können mit der allseits beliebten Nadine Klingenberg, die sich mit ihrem charmanten Augenaufschlag und der Kreditkarte ihrer Eltern durchs Leben lächeln konnte. Das war die schmerzende Wahrheit. Es war naiv gewesen zu glauben, dass sich Nadine mit jemandem wie ihm zufriedengeben würde. Er war langweilig und ein Versager noch dazu.

Scheiße! Natürlich war er ein Versager, denn er war drauf und dran, durch diese Klausur zu fallen, die seinen Traum vom Caltech zerplatzen ließ.

Das durfte einfach nicht sein. Nicht wegen ihr. Warum war das Leben so verdammt ungerecht? Ein weiterer Schluck aus der Wasserflasche. Wie viel Zeit noch? Fünf Minuten? Reichten fünf Minuten, um aus einem Schwarzen Loch zu klettern?

Wenn nicht mit dem Teilchenspin, dann vielleicht mit dem Hamilton-Operator. Leo las sich die Aufgabenstellung noch einmal durch. Die unitäre Transformation beherrschte er doch! Mühevoll brachte er den ersten Schritt zu Papier. Gleichzeitig wusste er, dass dies allein nicht reichen würde und bei diesem Gedanken stieg erneut die Übelkeit in ihm hoch. Egal, ob er jetzt doch noch die stationäre Schrödingergleichung hinbekam –

„Die Zeit ist um, Stifte hinlegen! Die Klausur wird jetzt eingesammelt.“

Wie in Trance ließ Leo seinen Kuli fallen und sackte auf dem Stuhl zusammen. Er spürte die Schweißperlen am ganzen Körper, gleichzeitig drehte sich ihm der Magen um. Weg, bloß weg aus dem Klausurraum! Er packte seine Sachen, versuchte seine letzte Kraft zu mobilisieren und wankte in Richtung der Toilette. Kaum dort angekommen, übergab er sich in die Kloschüssel. Die Tränen rannen über sein Gesicht, während die Gedanken in seinem Gehirn wie eine Schallplatte immer wieder das gleiche Mantra wiederholten: Ich bin ein Versager.

Nadine hatte recht gehabt. Es war alles zu schön gewesen, um wahr zu sein. Leo erinnerte sich daran, wie sein Kommilitone Richard ihm vor anderthalb Jahren von einer Bekannten erzählt hatte, die Nachhilfe für die Mathe-Prüfungen ihres BWL-Studiums suchte. Ihre Eltern zahlten fürstlich und Leo brauchte das Geld. Aber dass ihm die Nachhilfestunden mit Nadine so viel Spaß machen würden, hatte er nicht geahnt. Dieses Gefühl der Anerkennung, das ihm sein Wissen einbrachte, Nadines große braune Augen, aus denen sie ihm bewundernde Blicke zuwarf und an seinen Lippen hing … Ausgerechnet er hatte etwas gehabt, was dieses beliebte, selbstbewusste, reiche und in jederlei Hinsicht perfekte Mädchen nicht besaß. Als sie ihn geküsst hatte, fühlte es sich wie das Erreichen eines langersehnten Ziels an. Bei der Erinnerung daran krampfte sich nun alles in Leo zusammen.

Mit dem Ärmel des Hoodies wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Aus und vorbei, achtzehn gemeinsame Monate mit vielen schönen Momenten an Nadines Seite: der Urlaub auf Ibiza, der Einzug in Nadines schicke kleine Wohnung in der Kölner Neustadt - die auch noch ihren Eltern gehörte, was mietfreies Wohnen bedeutete -, dann die große Party zu Nadines Bachelorabschluss und ihr Arbeitsbeginn bei dieser hippen Werbeagentur … Er hatte versucht, in ihrer Welt Fuß zu fassen. Sie hatte ihn als „meinen Geek“ bezeichnet und ihn überall als „bald weltberühmten Physiker“ vorgestellt, der in ein paar Wochen schon am Caltech sein würde, „wo ja auch Big Bang Theory spielt, hihihi!“ Aber das wahre Leben war nun mal keine Fernsehserie. Hatte er wirklich geglaubt, dass ihm und Nadine eine gemeinsame Zukunft bevorstand? Dass er für sie mehr als nur eine Trophäe darstellte? Ja, das hatte er geglaubt. Wie dumm von ihm! Er war nicht nur ein Versager, sondern auch ein naiver Versager. Es geschah ihm recht, dass das Schwarze Loch sowohl Nadine als auch den Traum vom Caltech verschluckt hatte.

Er musste weg von hier. Langsam erhob er sich, stützte sich an den Wänden der Toilette ab und ging nach draußen auf den Gang. Wo sollte er hin, wo sollte er in Zukunft schlafen? Er konnte nicht zu Nadine in die Wohnung, das war zu schmerzhaft. Es gab nur eine Person, die ihm jetzt helfen würde.

Vor der Uni peitschte ihm der Nieselregen ins Gesicht. Es war windig, grau und nicht viel wärmer als null Grad. Er hasste die dunkle Jahreszeit. Umso mehr jetzt, wo sie seine Stimmung perfekt widerspiegelte. Scheiß-November, Scheiß-Pisswetter.

Leo holte sein Smartphone aus der Hosentasche und versuchte, es vor dem Regen zu schützen. Mist! Selbst für die Fingerabdruck-Entsperrung war es zu nass. Er lief ein paar Schritte zurück unter das Vordach des Uni-Gebäudes, auch wenn es ihm dort zu stark nach Rauch stank und er keine Lust auf all die plappernden Menschen hatte.

Endlich gelang es ihm, die Nummer zu wählen. Leo hörte, wie es klingelte. Sie sollte doch jetzt zu Hause sein, warum ging sie denn nicht dran? Da!

„Mama, ich …“, begann er und wusste nicht, wie er es formulieren sollte. Er hörte Geraschel und das Gebrabbel eines Babys im Hintergrund. „Störe ich? Also, ich kann auch …“

„Leo! Nein, natürlich nicht, es ist nur –“ weitere Geräusche – „ich bin gerade dabei, Lara zu wickeln und … –“ Der Rest ihrer Worte wurde von erneutem Babygeschrei übertönt.

„Jetzt ist auch noch Lina aufgewacht, warte, ich leg mal kurz das Telefon ab!“

Leo seufzte, musste jedoch gleichzeitig schmunzeln. Er gönnte seiner Mutter das späte Glück, mit Anfang vierzig noch einmal Zwillinge bekommen zu haben, selbst wenn dadurch ihr Verhältnis durcheinandergewirbelt wurde. Solange er zurückdenken konnte, waren sie immer ein Duo gewesen, das sich durch den harten Alltag gekämpft hatte. Leo and Mama against the Rest of the World. Aber die Zeiten hatten sich geändert.

„So, hier bin ich wieder. Was gibt’s denn? Ist alles in Ordnung bei dir?“

„Mama, ich … Kann ich vielleicht ein paar Tage bei euch schlafen?“

Stille, unterbrochen durch Baby-Gebrabbel. Dann vernahm er wieder die Stimme seiner Mutter, die nun sorgenvoller klang. „Leo? Ist was mit Nadine? Was ist passiert?“

Leo musste schlucken. „Mama, ich … ich hab die Klausur in den Sand gesetzt.“ Er konnte selbst hören, wie belegt seine Stimme klang.

