Kritische Sexualwissenschaft - Volkmar Sigusch - E-Book

Kritische Sexualwissenschaft E-Book

Volkmar Sigusch

0,0

Beschreibung

Volkmar Sigusch, Arzt und Soziologe und einer der renommiertesten Sexualwissenschaftler weltweit, versammelt in diesem Band seine zentralen Texte und Thesen, mit denen er die Kritische Sexualwissenschaft begründete. Im Zentrum dieses Fazits steht die Überzeugung: Keine Sexualität eines Menschen ist mit der eines anderen identisch. Weil sich das Sexuelle der Systematisierung entzieht, kann darüber theoretisch nur in Fragmenten und mit Bezug auf die gelebte Praxis gesprochen werden. Die Auseinandersetzung reicht von Natur, Sexualität und Liebe über Fetischismus, Transsexualität, Feminismus, Pornografie, AIDS, sexuelle Störungen und Paartherapie bis hin zu Neosexualitäten und Liquid Gender. »Sigusch zeigt, wie der zwischen Mystifikation und Sensation eingeklemmten Sexualwissenschaft ein Weg ins Freie eröffnet werden kann.« FAZ

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 510

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Volkmar Sigusch

Kritische Sexualwissenschaft

Ein Fazit

Campus Verlag

Frankfurt / New York

Über das Buch

Volkmar Sigusch, Arzt und Soziologe und einer der renommiertesten Sexualwissenschaftler weltweit, versammelt in diesem Band seine zentralen Texte und Thesen, mit denen er die Kritische Sexualwissenschaft begründete. Im Zentrum dieses Fazits steht die Überzeugung: Keine Sexualität eines Menschen ist mit der eines anderen identisch. Weil sich das Sexuelle der Systematisierung entzieht, kann darüber theoretisch nur in Fragmenten und mit Bezug auf die gelebte Praxis gesprochen werden. Die Auseinandersetzung reicht von Natur, Sexualität und Liebe über Fetischismus, Transsexualität, Feminismus, Pornografie, AIDS, sexuelle Störungen und Paartherapie bis hin zu Neosexualitäten und Liquid Gender.

»Sigusch zeigt, wie der zwischen Mystifikation und Sensation eingeklemmten Sexualwissenschaft ein Weg ins Freie eröffnet werden kann.« FAZ

Vita

Volkmar Sigusch war von 1973 bis 2006 Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt am Main und Professor für Spezielle Soziologie. Er gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin und ist außerdem ein erfahrener Sexual- und Paartherapeut. Nicht zuletzt ist er ein brillanter Essayist.

Inhalt

Vorwort

Das gemeine Lied der Liebe

Das Hohe Lied der Liebe

Das Niedere Lied der Liebe

Die historische Geburt der individuellen Geschlechtsliebe

Die Liebe als Himmel und Hölle

Die Liebe als allgemeines Erfordernis in der Kälte des Lebens

Die Liebe als kostbare Einzigartigkeit

Natur und Sexualität — Über die Bedeutung der Kategorie der Natur für eine Theorie der Sexualität des Menschen

Zur Philosophiegeschichte der Kategorie der Natur

Die Kategorie der Natur bei Marx

Der »Stoffwechsel« von Mensch und Natur

Natur und Gesellschaft

Naturgeschichte und Menschengeschichte

Individuum und Gesellschaft

Sexualität und Gesellschaft

Drang, Begierde oder Trieb?

Über den Fetischcharakter der Sexual- und Liebesformen

Was heißt kritische Sexualwissenschaft?

I. Aporien

II. Episteme

III. Wissenschaft und Subjekt

IV. Praxis und Politik

Der AIDS-Komplex und unser Leviathan

Kann und soll uns der Staat über AIDS aufklären?

Was ist neu am AIDS-Komplex?

Tugenden und Laster

Doppelzüngigkeit

Vertrauen und Politik

Wider die staatliche Aids-Aufklärung

Nagelprobe auf die Liberalität

Sexualpolitik und Moral

Empfindungen

Nachdenken über Feminismus

Sind wir alle transsexuell?

Die neosexuelle Revolution — Über gesellschaftliche Transformationen der Sexualität in den letzten Jahrzehnten

Die Assoziation der sexuellen Sphäre

Freuds Abschied von der Sexualität

Die sexuelle Revolution

Die neosexuelle Revolution

Die Dissoziation der sexuellen Sphäre

Die Dispersion der sexuellen Fragmente

Die Diversifikation der sexuellen Beziehungen

Soziomoralischer Egoismus und Self-sex

Permanente Transformation und der feste Kern der Sexualität

Drei Thesen zu Pornografie, Sexindustrie und Sexualdispersion

Erste These: Vor Jahrhunderten war Pornografie politisch und kritisch

Zweite These: Heute sind Sexindustrie und Massenpornografie ein ebenso logischer wie essenzieller Bestandteil unserer anterotischen Kultur

Dritte These: Die gegenwärtige fulgurative Sexualdispersion gehört zur neosexuellen Revolution wie die Entfaltung der Begehrensform Selfsex

Gibt es Asexuelle?

Liquid Gender

Kultursodomie als Neoallianz

Sodomitische Lebenspartnerschaft

Angleichungen more sodomitico

Anthropofugale Beziehungen

Verzweiflungs- und Rettungsakte

Die Erotik des Kindes, sexueller Missbrauch und Pädosexualität

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

Was heißt sexuelle Störung?

»Funktion« der Dysfunktion

Kulturelle Weichenstellungen

Historische Relativierungen

Pro und Kontra der Medizinalisierung

Grenzen der Psychotherapie

Grundzüge einer Paartherapie

Dimensionen des Entstehens sexueller Störungen

Seelisch oder körperlich bedingt?

Masters-Johnson-Therapie

Konzept der Hamburger Paartherapie

Regeln und Übungen

Anweisung und Deutung

Hylomatie — Metamorphosen von Leben und Tod

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

Anhang

Drucknachweise

Literatur

Vorwort

Sehr gefreut habe ich mich, als Kolleginnen und Kollegen ebenso wie Frau Dr. Wilke-Primavesi vom Campus Verlag fragten, ob ich nicht einmal so etwas wie ein Best-of meiner Essays und Fachartikel zusammenstellen könnte. Ich habe es sogleich versucht, was gar nicht einfach war, weil ich Hunderte von Arbeiten anschauen und dann links liegen lassen musste. Hinzu kam, dass ich natürlich nur Arbeiten berücksichtigen konnte, die nicht in einem fachärztlichen Kauderwelsch verfasst worden sind wie die in meinen sexualmedizinischen Lehrbüchern.

Doch sehr schnell drängten sich mir frühe Texte auf, die sehr beliebt waren, mehrfach nachgedruckt worden sind und bis heute zitiert werden wie »Das gemeine Lied der Liebe«. Oder ein Text wie »Über den Fetischcharakter der Sexual- und Liebesformen«, hervorgegangen aus meinem Campus-Buch »Die Mystifikation des Sexuellen«, das in die Encyclopédie philosophique universelle der Presses Universitaires de France als Werk des Jahrhunderts aufgenommen worden ist (siehe zu allen Angaben im Einzelnen die »Drucknachweise« am Ende des Buches).

Mit dem Essay »Was heißt kritische Sexualwissenschaft?« habe ich vor mehr als drei Jahrzehnten unsere Zeitschrift für Sexualforschung eröffnet, um der kritischen Sexualwissenschaft eine Stimme zu geben und einige Grundannahmen zu verankern. Der Aufsatz »Die neosexuelle Revolution. Über gesellschaftliche Transformationen der Sexualität in den letzten Jahrzehnten« analysiert gesellschaftliche Veränderungen grundsätzlich, während Texte wie »Drei Thesen zu Pornografie, Sexindustrie und Sexualdispersion«, »Sind wir alle transsexuell?«, »Kultursodomie als Neoallianz«, »Gibt es Asexuelle?« und »Liquid Gender« einzelne oder ganz besondere Entwicklungen hervorheben. Um dieses Neue zu beschreiben, musste ich auch Worte wie cis- bzw. zissexuell oder Liquid Gender erfinden, die inzwischen weltweit benutzt werden und es sogar ins Oxford English Dictionary geschafft haben.

Andere Texte kreisen um wesentliche Auseinandersetzungen innerhalb der eigenen Disziplin wie »Drang, Begierde oder Trieb?« und »Nachdenken über Feminismus« oder greifen notwendigerweise in politische Auseinandersetzungen ein wie »Der AIDS-Komplex und unser Leviathan« oder »Die Erotik des Kindes, sexueller Missbrauch und Pädosexualität«. Nur zwei Aufsätze berühren meine Arbeit als Arzt und Paartherapeut unmittelbar: »Was heißt sexuelle Störung?« und »Grundzüge einer Paartherapie«.

