Kreide fressen - Anna Silvia - E-Book

Kreide fressen E-Book

Anna Silvia

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Beschreibung

«Meine Vergangenheit kann ich nicht ändern. Aber wenn ich davon erzähle, nehme ich ihr einen Teil des Schreckens. Ich kann von meinem täglichen Kampf mit der Essstörung erzählen. Ich kann erzählen, wie eine Vergewaltigung erst den Körper entzweireißt – und dann die Seele. Aber ich kann auch davon erzählen, wie ich mein in Stücke zerfetztes Leben langsam wieder zusammensetze. Und es am Ende sogar schaffe, mich über Momente des Glücks zu freuen.» Eine starke Stimme, eine starke Sprache: In nüchterner Direktheit erzählt Anna Silvia die Geschichte einer durch Missbrauch zerstörten Kindheit und eines immerwährenden Kampfes gegen die Bulimie – ihre Geschichte. Eindringlich und mit einem fast schmerzhaften Blick für Details schreibt sie darüber, was ihr widerfahren ist, ohne auch nur eine Sekunde in eine Opferrolle abzugleiten. Das intensive Memoire einer jungen Frau, die mit aller Kraft versucht, nicht vor ihrer kaputten Vergangenheit zu kapitulieren.

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Seitenzahl: 329

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Anna Silvia

Kreide fressen

Mein zerfetztes Leben

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Meine Vergangenheit kann ich nicht ändern. Aber wenn ich davon erzähle, nehme ich ihr einen Teil des Schreckens. Ich kann von meinem täglichen Kampf mit der Essstörung erzählen. Ich kann erzählen, wie eine Vergewaltigung erst den Körper entzweireißt – und dann die Seele. Aber ich kann auch davon erzählen, wie ich mein in Stücke zerfetztes Leben langsam wieder zusammensetze. Und es am Ende sogar schaffe, mich über Momente des Glücks zu freuen.»

 

Über Anna Silvia

Anna Silvia, geboren 1981, lebt in Hamburg.

«Ich bevorzuge meine Methode.»

«Welche?»

«Gewalt.»

Ich tue es ebenso, wie es die Wölfe meiner Kindheit getan haben:

Kreide fressen.

Den Wolf verbergen.

Ich fresse Kreide, um meine Stimme süß und verführerisch zu machen.

Ich verberge kein Raubtier.

Ich verberge das Lamm hinter der Hure.

Mein erstes Mal

Als der erste Mann meinen Mädchenkörper auseinanderriss, sagte er: «Du hast großes Glück, dass ich der erste Mann in deinem Leben bin.»

 

Seitdem lebte ich jahrelang mit der Angst, irgendwann auf etwas noch viel Schlimmeres zu treffen. Gut zehn Jahre später, an meinem ersten Arbeitstag als Prostituierte, freute ich mich, dass der erste Freier des Tages so viel netter gewesen war.

Die ersten Männer, die meine Welt zerfetzten, hatten vorher meine ganze Bewunderung. Sie waren sportlich und fröhlich, sprachen aber auch ernsthaft mit mir und lobten meinen Bruder für seine Erfolge – und wer meinen Bruder gut fand, war automatisch ein netter Mensch. Das war so in meiner kindlichen Gedankenwelt.

Mein Bruder war mein Held, ich liebte ihn mit aller Hingabe, zu der eine kleine Schwester fähig ist – und er nahm diese Zuneigung nie als selbstverständlich hin, sondern erwiderte sie, indem er mir die Welt erklärte.

Zu dieser Welt gehörten auch Uli und Bernd, die engsten Freunde meines Vaters. Ehemalige 68’er, die die politische Entwicklung meines Bruders lobten und seine sportlichen Leistungen wertschätzten. Manchmal dachte ich, sie wären neidisch auf meinen Vater, weil er einen so aufgeweckten und großen Sohn hatte, während ihre eigenen Kinder nichtssagend und – ehrlich gesagt – ziemlich dämlich waren.

Wenn Uli und Bernd oder beide mit ihren Familien zu Besuch kamen, teilten wir uns in Lager. Die Frauen machten meine Mutter in der Küche nervös, die Kinder spielten im Garten auf unserem Klettergerüst oder jagten im Keller Autos über die Carrera-Bahn. Mein großer Bruder Freddie saß bei den Männern, hörte zu und diskutierte mit. Ich schnappte mir ein Buch und kauerte mich in ihre Nähe, um alles mitzubekommen und hin und wieder naive Fragen zu stellen, die alle zum Lachen brachten. Es war keine Überraschung, dass, je älter wir wurden, der Kontakt mit Uli und Bernd enger wurde. Nur an den Skat-Abenden der Erwachsenen nahmen wir nie teil, und diese Abende wurden häufiger.

Wenn kleine Kinder nicht einschlafen können, nuckeln sie am Daumen. Angeblich. Tatsächlich habe ich das, wenn man den Aussagen meiner Mutter Glauben schenken darf, nie gemacht. Ich habe auch nie einen Schnuller benutzt. Daher konnte ich es auch nicht verstehen, als mir Hausfreund Bernd seinen Daumen zum Nuckeln anbot. Es war einer dieser Tage, an denen ein Kind nicht müde wird.

 

Draußen ist es dunkel, und ich komme die Treppe hinuntergetapst. Die Fliesen im Flur sind kalt, ich öffne die Tür zum Wohnzimmer. Durch die Glastür sehe ich Licht: Papa hat Besuch.

«Ich kann nicht schlafen», sage ich.

Papa lässt mich ein paar Minuten auf seinem Knie sitzen, dann sagt er, ich soll wieder ins Bett gehen. Ich zögere.

«Aber ich kann nicht einschlafen», sage ich erneut.

«Wenn ich dich bis zum Bett die Treppe hochtrage, dann kannst du doch bestimmt schlafen!», sagt Bernd.

Ich muss kichern. Mein Vater ist schon lange zu unbeweglich, um mich hochzutragen, das Angebot ist verlockend.

«Ja, vielleicht.»

Bernd trägt mich nach oben, es fühlt sich fremd, aber auch irgendwie lustig an. Ich habe keine Angst und gucke über die Schulter. Oben lässt er mich aufs Bett fallen und deckt mich rundum zu. Ob ich meinen Nuckeldaumen brauche? Hä? Nein.