„Oh? Meinst du wirklich? Warte doch erstmal ab. Das letzte Mal, als du dachtest, es wäre nicht so gut, hattest du doch wieder eine 1,7 und vielleicht –“

„Nein! Das war’s mit dem Caltech!“ Leo ließ die Wut und den tiefen Schmerz raus. Es tat weh, seine Mutter enttäuschen zu müssen, aber sie musste ihm glauben. „Alles, was ich gelernt hatte, war plötzlich weg. Wie in einem Schwarzen Loch!“

Stille, dann ein Seufzen. „Hmmm. Aber du … du warst doch gut vorbereitet, oder?“ Seine Mutter schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Damit hatte sie nicht gerechnet, natürlich nicht. Leos Gedanken drifteten zurück zu seinen Grundschulzeiten, als sie ermattet und ausgelaugt von der Zusatzschicht im Krankenhaus nach Hause kam und er ihr stolz seine Eins in der Mathearbeit präsentieren konnte. Die Mieterhöhung für die winzige Zwei-Zimmer-Wohnung und all die unbezahlten Rechnungen konnten ihr noch so viele Sorgenfalten bereiten, sie rieb sich auf, um ihn zu unterstützen, kratzte das Geld für Schwimmbad, Kino und Planetarium zusammen. Und er strengte sich an, zauberte ihr mit seinen guten Noten ein Lächeln auf die Lippen, das von einer hoffnungsvollen Zukunft sprach: „Wart’s ab und du wirst bald mehr Möglichkeiten haben als ich!“

Und jetzt? Er hatte die Möglichkeiten gehabt, als Einser-Abiturient und einer der Jahrgangsbesten im Physik-Studium, dazu noch mit einer Freundin aus gutem Haus. Von Köln-Porz ans Caltech – der Traum war zum Greifen nah gewesen. Doch er hatte es vermasselt.

Aus dem Hintergrund war wieder Babygeplärr von einer seiner Halbschwestern zu hören. Eine Erinnerung daran, dass er erwachsen und nicht mehr Priorität Nummer 1 seiner Mutter war.

„Hast du gehört, Leo?“

Oh, hatte seine Mutter noch irgendwas gesagt?

„Jetzt komm schon her und erzähl in Ruhe, was passiert ist mit der Klausur und mit Nadine. Und dann überlegen wir uns, wie es weitergeht. Vielleicht klappt es ja doch noch mit dem Caltech. Und wenn nicht, hält das Leben sicher noch andere Möglichkeiten bereit, für die es sich zu kämpfen lohnt. Du kennst das Motto: Am Ende wird alles gut – und wenn es nicht so ist, dann ist es noch nicht das Ende.“

 

Kapitel 2: „Der Weiße Fleck“

Dienstag, 3. Dezember 2024

 

Rasch hielt sich Leo die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken. Er änderte seine Sitzposition und schlug das rechte Bein über das linke, aber es half nicht viel. Eigentlich wollte er nur noch schlafen. Die vergangenen Tage waren extrem kräftezehrend gewesen. Alles wirkte plötzlich anstrengend: sich zur Vorlesung aufzuraffen, sich in der Mensa etwas zu essen zu holen, für etwas Ruhe zum Lernen in die Bib zu gehen. Selbst dort konnte Leo sich kaum konzentrieren, auch wenn ihn der Stoff eigentlich interessierte. Allein zu funktionieren, kostete Leo eine enorme Anstrengung. Hatte ihn vorher die Aussicht auf das Caltech angespornt, fühlte er sich nun, als trüge er ein bleischweres Schild mit der Aufschrift „Versager“ mit sich herum. Dass er nachts nur schwer Schlaf fand, tat sein Übriges. Das Sofa bei seiner Mutter und ihrem neuen Lebensgefährten war hart, und die Zwillinge – so süß sie auch lächeln konnten – schienen vom Durchschlafen nicht viel zu halten.

Mist, ein erneutes Gähnen! Sollte er sich einen Energy Drink holen? Allerdings würde er das vor dem Termin nicht mehr schaffen. Was das Gespräch jetzt noch bringen sollte, wusste er sowieso nicht. Aber seine Mutter mit ihrem unerschütterlichen Optimismus hatte ihn dazu ermuntert und er war einfach zu pflichtbewusst, um einen vereinbarten Termin abzusagen.

„Herr Rödler? Ah, Sie sind schon da, kommen Sie doch rein.“

Leo bemühte sich, die Mundwinkel nach oben zu ziehen, und folgte der Studienkoordinatorin in ihr Büro. Sein Blick glitt über die Werbe- und Informationsplakate für die verschiedenen Studiengänge, Spezialisierungen und Austauschprogramme, die rund um eine große Weltkarte herum die Wände bedeckten. Wie häufig war er schon hier gewesen, um sich für seine Caltech-Bewerbung und das dazugehörige Stipendium beraten zu lassen und alle Details zu klären! Und jetzt?

„Herr Rödler, es tut mir sehr leid.“ Leo meinte, in den Augen der Studienkoordinatorin, die ihn über ihre randlose Brille hinweg fokussierten, echtes Bedauern zu erkennen. „Sie haben auf der Notenliste ja bereits gesehen, dass Sie in der Klausur in Quantenphysik nicht die erforderliche Punktzahl erreicht haben. Wie Sie wissen, wäre das die Voraussetzung für das Semester am California Institute of Technology gewesen.“

Leo senkte den Blick und nickte matt. Was sollte er auch antworten?

„Das war ehrlich gesagt etwas überraschend für mich“, fuhr die Studienkoordinatorin fort und wandte den Blick leicht zu ihrem Bildschirm. „Sonst haben Sie immer ausgezeichnete Leistungen gezeigt. Quantenphysik zählt zu Ihrer Spezialisierung, und Professor Winterbach hat Sie in seinem Empfehlungsschreiben in den Himmel gelobt. Deswegen hatten wir Ihnen die Teilnahme am Caltech-Programm schon informell zugesagt – unter der Voraussetzung, Sie würden in der Klausur gut abschneiden. Was war denn da los?“

„Ich … ich … Mir ging’s nicht so gut an dem Tag“, brachte Leo schließlich hervor und spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg.

„Waren Sie krank?“ Nun schwang etwas Besorgnis in ihrer Stimme mit. Leo dachte zurück an das Schwarze Loch und daran, wie er sich nach der Klausur auf der Toilette übergeben hatte. Könnte man das im Nachhinein als Krankheit erklären? Warum war er nicht vorher darauf gekommen? Konnte er noch einmal Hoffnung schöpfen?

„Ich sehe hier aber nicht, dass Sie ein ärztliches Attest eingereicht haben. Wenn Sie wirklich prüfungsunfähig waren, hätten Sie sich das von einem Arzt oder einer Ärztin am gleichen Tag bestätigen lassen müssen. Dann hätten Sie die Klausur nachschreiben können.“

„Nein, also, ich … ich habe … ich habe mich einfach nicht gut gefühlt. Private … Probleme, ich konnte mich nicht konzentrieren … Ein Blackout“, gab Leo zu. „Ich wusste, wie viel auf dem Spiel stand, aber es ging in dem Moment wirklich nicht.“

„Hmmm.“ Die Studienkoordinatorin drehte einen schwarzen Fineliner zwischen ihren Fingern. „Von solchen Blackouts hört man immer mal wieder. Es tut mir wirklich sehr leid für Sie, dass es Ihnen gerade in dieser Situation passieren musste.“

„Kann ich … kann ich vielleicht die Klausur nochmal schreiben?“, fragte Leo mit zitternder Stimme. Sein Herz klopfte bis zum Hals.

„In genau einem Jahr wieder, dann ist der nächste planmäßige Termin und für Sie der Zweitversuch. Damit können Sie die Prüfungsleistung, die Sie zum Abschluss Ihres Studiums brauchen, nachholen. Aber in Bezug auf ein mögliches Semester am Caltech ist der Zug leider abgefahren.“

Leo schluckte. Ja, er hatte es gewusst und seit fast zwei Wochen versucht, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Doch es so definitiv und endgültig zu hören, erfüllte ihn auf brutale Weise mit einer schmerzenden Leere.

„Da kann man nichts mehr machen? Gar nichts?“ Seine Mutter hatte ihm eingeschärft zu kämpfen und keine Möglichkeit auszuschließen. Dabei wusste er längst, dass es aussichtslos war.

„Leider nein. Sie wissen, dass das Caltech in der Physik zu den renommiertesten Universitäten der ganzen Welt gehört. Dieses Austauschprogramm ist für uns eine große Ehre und wir haben jedes Jahr nur einen Platz, verbunden mit einem großzügigen Stipendium. Wir dürfen diesen nur vergeben, wenn die Kriterien des Caltechs exakt erfüllt sind: Gesamt-Notendurchschnitt von 1,5 und in keiner der Pflichtklausuren – Mechanik, Elektrizität, Thermodynamik, Festkörperphysik und Quantenphysik – etwas Schlechteres als eine 2,3. Das ist wesentlich strenger als an sämtlichen anderen Partneruniversitäten. Viele von denen verlangen nicht einmal, dass man schon alle Pflichtklausuren bestanden hat.“

Leo entwich unwillkürlich ein Seufzer. Warum hatte er bloß alles aufs Caltech gesetzt?