Schließlich entschied ich mich für die Aufsätze »Natur und Sexualität. Über die Bedeutung der Kategorie der Natur für eine Theorie der Sexualität des Menschen« und »Hylomatie. Metamorphosen von Leben und Tod«, die jenseits von Sexualwissenschaft und Medizin sehr beachtet worden sind, bis hin zu philosophischen Doktorarbeiten und Habilitationsschriften über sie.

Dem Campus Verlag, namentlich Judith Wilke-Primavesi, danke ich sehr herzlich für das anhaltende und produktive Interesse an meinen Schriften. Schließlich haben wir schon zusammen einige weltweit beachtete Bücher in die Welt geworfen wie die »Geschichte der Sexualwissenschaft«, das »Personenlexikon der Sexualforschung« und »Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten«.

Volkmar Sigusch, Frankfurt am Main im Januar 2019

Das gemeine Lied der Liebe

Unsere Liebe ist Leben und Tod in eins. Sie ist weich, warm und weiblich. Sie eifert nicht und treibt nicht Mutwillen. Sie bläht sich nicht auf und stellt sich nicht ungebärdig. Sie sucht nicht das Ihre und lässt sich nicht erbittern. Sie verträgt alles, duldet alles, tröstet selbstlos und still. Sie ist ohne Angst, Leere, Zwang und Scham. Sie bereichert, einigt und birgt. Sie schafft Weibliches im Männlichen und Männliches im Weiblichen, leicht, heiter und kindlich wie ein Abendwind über Ägadien. Sie rettet Verlorenes als Gegenwart und schafft Zukunft aus dem Verlust. Nichts ist befreiender für die angespannte Seele, nichts belebender für die verhärtete, nichts stärkender für die kranke. Die Liebe macht die kleine Seele groß.

Das Hohe Lied der Liebe

Bekanntlich klingt das Hohe Lied der Liebe seit Jahrtausenden so: Mein Geliebter ist leuchtend rot, auserkoren unter Tausenden. Sein Haupt ist das feinste Gold, seine Locken sind rabenschwarze Dattelrispen, seine Augen sind wie die Augen der Tauben an den Wasserbächen, mit Milch gewaschen und in Fülle stehend, seine Lippen sind Blumen, die von fließender Myrre triefen, sein Leib ist reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt, seine Schenkel sind Alabastersäulen, gegründet auf goldenen Sockeln, sein Gaumen ist lauter Süße. Alles an ihm ist Lust. Er ist ganz lieblich. Wenn er mich doch küsste mit den Küssen seines Mundes! Auch an der Geliebten ist kein Flecken. Ihre Brüste sind wie zwei junge Rehe, die unter Rosen weiden. Doch als er sie küssen will mit den Küssen seiner Rosen, sind sie alle im Garten der Lust versiegelt: Milch und Honig, Granatapfel und Aloe, Narde, Safran, Zimt und Kalmus, all die edlen Früchte des Weihrauchs, die ihm das Herz genommen haben. Die Geliebte ist eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born lebendiger Wasser. Steht auf, ihr Winde, muss er rufen, weht durch den Garten, dass seine Würzen triefen!

So begann das Niedere Lied der Liebe, seine Verse zu suchen. Heute können wir sie alle im Schlaf hersingen, weil die Liebenden des salomonischen Liedes der Liebe keine einsamen Pioniere mehr sind. Seit es unser Individuum gibt, jedenfalls in der Phantasie, sollen wir alle wie Daphnis sein oder wie Cloë. Denn auf den Schlachtbänken, die zwischen uns und den antiken Bürgern liegen, wurde ein neuer sittlicher Maßstab errichtet: Liebe als freie Übereinkunft autonomer Personen, als ein allgemeines Menschenrecht beider, des Mannes und der Frau. Diese Idee von der freien, gleichen, individuellen Geschlechtsliebe, die die Bourgeoisie zur allgemeinen erhoben hat, setzt den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus.

Dazu aber ist es im Leben nicht gekommen. Irritiert, angebrannt, deplatziert und ungesättigt, wie wir heute sind, trifft uns die Melodie, ob bei Oscar Wilde oder Carlos Fuentes, wie ein Blitz: In jede Ader ergießt sich glühende Lava, alle Nerven sind auf die Folter gespannt, erschütternde Säfte überschwemmen uns mit Silber und Gift. Wir senken unseren Atem in den Flaum des Schambergs, in den jungen Duft der Achselhöhle, wir suchen den scharfen, süßen After, wir brüllen wie ein Tier, wir können uns nicht lösen, wir wollen uns nicht lösen, wir versinken im Fleisch, due in uno, uno in due, die verlorene Hälfte unseres Glücks ist wieder da, unserer Liebe, unseres Verstandes, unseres Lebens, unseres Todes. Der Mann fasst seine schwellenden Brüste an, die Frau führt ihr Glied in die pochende Scheide.

Das Niedere Lied der Liebe

Diesseits der Romane, Traktate und Träume müssen wir bescheidener sein: Überall Herr und Knecht, oben und unten, überall Unvernunft, Verstofflichung, Zerstörung. Die Menschen von klein auf erniedrigt, gedümpelt, entwertet, genötigt, isoliert, leer, voller Angst und ohne Würde, wenn sie, wie man so sagt, Glück haben, ein Rädchen in der Maschinerie des Bestehenden. Wer tagein, tagaus als Maschine drei Handgriffe machen, wer Jahr um Jahr als Maske nutzlose Waren an den Käufer bringen, wer ein Leben lang als Handlanger tote Akten gegen Menschen führen muss, wer so im allgemeinen Leben zurechtgestanzt wird, der kann nicht einfach im Liebes- und Geschlechtsleben das Gegenteil von Maschine, Maske, Handlanger sein – plötzlich er selbst, unverstellt, lebendig, die Seele ganz gelöst.

Und wie ist das möglich: erregte Harmonie, gleichzeitig leidenschaftlich, kopflos, solidarisch und gewissenhaft? Wir sind tantalisiert von der Melodie, können nicht schlafen, können sie nur bruchstückhaft erinnern. Immer schiebt sich die Not des Lebens dazwischen, Schwermut und Drangsal, einsam, verlassen, ungeliebt, ohne Lava in den Adern, immer nur Gift, nichts Tierisches, kein Flaum. Der Mund wurde uns wässrig gemacht, der Kopf verdreht. Seither wünschen wir: dass die Masken fallen und das Leben beginnt.

Singen wir nach dem Hohen Lied das Niedere Lied der Liebe. Es klingt vielleicht vertrauter: Unsere Liebe ist eine Orgie gemeinster Quälereien. Sie ist voll raffinierter Erniedrigung, wilder Entmächtigung, bitterer Enttäuschung, boshafter Rache und gehässiger Aggression. Sie ist gierig, klebrig, verschlingend, maßlos, kurzatmig, empfindlich, heuchlerisch, unstillbar. Zu ihr gehören Gefühle der Not, nicht des Wohlbehagens: Hass, Angst, Wut, Schuld, Schwäche, Neid und eifernde Sucht. Auf dem Weg der Liebe befriedigt sich der eine selbst durch den und am anderen. Was dem einen recht ist, sei dem anderen billig. Liebende machen einander gefügig. Nur dabei schlägt ihnen keine Stunde. Unsere Liebe ist egomanisch und asozial, eine nahe Verwandte des Wahnsinns und der Sucht. Wer an Verliebte denkt, weiß, wovon die Rede ist. Nur die Über- und Hochschätzung der Liebe in der Kultur bewahrt sie gewöhnlich davor, als Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung liquidiert zu werden.

Das gemeine Lied der Liebe ist gewiss beides: eine Strophe vom Hohen, tausend vom Niederen, alltäglicher Refrain und lebenslange Reprise. Das, was wir Liebe nennen, ist eine Einheit einander entgegengesetzter seelischer Strebungen. Wie gesagt: Leben und Tod, Selbstwerdung und Verschmelzung, Spiel und Ernst, Harmonie und Spannung, Heiterkeit und Tragik, grobsinnlich und zartzärtlich.

Warum führt sich unsere Liebe wie ein Rätsel auf? Warum schillert sie so? Warum erscheint sie im Leben als monströser Bastard, entweder Süßstoff für die muffig-moderne Psyche oder einzigartiger Nektar für das locker-postmoderne Netz, entweder jauchzende Realität oder japsend wie halbtote Tanten mit mondweißen Armen? Warum muss jeder, der über Liebe schreibt, wie der Papagei auf der Stange sein? Ich denke, es gibt Gründe dafür.