«Weißt du denn nicht, dass man besser schlafen kann, wenn man am Daumen nuckelt?»

«Nein, das habe ich noch nie gemacht.»

«Dann haben deine Eltern dir das nicht erzählt? Du bist doch alt genug für Geheimnisse? Pass auf, ich gebe dir meinen Daumen. Lutsch mal dran.»

Ich liege auf dem Rücken, meine Hände sind unter der Decke, Bernd sitzt auf der Bettkante und hält mich an der Schulter fest. Er guckt lustig und nett, die Augenbrauen hochgezogen, er zwinkert. Ich finde die Situation merkwürdig, doch ich will ihn nicht enttäuschen. Also mache ich den Mund auf. Sein Daumen schmeckt nach Männerhaut.

«Jetzt musst du so tun, als ob du Cola durch einen Strohhalm saugen willst», sagt er. «Dann träumst du auch etwas Schönes, aber das bleibt unser Geheimnis, das nicht weitererzählt wird! Verstanden?»

Ich sauge an seinem Daumen. Es ist seltsam, ich wage aber nicht, es nicht zu tun – ich bin ein nettes und artiges Kind und ertrage es nicht, wenn jemand böse auf mich ist. Er sagt mir gute Nacht und geht.

In meinem Mund bleibt ein Geschmack zurück, den ich nicht haben will. Staub? Schmutz? Ich nehme mein Schnuffeltuch und reibe mir damit über Zahnfleisch, Zähne und Zunge. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich das Geheimnis, das Bernd mir anvertraut hat, nicht zu schätzen weiß, sondern es mir wieder abwasche. Ich schäme mich, bis ich irgendwann einschlafe. Am nächsten Morgen mag ich nicht mit meinem Tuch kuscheln, es muss in die Wäsche.

 

Schleichend, mit jedem Besuch von Uli und Bernd verändert sich alles. Das Durchkitzeln, mit dem Uli oder Bernd mir schrille Schreie der Begeisterung entlockten, fand immer häufiger in meinem Zimmer oder im Spielkeller statt. Abseits der anderen. Ulis und Bernds Gute-Nacht-Sagen wird zum Ritual.

Ich war arglos und vom Wunsch nach Anerkennung beseelt. Ein Kind, eben. Unverdorben. Kinder wachsen durch Lob. Meine Eltern lobten mich nicht, nie. Da waren plötzlich diese beiden erwachsenen Menschen, die von sich aus meine Gesellschaft suchten und meine Artigkeit schätzten. Die mir sagten, wie vernünftig und erwachsen ich sei, weil ich meine Eltern nicht mit meinen kindlichen Problemen belastete und ihnen nie Anlass zur Sorge gab. Ich vertraute ihnen. Ich war mit ihnen aufgewachsen. Zwei Männer, die meine Mutter überredeten, mir ein Haustier zu schenken, «weil Streicheln doch etwas Schönes ist». Für mich sah es aus, als stünden sie auf meiner Seite, als wären sie der Schutz, den eigentlich Eltern ihren Kindern bieten sollten.

 

Meine Eltern küssten sich nie auf den Mund, sie küssten sich überhaupt nie. Die Küsse unserer Hausfreunde irritierten mich, aber viel Beachtung schenkte ich der Sache nicht. Ich war überzeugt, dass sie es gut mit mir meinten. Bei anderen Eltern hatte ich beobachtet, wie sie ihre Kinder auf den Mund küssten, und da ich manchmal heimlich hoffte, Uli wäre mein Vater – er war so viel agiler und aufmerksamer als mein lethargisch-depressiver Papa –, kamen mir die ersten Küsse von ihm wie eine Auszeichnung vor. Dass es mir nicht gefiel, stürzte mich mehr und mehr in Traurigkeit: Da will jemand nett zu mir sein – und ich finde es doof. Was bin ich doch für ein schlechter Mensch! Immer suchte ich die Schuld bei mir. Ich dachte, wenn ich nur nett genug zu ihnen wäre, würde es sich bestimmt irgendwann nicht mehr komisch anfühlen.

In meinen geliebten Biedermeier-Büchern wurden Mädchen immer dazu angehalten, fügsam und vor allem freundlich zu sein. Ich identifizierte mich mit den Heldinnen von Agnes Sapper und Bertha Clément und sah es als meine oberste Pflicht an, alle Menschen zufriedenzustellen.

Nacktsein war mir immer schon fremd gewesen. Ich war schüchtern und schamhaft, hatte selbst im Kindergarten das Wort «Po» nicht über die Lippen gebracht, weil es mir peinlich war. So war ich erzogen worden. Als ich mal einen Wespenstich am Po hatte, konnte ich es niemandem sagen – ich wusste nicht, wie ich darauf hinweisen sollte, ohne peinliche Worte zu benutzen.

Die großen Hände, die mich nun kitzelten und streichelten, berührten diese Stellen, deren Namen ich nicht auszusprechen wagte. Der Nuckeldaumen wanderte. Ich begann zu ahnen, dass etwas nicht richtig war – aber ich hatte von all diesen Dingen noch keine Ahnung, weil ich vollkommen unaufgeklärt war. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern interessierte mich nicht, für mich verlief die Schamgrenze zwischen «nackt» und «angezogen», nicht zwischen «Penis» und «Scheide».

Mit der Zeit wurden die Hände zudringlicher. Intimer. An manchen Abenden übernachtete ich bei Bernds Tochter, und nachdem sie eingeschlafen war, holte er mich aus ihrem Kinderzimmer zu sich ins Wohnzimmer, wo ich neben ihm sitzen und fernsehen durfte. Dieses Privileg war natürlich auch «unser großes Geheimnis».