Dabei war der Grund klar. Das Caltech hatte eine weltweit führende Forschungsgruppe im Bereich der Quantenphysik. Schleifenquantengravitation zu erforschen und vielleicht zu verstehen, woraus die Welt, das Universum und überhaupt alles besteht – es wäre der Ort dafür. Er dachte an sein Gespräch mit Professor Winterbach, der ihm Mut gemacht und ihm dieses Auslandssemester als „Fuß in der Tür für eine spätere Promotion am Caltech“ verkauft hatte. Doch die Anziehungskraft dieser Uni war für Leo weit über das inhaltliche Interesse hinaus gegangen. Mit einem Auslandssemester am Caltech hätte er es endlich geschafft! Er hätte die Anerkennung bekommen, die ihm sonst oft verwehrt wurde, eine späte Genugtuung gegenüber dem Mobbing seiner Mitschüler, die ihn regelmäßig hatten wissen lassen, dass er nicht cool und hip genug war und finanziell sowieso nicht mithalten konnte. Er hätte Nadine zeigen können, dass ihre Erwartungen an ihn als „bald weltberühmten Physiker“ gerechtfertigt waren. Pah! Das hab ich jetzt davon. Zu hoch gepokert und alles verloren.

Wenn er sich an einer nicht ganz so weltbekannten Uni beworben hätte, würde er jetzt zumindest nicht mit leeren Händen dastehen. In seinen Gedanken sah er Richard aus seinem Thermodynamik-Seminar vor sich, der Koffer für sein Semester in Nantes packte.

„Viele meiner Kommilitonen gehen an Unis in Frankreich oder Italien“, hörte er sich selbst sagen und spürte die Resignation in seiner Stimme.

„Ja, wie Sie wissen, haben wir Partneruniversitäten in aller Welt, aber die meisten sind in Europa. Ich habe hier die ganze Liste vorliegen.“ Der Blick der Studienkoordinatorin glitt über ihren Bildschirm. „Leider wären Sie zum jetzigen Zeitpunkt mit einer Bewerbung sehr spät dran. Es scheint auch alles voll zu sein …“

Klar, dachte Leo, natürlich ist jetzt überall alles voll. Es wäre ja zu schön, um wahr zu sein, wenn jemand wie ich durch einen glücklichen Zufall ausnahmsweise mal –

„Warten Sie, hier ist tatsächlich noch ein freier Platz!“

Eine Welle frischer Energie und Vorfreude strömte auf Leo ein. Gab es etwa noch einen Platz in Nantes oder gar an einer noch renommierteren Uni, wo er eine Vertiefung in Quantenphysik wählen konnte? Womöglich irgendwo mit schönem Wetter, um zwischen den Vorlesungen unter südländischer Sonne draußen zu sitzen und anschließend im Meer zu schwimmen? Aber jeder ferne Ort war besser, als auf dem Sofa seiner Mutter zwischen Babygeschrei und Windeln keinen Schlaf zu finden.

„Das ist ja super! Welche Uni denn?“, fragte er hoffnungsvoll.

„UNIS.“ Die Studienkoordinatorin blickte konzentriert auf ihren Bildschirm, während sie diese vier einzelnen Buchstaben vorlas.

Eine Mischung aus Verwirrung und Enttäuschung machte sich in Leo breit. „Noch nie gehört.“ So viel zu den bekannten Universitäten. Aber was hatte er auch gedacht, schließlich ging es hier um einen Restplatz!

„Wo liegt denn das?“

„Longyearbyen“, las sie langsam aus der Liste vor und beäugte Leo über ihre Brille hinweg.

„Long… was?“, entfuhr es ihm. Was für ein verrückter Name für einen Ort! Er starrte die Studienkoordinatorin an. Das war jetzt nicht ihr Ernst, oder?

„Longyearbyen“, wiederholte sie und schaute wieder auf ihren Computer. „Das ist eine Siedlung auf Spitzbergen. In der Arktis. Hier steht, UNIS ist die Abkürzung für University Center in Svalbard. Angeblich die nördlichste Universität der Welt.“

Leos Augen fuhren die Weltkarte entlang, die hinter der Studienkoordinatorin an der Wand hing. Sein Blick blieb auf dem weißen Fleck ganz oben auf der Karte hängen, auf halbem Weg zwischen Norwegen und dem Nordpol. Spontan kamen ihm Eis und Kälte, Eisschollen und Eisbären in den Sinn.

„Und da kann man Physik studieren?“

Die Studienkoordinatorin schien wieder in die Dokumente auf ihrem Bildschirm vertieft: „Oh ja. Hier steht’s, Geophysik, arktische Geologie und Biologie. Nicht als komplettes Studium, aber jedes Jahr verbringen mehrere Hundert Studierende aus Partner-Universitäten in aller Welt ein Semester am UNIS in Longyearbyen. Ich sehe hier einen freien Platz. Sie könnten einfach Ihre Bewerbung vom Caltech umformulieren. Was meinen Sie? Geophysik interessiert Sie doch?“

Leo schwieg. Er wollte nichts Unpassendes sagen und musste das erst einmal verarbeiten. Geophysik? Die Erde abmessen? Temperaturen eintragen und Proben im Labor untersuchen, um festzustellen, dass der Klimawandel noch schneller voranschreitet als befürchtet? Das machten bereits viele andere und die Ergebnisse waren immer niederschmetternd. Wenn er dagegen an die Loop Quantum Theory am Caltech dachte, mit der man vielleicht die Quantenphysik mit der Relativitätstheorie vereinigen und erklären könnte, was die Ursprünge der Materie und des ganzen Universums darstellten und –

„Herr Rödler?“

„Äh, ja. Ich … hatte mich zwar eigentlich auf Quantenphysik spezialisiert und man sagt mir, ich bin eher ein Theoretiker als ein Praktiker, aber … ja, Geophysik ist auch okay. Ist ja wichtig, die Erde. Ich werde mal drüber nachdenken.“

Was blieb ihm sonst übrig? Leo versuchte sich vorzustellen, wie diese Uni mitten im Eis wohl aussah. Wie studierte und lebte man dort mit diesen anderen Studierenden aus aller Welt?

„Wie ist das denn finanziell? Ich … ich muss erstmal sehen, ob ich mir das leisten kann“, sagte er leise. Ein Teil von Leo hoffte, dass es daran scheitern würde, während ein anderer Teil trotz allem neugierig geworden war.

„Studiengebühren werden keine erhoben. Im Rahmen unserer Kooperationsvereinbarung gibt es Zuschüsse zu den Lebenshaltungskosten sowie Taschengeld. Ich schicke Ihnen alle Unterlagen per E-Mail.“

„Danke, ich schaue es mir mal an.“ Leo spürte den inneren Widerstand wie eine eisige Wand. Er, der bereits im Winter in Köln fror, sollte sich freiwillig monatelang in die arktische Kälte begeben?

„Zögern Sie nicht zu lange“, schärfte ihm die Studienkoordinatorin ein, während er aufstand und sich zum Gehen wandte. „Um sich den Restplatz für das Semester von Januar bis Juni zu sichern, sollten Sie alle Unterlagen noch in dieser Woche einreichen. Am Montag, dem 20. Januar, gehen die Lehrveranstaltungen in Longyearbyen los.“

„20. Januar?“, wiederholte Leo. Plötzlich durchschoss ihn ein Gedanke. „Ist es da nicht stockfinster in der Arktis?“

Diese Gewissheit hatte er wenig später, als er auf dem Sofa seiner Mutter das Internet durchforstete.

