Kreatives und therapeutisches Schreiben - Silke Heimes - E-Book

Kreatives und therapeutisches Schreiben E-Book

Silke Heimes

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Beschreibung

Writing is at once an expedition into one´s own soul, a careful approach to one´s inner world and one´s environment; it also helps in the development of personality, allowing relevant conflicts in life to be approached and worked through. Creative and therapeutic writing is an intensive way to observe and experience things, to change one´s usual way of seeing things, to expand one´s horizon. This volume introduces techniques such as imagination and dreams for just this purpose. Everyone can write; no literary or linguistic skills are prerequisite to beginning. Rather, everyone has his or her own way of expressing things. This workbook contains a number of writ-ing exercises and tutorials for use by poetry therapists, psychotherapists and writing instructors. It also supports attempts at poetic self-analysis.

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Silke Heimes

Kreatives undtherapeutisches Schreiben

Ein Arbeitsbuch

5., ergänzte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-647-99732-2

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

© 2015, 2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: Punkt für Punkt GmbH · Mediendesign, 40549 Düsseldorf

»Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,im nächsten Leben würde ich versuchen,mehr Fehler zu machen.Ich würde nicht so perfekt sein wollen,ich würde mich mehr entspannen.Ich wäre ein bisschen verrückter als ich gewesen bin,ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.Ich würde nicht so gesund leben,ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen,Sonnenuntergänge betrachten, mehr Bergsteigen,mehr in Flüssen schwimmen.Ich war einer dieser klugen Menschen,die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten.Freilich hatte ich auch Momente der Freude.Aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,würde ich versuchen nur mehr gute Augenblicke zu haben.Falls Du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich dasLeben, nur aus Augenblicken.Vergiss nicht den jetzigen.Wenn ich noch einmal leben könnte,würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätsommerbarfuss gehen.Und ich würde mehr mit Kindern spielen,wenn ich das Leben vor mir hätte.Aber sehen Sie …Ich bin 85 Jahre alt und weiß,dass ich bald sterben werde.«(Jorge Luis Borges)

Inhalt

Vorwort

Geschichte der Poesietherapie

Definition und Anwendung der Poesietherapie

Definition der Poesietherapie

Phasen des Schreibprozesses

Anwendung der Poesietherapie

Durchführung der Poesietherapie

Wirkungen der Poesietherapie

Schrift, Sprache, Stimme

Träume

Polare Traumbereiche

Luzides Träumen

Wahrnehmung, Sinn und Sinnlichkeit

Grundannahmen und Mythen

Kreativität und Spiel

Der schöpferische Mensch

Achtsamkeitsübungen

Einleitung

Übungsteil

Imaginationsübungen

Einleitung

Übungsteil

Schreibübungen

Einleitung

Übungsteil

Mal- und Schreibübungen

Einleitung

Übungsteil

Literatur

Vorwort

»Jeder Mensch verkörpert eine Silbe, ein einmaliges, unverwechselbares Gewächs aus Konsonanten und Vokalen, eine lebende Silbe, unterwegs zum Wort, zum Text.« (Peter Sloterdijk)

Dieses Buch ist ein Arbeitsbuch und basiert auf meinen praktischen Erfahrungen als Leiterin kreativer Schreibgruppen, Poesietherapeutin und Ärztin. Es dient als Handbuch für Leiter kreativer und therapeutischer Schreibgruppen, Poesietherapeuten, Psychotherapeuten und Heilpädagogen, überdies kann es in der Erwachsenenbildung, in der Sterbebegleitung und in Pflegeheimen eingesetzt werden, die poetische Selbstanalyse unterstützen und die kreative Kraft eines jeden Menschen fördern.

Der Fokus des Buches liegt auf praktischen Übungen, naturgemäß überwiegen Schreibübungen, aber ebenso viel Wert wurde auf Achtsamkeits- und Imaginationsübungen gelegt, die sich in der Praxis bewährt haben, da sie über eine verbesserte Wahrnehmung die Selbsterkenntnis, Reflexionsfähigkeit und achtsame Annäherung an sich und an die Welt fördern.