Die historische Geburt der individuellen Geschlechtsliebe

So verrückt es auch klingen mag: Kapitalismus und Liebe gehören zusammen. Jedenfalls ist die individuelle Geschlechtsliebe, von der Philosophen im 19. Jahrhundert sprachen, erst mit der Zangengeburt des bürgerlichen Individuums historisch als Möglichkeit aufgekommen, also mit dem Durchbruch der kapitalistischen Produktionsweise und dem Aufstieg der Bourgeoisie zur herrschenden Klasse. Davor, bei Jägern und Sammlern, bei Bodenbauern und Viehzüchtern, in der patriarchalen Ausbeutergesellschaft, in der Sklavenhaltergesellschaft und im Feudalismus, hat es sie nicht gegeben – als freie Übereinkunft autonomer Individuen, die Gegenliebe beim geliebten Menschen voraussetzt und den sexuellen Umgang nur danach bemisst, als ein Menschenrecht beider, des Mannes und der Frau, Liebesbeziehungen als Gewissensbeziehungen mit einer Intensität und Dauerhaftigkeit, bei allen, immer und ums Ganze, auf die sich die Menschen in Altertum und Mittelalter hätten keinen Reim machen können.

Diese Idee der Liebe gibt es wie unsere Art und Weise zu lieben erst seit einigen Jahrhunderten, sagen wir seit einigen Generationen. Die individuelle Geschlechtsliebe ist ein neuer sittlicher Maßstab. Sie gehört zu den historisch jüngsten Errungenschaften der Gattung Mensch, die immerhin seit Millionen Jahren ihre Spur auf der Erde hinterlässt. Ist das nicht einer der Gründe für die Instabilität der Liebe und dafür, dass sie noch nicht zu sich gekommen ist?

Wesentlicher scheint mir ein anderer Gedanke zu sein. Das bürgerliche Individuum samt seiner individuellen Liebe hat es, konkret genommen, bisher nur auf dem Papier, also nicht konkret gegeben – im großen bürgerlichen Roman vor allem, daneben in wissenschaftlichen Traktaten über den Menschen. Tatsächlich ist das bürgerliche Individuum, dessen Prozess des Entstehens schon einer des Zerfalls war, nie zu sich gekommen und folglich auch nicht die Individual- und Drangliebe. Gesellschaftlich war die Liebe immer tot, aber sie lebt seit einigen Generationen in den Menschen – als Idee und Möglichkeit.

Viel mehr konnte sie bis heute nicht werden, weil die Disposition zur individuellen Drangliebe sogleich im Fortgang der Geschichte durch gegenläufige Dispositionen wie jene zur Lohnarbeit, die sich in den Seelen niederschlugen und sozial manifestierten, in der Latenz gehalten oder abgewürgt worden ist.

Als Kern zeigt sich: Die individuelle Liebe ist die Idee vom menschlichen Umgang des Menschen mit dem Menschen. Die Utopie der wirklichen Liebe setzt den Menschen im emphatischen Sinne als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches im emphatischen Sinne voraus. Unterm Kreuz des Warenfetischs, unterm Diktat des Tauschprinzips aber sind die allgemeinen Beziehungen der Menschen wie Beziehungen von Ding zu Ding, von Sache zu Sache. In einer solchen Gesellschaft sind die mitmenschlichen Beziehungen nicht einfach solidarisch, anständig, harmonisch, menschlich. Was als menschlich geglückt deklariert wird, als human oder humanitär, entspringt der Ideologie seiner Verhinderung.

Die Liebe als Himmel und Hölle

Und doch wollen wir alle lieben und geliebt werden. Und doch wollen wir alle mit einem anderen Menschen glücklich sein – auf dass unsere kleine Welt voller erregter Harmonie sei und die große in Ordnung. Wie kommt dieser Wunsch in jeden von uns hinein? Und warum hat er die Kraft einer Naturgewalt, obwohl die Liebe, die wir haben, kaum natürlicher ist als Zins und Zinseszins?

Liebesbeziehungen und Lusterleben gibt es beim Erwachsenen nicht losgelöst von den vorausgegangenen Empfindungen und Erfahrungen des Lebens, viele sagen: von den ersten, immer Weichen stellenden Gefühlen und Erlebnissen der frühen Kindheit. Fraglos ist die seelische Gegenwart ohne die seelische Vergangenheit nicht zu denken. Im Umgang mit einem Menschen, im Allgemeinen der Mutter, wird unter hiesigen Verhältnissen der Mensch nach der körperlichen Geburt seelisch geboren. Die Psychoanalyse nennt diesen Vorgang Individuation, weil sie an der Vorstellung festhält, es entstünde dadurch, wenigstens im Kern, jene Menschenart, die bürgerliches Individuum zu nennen eine Zeit lang modisch war.

Im Allgemeinen repräsentieren das Hohe und das Niedere Lied der Liebe Himmel und Hölle der frühen Beziehung zur Mutter. Nichts ist wonniger, nichts ist ängstigender, als der Mutter nah, als ihr fern zu sein. Wir sehnen uns nach kindlichen Paradiesen, die unsere Begriffe nicht zu erreichen vermögen. Diese Gefühle begleiten uns von der Windel bis zum Leichentuch. Doch alles ist riskant. Zu große Nähe erstickt, und die Ferne macht Angst. Psychologisch gesprochen ist die Liebesfähigkeit eine sekundäre Bildung, die durch Prozesse des Versagens und Trennens, des Gewährens und Verbindens, die durch die Anpassung an die Realität erzeugt wird. Die Fähigkeit zu lieben ist zugleich das Verlassen der Mutter und ihr Wiederfinden. Liebe und Lust sind von klein auf zusammengebrannt mit Einsamkeit, Gewalt, Unterdrückung, Verbot und Angst auf der einen, mit allseitiger Wunscherfüllung, dem Eintauchen ins kollektive Seelenall und dem Gefühl, nun sei die Welt in Ordnung, auf der anderen Seite – Illusionen, die lebenslänglich mit kindlich-seelischen Mitteln gesucht und gefunden werden.

Die Liebe als allgemeines Erfordernis in der Kälte des Lebens

Liebe ist aber nicht nur die Sehnsucht nach Kindheitsparadiesen voll lustvoller Harmonie. Liebe ist auch ein allgemeines Erfordernis des erwachsenen Lebens. Die Leere, Distanz und Kälte der Arbeitswelt, überhaupt des gesellschaftlichen Lebens, sind im Allgemeinen nur mit der Nähe und Wärme einer Liebesbeziehung auszuhalten, die wenn schon nicht zu erreichen, so doch wenigstens versprochen sind. Das ist einer der Gründe, warum seit Jahrzehnten ohne Unterlass über Erotik, Sexualität, Paare, Passanten, Varianten und Mutanten geredet und geschrieben wird, warum über uns Sex- und Selfsex-, Gender- und Transgender-Wellen hinweggewabert sind.

In der Tat: Nur wer die Verdrehung und Versachlichung aller Beziehungen durch Liebe oder die erst noch von ihr zu differenzierende Verliebtheit, also mehr oder weniger mit den Mitteln des Rauschs, der Sucht, des Wahnsinns, außer Kraft zu setzen sucht, kann die Wirklichkeit ein wenig zum Tanzen bringen und überleben. Wer nicht illusionär verkennt, wer nicht liebt, wird krank. Doch das ist unter hiesigen Lebensverhältnissen höchst gefährlich, ein Wagnis ersten Ranges, weil wir auf Abwehr und Erstarrung, auf das Niederhalten der Gefühle und das Prüfen der Realität ebenso angewiesen sind. Die Liebe – ein Kunststück, ein akrobatischer Seiltanz ohne Netz. Und viele liegen am Boden. Und viele brechen sich das Kreuz.

Eine Alternative zu dieser Art zu leben und zu lieben, die den Namen verdiente, kann es nicht geben, da Individuum und Gesellschaft eine Einheit sind und zugleich prinzipiell entzweit. Das, was uns als »Alternative« notwendigerweise beschäftigt hat oder einfach kursiert, ist Aufschrei und Aufruhr, zwangsläufig Abklatsch oder modisches Zeug, obszön, reaktionär oder nur von Privilegierten scheibchenweise einzulösen, letztlich immer zum Scheitern verurteilt. Jener Partnertausch und jener Gruppensex, die Furore machten, waren als zeitgemäße Sumpfblüten spezifisch zerstörter Sinnlichkeit an kleinbürgerlicher Stupidität kaum zu überbieten. Und der vorletzte Schrei zum Beispiel, »Singles« genannt, ist wirklich ein Schrei – aus Not, nach Hilfe, maßlos traurig, zum Weinen. Wer lebt schon aus freien Stücken allein?