„Longyearbyen, der mit ca. 2000 regelmäßigen Einwohnern größte Ort der norwegischen Insel Spitzbergen, liegt auf 78 Grad nördlicher Breite. Als Bergarbeiterstadt durch den Unternehmer John Monroe Longyear im Jahr 1906 gegründet, lebt der Ort heute vor allem von der Forschung und vom Tourismus. Die durchschnittlichen Temperaturen schwanken zwischen -15 Grad im Winter und +5 Grad im Sommer. Die Lebensbedingungen werden durch Variationen im Tageslicht geprägt: Vom 18. April bis 23. August (127 Tage) versinkt die Sonne nicht unter dem Horizont (Mitternachtssonne), während vom 27. Oktober bis 15. Februar (111 Tage) Polarnacht herrscht.“

Je mehr Informationen er aus verschiedenen Websites aufsog, umso mehr vermischten sich die widersprüchlichen Gefühle in ihm. Eigentlich war es eine komplette Schnapsidee. Nein, das kam überhaupt nicht in Frage für jemanden wie ihn, der kein Freund des Winters war. Wie sollte er sich dort wohlfühlen? Das war so ziemlich der letzte Ort der Erde, an den er sich wünschte.

Aber gerade deswegen klang es irgendwie faszinierend. Dort wäre er wirklich weit weg von allem – von Nadine, von der verpatzten Klausur, vom Gefühl, versagt zu haben. Ein neuer Anfang unter extremen Bedingungen, mit neuen Menschen, die ihn noch nicht kannten? Das schien gleichermaßen furchteinflößend wie verlockend.

„Ich denke, mal aus dem Alltag rauszukommen ist das Beste, was dir passieren kann“, bestärkte ihn seine Mutter. „Erst recht nach den letzten Wochen.“

„Mama, sagst du das auch nicht nur, weil ihr mich loswerden wollt, damit ihr das Sofa wieder für euch habt?“ Leo wusste, dass seine Stimme skeptisch klang, auch wenn er schmunzelte.

„Wir würden doch nie unseren persönlichen Babysitter rauswerfen wollen.“ Seine Mutter wiegte Lara auf dem Arm und zwinkerte Leo zu. „Aber im Ernst, Leo, das ist eine neue Chance für dich, die das Leben dir bietet. So etwas solltest du nutzen. Ich weiß, wovon ich spreche, seit ich damals auf dieser Erstsemester-Party schwanger wurde und das Medizinstudium geschmissen habe, um dich alleine großzuziehen. Du und ich, wir haben uns zusammen durchgekämpft. Dazu zählt auch, dass man Limonade daraus macht, wenn das Leben dir eine Zitrone reicht.“

„Es gibt Limonade?“ Oliver, der neue Lebensgefährte von Leos Mutter, stand in der Tür und begrüßte sie.

„Nein, vermutlich eher einen warmen Tee als Limo, wenn Leo bald in die Arktis geht und ein Auslandssemester in Spitzbergen macht“, meinte die Mutter lächelnd und gab ihrem Partner einen Kuss.

Leo wollte sofort mit „Ich bin mir noch gar nicht sicher“ beginnen, doch Oliver war schneller und rief begeistert: „Spitzbergen? Eine Reise dahin hab ich vor einigen Wochen verkauft. Mit sämtlichen Aktivitäten wie Hundeschlittenfahrt, Schneemobil-Tour, Beobachtung von Polarlichtern … Das muss der Wahnsinn sein! Vielleicht ein neuer touristischer Wachstumsmarkt.“ Leo wusste, dass Olivers kleines Reisebüro mehr schlecht als recht lief, auch wenn er seinen Optimismus nie zu verlieren schien. Vielleicht passte Oliver deswegen so gut zu seiner Mutter, was Leo nach seiner anfänglichen Skepsis gegenüber einem neuen Mann in ihrem Leben eingesehen hatte. Er konnte miterleben, wie sie durch ihren Partner und die Zwillinge aufblühte. Und er selbst? Er musste sich damit abfinden, dass er erwachsen war. Seinen eigenen Weg finden musste. Hieß das nun, monatelang am Ende der Welt zu leben? Doch was wäre in seiner Situation die Alternative?

„Hmmm“, machte Leo und überlegte. „Die Polarlichter sind bestimmt cool. Aber was mache ich, wenn ich mich dort überhaupt nicht wohlfühle in der Dunkelheit und Kälte?“

„Na zuerst mal richtig warme Sachen zum Anziehen kaufen“, meinte Oliver und lachte. „Das muss schon drin sein! Ich werde mich bei den Reiseveranstaltern schlau machen, was sie für die Touristen empfehlen. Leo, ich bin ja schon ein bisschen neidisch darauf, was du dort alles erleben wirst!“

„Ich auch!“, stimmte seine Mutter ein. „Wer weiß, vielleicht gefällt es dir sogar so gut, dass du gar nicht mehr traurig über das Caltech bist. Manchmal kann etwas, das man nicht bekommt, eine wunderbare Fügung des Schicksals sein.“

Das trifft auf mich ganz bestimmt nicht zu! Leo seufzte. So genervt er in diesem Moment von den philosophischen Kalendersprüchen seiner Mutter war, traute er sich trotzdem nicht, offen zu widersprechen. Was sollte er auch machen? Die Neugier auf das Unbekannte und der innere Widerstand mussten nicht länger gegeneinander kämpfen, denn es fühlte sich nicht mehr an, als habe er in Bezug auf das nächste halbe Jahr überhaupt eine Wahl. Da war schon eine gewisse Ironie dabei: Vom Schwarzen Loch hinein in die Dunkelheit der Arktis. Aber irgendwie musste er das durchstehen.

Kapitel 3: „Die Küstenseeschwalbe“

Sonntag, 19. Januar 2025

 

5:15 Uhr. Der Wecker riss Leo aus dem Schlaf, in den er viel zu spät gefallen war. Gefühlt die halbe Nacht hatte das Gebrüll der zahnenden Zwillinge eine Hintergrundkulisse gebildet, und eine Zeitlang war er mit Lina auf dem Arm im Halbschlaf durch die Wohnung gelaufen. Doch nun hieß es aufstehen und zum Flughafen fahren. Unter anderen Umständen hätte er sich darauf gefreut, die Enge der Wohnung verlassen zu können und in sein Auslandssemester zu starten. Wenn, ja wenn dieses Auslandssemester ihn irgendwo anders hinführen würde als in die Kälte und Dunkelheit am Ende der Welt.

Seufzend rieb er sich den Schlaf aus den Augen und begann leise, den Rest seiner Sachen zusammenzupacken. War es tatsächlich möglich, dass der Rest der Familie ausnahmsweise mal schlief?

Vorsichtig schulterte er den großen Trekking-Rucksack und hob den Koffer hoch. Am Tag zuvor hatte er noch alles gepackt, gewogen, neu gepackt und wieder umgepackt, um unter der Grenze von 20 Kilo Aufgabegepäck zu bleiben. Die Liste, die ihm vom UNIS zugemailt worden war, umfasste unzählige Dinge, von Schneehosen über Winterstiefel bis zu einer Stirnlampe. Er war Oliver dankbar, dass dieser mit ihm einkaufen gegangen war; gleichzeitig kam wieder der Gedanke, dass er ins sonnige Kalifornien mit leichterem Gepäck hätte reisen können. Schluss damit! Er konnte es ohnehin nicht mehr ändern und musste sich vornehmen, das Beste aus den Monaten in der Kälte zu machen.

Leise öffnete Leo die Tür zum Schlafzimmer, doch seine Mutter kam ihm bereits entgegen.

„Hab ich dich geweckt?“, fragte er im Flüsterton.

„Wenn es nicht meine beiden kleinen Kinder tun, dann mein großes Kind.“ Sie lächelte müde. „Aber das ist gut so. Komm, lass dich zum Abschied nochmal drücken.“

Leo merkte, wie er nun doch sentimental wurde. „Mach’s gut, Mama.“

„Mach du es besser. Leo, du warst immer mein kleiner Löwe, der so viel stärker ist, als er glaubt. Du wirst auch in der Arktis klarkommen und dort eine wunderbare Zeit haben. Genieß es, mal ganz weit weg zu sein und Neues zu entdecken.“

Bevor seine Augen noch nass wurden, verabschiedete er sich schnell und machte sich auf den Weg zum Flughafen. Ein merkwürdiger Gefühls-Cocktail durchströmte ihn, eine Mischung aus Aufregung vor dem Unbekannten, einer gewissen Furcht, einer Dosis Neugier… Wie würde sich der Studienalltag an der kleinen Uni in Longyearbyen gestalten? Wie würde er mit den Wetterbedingungen, aber auch mit den fremden Menschen klarkommen?

