Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse - Rainer Forst - E-Book

Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse E-Book

Rainer Forst

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Beschreibung

Rainer Forst entwirft eine kritische Theorie, die unsere politische Wirklichkeit auf ihre Defizite und ihre Potentiale hin zu entschlüsseln vermag. Dazu bedarf es einer Perspektive, die sozialen und politischen Praktiken immanent ist und sie zugleich transzendiert. Forst betrachtet die Gesellschaft daher als »Rechtfertigungsordnung«, die aus Komplexen verschiedener auf Institutionen bezogener Normen und entsprechender Rechtfertigungspraktiken besteht. Eine »Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse« hat somit die Aufgabe, Legitimationen in ihrer Geltung und Genese zu analysieren sowie die ungleiche Verteilung von »Rechtfertigungsmacht« zu thematisieren. Vom Begriff der Rechtfertigung als sozialer Grundpraxis ausgehend, entwickelt Forst eine Theorie radikaler Gerechtigkeit, der Menschenrechte und der Demokratie sowie der Macht und der Kritik selbst. Schließlich stellt er die Frage nach dem utopischen Horizont der Gesellschaftskritik.

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Rainer Forst

Kritik derRechtfertigungsverhältnisse

Perspektiven einer kritischen Theorie der Politik

Suhrkamp

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-76740-5

www.suhrkamp.de

Für Jürgen Habermas

9Vorwort

Wer so viel über Rechtfertigung spricht, sollte kurz erklären können, was es mit dem vorliegenden Buch auf sich hat. Es stellt den auf meinen früheren Arbeiten aufbauenden Versuch dar, den rechtfertigungstheoretischen Ansatz weiter zu entwickeln, und zwar zunächst hinsichtlich der Klärung von Grundbegriffen der politischen Philosophie, ferner bezüglich der Implikationen für eine kritische politische Theorie sowie der möglichen Grenzen eines Denkens, das diskursive Gerechtigkeit ins Zentrum rückt. Leitend ist bei all dem die Idee, dass der Begriff der Rechtfertigung reflexiver Natur ist und sich die Philosophie dessen als praktische vergewissern muss, um Sackgassen zu vermeiden, in die sie allzu oft gerät.

Die Abfassung dieser in den letzten Jahren entstandenen Texte fiel in eine für mich sehr bewegte Zeit an der Universität Frankfurt. Insbesondere durch den im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder geförderten Forschungscluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen«, aber auch durch weitere neue Institutionen wie die (von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte) Kolleg-Forschergruppe »Justitia Amplificata« und das Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg, an deren Aufbau ich mitverantwortlich tätig sein durfte, bildete sich ein überaus reichhaltiger Forschungskontext heraus, der ebenso ein Frankfurter wie ein internationaler ist, und dem ich unzählige Anregungen und Erkenntnisse verdanke. Besonders den Kollegen, mit denen ich bei der Leitung dieser Institutionen zusammenarbeitete, schulde ich dafür Dank: Klaus Günther für den Cluster, Stefan Gosepath für die Kolleg-Forschergruppe und Spiros Simitis für das Forschungskolleg. In diesem Zusammenhang ist auch mein (inzwischen zusammen mit Stefan Gosepath geleitetes) Forschungskolloquium zur politischen Theorie zu nennen, dessen Beitrag zur Entwicklung meiner Gedanken unschätzbar ist. Den Mitgliedern und Gästen dieses Kolloquiums sei hier herzlich kollektiv gedankt.

Die Beiträge dieses Bandes habe ich (in verschiedenen Versionen) zu so vielen Gelegenheiten und an so vielen Orten vortragen dürfen, dass ich davor zurückschrecke, sie hier einzeln aufzuführen. Denen aber, die mir mit ausführlichen Kommentaren geholfen 10haben, bestimmte Fehler zu vermeiden, ohne dass sie mich stets vom ihrer Meinung nach Besseren überzeugen konnten, sei hier gedankt: Amy Allen, Joel Anderson, Richard Arneson, Ayelet Banai, Mahmoud Bassiouni, Ken Baynes, Seyla Benhabib, Richard Bernstein, Samantha Besson, Bert van den Brink, Allen Buchanan, Eva Buddeberg, Simon Caney, Jean Cohen, Ciaran Cronin, Julian Culp, Christoper Daase, Franziska Dübgen, Ronald Dworkin, Eva Erman, Raymond Geuss, Casiano Hacker-Cordón, Mattias Iser, Dorothea Gädeke, Rahel Jaeggi, Stefan Kadelbach, Anja Karnein, Andreas Kalyvas, Regina Kreide, Chandran Kukathas, Mattias Kumm, Tony Laden, Heike List, John McCormick, Christoph Menke, Darrel Moellendorf, Harald Müller, Sankar Muthu, Thomas Nagel, Peter Niesen, Dmitri Nikulin, David Owen, Philip Pettit, Thomas Pogge, Henry Richardson, Michel Rosenfeld, Stefan Rummens, Martin Saar, Andy Sabl, Rainer Schmalz-Bruns, Thomas Schmidt, Thomas M. Schmidt, Martin Seel, Ian Shapiro, Seana Shiffrin, Peter Siller, John Tasioulas, Laurent Thévenot, James Tully, Jeremy Waldron, Michael Walzer, Melissa Williams, Michael Zürn.