Es hat sich gezeigt, dass der Schreibende die Fähigkeit, sich seiner selbst und der Welt auf kreative Weise zu nähern, sich auszudrücken und zu präzisieren, nicht mit Beendigung des Seminars oder der Therapie verliert, sondern internalisiert, was ihm erlaubt, mit der begonnenen Arbeit selbstständig fortzufahren, wodurch die Poesie- oder Schreibtherapie nicht nur eine Hilfe für den Dialog zwischen Therapeut und Patient bietet, sondern gleichfalls eine Hilfe zur Selbsthilfe darstellt. Ebenso hat sich erwiesen, dass die kreative Kraft, die durch das Schreiben in Gang gesetzt wird, auch für andere Bereiche genutzt werden kann.

Geschichte der Poesietherapie

»Jedermann, der ehrlich, einigermaßen normal und ein guter Träumer ist, kann eine Selbstanalyse durchführen.« (Sigmund Freud)

Schreiben ist eine uralte Form der Kommunikation und reicht bis 500 v. Chr. zurück (zu dieser Zeit entstand am Portal des Tempel des Apollon die Inschrift Erkenne dich selbst). Die ersten archaischen Dichter waren die Götter, Zeus war der Vater der Musen, Mnemosyne die Mutter. Apollon, Vater des Asklepios, war nicht nur der Gott der Heilkunst, sondern zugleich der Gott der Dichtkunst, versehen mit dem Attribut der Schönheit, die damals mit dem Zustand der Gesundheit gleichgesetzt wurde. Von den Göttern übernahmen die Heroen die Kunst des Dichtens, aber auch sie brauchten göttlichen Beistand. Sowohl die Sprache als auch die Schrift haben eine lange Tradition in der Heilkunst; es gibt magische Formeln, Wahrsagungen, Trostsprüche, Psalmen, Loblieder und die Besprechung von Wunden. Die mythologische Poetik zeigt Dichten als ekstatische Heilkunst und magische Kraft.

Plato entwickelte eine philosophische Poetik, in der er den Dichter als dem Enthusiasmus verfallen bezeichnete. Aristoteles, ein Verfechter der normativen Poetik, beschrieb die Dichtkunst als eine Sache des Talents; seine Lehre fußte auf der durch das Drama bewirkten Katharsis, der befreienden und heilenden Wirkung durch das gesprochene Wort, wobei sich die Katharsis in seiner Vorstellung mehr auf den Rezipient als auf den Dichter bezog. Bis heute stellt sich die Frage, ob Dichten eher emotionale Ekstase oder rationales Kalkül zum Zweck der Katharsis ist. Horaz sprach sich für einen kalkulierenden Sprachinszenator aus und postulierte, dass das Wissen vom Menschen die Bedingung für vorbildhafte Dichtung und somit wichtiger als Enthusiasmus und Ekstase sei. Diese Frage beschäftigte in der Folge zahlreiche namhafte Denker und Dichter, unter ihnen Nietzsche, der in seiner Geburt der Tragödie dionysische und apollinische Dichtkunst nebeneinander stellte.

Philosophen widmeten sich dem Thema der Selbstanalyse, zu Beginn der Neuzeit vornehmlich Descartes, Kant, Hegel und Jaspers. Mit der Renaissance entfaltete sich neben der philosophischen Selbstreflexion das Genre des literarischen Tagebuchs, das neben einer Ereignischronik zunehmend zur Analyse von Tagesnöten und Träumen genutzt wurde. Die moderne Autobiographie lässt große Ähnlichkeiten mit den autobiographischen Schriften des heiligen Augustinus (»Bekenntnisse«) erkennen, die den Charakter der Beichte und Reflexion hatten. Die Gestaltung und Durcharbeitung belastenden Materials diente als Mittel der Erleichterung und Befreiung, als Möglichkeit, Geschehnisse aus größerer Distanz zu betrachten und zu einer neuen Sicht zu gelangen.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts griff der russische Arzt und Psychologe Wladimir Iljine den therapeutischen Aspekt der Sprache im Drama auf. Er initiierte ein therapeutisches Theater und schrieb für seine Patienten Rahmenstücke, die auf ihrer Biographie basierten. Als Fortsetzung ermunterte er die Patienten, eigene Stücke zu schreiben, um auf diese Weise intensive Gefühle zum Ausdruck zu bringen und Hemmungen abzubauen. Vermutlich erhielt er dafür Impulse von dem Psychologen Sándor Ferenczi, bei dem er selbst eine Psychoanalyse machte, und von Georg Groddeck, mit dem Ferenczi eine enge Freundschaft verband. Groddeck stellte fest, dass im Sprechen die Fälschung der Wahrheit verborgen sei, dass es zugleich aber Worte der Wahrheit und des Lebens gebe, die zur Befreiung und zur Heilung führen könnten.