Das öffentliche Reden übers Alleinleben lässt uns fragen, ob nicht generell das Zersplittern der »persönlichen Autonomie« und die Brüchigkeit des Selbstwertgefühls, ob nicht der Zerfall des autonom gedachten Individuums und der Grad seiner Vergesellschaftung einem neuerlichen Höhepunkt zustreben, ob das nicht alles auf ein zwischenmenschliches Drama kollektiven Ausmaßes hinweist, wie es die Gattung Mensch noch nicht erlebt hat. Anders gesagt: Ob nicht aus Ich-Schwäche die Bindungsunfähigkeit, die Angst vor Nähe und Verpflichtung immer größer geworden ist, wobei sich der eingepflanzte Wunsch nach einer Bindung, nach einer dauerhaften Zweierbeziehung gleichzeitig weiterhin mächtig äußert und im Trotzdem enormes Leid produziert. Vielleicht war es noch nie so schwierig, zu lieben und geliebt zu werden, so oder so, und vielleicht waren wir zugleich noch nie so auf Liebe und Gegenliebe angewiesen wie heute, auf Freundlichkeit, Rücksichtnahme, Achtung, Trost, Geborgenheit, letztlich auf sittliche Werte und einen Sinn fürs Leben. Wo aber finden wir das im gesellschaftlichen Leben? Umso zutreffender ist wohl: Noch nie war die utopisch-emanzipatorische Dimension der Liebe historisch so von Belang wie heute in der hiesigen Gesellschaft und Kultur.

Wer den Leuten, die in Zweierbeziehungen leben oder auch nicht, die Liebe und Treue suchen oder auch nicht, von linksrechts sagen zu müssen meint, wie sie heute »anders« zu leben hätten, sollte auch das prüfen, bevor er in zynischer Weise massenhaftes Erleben und Verhalten diffamiert. Wer unter hiesigen Bedingungen für lebenslange Treue, für Monogamie, für das Institut der Ehe plädiert, ist ebenso naiv bis zynisch wie jene, die dem Sinnlichen mit anderen Mitteln auf die Sprünge helfen wollen. Der kleine Bürger, der das Grau-in-Grau seines Alltags aufzufrischen sucht, indem er aufgeschnappte Sexualtechniken an seiner Frau exekutiert, ahnt nicht, dass das nur ein Reflex auf die allgemeine Verstofflichung des Mitmenschlichen ist. Der linksliberale Redakteur, der mit der lügnerischen Devise »Bei uns ist alles erlaubt« nach Hause kommt, angelesene Sexualpraktiken ausprobiert wie Eis am Stiel und sich dabei emanzipiert wähnt, macht den Beischlaf zur Klempnerei und zollt denselben Tribut.

Denen, die einander »alles gestatteten«, sind geblieben: der rumorende Stau der Gefühle, die falbe Kürze der Lust, die stille Sehnsucht nach dem Glück und als roter Faden all dessen: die Beziehungskiste. Beziehung und Kiste, das klingt nicht nach autochthonem Sprudeln ganz persönlicher Regungen, nach metaphysischer Erleuchtung, das klingt nach vergegenständlichten Verhältnissen, benutzt ein Ding dazu, um etwas Lebendiges zu benennen. Die Lage ist also getroffen. Eine Kiste, die im Weg ist, kann man zerschlagen, wegwerfen, verbrennen. Beziehungen aber, wie liberalisiert, verstofflicht und mystifiziert auch immer, sind noch als Substitute phantastisch und leibhaft, sie liegen in Bauch und Herz und Kopf.

Die Psychoanalyse meint, manchen von uns immer wieder mit ihrem Postulat der »genitalen«, der »reifen« Liebe beunruhigen zu müssen. Doch ihre »genitale« Liebe gibt es im Leben nicht. Aber sie hat recht: Liebe ist nicht einfach da wie die Begierde. Sie muss ständig, ununterbrochen, unermüdlich erlernt, erarbeitet, in Beziehungen gehalten werden – als der Versuch zweier Menschen, einander jene Bedürfnisse zu befriedigen, die lebensgeschichtlich verbogen und gesellschaftsgeschichtlich zum Unding geworden sind.

Wo es widersprüchlich, ambivalent, egoistisch und gnadenlos zugeht, muss manfrau nicht nur auf die Kurzlebigkeit und das Versagen der mystifizierten Liebe gefasst sein, sondern auch auf deren Substitution. In intellektuellen Unterschichten und solchen, die am Rande liegen, ist manfrau schon lange so abgeklärt, die Liebesexistenzialien nicht als äquivalenzlose Eingebungen des Heiligen Anton zu nehmen, sondern als von dieser Welt. Dort ist manfrau auf einiges gefasst und hat manches ausprobiert, nicht nur Alleinsein, Partnertausch und Gruppensex, auch Fesseln, Beißen und phantastisch Vergewaltigen, Dreiecksverhältnisse, Peeping, Von-Verliebtheit-zu-Verliebtheit-Taumeln, Geronto- und Pädophilisches, Rimming, Akrotomophilie usw. – was immer das sei.

Die Liebe als kostbare Einzigartigkeit

Alle ahnen: Im schlechten Allgemeinen können die Verhältnisse von Mensch zu Mensch nicht einfach gut sein. Selbst Paarbildung, in welcher Form auch immer, selbst die mystifizierte Liebe garantiert keinen sicheren Unterschlupf. Umso verbissener geht es zu.

Wie vergeblich unser Bemühen ist, verdeckt die gesellschaftliche Mystifikation der Liebe. Als fetischisierte schöpft die Liebe ihren Wert aus sich selbst, setzt sich in ihr eigenes Recht. Jetzt sind Naturgesetze am Ruder. Das volle, persönliche, intime Leben ist errichtet, die Verstofflichung überwunden. Das Verhältnis zum Menschen scheint als eines der Unmittelbarkeit dem Diktat des Tauschs entzogen zu sein. Aber dieser Schein ist es gerade, der der Liebe den allgemeinen Stempel aufdrückt, sie zu einer gesellschaftlichen Form macht. Denn es gilt weiterhin: keine Zärtlichkeit ohne Hintergedanken, keine Verliebtheit ohne Verschlingen, keine Freundschaft ohne Verbrauchen, kein Sichschönmachen ohne Reklame, keine Hingabe ohne Besitzenwollen, kein Glücklichsein, ohne es hinauszuschreien. Umzingelt von eingepflanzten Entwicklungsetappen und angedienten Handgriffen, läuft das alles nach Schema F ab, ganz individuell. Pseudoaktiv scheinen sich die geronnenen Liebesformen durch eine gewisse Buntscheckigkeit und allerlei Schauspiel zu verlebendigen. Doch die Mysterien von Spontaneität und Rausch sind von außen eingespritzt, und den Kern der Liebe durchherrscht die Ambiguität des Fetischs: bewegte Starre, Genussfeindschaft im Genuss, beziehungsvolle Beziehungslosigkeit, Treulosigkeit in der Treue, Menschenverachtung in Liebe. Umso romantischer oder atemloser geht es zu.

Mitmenschliches unter den herrschenden Lebensbedingungen suchen, heißt, das gesellschaftliche Unding Liebe immer wieder in seiner seelischen und sozialen Zwangsgestalt errichten. Zwei spezifische Hindernisse stehen obenan: der Patriarchalismus samt Sexismus, also die Zurück- und Herabsetzung aller Frauen als Geschlecht, sowie die Struktur der Mutter-Kind-Beziehung samt der Art und Weise der Kinderaufzucht mit ihren Resultaten. Hinzu kommen die Tyrannis der so genannten Heterosexualität, insbesondere in Form der Normopathie, Lug und Trug der Alternativgeschlechtlichkeit, der Pompe funèbre um den Triebdurchbruch usw. usf.

Ein Trost kann es nicht sein, aber es trifft zu: Auch als Fetisch ist unsere Liebe lebenserhaltend. Sie ist eine erwärmende Rauschdroge in der gesellschaftlichen Kälte, die dem Leben einen Sinn zu geben vermag, die vereinsamende Distanzen und furchterregende Abstraktionen überstrahlt. Wo denn sonst könnten wir uns verstanden, geborgen und nahe fühlen, wenn nicht in unseren Liebesbeziehungen? Ist der Liebe wie dem Sexuellen seelisch und sozial die Funktion zugewiesen, gesellschaftliche Leere zu überbrücken, Lücken aufzufüllen, Sinn vorzutäuschen, Lebendigkeit einzublasen, die Menschen überhaupt noch etwas Menschliches spüren zu lassen, so tun beide eben dies alles, das Sexuelle und die Verliebtheit eher kurz-, die Liebe eher langatmig. Deshalb wird an der Idee von Generation zu Generation festgehalten. Deshalb gibt es im Sexual- und Liebesleben keinen Stillstand.

Hinzu kommt eine Sonderbarkeit: Je mehr der Kapitalismus auch bei uns nach seinen ureigensten Prinzipien agiert, das heißt ohne die attraktive Maske der sozialen Marktwirtschaft, desto freier scheint das Sexual- und Liebesleben gestellt zu werden. Jedenfalls können sich alte Sexualfragmente und neue Sexual- und Liebesformen ungehindert, ja sogar befördert, und oft auch unbestraft, ja sogar akzeptiert, entfalten. Dieser Gewinn an Vielfalt ist untrennbar verschränkt mit einem Verlust an ökonomischer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit. Im Grunde ist all das nicht überraschend, weil allen kapitalistischen Systemen Moral oder gar Sexualmoral äußerlich bleibt, unbedeutend, ja fremd ist.