An einem dieser Abende blieb die Hand nicht auf meinen Schenkeln liegen. Bernd sah ruhig auf den Bildschirm, als seine Hand in meine Pyjamahose glitt. Ich war starr vor Schreck, unfähig, etwas zu sagen. Ich glaube, in diesem Moment verstand ich, dass es widerlich, falsch und schlecht war. Ich wollte weinen, schreien, weglaufen, alles gleichzeitig. Ekel, Panik, Scham und vollkommene Irritation – ich war vollkommen überfordert. Kein Gefühl gewann die Oberhand, ich konnte nur entsetzt sitzen bleiben und die Angst in meinen Ohren rauschen hören. Und so machte er weiter; ich wagte nicht, ihn anzusehen. Irgendwann nahm er die Hand zurück, hob mich hoch und trug mich ins Kinderzimmer zurück. Ich krabbelte unter die Decke, Bernd kniete sich neben das Gästebett und flüsterte: «Wenn du unser Geheimnis verrätst, muss dein Bruder sterben.»

Ich sagte nichts, ich hörte nichts, ich fühlte nichts. Ich hatte nur Angst, Angst, Angst. Meine Kinderwelt war tot.

 

Als ich Uli das nächste Mal sah, konnte ich sofort spüren, dass er von dem Vorfall wusste. Ich sah es in seinen Augen. All der Spaß, die Freundlichkeit war aus seinem Blick verschwunden. Das Streicheln wurde weniger mit der Zeit und verebbte ganz, als die Fronten definiert waren. Ich wusste, es ist böse, was mit mir geschieht. Ich war zum Schweigen verdammt, denn sie hatten deutlich formuliert, meinem Bruder etwas anzutun, wenn ich jemals etwas sagen oder dagegen unternehmen würde.

Zärtlichkeit brauchte es ab da nicht mehr.

Die Rituale gingen weiter – wie hätte ich auch erklären sollen, dass ich auf einmal nicht mehr mit Bernd oder Uli allein sein wollte? Es hätte meiner Mutter Sorgen gemacht, und sie wäre misstrauisch geworden. Meine Mutter vermutete immer alle Schuld bei mir. Und mich meinem Bruder anzuvertrauen, kam nicht in Frage. Ich verging jedes Mal vor Angst, wenn er zu spät nach Hause kam. Wie sollte ich ihm sagen, dass er vielleicht durch meine Schuld in ständiger Gefahr leben musste? Mit all diesen Gedanken war ich allein. Ein Kind von zehn Jahren ist zu jung, um zu wissen, was Einsamkeit bedeuten kann.

Ich habe sie in dieser Zeit kennengelernt, die einschneidende Gewissheit, alleine vor einem Problem zu stehen und keinen Ausweg zu wissen. Keiner würde mir helfen können, am allerwenigsten mein Vater. Die beiden Männer waren seine besten Freunde, und mehr als einmal hatte Papa mir anvertraut, wie glücklich er sei, dass wir uns alle so gut verstünden, weil es alleine mit meiner Mutter oft langweilig und trist sei. Und weil das Lieblingsthema meiner Mutter das Schlechtmachen meines Vaters war, konnte ich ihm doch nicht die Freude an seinen Freunden nehmen.

Mein Vater war wie ein großes, gemütliches Sofa. Eines, in das man sich reinkuscheln, aber keines, hinter dem man sich verstecken kann. Zu weich, um Halt zu geben.

 

Eines Abends passte Uli auf mich auf. Meine Mutter war beim Chor, mein Vater auf einem Abendtermin in der Schule, mein Bruder bei seiner Clique. Ich war in meinem Zimmer, als er hereinkam. Er fing sofort an, mich zu küssen, seine Bartstoppeln bohrten sich in meine Wangen.

Er hob mich hoch und trug mich zum Bett, schob meine beiden Lieblingspuppen zur Seite und legte sich neben mich. Sein Kopf streifte meine hellblaue Leselampe mit dem Blütenschirm. Ich erstickte fast unter seinem Gewicht, als er sich halb auf mich drehte, wortlos, aber immer heftiger atmend.

Ich war augenblicklich wie betäubt. Zu ohnmächtig, mich zu bewegen. Es war falsch, was passierte, es war FALSCH! Mir traten Tränen in die Augen. Sie liefen an den Schläfen herunter in meine Ohren. Ich hatte Angst. So viel Angst! Wie gelähmt ließ ich ihn gewähren und rührte mich nicht. Wenn ich nur stillhielt, war es vielleicht bald vorbei.

In meinem Kopf wirbelten tausend Fragen umher, ich starrte auf die Poster an meiner Zimmerdecke, unfähig, die Augen zu schließen. Uli machte irgendwelche Sachen mit mir, an sich, dann wieder mit mir. Er zog mich aus, stützte seine Hand auf meine Scham und erhob sich halb, um sich seine Hosen auszuziehen. In diesem kurzen Moment sah ich ihm in die Augen. Ich dachte, er würde aufstehen und gehen – aber der Blick, mit dem er mich auf dem Bett festhielt, der Griff zwischen meine Beine – in diesem Augenblick hatte ich verloren. Niemals wieder habe ich so viel Schwärze in einem Blick gesehen, so viel, vor dem man Angst haben muss. Ich wandte den Kopf zur Wand und konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen.

Auf mir lag ein Ungeheuer, und diesem Ungeheuer bedeutete ich nichts.

Er berührte sich, mich, bewegte sich, wälzte sich von einer Seite auf mich und wieder zurück, spreizte meine Beine, spuckte auf seine Hand und rieb die Spucke in meine Scheide. Ich schämte mich entsetzlich.

Er schwitzte, und als er sich erneut auf mich drehte, fielen die Schweißtropfen von seiner Stirn in mein Gesicht. Alles, was ich konnte, war weinen. Tonlos. Ohne Schluchzen, ohne lautes Atmen, ohne eine Bewegung der Lippen. Ich wagte es nicht, den Mund aufzumachen. Die Tränen rannen einfach aus mir heraus wie tausend ungesagte Worte. Das Ungeheuer drehte meinen Kopf wieder in seine Blickrichtung.

«Was heulst du denn? Du bist nichts wert. Also gibt es auch nichts, worüber du weinen müsstest! Verstanden?»

Speichelspritzer trafen meine Lippen, ich konnte all seine Verachtung spüren.