Bei der Rückübersetzung der Kapitel 5 und 6 aus dem Englischen haben mir Sonja Sickert, Franziska Dübgen und Jonathan Klein große Hilfe geleistet, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Sonja Sickert danke ich zudem für ihre umsichtige Bearbeitung des Gesamtmanuskripts. Eva Buddeberg bin ich für eine sorgfältige Lektüre überaus dankbar. Eva Gilmer vom Suhrkamp Verlag war wie stets die beste Lektorin, die sich ein Autor wünschen kann.

Besonders hervorheben möchte ich neben den eingangs genannten Kollegen einige wenige, mit denen mich langjährige Diskussionskontexte verbinden, die mein Denken nachhaltig beeinflusst haben: Nancy Fraser, Axel Honneth und Charles Larmore. Schon die Zusammensetzung dieser Gruppe zeigt, dass damit für mich die Aufgabe verbunden ist, einen eigenen Weg zu finden, doch ohne sie hätte ich ihn so nicht gehen können.

Meiner Familie, Mechthild, Sophie und Jonathan, verdanke ich so viel liebevolle Unterstützung und so viele Inspirationen, dass ich hier gar nicht erst versuche, dafür angemessene Worte zu finden.

Was meinen Denkweg betrifft, schulde ich den größten Dank meinem akademischen Lehrer, Jürgen Habermas, auf dessen Urteil ich nach wie vor zählen kann und dessen Denken das meine auch 11dort, wo ich etwas anders sehe, stark geprägt hat. Ihm möchte ich dieses Buch widmen.

Frankfurt am Main, im Juni 2011 Rainer Forst

13Einleitung: Zur Idee einer Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse

Eine reflexive politische Philosophie

Die politische Philosophie stellt seit Platons Politeia die Frage nach den Prinzipien für eine legitime bzw. gerechte Ausübung politischer Herrschaft. Nach wie vor ist es jedoch methodisch umstritten, wie man sich einer Antwort darauf nähern soll. Kommt es darauf an, im Modus reiner Vernunftkonstruktion eine »ideale Theorie« zu (er)finden, um dann zu fragen, wie die abstrakten moralischen Grundsätze, die sich dabei ergeben, in die Praxis »umgesetzt« werden können? Oder sollte man in der Realität konkreter politischer Kontexte beginnen, auf normative Wolkenkuckucksheime verzichten und sich auf das beschränken, was hier und jetzt angesichts tiefgreifender Interessenskonflikte möglich und akzeptabel ist? Mit diesem Streit sind viele philosophische Fragen verbunden – nach der Möglichkeit universalistischer Grundsätze, nach der Kraft der Vernunft, nach der Geschichtlichkeit von Normen, nach dem Verhältnis von Moral und Politik, schließlich nach der kritischen Funktion der politischen Philosophie. Allzu oft verbleibt dieser Streit aber schalen und unproduktiven Entgegensetzungen verhaftet, und der Vorrat an Kritiken der einen durch die andere Seite nutzt sich mit der Zeit ab. [1]

Der Ansatz, den ich hier vorlege, versucht, diese Sackgassen zu vermeiden. Ich beginne dazu bei der zentralen Frage der Rechtfertigung politischer Herrschaft und wende sie reflexiv: Wer stellt eigentlich diese Frage, und wer hat die Autorität, sie zu beantworten? Es ist an der Zeit, sich an die politische Pointe der politischen Philosophie zu erinnern und die philosophische Begründungsfrage als eine praktische Frage zu begreifen bzw. die Idee der Rechtfertigung zu radikalisieren und zugleich zu kontextualisieren. Denn die Rechtfertigungsfrage stellt sich nicht abstrakt, sondern sie wird konkret gestellt: von historischen Akteuren, die sich mit den Recht14fertigungen für die normative Ordnung, der sie unterworfen sind, nicht länger zufriedengeben. Die Frage der politischen Philosophie ist ihre Frage, und aus der Perspektive derer, die sie stellen, ist die Rechtfertigung, auf die es ankommt, eine, die sie je einzeln und gemeinsam als Freie und Gleiche akzeptieren können, wobei ihre Akzeptanz oder Zurückweisung selbst wieder bestimmten Normen unterliegt. In meinen Augen kommt es darauf an, die Normen und Prinzipien zu rekonstruieren, die in diesem praktischen Anspruch auf Rechtfertigung enthalten sind. Denn die Dynamik der Rechtfertigung, um die es hier geht, ist ebenso eine konkrete und historisch situierte wie sie eine allgemeine Struktur aufweist, die es philosophisch zu erhellen gilt – in erster Linie hinsichtlich des Prinzips der Rechtfertigung selbst, das hier am Werk ist. Sein Ursprung ist der soziale Konflikt, der durch ein politisches »Nein« in die Welt kommt.