Auf die befreiende und heilende Wirkung des Wortes baute auch Jakob L. Moreno, der in den 1930er Jahren den Begriff des Psychodramas prägte. Daneben bediente er sich eines Verfahrens, das er Psychopoetry nannte und das sich vor allem dadurch auszeichnete, aus dem Stegreif Verse zu bilden. Großen Wert legte er darauf, dass die gebildeten Verse keinen Sinn ergeben müssten und sprach von Nonsense-Poetry. Eine solche unsinnige Versbildung stehe dem Erleben näher als geformte Verse, so Moreno, da durch sie Gefühlskomplexe besser zum Ausdruck gebracht werden könnten als mit geformter Sprache. Noch heute hat das Psychodrama einen festen Platz innerhalb der Ausdruckstherapien und wird in zahlreichen Kliniken als Therapieform angeboten.

Das Werk Sigmund Freuds kann als Wendepunkt in der Geschichte des kreativen und therapeutischen Schreibens verstanden werden. Diente das Schreiben vor Freud in erster Linie zur Darstellung von Gefühlen und Erfahrungen, zielte es mit und nach Freud vor allem auf Selbsterkenntnis. Freud war ein Verfechter der Selbstanalyse, der freien Assoziation und Traumdeutung, die sich seiner Ansicht nach sowohl mit einem Gegenüber in mündlicher Form als auch alleine in schriftlicher Form durchführen lasse. Durch das Schreiben gelange der Dichter aus einer unbefriedigenden Welt in eine Welt der Phantasie und finde, durch kreative Textgestaltung, in die Realität zurück. Ähnlich wie in der Psychoanalyse komme es beim Schreiben zunächst zu einer Regression, bei der sich der Schreibende auf verborgene, innere Triebkräfte einlasse, was in der Folge zu einer graduellen Auflösung festgefügter innerer Strukturen führe und in einem Folgeschritt, der Progression, die sich durch sprachliche Überarbeitung und Formung begleiten und forcieren lasse, zu einer Integration der freigewordenen Kräfte in die Gesamtpersönlichkeit. Freud selbst führte systematisch Traumtagebuch. In Analogie dazu erklärte der Psychoanalytiker C. G. Jung, Zeitgenosse Freuds, dass der Dichter im Akt des Schreibens das Persönliche überwinde, und das Eintauchen in ein kollektives Unbewusstes ihm ermögliche, Archetypen zu gestalten. Der wohl bekannteste Fall einer Schreibtherapie im 19. Jahrhundert war Bertha Pappenheim, bekannt als Patientin Anna O., die bei Freuds Kollegen Josef Breuer in Behandlung war und die nach einer so genannten Talking cure eine poetische Selbstanalyse durchführte. Als Meister der poetischen Selbstanalyse erwies sich August Strindberg, der seine Gefühle mittels freier Assoziation und Imagination erforschte. Rainer M. Rilke bekannte in einem Brief, dass seine Schreibarbeit letztlich nichts anderes sei als Selbstanalyse, und Franz Kafka schrieb, dass sein Schreiben besser als jede Psychotherapie an den Ursachen seiner Neurosen rühre. Sowohl Rilke als auch Kafka lehnten, aus Sorge, ihre Schreibenergie zu verlieren, eine klassische Psychoanalyse ab.

Parallel zu der von Freud ins Schreiben transportierten Methode des freien Assoziierens, die noch heute eine wichtige Technik in der Poesietherapie darstellt, eröffneten die in dieser Zeit aufkeimenden Methoden des Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus neue experimentelle und therapeutische Schreibmöglichkeiten. Das automatische Schreiben weist enge Verwandtschaft zum freien Assoziieren auf und basiert darauf, dass der Schreibende sich in einen möglichst passiven Zustand versetzt und unter Ausschaltung des inneren Zensors schreibt. Diese Art zu Schreiben wurde von den Surrealisten praktiziert, allen voran André Breton, der das surrealistische Manifest verfasste.