Ich sagte nichts, aber in meinen Augen muss so viel Angst gewesen sein, dass er nicht weitersprach. Er schlug mich nicht. Er würgte mich nicht und zog mir nicht an den Haaren. Trotzdem lag eine unaussprechliche Gewalt in der Luft. Und in meinem Kinderbett. Mein Blick hing starr an den Helden Karls Mays an meiner Kinderzimmerwand, ich suchte bei ihnen Hilfe, stellte mir vor, sie würden lebendig. Meine Tränen versiegten. Ich entschwand in eine Welt der Träume.

Er, der Mann auf meiner Mädchenbettwäsche, riss mich auseinander. Was passierte hier? Woher kam dieser Schmerz? Wie kann es so sehr brennen, wenn nirgendwo ein Feuer ist? Wollte er mich umbringen? Was hatte ich getan? Warum, warum? Warum tat alles so weh, was er tat? Was tat er überhaupt? Ich verstand nichts, nur der Schmerz war Realität. In meinem Kopf schrie eine Stimme: Du machst mich kaputt, hör auf, hör auf! Lass mich in Ruhe! Immer wieder. Dann wurde sie immer leiser, bis mit seinen langsamer werdenden Bewegungen sein Schnaufen verebbte, und die Stimme in meinem Kopf weinte lautlos. Und ich wusste, dass ich nie mehr meine Tränen zeigen durfte, denn sie hatten ihn wütend gemacht.

Das Ungeheuer sackte auf mir zusammen. Kalte, schweißnasse Haut berührte meinen Hals. Ich spürte das Pochen seines fremden, bösen Herzens auf mir. Er hob seine Hand und betrachtete zufrieden das Blut an seinen Fingern, und ich begann zu glauben, dass es vorbei war. Mit einer Stimme, die ich von jetzt an als DAS BÖSE bezeichnen würde, sagte er: «Du wirst nichts sagen, niemals, zu niemandem. Du hast großes Glück, dass ich der erste Mann in deinem Leben bin.»

 

Keinen Augenblick stellte ich diese Aussage in Frage. Er hatte recht. Und was er bis dahin nicht gehabt hatte, hatte er sich jetzt genommen.

Er stand auf und ging aus dem Zimmer, ohne mich noch einmal anzusehen. Warum auch. Ich war es nicht wert. So ließ er mich allein zurück. Erstarrt vor Angst.

Ich hörte ihn die Treppe runtergehen. Als ich den Klang seiner Schuhsohlen auf den Fliesen unserer Diele hörte, setzte ich mich auf. Mit einer einzigen Bewegung schmiss ich meine Puppen aus dem Bett. Dann rannte ich ins Bad, schloss die Tür ab, zog den Schlüssel aus dem Schloss und behielt ihn fest in der Hand. Auch noch, als ich in der Badewanne kniete und das Wasser über mich laufen ließ. Kalt? Warm? Ich weiß es nicht mehr. Es war still in meinem Kopf. Die Tränen flossen, das Blut, mein Urin, Rotze – alles vermischte sich, formte sich zu einem Strudel und verschwand langsam im Dunkel des Abflusses.

Ich wollte nicht verstehen, was passiert war. Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich ließ das Wasser so lange über mich laufen, bis es nur noch klar in den Abfluss lief.

Was blieb, waren Angst und Schuld. Und die Gewissheit, dass ich keine Chance haben würde, mich zur Wehr zu setzen.

 

Die Nacht verbrachte ich in ein Handtuch gewickelt auf dem Fußboden vor der kalten Heizung. Einmal stand ich auf, wie in Trance, und riss alle meine Poster ab. Ich habe nie wieder welche über meinem Bett aufgehängt.

Meine Mutter schimpfte am nächsten Tag mit mir. Sie verdächtigte mich, ungehörig in der Nase gebohrt zu haben, als ich die Flecken auf meiner Bettwäsche mit Nasenbluten erklärte.

 

Der Morgen ist hell und klar und voller Farben. Bald, nach den Ferien, werde ich die Schule wechseln. Ich komme dann in die sechste Klasse.

Sonnengleiches Gelb

Gelb ist meine Hassfarbe. War es schon immer. Zuerst einfach nur aus Protest. Protest gegen meine Mutter. Ich war der Ansicht, alles, was meiner Mutter gefällt, müsse mir missfallen. Ich war überzeugt, dass sie mich nicht mag, und deshalb wollte ich nichts mögen, was sie mochte. Nur bei meinem Lieblingskuscheltier machte ich eine Ausnahme – wobei mein Teddy Michael ein Geschenk von Mamas Bruder Erik war, und wenn sie auch den Teddy hübsch fand, so blieb mir doch die Genugtuung, dass sie zumindest meinen Onkel Erik nicht leiden konnte.

Warum ich so entfremdet von ihr war, kann ich nicht mehr sagen. Im Wesentlichen spürte ich genau, dass sie meinen Vater verachtete, und den wollte ich in Schutz nehmen. Umgekehrt allerdings auch. Als mich eine Frau als «Vaterkind» bezeichnete, gefiel mir das nicht – ich spürte, dass die Frau recht hatte, und schämte mich dafür. Ich hatte meiner Mutter gegenüber ein schlechtes Gewissen und hoffe bis heute, dass sie diese Bemerkung nicht gehört hat. Denn weh tun, physisch oder psychisch, wollte ich ihr nie. Ich wurde dazu erzogen, lieb zu sein. Wahrscheinlich kompensierte ich diese erzwungene Elternliebe, indem ich vor allem die Vorlieben meiner Mutter ablehnte.

 

Mamas Lieblingsfarbe war Gelb. Wie die Sonne, sagte sie, und so stand es auch auf ihrer Seite in meinem Poesiealbum. Also fand ich gelb grässlich. Furchtbar. Genauso wie das Wort Sonne. Ich hätte nie gelbe Sachen angezogen oder mir einen Stift, ein Buch, ein Spielzeug genommen, das gelb war. Sogar die Sonnen auf meinen Kinderbildern waren orangerot, wobei ich sehr selten Sonnen malte, sondern meistens Elefanten im Gras. Dafür brauchte ich kein Gelb. Auf meiner Kinderzimmertapete stand das Alphabet in bunten Buchstaben, und der Buchstabe «J» war mir unsympathisch, weil er gelb war, ebenso wie das «V». Diese Abneigung machte sich sehr früh bemerkbar, schon im Kindergarten war ich todunglücklich, weil er «Das Gelbe Haus» hieß. Und ich aß konsequent keine gelben Gummibärchen, Nimm2-Bonbons oder Smarties.