Doch noch einmal zurück zu den Anfängen: Die individuelle Geschlechtsliebe unserer Philosophen ist eine überaus kostbare Idee, die bisher nicht verwirklicht werden konnte, weil die eigentliche Menschheitsgeschichte noch nicht begonnen hat. Sie ist eine junge, instabile Fähigkeit der Menschen, derer sie in menschlichen Verhältnissen nicht werden entraten wollen. In ihr überwintert eine gesellschaftliche Einzigartigkeit: Die Liebe kann nicht hergestellt und nicht gekauft werden. Das aber ist in einer Welt des Machens und Verkaufens phantastisch.

Natur und Sexualität

Über die Bedeutung der Kategorie der Natur für eine Theorie der Sexualität des Menschen

Zur Philosophiegeschichte der Kategorie der Natur

Hegel sagt: »Die Natur ist in der Zeit das Erste, aber das absolute prius ist die Idee; dieses absolute prius ist das Letzte, der wahre Anfang, das A ist das Ω« (Syst. d. Phil. II, Zusatz § 248, 58). Gegenüber der Idee ist die Natur also untergeordnet. Sie ist »als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der anderen notwendig hervorgeht […]; aber nicht so, daß die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in der innern, den Grund der Natur ausmachenden Idee« (Syst. d. Phil. II, § 249, 58 f.). Die Idee bringt also die Natur hervor. Die Idee »entschließt« sich, Ausfluss Ihrer absoluten Freiheit, »sich als Natur frei aus sich zu entlassen« (Encykl. d. phil. Wiss., § 244, 201). Wie ein Letztes, das immer schon bei sich selber ist, in Gegenständlich-Materielles übergehen kann, ist auch den Hegelianern schleierhaft geblieben. Die höhere Wahrheit der von der Idee geborenen Natur ist der Geist: »Wir haben in der Einleitung zur Philosophie des Geistes bemerklich gemacht, wie die Natur selber ihre Äußerlichkeit und Vereinzelung, ihre Materialität als ein Unwahres, dem in ihr wohnenden Begriffe nicht Gemäßes aufhebt, und dadurch zur Immaterialität gelangend in den Geist übergeht« (Syst. d. Phil. III, 54). Weil und indem und insofern die Natur in Geist und Seele übergeht, erweist sie sich letztlich wieder als immateriell: »Indem so alles Materielle durch den in der Natur wirkenden an-sich-seyenden Geist aufgehoben wird, und diese Aufhebung in der Substanz der Seele sich vollendet, tritt die Seele als die Idealität alles Materiellen, als alle Immaterialität hervor, so daß Alles, was Materie heißt, – so sehr es der Vorstellung Selbständigkeit vorspiegelt, – als ein gegen den Geist Unselbständiges erkannt wird« (Syst. d. Phil. III, 58). Wenn der Natur »gerade die Äußerlichkeit eigentümlich« ist, »die Unterschiede auseinanderfallen und … als gleichgültige Existenzen auftreten zu lassen« (Syst. d. Phil. II, § 249, 58 f.), gibt es keine Naturgeschichte im allgemeinen Sinne: »Solcher nebuloser im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Thiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickelteren Thierorganisationen aus den niedrigeren usw. ist, muß sich die denkende Betrachtung entschlagen« (Syst. d. Phil. II, § 249. 59).

Feuerbach setzt diametral gegen diese idealistische Naturphilosophie seinen Naturalismus: Natur gründet aus sich, durch sich, in sich selber. Die Hegelsche Auffassung, nach der die Natur von der Idee gesetzt wird, ist für Feuerbach »nur der rationelle Ausdruck von der theologischen Lehre, daß die Natur von Gott, das materielle Wesen von einem immateriellen, d. i. abstrakten Wesen geschaffen ist« (Vorläufige Thesen z. Ref. d. Phil., 74). Der Geist, das Denken ist eine der Naturqualitäten des Menschen. Wissenschaften, die sich nicht auf die Natur gründen, sind keine. Das gilt auch für Philosophie: »Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie – die Anthropologie also, mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft« (Grundsätze d. Phil. d. Zukunft, 167). Natur und Mensch sind die Feuerbachschen Grundkategorien. Der Mensch steht als Subjektivität der Natur als Objektivität passiv-anschauend, nicht praktisch-tätig gegenüber. Beide bilden nur insofern eine Einheit, als der Mensch aus der Natur hervorgegangen ist. Das unmittelbare Sein des Menschen erscheint als sein Wesen, und die Natur ist eine einheitliche, geschichtslose Matrize, letztendlich »reine Natur«.

Marx hat ebenso wenig mit Hegels absoluter Idee wie mit Feuerbachs »reiner« Natur im Sinn. Er setzt nicht an die Stelle eines metaphysischen Prinzips, einer ontologischen Substanz, wie den Hegelschen Weltgeist, ein anderes der Welt zugrunde liegendes letztes Seinsprinzip, wie beispielsweise eine materielle Weltsubstanz. Das wäre naturalisierter Hegelianismus, nicht mehr als Materie statt Geist. Daher und trotzdem können Marx und Engels gegen Hegel sagen: In seiner Natur- und Geschichtsphilosophie »gebiert der Sohn die Mutter, der Geist die Natur […] das Resultat den Anfang (MEW 2, 178), und die Natur ist ihm nur »die liederliche Periode der absoluten Idee« (MEW 3, 460).

Beide, Hegels naturphilosophischen Idealismus und Feuerbachs mechanisch-materialistischen Naturalismus, löst Marx in eine Dialektik von Subjekt und Objekt auf. Aus der klassischen deutschen Philosophie heraus und gegen sie denkt er seinen neuen, praktischen Materialismus:

»Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus – den Feuerbachschen mit eingerechnet – ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde – aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt« (MEW 3, 533).

Mit Kant und gegen Hegel besteht Marx auf der Nicht-Identität von Subjekt und Objekt. Er sieht im Subjektiven Objektives und im Objektiven Subjektives. Die bisher nur passiv gedachte Sinnlichkeit begreift er als tätig, die Tätigkeit als sinnlich. Denken und Sein, Bewusstsein und Gegenstand, Natur und Gesellschaft, Subjekt und Objekt sind als herkömmliche, seit Descartes in der Neuzeit herrschende Gegenüber überwunden. Der neue Materialismus geht nicht von der Abstraktion des absoluten Subjekts oder von der Abstraktion des absoluten Objekts aus, sondern von der gesellschaftlichen praktischen Tätigkeit, der Praxis, der konkreten, empirisch gegebenen Menschen unter bestimmten historischen Bedingungen. Er rettet dabei die »tätige«, subjektive Seite der Wirklichkeit, die der deutsche Idealismus von Kant bis Hegel exponiert hatte, in die materialistische Theorie als konkrete hinüber.

Die Kategorie der Natur bei Marx

Bezogen auf Natur – Marx legt keine systematische Theorie der Natur vor und »kommt in seinen Schriften auf die Natur ›an sich‹ nur äußerst selten« und »immer nur mit großer Vorsicht« zu sprechen (Alfred Schmidt 1974, 7, 179) – heißt das: Natur ist erst konkret als dialektisches Moment menschlicher Praxis. Sorum interessiert sich Marx für Natur, nicht als Weltmaterial vom Range eines Seinsprinzips.

Im Gegensatz zu anderen Konzeptionen geht es Marx um den geschichtlich-gesellschaftlichen Charakter der Natur. Was über sie gesagt wurde und werden kann, setzt gesellschaftliche Praxis der Menschen voraus. Aussagen über Natur sind stets bezogen auf menschliche Tätigkeit, abhängig vom Stand der erreichten und herrschenden ökonomischen, technologischen, geistigen menschlichen Aneignungsweisen der Natur, und in diesem Sinne relativ. Eine Trennung der Theorie der Natur von der Geschichts- und Gesellschaftstheorie kann es bei Marx nicht geben. »Reine« Natur, Natur als ontologisches Prinzip, selbständig und ohne konkrete Bestimmungen existierend, ist ihm reine Gedankenschöpfung, Metaphysizierung.

Diese Position bedeutet nicht, dass es Natur nicht auch als etwas an sich Seiendes gibt, jedenfalls als durch Arbeit ins Für-uns transformiertes An-sich. Es ist ein Missverständnis, einmal ein idealistisches, andermal ein perfektionistisch-materialistisches, wenn so getan wird, als habe Marx alles, darunter Natur und leibhaftig-materielle Dinge, ganz und gar aufgelöst in den Weisen ihrer theoretischen Bearbeitung und praktischen Aneignung. So eingleisig, apriorisch, schlecht prinzipiell ist der praktische Materialismus nicht.