Die politische Philosophie beginnt mit der Rechtfertigungsfrage, aber eine reflexive und kritische politische Philosophie wendet sie auf sich selbst zurück: Was heißt es, eine Rechtfertigungsfrage zu stellen und zu beantworten, was genau wird dort beansprucht, und welche Voraussetzungen stecken in der These, dass eine solche Rechtfertigung »vernünftig«, »akzeptabel« oder »gerecht« sein muss? In meinen Augen erschließen sich die Antworten auf diese Fragen dann, wenn man das Politische als eine bestimmte Praxis der Rechtfertigung versteht: als die Praxis der Rechtfertigung, in der Personen, die bestimmten Normen oder Institutionen – kurz gesagt: einer »normativen Ordnung« als Ordnung von konkret geltenden und zugleich Geltung beanspruchenden Normen [2] – unterworfen sind, die Gründe für die Geltung dieser Ordnung prüfen, möglicherweise verwerfen und neu bestimmen – und damit auch diese Ordnung verändern. Menschen sind – das ist die sozialphilosophische These, die ich hierbei vertrete – stets Teilnehmer an einer Vielzahl von Rechtfertigungspraktiken; was immer wir denken oder tun, spielt sich in bestimmten (sozialen) Räumen von Gründen ab, und was wir Vernunft nennen, ist die Kunst, sich in und zwischen ihnen zu orientieren. [3] Im politischen Raum, der nicht a priori von anderen gesellschaftlichen Bereichen abgegrenzt ist, und in dem es um die Ausübung von Herrschaft innerhalb von 15Kollektiven geht, stellt sich die Rechtfertigungsfrage stets so, dass beantwortet werden muss, wer über wen aus welchen Gründen und in welcher Weise Herrschaft ausüben kann – wenn überhaupt. Legitim kann diese Herrschaft nur als gerechtfertigte sein, was impliziert, dass eine bestimmte Rechtfertigungspraxis institutionalisiert werden muss, und diese ist die erste Praxis der politischen und sozialen Gerechtigkeit. Denn die Gerechtigkeit ist, wie Rawls sagt, [4] die erste Tugend der gesellschaftlichen Grundstruktur, aber eben nicht so, dass die Mitglieder dieser Struktur bestimmte Prinzipien vorfinden, die sie »anwenden« müssen, sondern so, dass sie diese Prinzipien zuerst hervorbringen. Dies aber setzt einen Begriff fundamentaler Gerechtigkeit als diskursiver Gerechtigkeit voraus, wie ich im Folgenden zeige. Er stellt das zugleich substanzielle und prozedurale Fundament einer gerechten Gesellschaft dar, ohne ihre Institutionen umfassend vorzuprägen.

Alles kommt somit darauf an, die politische Praxis der Rechtfertigung angemessen zu bestimmen – und sich an den Grundsatz der Autonomie zu halten, dass es die Unterworfenen selbst sind, die darin die Subjekte und nicht nur die Objekte der Rechtfertigung sein sollen. Ungezählte historische Kämpfe haben diesen Grundsatz als zentrale Forderung in die politische Welt eingebracht, [5] und sie haben damit die Frage nach der praktischen Vernunft so beantwortet, dass als Prinzip vernünftiger Begründung die rekursive Forderung anzusehen ist, dass nur die Normen den Anspruch auf allgemeine und wechselseitige Geltung erheben dürfen, die diesen Anspruch allgemein und wechselseitig einlösen können. Dies ist der Grundsatz der praktischen Vernunft in der politischen Welt, und dieser Grundsatz ist ebenso ein geschichtlicher wie er ein, wenn man so will, »apriorischer« ist, da er dem allgemeinen Prinzip der Rechtfertigung aufruht, welches besagt, dass Normen stets ihrem Geltungsanspruch nach zu begründen sind. Man muss nur verstehen, dass dies zugleich ein praktischer Imperativ ist, denn vernünftig zu sein heißt nicht nur, zu wissen, wie man was zu rechtfertigen hat, sondern auch, dass dies gefordert ist, wenn es um Herrschaft über andere geht. Diese anderen haben jeweils ein irreduzibles Recht auf Rechtfertigung, wenn es darum geht, 16wem sie folgen und was sie akzeptieren sollen – und ebenso haben sie eine Pflicht zur Rechtfertigung, wenn es um ihre Ansprüche geht.

Der Grundanspruch in der politischen Welt – aber auch, in entsprechenden Kontexten, der Moral insgesamt –, den eine Person erheben kann, ist der, eine eigene und anderen gleichgestellte Rechtfertigungsautorität in Bezug auf das zu sein, was ihr gegenüber gelten soll. Die Person ist dabei als autonome ebenso unersetzbar wie sie eine unter vielen ist; darin steckt kein Widerspruch. In der politischen Philosophie kommt es daher darauf an, konsequent die Perspektive der Beteiligten an Rechtfertigungspraktiken zu verfolgen, und wieder zeigt sich dabei die Überflüssigkeit eines weiteren, oft diskutierten Gegensatzes, dem zwischen »immanenter« und »transzendenter« Perspektive. Denn betrachtet man Personen als gesellschaftliche und zugleich autonome Wesen, die aktiv die normativen Strukturen bestimmen können bzw. können sollten, die für sie gelten, dann ist dies ein ebenso praxisimmanenter wie praxistranszendierender Standard: Niemand geht in der Rechtfertigungspraxis, an der er oder sie teilhat, ganz auf, denn stets gibt es die Möglichkeit, diese reflexiv zu befragen und zu kritisieren. Ob diese Möglichkeit eine reale ist, muss eine Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse analysieren können.