 

Als ich zwölf Jahre alt war, begann sich dieser harmlose kindliche Trotztick in eine neuen Dimension zu bewegen. Wenn ich benutzt, verängstigt und gedemütigt in der Ecke auf dem Bett kauerte, die Knie an die Brust gezogen und den Kopf dahinter versteckt, versuchte, so unsichtbar wie möglich zu sein, erholten sich die Männer, die mich gebraucht hatten, von ihrer Anstrengung. Es ist mit Sicherheit sehr ermüdend, ein schüchternes, hässliches Kind zu vergewaltigen. Waren sie zu mehreren, gingen oft einer oder zwei von ihnen zum Rauchen. Sie waren klug genug, nicht in meiner Nähe zu rauchen, meistens zumindest nicht. Heute denke ich, dass sie befürchteten, meine Mutter hätte den Rauch in meinen Haaren riechen können. Es blieb stets einer bei mir, was in der Regel bedeutete, dass ich nur eine Pause zu erwarten hatte. Hätte ich «Feierabend» gehabt, dann wäre ich ins Badezimmer geschickt worden, um mich zu waschen. Ja, natürlich sollte ich mich waschen. Die Männer sollten mich über Jahre benutzen. Da war es nur natürlich, dass sie darauf achteten, ihren Besitz zu pflegen. Ich hätte mir gewünscht, dass sie das mit ihren eigenen Körpern auch konsequent getan hätten.

Hatte ich also eine Pause zwischen Angst, Schmerz und Scham, dann konnte ich Glück haben, und einer der Männer – meistens war es Ingo – gab mir etwas zu trinken. War ich in einem Haus, in dem Kinder wohnten, bekam ich selten etwas. Aber in der Wohnung von Rainer gab es alles. Er war alleinstehend, er musste nichts verstecken. Es war alles da und alles möglich. Es gab Seile, Ketten, Kleidchen, Gegenstände, die man in meinen Körper stecken konnte, Handtücher zum Unterlegen, böse, beißende Werkzeuge und Fanta. In meiner Pause, die die Angst steigerte und den Schmerzen erlaubte, sich lokalisieren zu lassen, bekam ich Fanta gereicht. Keine Cola.

«Cola ist nichts für kleine Mädchen, dann kannst du heute Nacht nicht schlafen.»

Na, ein Glück, dass darauf geachtet wurde, dass ich schlafen konnte. Ich glaube, kein Koffein der Welt hätte mich je so wach halten können wie die erstickten Schreie in meinem Kopf. Für das kleine vergewaltigte Mädchen gab es Fanta. Mit Strohhalm. Ich weiß nicht, wie viele bunt-weiß gestreiften Strohhalme mit Gelenk ich in diesen Stunden so oft auseinanderzog, bis Löcher in den Gelenkfalten waren. Wie viele Fanta-Schilder ich von den kleinen Glasflaschen pulte. Und wie viele 0,3-l-Normsaftgläser ich mit meinen Daumen vermaß. Fanta. Gelb. Widerlich. Fanta mischt sich mit Blut, Spucke, Sperma. Ich musste mit der Fanta runterschlucken, was mir die Freunde meines Vaters in den Mund spritzten, spuckten, tropften. Diese süße klebrige Limonade, ich hasse sie, ich will sie nicht, nein! Ich will überhaupt nichts trinken, ich will meinen Mund mit einem Frotteehandtuch ausreiben, bis meine Wangen von innen bluten! Aber kleine Mädchen dürfen nicht nur keine Cola trinken, damit «deine Mami nicht schimpft» (sollte das etwa bedeuten, Cola trinken wäre für meine Mutter eine Unartigkeit, aber das, was hier geschah, war in Ordnung?). Kleine Mädchen dürfen auch keine Wünsche äußern. Und vor allem dürfen sie keine Geschenke ablehnen. Das ist undankbar.

Dieses besondere kleine Mädchen sagt auch immer «danke», wenn es die Fanta hingehalten bekommt. Es hat gelernt, dass es «danke» sagen muss. Auch hier.

Einmal griff ich nach dem Glas, mechanisch, nur damit die Hand aus meinem Blickfeld verschwinden und Rainers schlaffer, baumelnder Penis mit dem großen behaarten Hodensack nicht mehr direkt auf Höhe meiner Knie hängen würde. Wenn ich schnell das Glas nehme, geht er weg, dachte ich. Meine Hand verließ die Sicherheit zwischen meinen angezogenen Beinen, die kugelige Schutzhaltung, und streckte sich greifend nach dem Glas aus. Ich nahm es und wollte es in die Sicherheit meiner Körperkugel ziehen, da wurde meine Hand festgehalten.

«Was sagt man?!»

Die tiefe, erzieherische Lehrer-Vater-Stimme machte mir Angst. Ich schrak zusammen, der Griff um mein Handgelenk wurde fester, ich war zu eingeschüchtert, um zu antworten. Auf die «Was sagt man?!»-Frage hatte ich natürlich, wie jedes Kind, ein automatisiertes «Danke schön» parat. Das lernt man schon, bevor man richtig sprechen kann. Aber das Wort fand meine Lippen nicht. Es steckte fest. Es steckte in der Normalität der Situation fest. Ich hockte auf dem Bett, in der Zimmerecke. Durch mein T-Shirt spürte ich die Kälte des Mauerwerks an der Wirbelsäule. Meine Knie unter dem Kinn, von meinen Händen umschlungen, die Fußspitzen zeigten zueinander, der Kopf so tief wie möglich zwischen den Schultern. Meine Schenkel brannten, und mein eigentlich nicht vorhandener Busen fühlte sich an, als würde er bluten, ich wollte nicht hinsehen.