Natur ist einerseits unabhängig, andererseits gesellschaftlich vermittelt. Daran hält Marx bis zum Ende, bis zu den Randglossen zu Wagners Lehrbuch fest (MEW 19, 362 f.). Materialismus heißt für ihn: Die Natur und die ihr eigenen Gesetze existieren außerhalb und unabhängig vom Bewusstsein des Menschen. Dialektischer Materialismus heißt für ihn: Die Menschen können sich der Natur und ihrer Gesetze nur mittels und gefiltert durch die Arbeit versichern, sie nur durch ihre vermittelnde gesellschaftliche Praxis hindurch erkennen und für ihre Zwecke anwenden. Die Unabhängigkeit und die gesellschaftliche Vermitteltheit der Natur bilden eine Einheit.

Die Ausdrücke »Natur«, Naturstoff«, »Naturding« und »Materie« benutzt Marx synonym; seiner Blickrichtung entsprechend auch »sachliche Arbeitsbedingungen« und »gegenständliche Daseinsmomente der Arbeit«. Der Materiebegriff des dialektischen Materialismus ist nicht von irgendwelchen inhaltlichen Aussagen abhängig; er wird je nach Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, die von der gesellschaftlichen Praxis bestimmt wird, immer mehr angereichert. Die historisch fortschreitenden Ansichten der Naturwissenschaftler über die Struktur der Materie bleiben dem Materiebegriff des philosophischen Materialismus äußerlich: »Denn die einzige ›Eigenschaft‹ der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus gebunden ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewußtseins zu existieren« (Lenin, LW 14, 260).

Wenn Marx der äußeren Natur den genetischen Primat zuerkennt, dann besitzt die Natur diese Priorität immer nur innerhalb ihrer gesellschaftlichen Vermittlung, ohne dadurch jedoch völlig beseitigt zu werden. Marx interessiert das, was für den Menschen von Belang ist: nicht das abstrakte materielle Sein, sondern die durch Arbeit angeeignete Natur. »Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit … eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln« (MEW 23, 57). Da der Mensch selber, »als bloßes Dasein von Arbeitskraft betrachtet, […] ein Naturgegenstand, ein Ding, wenn auch lebendiges, selbstbewußtes Ding« ist (MEW 23, 217) und der äußeren Natur in der Arbeit »als eine Naturmacht« gegenübertritt (MEW 23, 192), ist sein Lebensprozess ein Naturzusammenhang. Dabei »verändert er zugleich seine eigne Natur«, indem er »auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert« (MEW 23, 192). Die Dialektik von Subjekt und Objekt ist somit »eine Dialektik von Bestandteilen der Natur«, und die Natur »ist das Subjekt-Objekt der Arbeit« (Alfred Schmidt 1974, 8, 58). Insofern und insoweit Marx den Menschen als Bestandteil der Natur betrachtet, erfasst sein Naturbegriff die Gesamtwirklichkeit, die Totalität dessen, was ist.

Der »Stoffwechsel« von Mensch und Natur

Der Mensch ist aus Gründen des Überlebens gezwungen, sich mit der Natur auseinanderzusetzen, sie sich anzueignen und zu beherrschen. Für die wechselseitige Durchdringung und Vermittlung von Mensch und Natur benutzt Marx im »Kapital« durchgehend den Begriff »Stoffwechsel«. Wenn man berücksichtigt, dass es für Marx im Grunde nur den »Mensch(en) und seine Arbeit auf der einen, die Natur und ihre Stoffe auf der andren Seite« gibt (MEW 23, 198 f.), wobei der Mensch nicht von der Natur und die Natur nicht vom Menschen ablösbar ist, dann wird erkennbar, welche zentrale Bedeutung dem »Stoffwechsel« in der theoretischen Analyse zukommen muss. Die Blickrichtung ergibt sich dabei aus dem spezifischen Standort: Von der Natur spricht Marx als der Spenderin der Produktionsmittel, der »ersten Quelle aller Arbeitsmittel und -gegenstände« (MEW 19, 15); der Mensch, selber Naturding und Naturmacht und daher ein Teil der Natur, ist ihm von Natur gesellschaftlich. Natur ist bei Marx immer auf den Lebensprozess der Gesellschaft bezogen, immer schon menschlich bearbeitet. Ohne den gesellschaftlichen Lebensprozess gäbe es kein biologisches Leben der Gattung Mensch.

Diese Position, gegen die bürgerliche Philosophie und mit Blick auf die bürgerliche Gesellschaft errichtet, bedeutet nicht, dass die Natur und ihre Stoffe ohne Rest in die Momente der gesellschaftlichen Prozesse, die sie vermitteln, aufgelöst werden. Das wäre ebenso metaphysisch, wie wenn die Natur dem Menschen unverrückbar, unveränderlich vorausgesetzt wird. Sie bedeutet, dass die Dialektik von Unmittelbarkeit und Vermitteltheit in ihrer jeweiligen historischen Gestalt erst konkret eröffnet werden muss. Und da der Mensch selber ein Teil der durch ihn vermittelten Natur ist, wird die Annahme der Unmittelbarkeit der Natur nicht idealistisch. Alfred Schmidt (1974, 77) weist schließlich auf eine Seite des Zusammenhanges hin, die er »die geheime Naturspekulation in Marx« nennt: »Sosehr alle Natur gesellschaftlich vermittelt ist, sosehr ist freilich umgekehrt die Gesellschaft als Bestandteil der Gesamtwirklichkeit naturhaft vermittelt.« Lukács (1968, 240) hatte in »Geschichte und Klassenbewußtsein« über den Marxschen Naturbegriff gesagt: »Natur ist eine gesellschaftliche Kategorie. D. h. was auf einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung als Natur gilt, wie die Beziehung dieser Natur zum Menschen beschaffen ist und in welcher Form seine Auseinandersetzung mit ihr stattfindet, also was die Natur der Form und dem Inhalt, dem Umfang und der Gegenständlichkeit nach zu bedeuten hat, ist stets gesellschaftlich bedingt.« Dagegen insistiert Schmidt (1974, 66): »Natur ist aber für Marx nicht nur eine gesellschaftliche Kategorie. Sie läßt sich nach Form, Inhalt, Umfang und Gegenständlichkeit keineswegs ohne verbleibenden Rest in die historischen Prozesse ihrer Aneignung auflösen.«

Der Stoffwechsel von Mensch und Natur, das menschliche Leben schlechthin, wird durch die ewige Naturnotwendigkeit Arbeit vermittelt. Die Arbeit ermöglicht die Aneignung der außermenschlichen Natur, von der Marx in den Pariser Manuskripten sagt, sie sei »der unorganische Leib des Menschen«. Dabei weiß der Mensch »nach dem Maß jeder species« zu produzieren und kann sich zumindest potentiell die gesamte Natur aneignen, die ihm einerseits »ein unmittelbares Lebensmittel«, andererseits »die Materie, der Gegenstand und das Werkzeug seiner Lebenstätigkeit« ist; das Tier aber »formiert nur nach dem Maß und dem Bedürfnis der species, der es angehört« (MEW, Erg.-Bd., Erster Teil, 516 f.).

Mit Vorliebe bedient sich Marx naturwissenschaftlich-physiologischer Ausdrücke – gesellschaftlicher »Lebensprozess«, äußere Natur als »unorganischer Leib des Menschen«, »Stoffwechsel« von Mensch und Natur –, wenn er gesellschaftliche Sachverhalte bezeichnen will. Wenngleich diese Ausdrücke innerhalb seiner Theorie zwangsläufig einen anderen Charakter erhalten, sollen sie doch den physiologischen Beigeschmack behalten. »Stoffwechsel« von Mensch und Natur meint auch, dass der Mensch so unveränderbar unter dem Zwang der Produktion und Reproduktion seines Lebens steht, wie die Kreisläufe der äußeren Natur ewig sind. Das eine hat etwas vom anderen. Die Menschen gehen durch die Naturstoffe hindurch, die Naturstoffe gehen als Gebrauchswerte durch die Menschen hindurch und fallen wieder in äußere Natur zurück. Auf natürliche Grundstoffe wie Erde, Wasser und Luft ist der Mensch wohl immer direkt angewiesen. Und ein gesellschaftlicher Sachverhalt wie die Teilung der Arbeit ist nicht nur ökonomisch, sondern auch natürlich, »physiologisch« bedingt: »Es ist nicht die absolute Fruchtbarkeit des Bodens, sondern seine Differenzierung, die Mannigfaltigkeit seiner natürlichen Produkte, welche die Naturgrundlage der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bildet und den Menschen durch den Wechsel der Naturumstände, innerhalb deren er haust, zur Mannigfachung seiner eignen Bedürfnisse, Fähigkeiten, Arbeitsmittel und Arbeitsweisen spornt« (MEW 23, 536). Auch der Arbeitsprozess selber kann nicht losgelöst von der menschlichen Physiologie betrachtet werden. Die physiologische Ausstattung des Menschen, seine »körperliche Organisation« bestimmt sein »Verhältnis zur übrigen Natur« mit (MEW 3, 21) und begrenzt seine historisch-gesellschaftliche Veränderbarkeit.