Sieht man Personen als Rechtfertigungswesen, so erscheinen sie anders als in vielen politischen Theorien als aktive Wesen, nicht als passive oder zu behandelnde, bedürftige oder leidende. Dies sind sie auch, aber ihr wesentlicher Anspruch im Sinne der Gerechtigkeit ist es nicht, die Güter für ein »menschliches« oder »gutes« Leben zu erhalten; ihr Anspruch besteht darin, als Rechtfertigungssubjekte anerkannt zu sein, wenn es um die politische Bestimmung einer Grundstruktur der Hervorbringung und Verteilung von Gütern geht – innerhalb einer Gesellschaft und über sie hinaus. Auch dann, wenn Personen dazu die Fähigkeiten fehlten, gälte es, sie als autonome Wesen zu respektieren, die niemals nur Objekt, sondern Subjekt der Rechtfertigung sind.

Allzu oft lebt die politische Philosophie noch in einem vordemokratischen Zeitalter. Sie zeichnet teleologische Werte aus, die einer gerechten oder guten Ordnung zugrunde liegen sollen, ohne dass in dieser Ordnung die Unterworfenen als Autoren derselben vorkommen. Sie ruft bisweilen zur Praxis zurück, sieht die 17Betroffenen aber nicht primär als die Subjekte an, diese Praxis zu bestimmen, sondern rekonstruiert Eigenlogiken oder »Pointen« solcher Praxen, als ob diese eine eigene Geltung hätten. Sie greift zu Rechtfertigungsfiguren, die »überlappende« oder andere versöhnende Konsense erfinden, an denen kaum jemand beteiligt war. Sie hält vielleicht demgegenüber die »Realität« hoch und fordert eine Analyse der Machtverhältnisse ein, glaubt dabei aber allzu oft, dass das Ernstnehmen von Herrschaftsverhältnissen und realen Motivationen und Konflikten moralische Konstruktionsprinzipien ausschließt [6] – und übersieht dabei die normative Realität des Einforderns von Rechtfertigungen, die zumindest besser sind als die gegebenen, womit die Dynamik der Rechtfertigung in die politische Wirklichkeit einzieht, der die Theorie nicht neutral gegenüberstehen darf, wenn sie kritisch sein will. Rechtfertigungen, gute oder ideologische, sind der Stoff des Politischen, und das Recht, sie zu hinterfragen, ist das erste politische Recht.

Der Ansatz, den ich wähle, geht somit weder von der abstrakten Konstruktion eines Ideals aus noch von einer angeblich realistischen empiristischen Konzeption der Politik als Ort des Aufeinandertreffens normativer Interessen, die übergeordnete Grundsätze ausschließen, was im Dezisionismus endete. Er versteht die Grundfrage nach legitimer Herrschaft als Frage nach gerechter und das heißt: gerechtfertigter, Willkür ausschließender und nichtdominierender Herrschaft, und er rekonstruiert rekursiv die Normen – teils prozeduraler, teils substanzieller Natur –, die eine solche Rechtfertigung ermöglichten. Die Gerechtigkeit ist dabei nicht nur das, was in einer Gesellschaft als gerecht gilt, sondern das, was in ihr reziprok und allgemein gelten dürfte, wenn die Normunterworfenen freie und gleiche Normautoren wären. Dass sie dies werden, ist die erste Forderung der Gerechtigkeit. Die politische Philosophie verbaut sich den Weg zu dieser Einsicht, wenn sie nicht konsequent auf die Logik der Rechtfertigung als einer nicht nur philosophischen, sondern reflexiv praktischen Logik achtet. Jede politische Philosophie stellt die Rechtfertigungsfrage legitimer Herrschaft, aber nur wenige wenden sie reflexiv und machen das Rechtfertigungsprinzip selbst, als Prinzip diskursiver Praxis, zur theoretischen Grundlage.

18Damit argumentiere ich auch für eine bestimmte sozialphilosophische Position, die die Gesellschaft als Ensemble von Rechtfertigungspraktiken begreift. [7] Dem würde eine Sozialphilosophie nicht gerecht, die auf ethischen Begriffen des guten Lebens beruht, ohne diese selbst noch einmal der Rechtfertigungsautorität der Betroffenen auszusetzen; so würde die gesellschaftliche Entfremdung, die zu Recht in der Nachfolge Rousseaus, Hegels und Marx’ kritisiert wird, nur perpetuiert, denn die eigentliche Entfremdung besteht dort, wo Individuen sich nicht als Rechtfertigungssubjekte sehen, die ein Recht auf Rechtfertigung in gesellschaftlichen und politischen Kontexten haben.

Kritische Theorie

Das Prinzip der Rechtfertigung ist zugleich ein Prinzip der Autonomie und der Kritik. Die Theorie macht dies selbst zu ihrer Grundlage, das heißt, sie konstruiert nicht über die Köpfe hinweg eine normative Ordnung, sondern versucht, diese selbst als konstruktive Hervorbringung zu denken – und stößt damit auf die Phänomene, die das verhindern. Damit wird sie zu einer kritischen Theorie, die die alte Frage aufnimmt, weshalb eine moderne Gesellschaft nicht dazu in der Lage ist, rationale Formen der gesellschaftlichen Ordnung hervorzubringen. Kritische Theorie ist der Versuch, an dieser Frage festzuhalten, dabei aber den verwendeten Begriff der Vernunft selbst kritisch auf seine »Unvernunft« und seine Herrschaftspotenziale zu befragen. Die in Horkheimers Worten »vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrschte kritische Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft«, die die Idee gesellschaftlicher »Selbstbestimmung« gegen »blinde« Notwendigkeit als Kern verteidigt, [8] verwendete bereits einen reflexiven Begriff der Gerechtigkeit: »Das ist der allgemeine Inhalt des Gerechtigkeitsbegriffs; nach ihm bedarf die jeweils herrschende soziale Ungleichheit ratio19naler Begründung. Sie hört auf, als Gut zu gelten, und wird etwas, das überwunden werden soll.« [9]