 

In meinem Kopf sind keine Gedanken, nur Bilder und Schreie und Tränen und grenzenlose Scham. Das Glas, die Ablenkung aus meinem Angstkokon, erscheint vor meinem Auge, gelb, eklig, widerlich – aber doch etwas, an dem ich mich festhalten kann. Alles andere hier ist angstbesetzt, verseucht. Und dann, in diesem Moment, kommt diese vertraute Frage «Was sagt man?!». Das gehört hier nicht her, das ist keine Frage für diesen Ort, es ist ein Stück Kindheit, ein Stück Eltern, ein Stück Alltag! Es sind Worte der Normalität. Ich kann nicht antworten. Mir ist, als hätte ich meinen Vater gehört. Er ist nicht hier, aber auf einmal denke ich an ihn. Das will ich nicht! Nicht nachdenken!

Ich kann nicht antworten. Ich bin erstarrt in einem Schock, den ich nicht erklären und nicht durchdenken kann. Das hat Folgen.

«Na? Was sagt man da?», wiederholt er die Frage, mein Handgelenk tut weh. Ich begegne dem Blick und kann vor Scham nicht sprechen. Nicht nur, dass ich an zu Hause denken muss – und das habe ich mir schon vor einem Jahr verboten –, ich bin auch noch unhöflich. Ich habe mich nicht bedankt. Sofort schäme ich mich noch mehr, will den Blick abwenden, gucke runter. Doch ein Finger hebt mein Kinn an.

«Du bist doch gut erzogen, oder etwa nicht?»

Diesen Satz hört Jochen, der von draußen hereinkommt.

«Wer ist hier gut erzogen?», will er wissen.

«Da reißt sie mir einfach die Fanta aus der Hand und bedankt sich nicht mal, die freche Göre!»

Das stimmt nicht, will ich rufen, aber ich kann nicht. Jochen grinst. Ich kann es nicht sehen, weil ich angestrengt runtergucke, aber ich kann es hören.

«So, das kleine Mädchen hat es also nicht nötig, sich zu bedanken, wenn sie hier ein Glas serviert bekommt. Was glaubst du denn, was du bist? Die Prinzessin auf der Erbse?»

Dieses Märchen habe ich schon immer gehasst, die anspruchsvolle Prinzessin, undankbar, fordernd, charakterlos. Mit ihr verglichen zu werden lässt meine Wangen schamrot werden, mir treten die Tränen in die Augen. Ich bin nicht so, wirklich nicht! Heute möchte ich kotzen, wenn ich merke, wie wichtig es mir damals war, dass jedermann gut von mir dachte. Auch die Männer, die über meinen Kinderkörper kletterten wie nach Trüffeln wühlende Wildschweine. Denn ich hoffte ja immer – wenn ich nur gut genug bin, werden sie mich in Ruhe lassen.

«Jetzt weint die kleine Prinzessin auf der Erbse? Ist dir das Glas nicht gut genug? Es ist noch viel zu gut für dich! Du kannst deine geliebte Fanta auch anders haben!»

Jochen grapscht das Glas aus meiner Hand und schüttet den Inhalt auf Rainers nackten Unterkörper.

«Da ist dein Getränk, leck es ab!»

NEIN! Ich will das nicht, ich trau mich nicht, bitte, bitte nein! Rainer, der sich erst erschrocken hat, legt sich auf das Bett. Jochen greift meinen Nacken und drückt meinen Kopf in das klebrig-süß verschwitzt stinkende Schamhaar.

«Leck es ab! Hol es dir!»

Ich ekle mich entsetzlich. Ich will nicht anfangen. Ich will den Mund nicht aufmachen, aber ich muss, denn, wenn ich durch die Nase atme, rieche ich Haare, Urin, die gelbe Fanta. Aber wenn ich den Mund öffne, berühren die drahtigen Haare meine Zähne! Für Jochen zögere ich zu lange. Er steht vor dem Bett, hält mit der linken Hand meinen Nacken fest, schiebt mir die rechte Hand zwischen die Beine und quetscht meine Schamlippen.

«Na los!»

Er kneift zu – ich fahre mit der Zunge über den schwabbeligen Bauch, die ekligen Haare, die runzlige, sich regende Schwanzhaut, über den Hodensack, meine Nase, mein Gesicht, es wird in diese Stelle gepresst, für die ich keinen Namen habe. Ich ersticke vielleicht an der Hitze hier, an dem Schweiß, an dem klebrigen Orangenzeug, das ich auf der Zunge habe. Meine Zunge gehört nicht mehr zu mir. Ich streiche mit ihr über all das, konzentriere mich darauf, nur die Fanta zu schmecken. Die Zunge nur nicht in den Mund reinholen, so selten wie möglich. Nichts davon soll in meinen Mund, ich will nichts runterschlucken!

«Ja, so ist es gut, so magst du deine Fanta!»

Der Penis wird zwar hart und größer, aber meine größte Angst, dass ich nach der Fanta auch weißen, faulig riechenden Schwanzauswurf von der Haut lecken muss, bestätigt sich nicht. Dafür verschwinden die Hände, die mich festgehalten haben.

Mein Kopf wird hochgezogen. Jochen hält mir eine glibbrig-weiß gefüllte Hand unter die Nase.

«Na, Prinzessin, willst du lieber das hier trinken?»

Ich bringe ein Kopfschütteln zustande. Aus der Flasche gießt er einen Spritzer Fanta in die hohle Hand dazu.

«Jetzt aber, mit Fanta!»

Die Hand presst sich über mein Gesicht, zwingt meine Lippen auseinander, meine Nasenlöcher füllen sich mit Sperma und Limonade.

«Und? Wie sagt man?», examiniert Rainer.

«Danke», flüstere ich.

Ich muss es noch dreimal lauter wiederholen, bis mich die Hände wieder loslassen. Dann gießt er mir den Rest aus der Flasche ins Glas und reicht es mir.

«Danke», sage ich wieder, ohne hochzusehen. Ich habe nur ein Auge vorsichtig auf, über dem anderen klebt etwas aus Jochens Hand. Ich trinke das Glas in einem Zug aus.

 

Die nächsten 20 Jahre rührte ich keine Fanta an. Ich weigerte mich, sie auch nur anzufassen, und meine Karriere als Kellnerin endete an der Bar – ich konnte den Geruch nicht ertragen. Die Farbe, das Gelb, die Flasche. Ich zitterte, wenn ich Fanta in ein Glas gießen sollte. Eine Zeitlang war es so schlimm, dass ich immer, immer etwas zu trinken dabeihatte, damit ich nie in die Situation kommen würde, dass mir jemand Fanta anbietet und ich keine Alternative habe. Wenn ich mal in die Verlegenheit kam, sagte ich, ich sei allergisch.