Natur und Gesellschaft

Im Laufe der Menschengeschichte ist die außermenschliche Natur immer mehr zum Moment gesellschaftlicher Prozesse geworden. War der Mensch am Anfang noch abstrakt identisch mit der Natur, setzte sich zunächst beim Stoffwechsel die naturale Seite durch, dominierte nach und nach die historisch-gesellschaftliche. Sklavenhalterdemokratie und Feudalismus kannten letztlich keine Trennung von Arbeit einerseits und der ihr vorausgegebenen Natur samt ihrer Stoffe andererseits: »Der Sklave steht in gar keinem Verhältnis zu den objektiven Bedingungen seiner Arbeit; sondern die Arbeit selbst, sowohl in der Form des Sklaven, wie der des Leibeignen, wird als unorganische Bedingung der Produktion in die Reihe der andren Naturwesen gestellt, neben das Vieh oder als Anhängsel der Erde« (Marx, Grundrisse, 389).

In der bürgerlichen, warenproduzierenden Tauschgesellschaft ist die Scheidung dagegen total; die Arbeit ist von ihren natürlichen objektiven Bedingungen getrennt. Diese Trennung ist nach Marx nur charakteristisch für die bürgerliche Gesellschaft: die »Trennung zwischen diesen unorganischen Bedingungen des menschlichen Daseins und diesem tätigen Dasein, eine Trennung, wie sie vollständig erst gesetzt ist im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital« (Grundrisse, 389). Nicht unmittelbar als Bestandteil der Natur eignet sich der Kapitalist den Arbeiter an, sondern vermittelt durch den Tausch als Halterung für abstrakte Arbeit, die von jener nicht ablösbar ist.

Kapitalistische Produktion heißt ferner: Die Grundform gesellschaftlicher Arbeit ist Arbeit als abstrakt-allgemeine und gleiche, die den Tauschwert setzt, nicht als konkret-besondere, die Marx die »Naturalform der Arbeit« nennt (MEW 23, 91) und die den Gebrauchswert setzt. Die Produkte seiner Arbeit treten dem Menschen als leblose, dingliche Realität, als objektive Notwendigkeit, als sein Leben schicksalhaft bestimmend gegenüber; als Waren verkörpern sie nicht mehr seine lebendige Auseinandersetzung mit der Natur, und den gesellschaftlichen Verhältnissen wird eine »gespenstige Gegenständlichkeit« verliehen (MEW 23, 52).

Im Gebrauchswert tritt die Ware in ihrer »hausbackenen Naturalform« auf (MEW 23, 62). »Die Gebrauchswerte Rock, Leinwand usw., kurz die Warenkörper, sind Verbindungen von zwei Elementen, Naturstoff und Arbeit« (MEW 23, 57). Der Tauschwert einer Ware ist dagegen eine »übernatürliche Eigenschaft« (MEW 23, 71); Naturstoff enthält er überhaupt nicht: »Da Tauschwert eine bestimmte gesellschaftliche Manier ist, die auf ein Ding verwandte Arbeit auszudrücken, kann er nicht mehr Naturstoff enthalten als etwa der Wechselkurs« (MEW 23, 97). So wie der Wechselkurs durch und durch »unnatürlich« ist, so ist im Tauschwert alles Naturale ausgemerzt. Und das wirkliche Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert stellt sich allgemein so dar, als ob »der Gebrauchswert der Sachen unabhängig von ihren sachlichen Eigenschaften, dagegen ihr Wert ihnen als Sachen zukommt« (MEW 23, 98). In der bürgerlichen Gesellschaft haben die Arbeitsprodukte der Menschen eine phantastische Gestalt angenommen. Was gesellschaftsbestimmt ist, erscheint als naturbestimmt, was natürlich als gesellschaftlich. Diesen Sachverhalt hat Marx unter dem Titel »Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis« im »Kapital« abgehandelt.

Das Gegenstück zur radikalen Herabsetzung der Natur, die jetzt »rein Sache der Nützlichkeit« ist und nicht mehr »als Macht für sich anerkannt« wird (Marx, Grundrisse, 313), ist »die ganze Negation« der »natürlichen Existenz« des Arbeiters, der nur noch als Tauschwert Produzierender existiert, »ganz durch die Gesellschaft bestimmt« (Grundrisse, 159).

Naturgeschichte und Menschengeschichte

Natur und Gesellschaft, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte bilden eine Einheit in der Differenz. Nur vorübergehend, aus Gründen der Standortbestimmung können sie getrennt werden: Es ist philosophisch und politisch entscheidend, auf welche Seite das Gewicht gelegt wird. Marx betrachtet die Geschichte von der Seite der Menschheit aus. Dabei geht die Naturgeschichte nicht restlos in Menschengeschichte auf und vice versa, wenngleich von Naturgeschichte im Grunde nur gesprochen werden kann, wenn die von bewussten Subjekten gemachte Menschengeschichte vorausgesetzt wird. Die Naturgeschichte ist die »rückwärtige Verlängerung« der Menschengeschichte und »wird von den Menschen als nicht mehr zugängliche Natur mit denselben gesellschaftlich geprägten Kategorien erfaßt, die sie auf die noch nicht angeeigneten Naturbereiche anzuwenden genötigt sind« (Alfred Schmidt 1974, 40 f.). Aus dieser Betrachtungsweise resultiert weder eine Trennung von Theorie der Natur und Geschichtstheorie noch ein grundsätzlicher methodologischer Unterschied zwischen sogenannten Naturwissenschaften einerseits und Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften andererseits. Sie war zunächst die Überwindung der naturalistischen Geschichtsauffassung, nach der die Naturbedingungen die Geschichte der Menschen bestimmen.

Einheit in der Differenz bedeutet: Der Mensch ist zwar für immer an den Stoffwechsel mit der Natur gebunden. Dabei werden Sachverhalte, die für die »vormenschliche« Geschichte typisch waren, nie völlig wirkungslos. Insofern kann Marx auch die Produktionsinstrumente als Organe, die der Mensch »seinen eignen Leibesorganen hinzufügt, seine natürliche Gestalt verlängernd« (MEW 23, 194), und die Geschichte der Gesellschaft als einen »wirkliche(n) Teil der Naturgeschichte« betrachten (MEW, Erg.-Bd., Erster Teil, 544). Der aus der Natur hervorgegangene und von ihr nicht abgelöste Mensch ist aber für Marx das einzige Subjekt, fähig, zweckgerichtet zu handeln, grundsätzlich in der Lage, die außermenschliche Natur zu beherrschen. Marx (MEW 23, 393, Fn. 89) zitiert einmal zustimmend Vico, der den Unterschied zwischen Naturgeschichte und Menschengeschichte darin sah, dass die eine von Menschen gemacht und die andere von Menschen nicht gemacht wird.

Für Marx waren die Alternativen entweder Natur- und Menschheitsgeschichte zusammenfallen zu lassen oder ihre Verschiedenheit als unüberbrückbar anzusehen, undialektisch. Er wollte dort, wo der Unterschied zu sehen ist, die Einheit suchen und dort, wo die Einheit zu sehen ist, den Unterschied betonen. Nur so bleibt die spezifische Differenz zwischen Geschichte der außermenschlichen Natur, die im Grunde unveränderlichen Gesetzen folgt, und Geschichte der Menschen erhalten. Naturgesetze können nicht mehr einfach auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen werden.

Von hier aus ist auch, wenn man die Linien bisherigen naturgeschichtlichen Denkens ins Auge fasst, vor allem die Differenz zum Darwinismus zu bestimmen. In einem Brief an Kugelmann, in dem er sich mit F. A. Lange auseinandersetzt, schreibt Marx: »Herr Lange hat … eine große Entdeckung gemacht. Die ganze Geschichte ist unter ein einziges großes Naturgesetz zu subsumieren. Dies Naturgesetz ist die Phrase (– der Darwinsche Ausdruck wird in dieser Anwendung bloße Phrase –) ›struggle for life‹, ›Kampf ums Dasein‹, und der Inhalt dieser Phrase ist das Malthussche Bevölkerungs- oder rather Übervölkerungsgesetz. Statt also den ›struggle for life‹, wie er sich geschichtlich in verschiedenen bestimmten Gesellschaftsformen darstellt, zu analysieren, hat man nichts zu tun, als jeden konkreten Kampf in die Phrase ›struggle for life‹ und diese Phrase in die Malthusssche Bevölkerungsphantasie umzusetzen« (MEW 32, 685 f.). Und Engels gegenüber hatte Marx bereits früher betont, wie voraussetzungsvoll auch Darwins Aussagen sind: »Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, ›Erfindungen‹ und Malthusschem ›Kampf ums Dasein‹ wiedererkennt. Es ist Hobbes’ bellum omnium contra omnes, und es erinnert an Hegel in der ›Phänomenologie‹, wo die bürgerliche Gesellschaft als ›geistiges Tierreich‹, während bei Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft figuriert« (MEW 30, 249).