1903 erregte Daniel Paul Schreber großes Aufsehen mit dem automatischen Schreiben. Vierzehn Jahre lang war er Patient in einem Irrenhaus und konnte, nach Erscheinen seines Buches »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«, das er automatisch schreibend verfasste, für vier Jahre die Anstalt verlassen. Damit lieferte er ein eindrückliches Beispiel für die heilsame Kraft des Schreibens, die ihn seinen Wahn, bis auf das tägliche Anziehen von Frauenkleidern, vorübergehend überwinden ließ. Das automatische Schreiben der Surrealisten, die mythologische Imagination der Expressionisten und die Sprachexperimente der Dadaisten finden noch heute im kreativen und therapeutischen Schreiben Anwendung; zudem bedient es sich der Technik des analogen Gestaltens, bei dem zunächst der Text eines Dichters rezipiert und in der Folge imitiert wird. Das Schreiben eines formal ähnlichen Textes kann den Einstieg in den eigenen Text erleichtern. Das Spiel mit Worten und Rhythmen trägt zur Erweiterung der Sprachfähigkeit, Sprachinspiration und Ausdruckskompetenz bei.

In Europa verdankt die Poesietherapie ihren Aufschwung in erster Linie E. Pickworth Farrow, Klaus Thomas und Hilarion Petzold. Farrow, der in England geborene Biologe, litt selbst an einer durch den Ersten Weltkrieg verursachten Depression. Durch Jungs Assoziationsexperimente auf die Psychoanalyse aufmerksam geworden, begann er zunächst mit einer klassischen mündlichen Psychoanalyse, um sie als poetische Selbstanalyse fortzuführen. Aus seinen Berichten geht hervor, dass er sich mit Hilfe der freien Assoziation bis in seine früheste Kindheit arbeitete und auf die Ursachen seiner depressiven Neurose stieß. Thomas, der in Deutschland geborene Pfarrer, Arzt und Psychotherapeut, entwickelte aus seiner therapeutischen Arbeit mit akut suizidalen Patienten eine schriftliche Selbstanalyse für die Patienten, die er mit monatlichen Besprechungen begleitete. Für ihn standen Selbstanalyse und Selbsthypnose in engem Zusammenhang, seine therapeutische Arbeit stützte sich auf Techniken der amerikanischen Poesietherapeutin Karen Horney und des Hypnotherapeuten Coulten. Ebenfalls unter Berücksichtigung der amerikanischen Poesietherapie entwickelte Petzold am Fritz-Perls-Institut (FPI) der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit (EAG) ein Konzept für Poesie- und Bibliotherapeuten mit festgelegtem Ausbildungscurriculum, wodurch die Schreibtherapie in Deutschland ihre Professionalisierung und berufliche Institutionalisierung erlangte. Mit seinen Bemühungen unterstützte er die Bestrebungen, die Poesietherapie in Deutschland aus der Nischenexistenz in die psychosomatischen und psychiatrischen Kliniken zu holen. Ein weiterer Wegbereiter der Poesietherapie in Deutschland ist Lutz von Werder, unter dessen Leitung seit 1982 an der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Berlin das Projekt »Kreatives Schreiben an der FHSS Berlin« läuft, in dem zahlreiche Schreibgruppen sowie Schreibgruppensupervisionen durchgeführt werden. In der Folge erfuhr das kreative Schreiben sowohl an Universitäten als auch im außeruniversitären Bereich, wie beispielsweise an den Volkshochschulen, eine gewisse Breite. Unter den ersten deutschen Universitäten, die Schreibprojekte anboten, befanden sich Bonn, Bremen, Hannover und Hamburg. 1985 fand in Deutschland der erste Poesietherapiekongress statt.