Missbrauchsbedingt bin ich übrigens auch allergisch gegen Latexhandschuhe, Fondantsterne, Nussknacker und zu knackende Nüsse, lange auch gegen Honig und bis heute gegen Smacks und alles, was mit Wachteln zu tun hat. Vor einem Jahr regte sich dann der Widerspruchsgeist in mir. Oder der Mut. Und außerdem saß ich in einer essgestörten Zwickmühle. Mein Hauptnahrungsmittel, Cola zero, hatte mir meine Therapeutin verboten. Wasser fand ich langweilig, und Sprite zero war zu süß. Natürlich war ihr Ziel, mich von Diätlimonaden abzubringen, aber als gut geschulte Bulimikerin hatte ich natürlich im «Cola-zero-Verbot» sofort das Schlupfloch «andere zeros» entdeckt. Ich habe es dann getan. Fanta zero. Ganz vorsichtig. Und direkt aus der Flasche. Und ganz schnell geschluckt, damit ich nichts schmecke. Es fühlte sich leicht an. Nicht klebrig. Orangig-neutral. Kühl. Erfrischend. Es prickelte in der Kehle. Ich trank so lange, bis mich die Kohlensäure zum Aufhören zwang. Ich wartete, ob irgendwas passierte. Ich weiß auch nicht, was ich erwartet hatte. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil nichts geschah. Ich übergab mich nicht, fiel nicht in Ohnmacht, und wie immer, wenn so eine Reaktion ausblieb, dachte ich, dass mich eine Mitschuld an allem trifft, weil es mich ja offensichtlich nicht genug traumatisiert hat.

Ich glaube, meine Therapeutin würde mir recht geben, wenn ich die Bewältigung dieser Schuldgefühle wichtiger fände als den Verzicht auf Cola zero. Ich reduzierte aber den Verbrauch. Und immer, wenn ich eine Kiste kaufe, schaue ich, ob ich auch eine Flasche Fanta zero finde. Dann nehme ich eine mit. Richtige Fanta kann ich immer noch nicht trinken, und in ein Glas eingießen will ich das Zeug auch nicht. Aber Fanta zero aus der Flasche trinken, das geht. Vielleicht bin ich darauf irgendwann sogar stolz.

 

Im Moment denke ich darüber nach, ob ich eine Wand in der Küche der nächsten Wohnung gelb streichen sollte. Die Farbe der Sonne wird zwar nie meine Lieblingsfarbe sein, aber sie kann warm sein und freundlich. Dass meine Mutter Gelb mag, finde ich nicht mehr schlimm. Viele Räume in der Klinik waren gelb gestrichen, und es ist mir Gutes in diesen Räumen passiert. Vor der Farbe habe ich keine Angst mehr. Gelbe Gummibärchen lehne ich allerdings weiterhin ab.

Der Klavierlehrer

Ich sehe auf. Das mache ich oft. Meine Hände verkrampfen sich, als sein Kopf dicht neben mir über die Noten schwebt.

«Aber nein», sagt er, «das ist doch kein ‹b›, sondern ein ‹h›!»

«Versuche es noch mal», fordert mich seine warme Stimme auf, «vom Auftakt an.» Ein Akt der Zauberflöte.

Den Auftakt mag ich nicht. «Sie ist so schön» – wen immer Mozart damit auch gemeint hat. Es kommt mir vor, als wäre ich es nicht wert, ihn zu spielen. Meine Finger finden die Tasten wieder, leise, präzise.

Christopher, mein Klavierlehrer, heißt eigentlich Herr Saalfeld. Im privaten Unterricht außerhalb der Schule sind wir nicht so förmlich. Er fragt mich, ob ich nicht doch beim Weihnachtskonzert mitspielen möchte. Ich hätte schließlich so wahnsinnig viel geübt. Nein, in Wahrheit hätte ich viel mehr üben können. Das Problem beim Klavierspielen ist, dass man das Klavier nicht unter den Arm nehmen kann und draußen für sich allein spielen kann. Und meine Großmutter, bei der ich wirklich gerne spiele, ist zu weit weg, um jeden Tag hinzufahren. Außer ihr ertrage ich kaum jemanden in meiner Nähe, wenn ich spiele.

Das Weihnachtskonzert? Auf gar keinen Fall werde ich dort spielen. Mein Vater wird darauf bestehen, dass ich ein schönes Kleid anziehe. Und ich weiß, welchen Töchtern und Söhnen Christopher sonst noch Unterricht gibt – es werden Väter da sein, denen ich nicht begegnen will. Sie würden meine Musik entweihen, ich könnte nicht mehr spielen, ohne an das zu denken, woran ich nicht denken will. Christopher wird enttäuscht sein, und das tut mir sehr leid.

«Nein, es geht nicht», sage ich und vertröste ihn aufs nächste Jahr. Hoffentlich, hoffentlich findet er mich jetzt nicht total grässlich, weil ich nicht spielen möchte – aber selbst wenn keine Eltern im Konzert säßen, wären andere Mädchen da, und einem Vergleich mit ihnen kann ich unmöglich standhalten. Wenn ich irgendwann richtig gut bin, vielleicht. Wenn.

Christopher schlägt mir vor, mich an den «Auftritt von Sarastro» zu wagen. Ich liebe die Zauberflöte. Schon als ganz kleines Mädchen war ich in der Oper und hörte sie stundenlang auf Kassette in meinem Zimmer. Mein erstes «Rendezvous» mit meiner Kindergartenliebe Ben fand in der Freilichtoper statt, wir waren fünf Jahre alt. Er trug einen Anzug mit Fliege – was ich anhatte, weiß ich nicht mehr, aber ich glaube, wir waren unfassbar niedlich. Hoffentlich ist meine Mutter auch ein bisschen fröhlich gewesen, als sie mit uns Kindern in die Oper ging. Damals war die Welt noch in Ordnung. Ich bin in Gedanken versunken, Christophers Stimme schreckt mich wieder hoch, ich schauere zusammen.