Auch nachdem fraglich geworden war, ob die Maßstäbe der Vernunft, die die Theorie »durchherrschten«, ihrer kritischen Intention gerecht würden, ging die Kritik der Vernunft nicht so weit, das falsche Absolute mit der vernünftigen Idee »gesamtgesellschaftlicher Freiheit« (Adorno), die nach wie vor galt, zu verwechseln: »Wir mögen nicht wissen, was das absolut Gute, was die absolute Norm, ja auch nur, was der Mensch oder das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau.« [10] Die Kritik der »Pathologien der Vernunft«, wie Axel Honneth sie nennt, hält an der Idee eines »vernünftigen Allgemeinen« fest, das sich einem sozialen Prozess »rationaler Begründung« verdankt, »denn so unterschiedlich auch die Vernunftbegriffe sein mögen, die von Horkheimer bis Habermas zur Anwendung gelangten, so laufen sie letztlich doch alle auf die Vorstellung hinaus, daß die Hinwendung zur befreienden Praxis der Kooperation nicht aus affektiver Bindung, aus Gefühlen der Zugehörigkeit oder Übereinstimmung, sondern aus rationaler Einsicht erfolgen soll«. [11]

Mit Honneth bin ich der Ansicht, dass eine kritische Theorie sich als »Reflexionsform einer geschichtlich wirksamen Vernunft« [12] verstehen sollte, die eine emanzipatorische Kraft darstellt. Sie muss ein ausreichendes Sensorium für ungerechtfertigte gesellschaftliche Verhältnisse ebenso ausbilden wie sie die Maßstäbe der Kritik reflexiv (und selbstkritisch) auf den Begriff bringen können muss. Jürgen Habermas folgend kann angesichts der Ermangelung eines substanzialistischen und umwillen der Vermeidung eines instrumentellen Vernunftbegriffs »rational« nur »diskursiv gerechtfertigt« heißen, [13] und das heißt, dass es nicht in erster Linie um eine »ideale« Theorie der Normenrechtfertigung gehen kann, sondern um eine Theorie, die danach fragt, wie Normenrechtfertigung zu einer diskursiven Praxis werden kann – und weshalb sie in vielen gesellschaftlichen Bereichen fehlt. Letzteres ist ohne die Zusammenarbeit mit kritischen Sozialwissenschaften nicht zu beantworten; 20für Ersteres bedarf es einer differenzierten Sicht darauf, was eine normative Ordnung zu einer »Rechtfertigungsordnung« macht. Denn Rechtfertigung ist ein zugleich deskriptiver und normativer Begriff – er bezieht sich auf die in einer Gesellschaft real gegebenen Rechtfertigungen für gesellschaftliche Verhältnisse, und er bezieht sich darauf, welche Verhältnisse erst als gerechtfertigte angesehen werden könnten. Dazwischen zieht als sozusagen dritte Sphäre die der Kritik ein, und sie fordert an erster Stelle bestimmte Verhältnisse der Rechtfertigung selbst als Verhältnisse diskursiver Praxis ein. Eine jede normative Ordnung trägt somit den Aspekt der Schließung in sich, was bedeutet, dass sich der Raum der Rechtfertigung verengt und nur bestimmte Ansprüche als geltend zulässt, ob gut begründbar oder nicht, während sie zugleich auch das Potenzial der Öffnung in sich trägt, des Infragestellens, auch des radikalen.

Eine Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse hat entsprechend fünf wesentliche Aufgaben. Erstens zielt sie auf eine kritische Gesellschaftsanalyse ab, die nicht zu rechtfertigende soziale und politische Verhältnisse aufzeigt, also nicht nur politische im engeren institutionellen Sinne, sondern auch wirtschaftliche oder kulturelle. Gemeint sind all jene mehr oder weniger institutionalisierten sozialen Beziehungen und Strukturen, die dem Maßstab reziproker und allgemeiner Rechtfertigung nicht gerecht werden und durch Formen der Exklusion, von Privilegien und Beherrschung gekennzeichnet sind. Hier greifen somit prozedurale und substanzielle Gesichtspunkte ineinander.

Zweitens impliziert diese Theorie eine diskurstheoretische, zum Teil auch genealogische Kritik »falscher« (möglicherweise ideologischer) Rechtfertigungen asymmetrischer sozialer Verhältnisse, also solcher Legitimationen, die nicht zu rechtfertigende Beziehungen und Strukturen als begründet darstellen. Hierbei dienen die Kriterien von Reziprozität und Allgemeinheit als wesentliche Anhaltspunkte, auch wenn sie häufig nicht zu definitiven Antworten führen, denn diese wären erst unter den Betroffenen zu leisten.