In Amerika hat die Poesietherapie neben anderen expressiven Therapien wie Tanz-, Musik-, Gestalt- und Dramatherapie schon lange einen anerkannten Platz, es existiert ein eigener Berufsverband für Poesietherapeuten, und es finden jährlich zahlreiche Kongresse zur Poesietherapie statt. Wegbereiter der Poesietherapie waren in Amerika unter anderem Arthur Lerner, Jack J. Leedy und Gabriele L. Rico. Lerner wurde 1971 an einem neuropsychiatrischen Zentrum in Kalifornien als Poesietherapeut angestellt, wo er in seiner Arbeit mit psychisch Kranken zunächst die Bibliotherapie (Therapie mittels Lektüre) entwickelte und in der Folge zum therapeutischen Heilen durch Dichten und Schreiben kam. Während Lerner für die Poesietherapie das Gruppensetting bevorzugte, führte Leedy sie vorwiegend in Einzelsitzungen durch, wobei er mit seinen Patienten einen poesietherapeutischen Dialog entwickelte, in dem er sowohl eigene als auch fremde Poesie rezitieren ließ und die dabei freiwerdenden Emotionen für den therapeutischen Dialog nutzte. Zudem verfasste er selbst Poesie, die er den Patienten in den Sitzungen vortrug, um in der Folge mit ihnen über das Gelesene in Beziehung zu treten. Rico entwickelte die von ihr als natürliche Schreibtherapie bezeichnete Methode, deren Grundlage die Erkenntnis bildete, dass das Großhirn aus zwei unabhängig voneinander arbeitenden Hälften besteht, die durch einen Nervenstrang miteinander verbunden sind. Rico strebte eine Verbindung beider Hirnhälften an, um das Bewusstsein mit dem Unbewussten in Kontakt zu bringen. Als Verbindungsglied zwischen der linken, für das lineare logische Denken verantwortlichen und der rechten, für den Ausdruck von Gedanken und Gefühlen in komplexen Bildern zuständigen Gehirnhälfte, nutzte sie die freie Assoziation. Indem sie sich auf die Erkenntnisse der Neurochirurgie stützte, versuchte sie, den Vorwürfen der mangelnden Wissenschaftlichkeit, denen die Poesietherapie in Amerika zu dieser Zeit ausgesetzt war, entgegenzuwirken.

Definition und Anwendung der Poesietherapie

»Wer verrückt genug war, zur Welt zu kommen, sollte irgendwann begreifen, dass er reif ist für die Entbindung durch Poesie.« (Peter Sloterdijk)

Definition der Poesietherapie

Unter Poesietherapie kann jedes therapeutische oder selbstanalytische Verfahren verstanden werden, das durch Schreiben den subjektiven Zustand eines Individuums zu bessern versucht. Der Ausdruck Poesietherapie ist dem amerikanischen Begriff poetry therapy entlehnt, der von Leedy und Lerner geprägt wurde. Die Poesietherapie ist keiner klassischen Psychotherapieschule verpflichtet, sondern zählt wie die Musik-, Mal- und Gestalttherapien zu den expressiven und kreativen Therapien, die über Förderung der schöpferischen Potentiale, der Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit und der Einsicht in relevante lebensgeschichtliche Konflikte zur Heilung und Persönlichkeitsentwicklung beitragen. Sie nimmt unter den kreativen Therapien eine besondere Stellung ein, weil sie mittels der Sprache auf eines der ältesten therapeutischen Medien zurückgreift. Schreiben hat, durch den Aspekt der Selbsterforschung und Selbsterkenntnis, gleich wie es benannt wird, immer auch therapeutischen beziehungsweise selbsttherapeutischen Charakter und birgt, sowohl im Prozess, den es auslöst, als auch als Vorgang selbst, eine gewisse Nachhaltigkeit. Obwohl sich die Psychotherapie als sprechende Therapie versteht, ist die Beschäftigung mit der Heilkraft der Schrift im deutschsprachigen Raum noch in den Randbereichen zu suchen.