Doch erst einmal musste er es lebend nach Spitzbergen schaffen … Je näher der Bus dem Flughafen kam, umso mehr verstärkte sich das klamme Gefühl in seinem Magen. Das Flugzeug ist das sicherste Fortbewegungsmittel, wiederholte er wie ein Mantra in seinem Kopf, aber es half nur bedingt. Fliegen bedeutete den Boden unter den Füßen zu verlieren, angegurtet in einen kleinen Sitz gepresst zu sein, vollkommen den Naturgewalten des Himmels ausgelie– nein, nein, nein! So durfte er nicht denken. Tief durchatmen!

In wenigen Stunden werde ich den Flug überstanden haben, redete er sich ein. Und nach Kalifornien hätte ich auch fliegen müssen. Der Gedanke an das, was hätte sein können, machte es ihm jedoch nicht unbedingt leichter.

Am Gate überprüfte er zum wiederholten Male die aktuellen Wetterbedingungen. Ein Hochdruckgebiet mit klarem Himmel sollte für einen ruhigen Flug sorgen, oder?

Immerhin war das Flugzeug nach Oslo nicht voll: einige Touristen, die wohl nach Norwegen in den Skiurlaub fuhren, und ein paar Geschäftsreisende auf dem Weg in die neue Arbeitswoche. Leo stellte mit Erleichterung fest, dass die Reihe neben seinem Fensterplatz leer blieb. Er dachte an seinen letzten Flug mit Nadine in den Ibiza-Urlaub. Damals war er total cool gewesen – oder eher gesagt hatte er versucht, cool zu sein, um sich vor ihr seine Angst nicht anmerken zu lassen. Zwar versetzte ihm der Gedanke an sie auch jetzt noch einen Stich, doch irgendwie fühlte es sich befreiend an, sich nicht mehr verstellen zu müssen. Er schnallte sich an, streckte seine Beine aus und umgriff mit seinen Händen die Armlehnen. Jetzt gab es kein Zurück mehr, aber er würde das schaffen. Irgendwie. Diesen Flug und diese Monate in der Dunkelheit.

Kurz nach dem Start holte er seine Kopfhörer hervor. Mit ein bisschen Rock auf den Ohren verging die Zeit tatsächlich schneller, und Leo wurde nach einer Weile etwas entspannter. Naja, entspannt war vielleicht nicht das richtige Wort, aber sein Herz schlug nicht mehr bis zum Hals. Es war sogar ein schönes Gefühl, sich nun über einem anderen Land zu befinden, weit weg von seinem trostlosen Leben, weit weg von Nadine und all den Schwarzen Löchern seines Misserfolges.

Plötzlich tauchten vereinzelt von Schnee bedeckte rote Holzhäuser weit unter ihm auf. In der Ferne erstreckte sich eine große Stadt im matten winterlichen Sonnenschein. Oslo! Die erste Etappe war geschafft! Die Erleichterung durchströmte Leo, als das Flugzeug auf der Landebahn aufsetzte. Warum konnte er nicht einfach hier in Oslo in der Zivilisation bleiben?

„Avgang“ und „Ankomst“ – die norwegische Ausschilderung ließ ihn schmunzeln, als er durch das Flughafengebäude schlenderte. Am Gate für den Weiterflug nach Longyearbyen tummelten sich bereits mehrere Dutzend Menschen. Was wollten die alle am Ende der Welt? Vielleicht war er ja gar nicht am richtigen Gate? Aber doch, es schien zu stimmen. Leos Blick fiel auf die dick gefütterte Jacke der Frau neben sich und die mächtigen Schneeboots des Mannes an ihrer Seite. Diese Menschen waren sicher nicht auf dem Weg nach London oder Los Angeles, sondern nach Longyearbyen.

Er richtete seinen Blick über das Rollfeld hinaus zur Januarsonne und versuchte sie in sich aufzusaugen. Ein letztes Mal, bevor ihm nun Wochen der Dunkelheit bevorstehen würden! Was für ein Mensch würde er sein, wenn ihm das nächste Mal ein Sonnenstrahl ins Gesicht scheinen würde? Dachten die anderen Leute auch daran? Er blickte zu dem Paar im mittleren Alter, das sich angeregt in einer nordisch klingenden Sprache unterhielt. Dahinter tippte ein junger Mann mit Brille auf seinem Smartphone; seinen riesigen Travel-Rucksack hielt er fest umklammert. Sonderlich betrübt wirkte auf den ersten Blick niemand.

Der Flughafenbus blieb vor einer kleinen Maschine in der Außenposition stehen. Leo erstarrte. Mit diesem Ding sollte er fliegen! Das Flugzeug generell mochte das sicherste Fortbewegungsmittel sein, aber dieses Flugzeug? Das konnte doch unmöglich stabil in der Luft liegen und sich gegen die peitschenden Winde behaupten! Du bist Naturwissenschaftler, versuchte ihn eine Stimme in seinem Kopf zu erinnern. Doch auch wenn sein Gehirn die physikalischen Details hinter dem aerodynamischen Auftrieb kannte, schien sich sein immer schneller rasender Puls nicht dafür zu interessieren.

Beim Einsteigen stauten sich die Reisenden, und Leo ließ seinen Blick über die Zweierreihen des kleinen Flugzeugs gleiten. Wo war sein Platz? Würde er zumindest so viel Glück haben, dass der Sitz neben ihm frei blieb? Oder musste er jetzt drei Stunden eingepfercht mit seinen Ängsten und ohne jede Privatsphäre verbringen?

Endlich hatte er seine Reihe erspäht. Dort hinten! Der Gangplatz war seiner. Doch der Fensterplatz war leider nicht frei, sondern von einer jungen Frau belegt. Sie hatte sich zur Seite gedreht und die Kapuze ihres dunkelroten Hoodies ins Gesicht gezogen. Nur ein paar hellbraune, lockige Haarspitzen schauten daraus hervor.

Leo verstaute seine Sachen, ließ sich auf seinen Platz fallen und atmete tief durch. Gleich würde es losgehen, der Flieger würde abheben … Anschnallen wäre eine gute Idee. Dummerweise hatte sich die Schnalle seines Gurtes mit dem des Fensterplatzes verhakt. Leo versuchte, den Gurt zu befreien, und stieß dabei an das Bein des Mädchens, das sich erschrocken zu ihm wandte.

„Entschuldigung, der Gurt“, brachte er schnell hervor und sah dann, dass ihr Gesicht von Tränen feucht glänzte. Das Make-up um ihre braunen Augen war verschmiert, die Haare schlängelten sich strähnig um ihre Ohren mit den vielen kleinen schwarzen Ohrsteckern. Um Himmels willen, was war mit ihr los? Saß sie heulend da, weil sie ebenso wenig wie er mit diesem klapprigen Ding in die monatelange Dunkelheit fliegen wollte? Unsinn, er sollte diesen zynischen Gedanken verwerfen und sie in Ruhe lassen.

Doch zu spät – sie hatte bereits seinen Blick eingefangen. „Ich sollte wirklich aufhören zu heulen. Sorry, dass ich wie ein Wrack aussehe. Eigentlich bin ich nicht so. Ja, ich muss echt nach vorne schauen und nicht zurück“, sagte sie auf Englisch, während sie sich mit dem Hoodie-Ärmel über das Gesicht wischte. Jedenfalls glaubte Leo, dass sie das sagte und er glaubte, dass es Englisch war … Es klang ganz anders als die Sprache, die er aus der Schule und aus amerikanischen oder englischen Filmen kannte. Doch obwohl sie das „th“ als „t“ aussprach, schien sie Muttersprachlerin zu sein.

Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, auf dem sich nun ein tapferes Lächeln zeigte. „Ich wusste ja, dass der Abschied am Flughafen hart werden würde, aber nicht so hart … Was mögen die Leute auf dem Flug nach Oslo nur von mir gedacht haben, ich meine, ich hab geheult wie ein Schlosshund!“

„Du … äh, du musst dich nicht entschuldigen“, sagte Leo schnell.