Drittens enthält diese Theorie nicht nur die Forderung nach gerechtfertigten sozialen und politischen Verhältnissen, sondern reflexiv gesprochen die Forderung nach einer »Grundstruktur der Rechtfertigung« als erstem Imperativ der Gerechtigkeit. Dies freilich nicht als vollständiges Skript, das »anzuwenden« wäre, sondern als Rahmen für eine autonome diskursive Praxis der Betroffenen 21selbst – einschließlich der Frage, was »Betroffenheit« bzw. »Unterwerfung« heißt, denn das Recht auf Rechtfertigung endet nicht an den Grenzen staatlicher Rechtfertigungskontexte. [14]

Viertens erfordert eine umfassende Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse eine Erklärung des Scheiterns oder des Fehlens wirksamer gesellschaftlicher und politischer Strukturen der Rechtfertigung, welche dazu geeignet wären, ungerechtfertigte Verhältnisse zu enthüllen und zu verändern. Hierbei sind historische und gesellschaftsanalytische Perspektiven essenziell.

Fünftens schließlich muss eine solche Theorie die Maßstäbe ihrer kritischen Tätigkeit ausweisen können, und zwar als solche, die sich auch selbstkritisch auf sich und ihre eigenen blinden Flecke und Ausschließungen zurückwendet. [15] Sie fabriziert keine »absoluten« Normen oder Ideale, sondern bindet jeden Geltungsanspruch konsequent an die Zustimmungsmöglichkeit durch die Normunterworfenen zurück. Dieser Grundsatz gilt als für Kritik, auch die Kritik der Kritik, unverzichtbar.

Intelligible Macht

Kann aber, so könnte man skeptisch einwenden, eine solche Theorie, die sich mehr im intelligiblen als im sozialen Raum zu bewegen scheint, Verhältnisse gesellschaftlicher und politischer Macht bzw. Herrschaft angemessen in den Blick bekommen? Dies wirft die Frage auf, wie genau jenes mysteriöse Phänomen der Macht zu verstehen ist, das in der Gesellschaftstheorie – denkt man an so gegensätzliche Theorien wie die von Weber, Habermas, Arendt, Foucault oder Luhmann – so unterschiedlich aufgefasst wird. Dazu hier nur einige unvollständige Bemerkungen. [16] Ich schlage eine kognitivistische Konzeption der Macht vor, die zunächst normativ neutral ist – Macht ist weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes. Aber ihr eigentlicher Existenzraum ist der Raum der Gründe bzw. der Rechtfertigungen. Verstehen wir soziale, intersubjektive Macht als das Vermögen von A, B dazu zu bewegen, etwas zu denken oder 22zu tun, das B anders nicht gedacht oder getan hätte, ist zunächst offen, ob dies durch eine gute und überzeugende Rede, eine Empfehlung, eine Lüge, eine Verführung, einen Befehl oder eine Drohung geschieht. In all diesen Fällen beruht der Effekt der Macht, ihre Wirkung, auf der Anerkennung eines Grundes seitens B, sein Verhalten gemäß As Intention auszurichten. Macht existiert zwischen Menschen, solange sie als Handelnde aufeinander einwirken, indem sie auf all diese unterschiedlichen Weisen andere zu etwas bewegen können; sie verschwindet dann, wenn an die Stelle der Macht bloße physische Gewalt gesetzt wird. Der Entführer hat nur Macht über den Entführten und diejenigen, die Lösegeld zahlen sollen, solange seine Drohung ernst genommen wird; wird sie dies nicht, kann er noch immer bloße Gewalt üben, die Macht aber, sein Ziel zu erreichen, hat er nicht mehr. Das Schicksal von Despoten, die ab einem bestimmten – schwer zu bestimmenden – Punkt keine Macht mehr haben, ist ein politisches Beispiel hierfür; auch wenn ihnen die Panzer noch zur Verfügung stünden (einschließlich derer, die sie führen), können sie zu stumpfen Machtmitteln werden, wenn sie nicht mehr gefürchtet werden. Eine Spirale der Gewalt kann so entstehen, aber auch der Umsturz.

So ist das eigentliche Phänomen der Macht intelligibler, geistiger Natur: Macht zu haben bedeutet, den Raum der Gründe und Rechtfertigungen anderer Subjekte – und hier sind die Grade wichtig – verwenden, beeinflussen, bestimmen, besetzen oder gar abschließen zu können. Dies kann in einem einzelnen Fall geschehen – durch eine gute Rede oder eine Täuschung –, es kann aber auch in einer gesellschaftlichen Struktur seinen Ort haben, die auf bestimmten Rechtfertigungen oder verdichteten Rechtfertigungsnarrativen beruht. Eine Rechtfertigungsordnung ist somit stets eine Machtordnung, was weder über die Rechtfertigungen noch die Machtkonstellation selbst etwas aussagt. Rechtfertigungen können oktroyiert oder aus freien Stücken geteilt sein, und dazwischen gibt es viele weitere Modi. Die Macht spielt sich somit immer im kommunikativen Raum ab, aber das heißt nicht, dass sie gut begründet ist. Sie ist stets diskursiver Natur, und der Kampf um Macht ist der Kampf um die Möglichkeit der Strukturierung oder gar Beherrschung des Rechtfertigungshaushalts anderer. Ihr Modus operandi ist kognitiver, nicht aber unbedingt reflexiver Natur. Es gibt somit kein Reich der »Vernunft« jenseits der »Macht«, aber es gibt bessere 23und schlechtere, vernünftige und unvernünftige neben wirksamen und weniger wirksamen Rechtfertigungen. Eine Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse beschäftigt sich mit all diesen Phänomenen im Raum der Gründe, der ein sozialer Raum ist. Sie ist an all den Orten interessiert, wo Rechtfertigungen hervorgebracht, gefestigt, verknüpft, in Frage gestellt oder zurückgewiesen werden – mit guten oder weniger guten Gründen. Dies setzt eine Analyse von diskursiven Machtpositionen im gesellschaftlichen (Positionen, Ämter, Autoritäten, Medien usw.) wie auch im diskursiven Raum (hegemoniale Rechtfertigungsnarrative, Gegennarrative usw.) voraus.