«Ist dir kalt?», fragt er und guckt besorgt. Besorgte Menschen sind immer gefährlich.

«Nein, mir ist nicht kalt», sage ich, «ich bin nur ein wenig müde nach Schule und Sport.»

In Wahrheit ist es natürlich nicht die Müdigkeit. Ich bin so gerne hier bei Christopher und zittere, weil ich den Raum nicht verlassen und nach Hause gehen will. Zu Hause gibt es keine mit Holz verkleideten Wände, keinen altersschwachen Flügel, dessen Klang so viel milder ist als das Schimmel-Klavier in unserem Wohnzimmer. Und zu Hause gibt es keinen Christopher, der mir zuhört, auch wenn ich nichts sage.

Doch nun erwischt es mich eiskalt. Ich habe einen Fehler gemacht, als ich «Schule und danach Sport» gesagt habe. Messerscharf kombiniert Herr Saalfeld, dass ich dann wohl noch nicht zu Mittag gegessen hätte.

«Dann ist es ja auch kein Wunder, wenn du immer dünner wirst.»

Wieder habe ich gegen meinen selbstgeforderten Befehl, «nicht so viel zu reden», verstoßen. Verdammt. Dass ich dünn aussehe, ist natürlich Quatsch, und ich erkläre es schnell mit der schwarzen Kleidung, die ich trage. Dann sehe ich rasch auf die Uhr.

«Ich muss jetzt auch wirklich schnell los, weil die Bahn nur alle zwanzig Minuten fährt.»

Ein sicheres Alibi, falls meine Mutter einen Kontrollanruf macht, weil ich zu spät zum Abendessen komme. Christopher wird sagen, ich hätte wohl die Bahn verpasst.

«Gut», sagt er. «Bis nächste Woche. Pass auf dich auf.»

Den letzten Satz von ihm beantworte ich mit einem fröhlichen Lächeln und sage «auf Wiedersehen». Ich sage immer «auf Wiedersehen». Niemals «tschüs», außer zu Menschen, die ich wirklich nicht wiedersehen will. Seit Jahren mache ich das in der Hoffnung, es würde irgendwann funktionieren. Vor dem Haus drehe ich mich noch mal um und winke. Christopher steht am Fenster. Er winkt zurück. Ich laufe schnell bis zur Straßenecke. Falls er mir nachguckt, soll er denken, dass ich zum Bahnhof gehe.

Ein paar Meter weiter biege ich in den Wanderweg neben den Bahngleisen ein. Es ist kalt, fast minus 10 Grad. Meine Kapuzen-Sweatjacke ist für diese Temperaturen ungeeignet. Ich verschränke die Arme vor der Brust, einfach so, mechanisch. Dann bekomme ich Angst – beim Frieren verbraucht man deutlich mehr Kalorien. Wenn ich also versuche, mich zu wärmen, werde ich zunehmen! Ich nehme die Arme schuldbewusst runter und gehe schneller, Richtung See.

Der Weg ist nur schlecht beleuchtet, doch inzwischen hätte ich ihn blind gefunden. Um diese Zeit sind keine Spaziergänger unterwegs, niemand führt jetzt seine Hunde aus – es ist die Zeit fürs Abendessen und das heute-journal. Gut. Im Sommer ist es viel schwerer, eine Stelle zu finden, die nicht einsehbar ist.

Der See ist seit Wochen zugefroren. Ich kürze den Weg ab, direkt übers Eis. Und wenn es mich nicht trägt? Falls ich einbreche, würde ich sterben. So what? Nein, ich bin nicht tollkühn oder besonders mutig. Ich habe nur nichts zu verlieren. Ich könnte auch krank werden und wegen der Unterkühlungen ins Krankenhaus kommen. Ich mache mir Sorgen, wie ich dann die Schule aufholen könnte, aber wenigstens wäre ich dann einige Zeit lang nicht zu Hause. Das wäre gut. Vielleicht passiert aber auch gar nichts, und ich rette mich an Land. Dann müsste ich überlegen, wie ich erkläre, warum ich nass nach Hause komme und mir eine Erkältung eingefangen habe. Mit diesen Überlegungen erreiche die andere Seite des Sees, die Stelle, wo meine Lieblingsbank steht. Ich ziehe meine Jacke aus, stopfe sie in meinen Rucksack, damit sie vom leichten Schneeregen nicht noch nasser wird. Meine Haare ziehe ich mit dem Zopfgummi fest zurück.

Ich laufe los. Um den See herum. Manchmal ist es sehr glatt, und ich muss mein Tempo verlangsamen. An anderen Stellen des Ufers will ich deshalb umso schneller sein. Teilweise ist der Boden kaum zu erkennen – ich rutsche aus und knalle auf den gefrorenen Waldboden. Jetzt nur nicht stehen bleiben! Ich stolpere voran und reibe die schmerzenden Stellen an meiner Hüfte. Auf meiner schwarzen Kleidung werden hoffentlich keine Flecken zu sehen sein – meine Mutter ist misstrauischer geworden in letzter Zeit. Vielleicht sollte ich heute nur zwei Runden laufen? Dann kriege ich noch die Bahn um 19 Uhr 27. Und wäre pünktlich zum Abendbrot da.

 

Bei der nächsten Runde weiß ich, wo ich aufpassen muss, und rutsche nicht mehr aus. Die Stellen vom Sturz tun kaum noch weh, ein paar blaue Flecken mehr oder weniger, was macht das schon? Außer mir wird sie niemand sehen. Außer mir und ihnen. Nur nicht nachdenken! Wie auf der Flucht laufe ich meine dritte Runde, hetze zur Bank, greife den Rucksack und renne über das Eis. Mitten auf dem See verlassen mich die Kräfte. Ich zittere am ganzen Körper, meine Nase läuft. Ich nehme ein Tempo aus der Tasche. Das Naseschnauben ist viel zu laut in dieser riesigen Stille. Ich hole meine Jacke aus dem Rucksack und ziehe sie an, Kalorien verbrennen hin oder her, denke ich trotzig. Meine innere Mahnerin schimpft.

Ich kann so besser laufen, entschuldige ich mich vor mir selbst, wenn der Rucksack nicht so schwer ist.