In diesem Moment begann der Flugbegleiter direkt vor ihm, von Sauerstoffmasken und Schwimmwesten zu reden. Leos innere Anspannung wuchs und er spürte, wie sich sein Körper versteifte. Vermutlich konnte man ihm das ansehen, denn das Mädchen neben ihm fragte: „Fliegst du nicht gern?“

„Na ja, geht ja nicht anders. Und du?“

„Eigentlich flieg ich voll gerne. Solange ich nicht meinen Schatz am Flughafen zurücklassen muss.“ Sie grinste schief. „Dabei hab ich’s ja selbst so gewollt … Dieses Auslandssemester wird der Wahnsinn! Ich hab laut geschrien, als die E-Mail mit der Zusage kam und wir waren uns gleich einig, dass wir ein halbes Jahr Fernbeziehung hinkriegen werden. Ich meine, das ist eine einmalige Chance für mich. Die arktische Natur, die zum Leben erwacht, die Eisberge, die Polarlichter. Was für ein unglaubliches Glück, in dieser Umgebung studieren zu können!“

Ein Ruck ging durch das kleine Flugzeug, als es vom Boden abhob. Leo drückte sich zurück in seinen Sitz und klammerte sich an der Armlehne fest. Er war auf dem Weg in die Verbannung, in die kalte Einöde, neben einer tränenverschmierten Frau, die sich anscheinend nichts Schöneres vorstellen konnte. Aber vielleicht lag es ja an ihrer englischen Aussprache und er hatte es einfach falsch verstanden.

„Dann machst du auch ein Auslandssemester in Longyearbyen?“, fragte er.

„Du auch?“ Ein freudiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht. „Ebenfalls Biologie?“

„Äh, nee. Physik“, sagte er. „Eigentlich hab ich als Schwerpunkt Quantenphysik. Loop Quantum Gravity hab ich zuletzt gemacht. Zeit und Raum in einem Spin-Netzwerk mit ganz vielen Knoten.“ Er schluckte und fügte kaum hörbar hinzu: „Also, darauf wollte ich mich eigentlich vertiefen. Aber in der Arktis werde ich mich wohl eher mit den Messungen der Geo-Physik beschäftigen.“

Sie schien die letzte Bemerkung zu ignorieren. „Wow, ganz schön abgehoben“, sagte sie mit geweiteten Augen. „Da bleib ich lieber bei meinen arktischen Vögeln. Wusstest du, dass die Küstenseeschwalbe im Sommer auf Spitzbergen brütet und dann im Herbst einmal über den ganzen Erdball fliegt, um in der Antarktis zu überwintern?“

„Echt? Warum tut sie das?“

„Damit sie immer die Nahrung findet, die sie braucht. Und so hat sie es die ganze Zeit schön hell, sie kann einen Großteil des Jahres dort verbringen, wo gerade Mitternachtssonne herrscht und sie 24 Stunden am Tag jagen kann.“

„Aber dann ist sie doch ständig unterwegs! So etwas wäre nichts für mi–!“ Ein Rucken ging durch das Flugzeug und bei Leo bis ins Mark. Scheiße! Er hielt den Atem an und klammerte sich an seine Armlehnen. Da spürte er ihre Hand auf seinem Arm. „Hey, alles ist gut. Es wird bestimmt gleich wieder ruhiger.“

„Danke, ich …“, begann Leo und räusperte sich. Was wollte er eigentlich sagen?

„Wenn du eine Küstenseeschwalbe wärst, würde dir das Reisen jedenfalls nichts ausmachen“, sagte das Mädchen und lächelte ermutigend. „Dann könntest du dich beim Fliegen sogar entspannen. Eine Gehirnhälfte der Küstenseeschwalbe schläft nämlich, während nur die andere wach ist und navigiert. Echt praktisch!“

Aus ihrer Stimme klang die Begeisterung für ihr Studium. Das war fast so, wie wenn er an die Zeit-Raum-Dimensionen der Loop Quantum Gravity dachte. Und es war schön, mit ihr zu reden. Die Diskussion über die Küstenseeschwalbe lenkte nicht nur ihn von seiner Flugangst ab, auch seine Sitznachbarin schien den schmerzhaften Abschied hinter sich gelassen zu haben. Im Laufe des Gesprächs gewöhnte er sich auch an ihre Aussprache. Aber verdammt, was war das für ein Dialekt?

„Sag mal, wo kommst du eigentlich her?“ Seine Neugier hatte gesiegt.

„Rate mal. Ich geb dir einen Tipp, von hier aus gesehen ist es im Süden und im Westen.“ Sie grinste geheimnisvoll.

Die Gedanken rannten durch Leos Kopf. Auf dem Weg gen Nordpol war mehr oder weniger alles andere südlich, aber der Tipp mit dem Westen … Im Westen Europas war England und – „Irland?!“, fragte er vorsichtig.

„Volltreffer! Ich komme aus Cork. Oh, und ich heiße übrigens Caitlin.“ Aus ihrem Mund hörte sich ihr Name wie Koyt-leen an, so dass Leo einmal nachfragen muss.

„Ich bin Leo“, stellte er sich schließlich vor.

„Und du kommst aus Deutschland?“

„Ist das so offensichtlich?“ Er starrte sie an.

„Nein, nein, dein Englisch ist gut. Aber du hast vorhin auf Deutsch Scheiße gesagt, als das Flugzeug abgesackt ist.“

Nun mussten beide lachen. Mittlerweile war der Flug tatsächlich recht ruhig und am Fenster hinter Caitlin schimmerte der Himmel rot-golden, bevor er immer dunkler wurde.

„Unser letzter Sonnenuntergang! Jetzt werde ich doch wieder melancholisch“, meinte Caitlin und ihre Stimme klang für einen kurzen Moment belegt, bevor daraus erneut der Tatendrang sprach. „Andererseits wird es dann sicher umso schöner, wenn in ein paar Wochen die Sonne und das Leben zurückkehren. Und die Polarnacht hat ja auch etwas für sich. Hast du schon mal Polarlichter gesehen?“

Leo schüttelte den Kopf und überlegte. „Nein, aber das ist bestimmt toll. Überhaupt, die ganzen Sterne ohne Lichtverschmutzung wären mal was, Astrophysik live!“

„Also lass uns anstoßen! Auf die Dunkelheit und ein super Auslandssemester!“ Caitlin orderte eine Piccolo-Flasche beim Flugbegleiter und sie stießen ihre Pappbecher mit dem Sekt aneinander. „Prost!“ Leo spürte, wie er sich leichter fühlte. Egal, ob Caitlins positive Stimmung echt war oder ob sie damit den Abschiedsschmerz übertünchen wollte, ihre gute Laune hatte etwas Ansteckendes.

Dass sein Magen wieder grummelte, lag neben dem Flug wohl auch daran, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. „Was ist denn eine Polarrulle?”, fragte er Caitlin beim Blick in die Snack-Karte.

„Keine Ahnung, lass uns das ausprobieren. Ich nehme eine in vegetarisch!“, erklärte sie. So aßen sie wenig später in Sauerteig eingerollte Wraps, Leo mit Käse-Schinken-Füllung und Caitlin mit Gemüsefüllung.

Sie hatte ihre Polarrulle vorher noch fotografiert. „Ich bin ja gespannt, was wir auf Spitzbergen so zu essen bekommen. Aber sobald ich im Wohnheim bin, werde ich erstmal facetimen und alles von der Reise erzählen. Sag mal, hast du zu Hause auch jemanden, der die Tage runterzählt, bis du zurück bist?“

„Äh, nein. Ich äh … Wir haben uns vor ein paar Wochen getrennt.“ Weil ich langweilig bin, fügte er in Gedanken hinzu. Nicht, dass er Nadine in diesem Moment vermisste. Doch es hatte nun einmal verdammt wehgetan, wie sie ihm die Wahrheit ins Gesicht gesagt hatte!

„Oh, das … das tut mir leid für dich!“ Caitlin wirkte ehrlich bestürzt.