Nennen wir Macht generell das Vermögen von A, den Raum der Gründe für B so zu beeinflussen, dass B auf eine Weise denkt oder handelt, die auf As Einfluss zurückgeht, der intentionaler Natur sein muss, sonst spräche man nur von Wirkung und nicht von Macht. Herrschaft heißt dann eine Form der spezifischen Machtausübung, in der soziale oder politische Verhältnisse zu einer Ordnung gefügt werden, die auf bestimmten Rechtfertigungen beruht, die diese Ordnung stützen. Von Beherrschung sprechen wir, wenn dies asymmetrische Verhältnisse sind, die auf einer Abschließung des Rechtfertigungsraumes zugunsten bestimmter, nicht begründeter Legitimationen beruhen, die eine solche Ordnung etwa als gerecht, gottgewollt oder nicht änderbar darstellen. Der Raum der Begründungen ist dann möglicherweise ideologisch versiegelt oder durch wirksame Drohungen besetzt. Das heißt, dass Zwang vorliegt. Reine Gewalt schließlich treffen wir dort an, wo eine Rechtfertigungsbeziehung, auch als asymmetrische, die intelligible Kraft entfaltet, durch physische Wirkung ersetzt wird. Dann ist die Macht im Schwinden begriffen, was gerade nicht heißt, dass die Freiheit auftritt; sie verschwindet eher. Denn die Freiheit gehört zur Macht, solange diese auf kognitiv bewegte Subjekte einwirkt. Macht ist die Kunst, andere durch Gründe zu binden; sie ist ein Kernphänomen der Normativität. Auf einem Spektrum von Machtbeziehungen liegen somit einerseits die Verhältnisse, die auf frei geteilten, reziprok-allgemeinen Gründen beruhen, und andererseits die im Grenzbereich der Ersetzung von Macht durch Gewalt. Wohlgemerkt ist dabei die Macht auch dort vorhanden, wo kognitive Wirkung durch Lügen oder Täuschungen erzielt wird. [17]

24Wer somit an einer Analyse der Macht interessiert ist, muss eine differenzierte Methode verwenden. Sie muss den diskursiven Raum als Raum guter oder schlechter Rechtfertigungen erschließen, sie muss deren Genealogie und komplexe Wirkungsweise analysieren, und sie muss die diskursiv entscheidenden Positionen und Strukturen in einer Gesellschaft in den Blick nehmen. Sie versteht (so unvollkommen das bei einer Analyse eines intelligiblen Phänomens auch nur gelingen kann) den diskursiven Raum als Raum der Macht – und analysiert die realen Prozesse, die diesen Raum bestimmen. Es geht hier somit nicht nur um die Rechtfertigung der Macht, sondern primär um die Macht der Rechtfertigungen.

Der Gang der Argumentation

Die Kapitel dieses Bandes sollen für sich sprechen, aber eine kurze Wegbeschreibung sei mitgegeben. Der erste Aufsatz in dem Teil über »radikale Gerechtigkeit« markiert eine in meinen Augen für die zeitgenössische Diskussion über Gerechtigkeit entscheidende Differenz zwischen zwei Denkweisen. Die eine ist güter- und empfängerorientiert und ist daran interessiert, wer welche Güter aus welchen Gründen erhalten sollte, um natürliche und soziale Willkür zu kompensieren. Die andere deutet das Willkürverbot politisch und ist beziehungs- und herrschaftszentriert. Sie fragt zuerst danach, wer über die Strukturen entscheidet, in denen darüber entschieden wird, wer was aus welchen Gründen erhalten soll; ist die Frage der gerechten Herrschaft geklärt, klären sich auch die Frage der Produktion und der Verteilung von Gütern – auf diskursiv gerechtfertigte Weise. Die politische Pointe der Gerechtigkeit zielt auf Verhältnisse und Strukturen, nicht auf subjektive oder objektive Zustände. Die erste Frage der Gerechtigkeit ist die nach der Verteilung von »Rechtfertigungsmacht« in einer Gesellschaft – wissend, dass dies kein leicht zu verteilendes »Gut« ist.

Das zweite Kapitel nimmt eine kritische Sortierung ganz unterschiedlicher Ansätze vor, um zu verstehen, was Menschenrechte sind und wie sie begründet werden. Wieder wird ein reflexives Argument verwendet: Wenn Menschenrechte solche sind, die kein Mensch anderen mit guten Gründen verweigern kann, dann liegt ihnen das Prinzip der wechselseitigen und allgemeinen Rechtfer25tigung nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu Grunde. Die Menschenrechte beruhen dann auf dem Recht auf Rechtfertigung und drücken all die Rechte aus, die Menschen auf dieser Basis beanspruchen können, nicht nur im prozeduralen Sinne. Sie gehen auf den Respekt für Andere als Freie und Gleiche zurück, drücken ihn aber auch politisch-rechtlich aus.