Neben dem Begriff der Poesietherapie finden sich in der Literatur vor allem die Begriffe Schreibtherapie, kreatives Schreiben, literarisches Schreiben, therapeutisches Schreiben und (auto-)biographisches Schreiben. Es gibt keine klaren Abgrenzungen, der kleinste gemeinsame Nenner ist das Schreiben, zuweilen werden die Begriffe synonym verwendet. Obwohl keine eindeutigen Kriterien zur Differenzierung existieren, soll der Versuch unternommen werden, einige Merkmale der jeweiligen Ansätze herauszuarbeiten. Das kreative Schreiben, creative writing, kann als Ursprung der neuen Schreibbewegung in Deutschland verstanden werden. Im Zentrum der so bezeichneten Seminare steht die sprachliche und literarische Entwicklung der Teilnehmer. Angewendet werden Methoden, die das kreative Erleben fördern, Erinnerungen und Erlebnisse freisetzen, diese sprachlich fassen und gestalterisch bearbeiten. Das kreative Schreiben wird zuweilen auch als literarisches Schreiben bezeichnet, was diese Bezeichnung insofern verdient, als sich an den Primärprozess des Schreibens, in dem es vor allem um den Selbstausdruck und die Selbstfindung geht, ein Sekundärprozess anschließt, in dem die erarbeiteten Texte in eine literarische Form gebracht werden. Im literarischen Schreiben geht es in erster Linie um literarische und ästhetische Qualität. Wird das Schreiben als Mittel zur Selbsterforschung und Selbstreflexion eingesetzt, ist in der Regel vom therapeutischen Schreiben, der Schreib- oder Poesietherapie die Rede. In den auf diese Weise bezeichneten Seminaren wird der Versuch unternommen, sich mittels Sprache auf den Weg zu sich selbst zu begeben. Durch das Schreiben wird ein therapeutischer Prozess in Gang gebracht, der mit therapeutischen Gesprächen begleitet wird. Mit dem therapeutischen Schreiben eng verwandt ist das autobiographische Schreiben, bei dem der Beschäftigung mit der Vergangenheit und Kindheit eine zentrale Bedeutung zukommt. Beim autobiographischen Schreiben liegt der Fokus auf Erlebnissen aus der Vergangenheit, den Assoziationen, die das Erinnern auslöst, und den Emotionen und Gedanken, die im Verlauf des Prozesses zutage treten. Das biographische Schreiben beschäftigt sich in erster Linie ebenfalls mit der Vergangenheit und kann sowohl therapeutisch genutzt werden als auch rein publizistische Zwecke verfolgen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Schreibschulen sind fließend, auch kann sich der Fokus im Verlauf eines Seminars, je nach Entwicklung und Interesse der Teilnehmer, verschieben. Die Seminare und ihre Ausrichtung sind ebenso im Fluss wie die Gedanken, Gefühle und Texte der Teilnehmer.

Phasen des Schreibprozesses

Der Prozess des Schreibens unterliegt ähnlichen Gesetzmäßigkeiten wie der Kreativitätsprozess schlechthin. Man kann verschiedene Phasen unterscheiden, die unterschiedlich viel Zeit beanspruchen und nicht immer in derselben Reihenfolge ablaufen, deren Beobachtung aber Anhaltspunkte dafür liefert, was während des Schreibprozesses passiert. Die Bezeichnung der Phasen im Schreibprozess stimmt mit denen in der Kreativitätsforschung gebräuchlichen weitgehend überein. Im kreativen wie im therapeutischen Schreiben sammelt der Schreibende in einer so genannten Inspirationsphase zunächst Informationen, die entweder aus der eigenen Seele oder der Umwelt stammen, und notiert diese oder behält sie im Gedächtnis. In der zweiten Phase, der Inkubationsphase, wird mit dem gewonnenen Material gedanklich oder schriftlich gespielt, es erfährt eine Erweiterung und Verdichtung, Teile werden verworfen. Diese ersten beiden Phasen leben von der Unvoreingenommenheit des Schreibenden seinem Material gegenüber; durch eine wertfreie Haltung wird dieser gleichsam in einen kindlichen Zustand versetzt, in dem er nicht länger angehalten ist, eine bestimmte Leistung zu erbringen oder etwas zu schaffen, das vorzeigbar ist. Der Anspruch, dass das Geschriebene einen Sinn ergeben muss, wird fallengelassen, das Geschriebene muss nicht den Regeln der Rechtschreibreform folgen, sondern wird als Rohmaterial betrachtet. Nach einer ausreichend spielerischen Beschäftigung mit dem in den ersten beiden Phasen gewonnenen Material kommt es irgendwann zu einer neuen Erkenntnis oder der vorläufigen Lösung eines Problems; zunächst scheinbar nicht zusammenhängende Gedanken und Gefühle verbinden sich, der Schreibende erhält eine Idee, was er mit dem gesammelten Material anfangen kann. Diese Phase, die einer Erleuchtung gleichkommt, wird als Illuminationsphase bezeichnet. In der vierten und letzten Phase, der Verifikationsphase, setzt der Sekundärprozess ein. Es erfolgt die Überprüfung des Wissens, der Schreibende verifiziert seine Einfälle, die Texte werden aus- und umgearbeitet.

Der kreative Prozess kann in Analogie zum therapeutischen Prozess verstanden werden. Die Inspiration im Künstlerischen entspräche dem Erinnern in der Therapie, die Phase der Inkubation könnte mit der des Wiederholens gleichgesetzt werden, die Illumination entspräche der Durcharbeitung, die Verifikation der Integration. Sowohl der kreative als auch der therapeutische Prozess zielen auf eine Restitution des Ich auf der Basis eines erweiterten Dialogs mit dem Unbewussten.