„Nein, ich … Es war besser so. Sie und ich, wir passten doch nicht zusammen. Ich bin eigentlich ganz froh.“

„Hmmm … Dann ist dir wenigstens die Heulerei am Flughafen erspart geblieben. Und du wirst bestimmt irgendwann jemand Neuen kennenlernen. Jemanden, der wirklich zu dir passt. Ich hätte vorher auch nicht gedacht, dass ich mich einmal so heftig verlieben würde! Es fühlt sich an wie eine Seelenverwandtschaft, so als ob wir füreinander gemacht wären.“

Leo betrachtete sie mit einer Mischung aus Skepsis und Neid. Bei ihm und Nadine hätte man niemals von einer Seelenverwandtschaft sprechen können. Das klang aber auch alles sehr romantisiert, fast schon kitschig. Doch wenn Caitlin so glücklich war, warum nicht? So starke Gefühle zu erleben, musste großartig sein.

„Wie lange bist du denn schon mit ihm zusammen?“, fragte er.

„Mit wem?“ Sie sah ihn mit verengten Augen an.

„Äh, mit deinem Freund?“ Nun war Leo völlig verwirrt.

„Kein Er, sondern eine Sie.“ Sie grinste.

Leo zuckte zusammen und fühlte einen Schlag, als hätte er eine heiße Herdplatte angefasst. Wie peinlich! Wie war das passiert? Sein Gehirn spielte das bisherige Gespräch noch einmal ab, doch Caitlin hatte keinerlei Geschlechtspronomen für die Person verwendet, mit der sie zusammen war. Hatte er einfach angenommen, dass diese ein Mann sei, weil es statistisch wahrscheinlicher war? Oder weil es den Normalfall in der heteronormativen Gesellschaft darstellte? Dabei sollte doch gerade er wissen, dass –

„Hey, kein Ding!“ Er musste wohl peinlich berührt ausgesehen haben, denn Caitlin unterbrach sein Gedankenkarussell verständnisvoll. „Konntest du ja nicht wissen, ich hab wohl ihren Namen noch nicht erwähnt. Lucy. Und ja, um deine Frage zu beantworten, wir sind seit fast zwei Jahren zusammen.“

Leo konnte den Stolz in ihrer Stimme hören und spürte, wie sich sein empfundener Neid noch verstärkte. „Das freut mich für euch“, beeilte er sich zu sagen. „Und wenn ihr euch das vornehmt, klappt es sicher auch mit der Fernbeziehung für die paar Monate.“

In diesem Moment kündigte der Pilot die baldige Landung an. Leo spürte das Absinken des Flugzeuges und zuckte zusammen, registrierte aber sogleich Caitlins Hand auf seiner. Wenn sie damit doch bloß etwas von ihrem Selbstbewusstsein auf ihn übertragen könnte!

Kapitel 4: „Der Wegweiser“

Sonntag, 19. Januar 2025

 

Kontakt zum Boden! Sicherheit! Die Landung war holprig gewesen, doch nun rollte das Flugzeug aus, und auch Leos Puls begann, sich wieder etwas zu verlangsamen. Sie hatten es geschafft, sie hatten Spitzbergen erreicht!

Vorbei an Caitlin versuchte er einen Blick aus dem Fenster zu erhaschen. Inmitten der Dunkelheit sah er die Lichter des Rollfeldes und eine flache Halle mit der leuchtenden Aufschrift „Svalbard Lufthavn Longyearbyen“. Entlang des Rollfeldes türmte sich Schnee, der mattweiß schimmerte.

„Krass, diese Dunkelheit!“, meinte Caitlin mit einem Blick auf ihre Smartwatch. „Man könnte denken, wir hätten mitten in der Nacht, dabei ist es gerade mal Nachmittag.“ Sie begann, ihre Daunenjacke hervorzukramen und setzte sich über die Kapuze ihres Hoodies noch eine Mütze, die ihr tief in die Stirn ging.

Mist, seine Wollmütze hatte Leo in den Koffer gepackt. Er zog den Reißverschluss seiner Winterjacke bis zum Anschlag nach oben und schulterte seinen Rucksack. Es würde bestimmt guttun, endlich das Flugzeug zu verlassen und frische Luft zu atmen. Doch kaum hatte er nach seinem Vordermann einen Schritt auf die Treppe getan, prallte ihm die arktische Luft mit voller Wucht entgegen. Ja, die Luft war frisch, aber wie! Die Kälte schnürte ihm gefühlt die Kehle zu, auch wenn er sich bemühte, ruhig zu atmen und die Treppe langsam hinunterzuschreiten.

Doch auch der Mann vor ihm, der Typ vom Gate mit der Brille und dem riesigen Travel-Rucksack, hielt kurz inne, so dass Leo aufpassen musste, nicht in ihn hineinzulaufen. „S-sorry, m-mein Kreislauf … Es geht gleich wieder“, meinte er stotternd in einem hart klingenden Englisch, das auf eine süddeutsche Herkunft hindeutete. „Kein Problem“, antwortete Leo rasch.

„Wie kalt ist es?“ Caitlins abgehackte Stimme durchdrang hinter Leo den pfeifenden Wind. „Der Pilot erzählte was von -18 Grad, aber mit Windchill sicher noch mal um einiges tiefer.“

„Gefühlt der absolute Nullpunkt“, sprach Leo seine Gedanken aus und merkte, wie er trotz allem schmunzeln musste. Schließlich wusste er selbst, dass sie vom theoretisch erreichbaren Nullpunkt von -273,15 Grad Celsius aus der Thermodynamik-Vorlesung weit entfernt waren, aber wenn es sich doch gerade so anfühlte?

Wahrscheinlich war es Gewöhnungssache, und wie Leo am Ende der Treppe aus dem Flugzeug feststellte, würden sie noch einige Minuten draußenbleiben. Für den Weg zum Flughafengebäude in der Ferne gab es nämlich weder eine Gangway noch einen Bus, sondern sie gingen zu Fuß.

„Wenn ich Lucy erzähle, dass ich hier einfach über die Landebahn spaziere, glaubt sie mir das nie!“, meinte Caitlin grinsend, und Leo empfand wieder diese Mischung aus Berührtheit und ein bisschen Neid darüber, wie selbstverständlich stolz und glücklich sie von ihrer Freundin sprach.

„Du-du solltest vielleicht dazusagen, dass es hier am Flughafen nur ein Flugzeug gibt, n-nämlich unseres“, sagte der Mann vor ihnen mit einem leichten Stottern. „I-ich b-bin übrigens Hannes aus Österreich. Seid ihr auch zum Studieren hier?“ Wahrscheinlich lag es an der Kälte oder er war etwas nervös, was Leo gut nachvollziehen konnte. Die ganze Situation inmitten fremder Menschen bei eisigen Temperaturen hatte etwas Überwältigendes. Dennoch stellte Leo überrascht fest, dass er selbst erstaunlich entspannt war und hauptsächlich positive Aufregung empfand. War es der Neubeginn, die Entfernung zu Köln und zu Nadine, der Kontakt zu Menschen, die noch nichts über ihn und seine ganzen Fehler und Schwächen wussten?

Leo und Caitlin stellten sich Hannes vor. Auf dem Weg über das Rollfeld erfuhren sie, dass er Klimaforschung studierte und die Folgen des Klimawandels in der Arktis erforschen wollte. Beim Warten am Gepäckband der angenehm warmen kleinen Flughafenhalle klinkten sich noch weitere junge Leute in die Konversation ein. Leo versuchte, sich die Namen und Fächer der Studierenden aus Norwegen, Finnland und Frankreich zu merken; bei der Aussprache des Chinesen scheiterte er jedoch.

„Wow, das ist ja echt ein Treffen der ganzen Welt hier am Ende der Welt!“, stellte Caitlin mit großen Augen fest und fasste damit auch Leos Gedanken zusammen, während sie ihre Koffer und Reisetaschen aus dem Flughafengebäude hinausschleppten.