Das dritte Kapitel fragt nach der »normativen Ordnung« von Gerechtigkeit und Frieden – in einem doppelten Sinne: als soziale Ordnung und als Ordnung von Prioritäten. Dabei erscheint die Gerechtigkeit nicht als Rivalin neben dem Frieden, sondern als Grundsatz, der den Wert des Friedens ebenso begründet wie qualifiziert. Der Friede muss der Gerechtigkeit dienen, aber dies auf eine gerechtfertigte Weise, die verschiedenste Dimensionen der Gerechtigkeit berücksichtigt und diese selbst kritisch betrachtet.

Die Texte des zweiten Teils widmen sich dem Komplex »Rechtfertigung, Anerkennung und Kritik«. Der erste von ihnen rekonstruiert die kritische und emanzipatorische Bedeutung des Begriffs der »Menschenwürde« als politisch-moralischer Einforderung eines Rechts auf Rechtfertigung. Er drückt den Status-Anspruch aus, gleichberechtigte Autorität im sozialen Raum der Gründe zu sein, nicht den Anspruch auf eine bestimmte Versorgung mit Gütern für ein »menschenwürdiges Dasein«.

In »Das Wichtigste zuerst« platziere ich mich in der Kontroverse zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth um die rechte Bestimmung einer kritischen Theorie der Gerechtigkeit mit einem dritten Vorschlag, der auf dem Prinzip der Rechtfertigung beruht, dabei aber einen diagnostischen und evaluativen Pluralismus entfaltet. Damit sollen bestimmte Schwierigkeiten der normativen Begründung wie auch der Perspektive einer kritischen Theorie auf Gesellschaften unseres Typs (und darüber hinaus) vermieden werden.

In Kapitel 6 geht es mir darum, mit Verweis auf die komplexen Dimensionen des Begriffs der Toleranz zu zeigen, welche Dynamiken von Anerkennung und Missachtung sichtbar werden, wenn man das Rechtfertigungsprinzip als emanzipatorisches versteht. Dies ermöglicht einen neuen Blick darauf, was es heißt, die Identität anderer zu respektieren und sie als Gleiche und doch Verschiedene anzusehen. Dies steht in einer Spannung zu bestimmten Vorstellungen von Sittlichkeit nach Hegel.

Die Kapitel des dritten Teils fragen nach den Grenzen bzw. ei26nem »Jenseits« der Gerechtigkeit. Denn immer schon, verstärkt aber in der neueren Debatte, muss sich ein an der Gerechtigkeit orientiertes Denken mit dem Vorwurf der Selbstgerechtigkeit auseinandersetzen – als einem doppelten Vorwurf. Er bezieht sich einerseits auf ein zu rigides Verständnis einer gerechten Rechtfertigungsordnung, die sich gegen kritische Stimmen abschließt, andererseits aber auch auf die Frage, ob die gerechte Ordnung die einzige ist, die zu einer menschlichen Lebensweise gehört – und wo sie (zu Recht) herausgefordert wird. Dies wird im Dialog mit Ibsen, Cavell und Adorno gezeigt.

In Kapitel 8 gehe ich unter dem Titel »Republikanismus der Furcht und der Rettung« zentralen Motiven der politischen Philosophie Hannah Arendts nach, die sich im Wesentlichen um die Frage drehen, wie es gelingen kann, den Verlust politischer Freiheit und Autonomie zu vermeiden, der in der modernen Gesellschaft droht. Auch dort, wo Arendt kritisiert wird, bleibt ihre Frage nach dem flüchtigen Moment politischer Selbstbestimmung präsent.

Abschließend widme ich mich dem Thema der politischen Utopie, das in der zeitgenössischen Philosophie zu Unrecht vernachlässigt wird. Dies liegt auch daran, dass man die Reflexivität dieser Tradition unterschätzt. Denn sie malt nicht nur Idealbilder einer glücklichen Welt, die wir nur näherungsweise erreichen können; sie wirft uns vielmehr zurück in den ungemütlichen Zwischenraum jenseits der schlechten Realität und diesseits des selbst wieder in seiner Reinheit problematischen Ideals, das so zerfällt. Die Reflexion auf zwei verkehrte Welten ist das Ergebnis, und dann erst enthüllt sich die Radikalität des Denkens des »Nirgendwo«. Die Ironie gilt dann ebenso dem, der die bestehende Welt als die einzig mögliche ansieht, wie dem, der sich in eine perfekte hineinträumt, deren Realisierung dann als primär technisches Problem erscheint. Kritisches Denken hängt somit weder an dem Realen noch an dem Idealen, es beginnt vielmehr mit dem Gedanken der Autonomie als einer Aufgabe des Konflikts und der Kreativität.

27I. Radikale Gerechtigkeit

291. Zwei Bilder der Gerechtigkeit

1. Von der Gerechtigkeit haben sich die Menschen zu verschiedenen Zeiten Bilder gemacht. Sie erscheint als Göttin Dike oder Justitia, zumeist mit, zuweilen aber auch ohne Augenbinde, doch in der Regel mit dem Schwert und stets mit einem Zeichen der Ausgewogenheit und der Überparteilichkeit; man denke etwa an Lorenzettis »Allegorie der guten Regierung« im Palazzo Pubblico in Siena. Manchmal ist die personifizierte Gerechtigkeit schön und erhaben, zuweilen aber auch – so in den berühmten, im Krieg zerstörten Gemälden Klimts für die Wiener Universität – grausam und hart.

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