„Apropos Ende der Welt!“ Leo musste lächeln. Sie fanden sich vor einem beleuchteten Wegweiser wieder, der sowohl die aktuellen Koordinaten 78°15 N, 15°30 E anzeigte als auch die Entfernungen zu ausgewählten Metropolen und Punkten der Welt. „1309 km bis zum Nordpol oder genau entgegengesetzt 18692 km bis zum Südpol!“

Er betrachtete die ausgewiesenen Städte: 3043 km bis London, 5581 km bis New York. Noch weiter in diese Richtung und er wäre in Los Angeles am Caltech … Kurz spürte er wieder einen inneren Stich. Die verpasste Chance ließ sich nicht ganz abschütteln und die beißende Kälte peitschte ihm um die Ohren. Dennoch war er nicht unglücklich. Diese verrückte Umgebung, in der er sich befand, übte eine Faszination aus, der er sich nicht entziehen konnte. Vielleicht lag es einfach an den physikalischen Gesetzen? So toll das Caltech auch sein mochte, so befand es sich doch in weiter Entfernung. Der Nordpol, nur gut 1000 km entfernt, hatte eine viel größere Anziehungskraft. War das möglich, ergab das Sinn?

„Leo, komm, da vorne ist der Bus, der nach Longyearbyen reinfährt!“ Caitlin riss ihn aus seinen Gedanken. „Er setzt uns am Wohnheim ab, ich hab nachgefragt.“

Während der Fahrt durch die Dunkelheit versuchte Leo, die Landschaft schemenhaft zu erkennen. Links neben der notdürftig vom Schnee geräumten Straße erstreckte sich die schwarze Wasseroberfläche des Isfjords, von dem er wusste, dass dieser vor einigen Jahren im Winter noch zugefroren war. Reichten die schneebedeckten Berge rechts wirklich so hoch? Longyearbyen lag in einem Talkessel, aber er hatte sich die Geografie nicht so gewaltig vorgestellt. Nach wenigen Minuten Fahrt sahen sie immer mehr erleuchtete Holzhäuser, eins neben dem anderen, Ein- und Mehrfamilienhäuser, deren verschiedene Farben man im matten Licht der Straßenlaternen erahnen konnte. Alle standen leicht erhöht auf Pfählen; davon hatte Leo bereits gelesen. Schließlich durfte der gefrorene Boden nicht durch die Wärmeabstrahlung des Hauses schmelzen und dann absacken. Einen Ort auf Permafrostboden zu bauen, war eine Herausforderung.

Und was man alles in dieser unwirtlichen Gegend gebaut hatte, fand Leo sehr beeindruckend: War dieses große, langgestreckte, etwas futuristisch wirkende Gebäude dort hinten wirklich die Uni? Der Bus bog ab und hielt vor dem Radisson Blu Polar Hotel, wo drei Touristen ausstiegen, bevor der Busfahrer als nächsten Halt das Studierendenwohnheim ankündigte.

Leos Aufregung erreichte einen erneuten Höhepunkt. Hier würde also sein Zuhause für das nächste halbe Jahr sein! Er betrachtete die drei fünfstöckigen aneinandergereihten Holzgebäude und folgte den anderen Neuankömmlingen zur gläsernen Eingangstür des Haupthauses.

Von innen öffnete sogleich ein stämmiger Mann mit Bart und braunen Dreadlocks. „Hallo! Ihr seid der Flieger aus Oslo? Kommt rein. Ich bin Jean-Luc und ich arbeite die Woche über im Outdoor-Laden.“ Seine englische Aussprache ließ keinen Zweifel daran, dass seine Muttersprache Französisch war, doch Leo konnte ihn ganz gut verstehen.

„Erste Regel, wenn man auf Spitzbergen ein Haus betritt: Sofort Schuhe ausziehen!“ Er wies zur Wand im Eingangsbereich, an der sich Fächer voller matschiger Schneestiefel vom Boden bis unter die Decke erstreckten. „Zweite Regel: Gewehre im Waffenschrank einschließen. Aber vermutlich hat keiner von euch eins im Handgepäck mitgebracht.“ Er lachte kurz über seinen eigenen Witz, der vielleicht doch keiner war, denn er fuhr sogleich fort: „Ihr habt euer Schießtraining ja erst in der Einführungswoche. Das ist aber dann nicht mehr meine Sache, ich jobbe hier nur sonntags. Ab morgen ist euer Guide für euch zuständig und ihr könnt ihn oder sie mit allen Fragen löchern.“

Leo versuchte, Caitlins Blick einzufangen, während er sich mühsam aus seinen Schneestiefeln schälte. Tatsächlich wirkte auch sie ein bisschen eingeschüchtert, Hannes neben ihr stand sogar wie festgefroren. Das mochte aber auch damit zu tun haben, dass seine Brille bei der Ankunft im warmen Eingangsbereich so beschlagen war, dass er bestimmt kaum etwas sehen konnte.

„Wer seine Schuhe ausgezogen hat, kann sich bei mir die Schlüsselkarte fürs Zimmer und die Log-In-Daten fürs Uni-Intranet abholen. Dort findet ihr auch die Hausordnung. Nehmt euch am besten eine Warnweste aus der Box da hinten mit, wenn ihr heute noch durch den Ort lauft. Ist keine Pflicht, aber empfehlenswert, wenn man nicht vom Schneemobil überfahren werden will. Morgen früh um neun trefft ihr euch dann in der Uni und lernt euren Guide kennen, der die Einführungswoche macht und euch das ganze Semester begleiten wird. Immer ein Guide für jeweils fünf Leute. Ihr seid in festen Gruppen, so wie ihr auch in den Wohneinheiten leben werdet. Alles klar?“

Warnwesten, Schießtraining, mögliche Unfälle mit Schneemobilen? Ja, das war die unwirtliche Arktis, doch strotzte das Leben hier wirklich so sehr von Gefahren oder war es nur Jean-Lucs Art, derart lapidar über diese Dinge zu reden? Wie gut, dass es diese Einführungswoche geben würde. Leo nahm sich eine Warnweste und reihte sich hinter Caitlin an der Rezeption ein, wo Jean-Luc gerade ihre Schlüsselkarte heraussuchte. „Wohneinheit 1, Zimmer 3. Die Treppe hoch links im ersten Stock.“

Dann war er dran: „Leo Rödler“. Er stellte sich schon darauf ein, seinen Namen buchstabieren zu müssen, aber Jean-Luc hatte ihn erstaunlich schnell gefunden. „Leo, du bist in der gleichen Wohneinheit, Zimmer 4.“ Augenblicklich durchströmte ihn eine Welle der Freude und Erleichterung. Mit Caitlin zusammen in einer Gruppe würde er die nächsten Monate irgendwie meistern! Er folgte ihr mit Gepäck und Schlüsselkarte, während er noch im Hintergrund hörte, wie Hannes in Wohneinheit 2 eingeteilt wurde.

Auf der Website der Uni hatte er sich bereits Bilder der Wohnheim-Zimmer angesehen; trotzdem spürte er eine große Aufregung, als er mit Caitlin den Gang zu Wohneinheit 1 betrat. Vielleicht waren ja die anderen drei Leute schon da, mit denen er in den nächsten Monaten viel gemeinsame Zeit verbringen würde. Hoffentlich würde er gut mit ihnen klarkommen!

Auf dem Gang war kein Laut zu hören. Daher wollte Leo erstmal sein Gepäck aufs Zimmer bringen. Zimmer 4, direkt neben Caitlins. Mit der Schlüsselkarte öffnete er die Tür und sogleich stieg Freude in ihm auf. Ja, es war winzig und spartanisch eingerichtet mit einem schmalen Bett, neben dem Fenster, einem Tisch mit Stuhl, einem Schrank und einem Bad mit Dusche hinter einer abzweigenden Tür. Doch das war sein eigenes Reich! Noch angezogen ließ er sich glücklich auf das Bett fallen. Kein Himmelbett, aber ein Luxus im Vergleich zum durchgesessenen Sofa seiner Mutter, auf dem er die letzten Wochen geschlafen hatte. Seine Mutter, Oliver und die Zwillinge – ja, er sollte ihnen mal eine Nachricht schicken.

Vor dem Fenster zeigten sich im fahlen Licht der Straßenbeleuchtung weitere Holzhäuser Longyearbyens und dahinter ließen sich die hohen unberührten Berge voller Schnee erahnen.

---ENDE DER LESEPROBE---