Selbstverständlich ist Marx’ Auffassung von Natur und Menschengeschichte gerade da in erster Linie Ideologiekritik, wo menschengeschichtlich-gesellschaftlich bedingte Erscheinungen wie Kriege und Krisen als unvermeidliche Naturereignisse dargestellt oder, grundsätzlicher, wo die Klassenverhältnisse als naturgegeben hingestellt werden. Seit Marx (vgl. MEW 23, 183) können wir klipp und klar sagen: Die Natur produziert nicht auf der einen Seite Verfügende, Geld- und Warenbesitzer, auf der anderen Seite Verfügte, bloße Besitzer der eigenen Arbeitskraft, einerseits Satte und Unterdrücker, andererseits Depravierte und Beherrschte, hier Funktionierende, Lenkbare und Normale, dort die, deren Reaktionen kriminell, krank, verrückt oder abnorm zu nennen uns allen immer wieder allzu leicht von der Zunge geht.

Individuum und Gesellschaft

Wollen wir, mit der bürgerlichen Gesellschaft im Genick, nach solchen Gedankengängen der Frage »Was ist natürlich, was ist gesellschaftlich am Sexuellen?« noch ein Stück weiter zu Leibe rücken, dann stoßen wir auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft samt »ihrer« Wissenschaften, Psychologie und Soziologie, auf das Problem der Vermittlung der Ergebnisse historisch-ökonomischer mit denen psychologischer Wissenschaften. Das Erweitern der Gesellschaftstheorie zum Psychologischen hin ist angesichts des deutschen Faschismus in ganzer Schärfe als notwendig erkannt und bis vor einiger Zeit vor allem unter der Chiffre »Psychoanalyse und Marxismus« betrieben worden.

Mir scheint, die Diskussion hat sich jahrzehntelang im Kreis gedreht oder schlimmer: sie war gar keine. Einige haben Freud und Marx simultan abgeschrieben und zu etwas »zusammengefaßt«, was man wissenschaftliche Pornografie nennen könnte, z. B. Osborn (1965), andere, wie Wilhelm Reich (1934), haben Annahmen und Begriffe der Psychoanalyse zwangsweise historisiert, materialisiert und dialektisiert und anschließend mit »systemtranszendenten« Weihen versehen.

Gegenwärtig machen nach meinem Eindruck vor allem vier Betrachtungen von sich reden, deren Streitfrage letztlich ist, ob der Marxismus bloßer Objektivismus oder ob er die allgemeine Subjektwissenschaft ist:

1. Sève (1972) hält eine marxistische Persönlichkeitstheorie für erforderlich, weil das menschliche Wesen als Gesamt der menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten, die in den objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen liegen und historisch geworden sind, nicht identisch sei mit den konkreten Individuen, die das menschliche Wesen in einer bestimmten Position innerhalb der arbeitsteiligen Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse jeweils nur partiell realisieren. Persönlichkeitsstrukturen sind bei Sève zwar der Gesellschaftsstruktur untergeordnet, lassen sich aber nicht allein aus dem Objektiven ableiten, sondern müssen in ihrer Besonderheit als Konkretes und Einmaliges studiert werden.

2. Diese Position lehnen besonders Bischoff (vgl. z. B. 1973) und das »Projekt Klassenanalyse« ab (vgl. Laufenberg et al. 1975). Sie reduzieren den Marxismus ökonomistisch auf bloßen Objektivismus. Für sie ist der Mensch total das Produkt der gesellschaftlichen Objektivität. Die möglichen Fragen einer marxistischen Subjektwissenschaft meinen sie restlos und allein durch eine Konkretisierung und Spezifizierung der Kritik der Politischen Ökonomie lösen zu können. Man brauche die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen, denen ein Mensch ausgesetzt ist, nur spezifiziert genug zu erfassen, wenn man seine Individualität erkennen wolle.

3. Etwas doppelt Deletäres hat die Position der »Kritischen Theorie des Subjekts« an sich, von Lorenzer, Dahmer, Horn, Leithäuser u. a. in Ansätzen, Versuchen und Entwürfen vorgetragen (vgl z. B. Dahmer u. a. 1973, Lorenzen 1974). Indem sie beide, Marxismus und Psychoanalyse, wesentlicher Voraussetzungen und Resultate berauben – Interaktion statt Arbeit, Symbole als »innere Produktionsmittel« u. dgl. – lutschen sie erst beiden das Blut aus und kleben dann in merkwürdig halbherzig-schleierhafter Weise weiterhin an ihnen. Für sie ist die marxistische Theorie zur Subjektseite hin ergänzungsbedürftig, weil auf diesem Auge blind, aber nur durch die Psychoanalyse, die mit der subjektiven Strukturanalyse identisch sei, so dass Horn (1973, 116) vom »›subjektiven Faktor‹ und seine(r) Wissenschaft« reden kann, nachdem man die Psychoanalyse ihrer »szientistischen Selbstmißverständnisse« (und mehr) zu entkleiden bemüht war. Warum solche Versuche der »Verklammerung« psychoanalytischer mit soziologischen Begriffen untauglich bis gefährlich sind, könnten diese Forscher am besten bei Adorno selber nachlesen, in seinem radikalen Aufsatz »Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie« aus dem Jahre 1955.

4. Die letzte Position, die ich erwähnen möchte, wird im Wesentlichen von Westberliner Psychologen um Holzkamp vertreten und kursiert zunehmend unter der Bezeichnung »Kritische Psychologie«. Für diese Psychologen ist der Marxismus die allgemeine Subjektwissenschaft, was sie gleichermaßen dem »Projekt Klassenanalyse« wie der »Kritischen Theorie des Subjekts« gegenüber auf Distanz bringt. Holzkamp (1977, 323) will einen subjektwissenschaftlichen Ansatz innerhalb der marxistischen Theorie entwickeln, und zwar, wie er vor kurzem programmatisch mitteilte, »ausschließlich auf der Basis marxistischer Grundbegriffe und Verfahrensweisen«. Sorgsam werden wir die Resultate dieses Ansatzes, der jetzt ins Stadium seiner Entfaltung eintritt, zu überdenken suchen, selbstverständlich auch unter den Anforderungen unseres speziellen Gebietes.

Dass die Menschen mit ihren Bedürfnissen, Wünschen, Gefühlen usw. historisch Gewordene und gesellschaftlich Bestimmte sind, ist bei allen Differenzen im Ernst nicht strittig. An dem Inwiefern und Inwieweit gehen die Auffassungen auseinander, versagt das wissenschaftliche Bemühen – ein Umstand, der für die Entwicklung einer Theorie der menschlichen Sexualität weiß Gott nicht belanglos ist. Obgleich Anleitung und Programm, konnten die erkenntnistheoretische Gruppe der Feuerbach-Thesen und Passagen wie jene, in der Marx die Geschichte und das gegenständliche Dasein der Industrie als »das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie« bezeichnet (MEW, Erg.-Bd., Erster Teil, 542), bisher kaum lebendig gemacht werden.

Vielleicht müssen wir dieses theoretische Versagen allmählich konkreter als das begreifen, was es ist: Ausdruck der Wirklichkeit. In der warenproduzierenden Tauschgesellschaft treten zwischen die Menschen Ware und Tausch. Die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen sind wie Beziehungen und Bewegungen von Sachen. Das setzt Psychologie außer Kraft. Die Menschen können umstandslos weder sich in der Gesellschaft noch diese in sich erkennen, weil sie zueinander und zur gesellschaftlichen Gesamtheit in einem entfremdeten Verhältnis stehen. Die Unvereinbarkeit von soziologischen und psychologischen Kategorien muss auch einmal bis zum Ende gedacht werden als Unvereinbarkeit von Gesellschaft und Individuum. Gesellschaftliche Antagonismen sind keine Grillen, die man sich durch eine genügend raffinierte oder schlichte Analyse vom Hals schaffen könnte. Es geht um das Bestimmen der Differenz, der objektiven Widersprüche, der prinzipiellen Entzweiung. Wie sich subjektiv-individuelle zu objektiv-gesellschaftlichen Momenten verhalten, kann nicht durch das Vereinheitlichen und parallelisierende Benutzen von vorhandenen psychologischen Begriffen und solchen der Gesellschaftstheorie geklärt werden. Das ist wie das Wechseln eines Kondoms, das ist bloße Harmonisierung über begrifflichen Abhub unterm Kreuz naturwissenschaftlicher Ideologie. Das Unversöhnliche und Widersprüchliche fällt durch alle Siebe, und das stattliche Ergebnis ist die – natürlich undialektische – Einheit des objektiv Getrennten. Doch die Separation von Individuum und Gesellschaft ist falsches Bewusstsein, und die Wissenschaft gibt ihm verschiedene Gestalten – »subjektive« Ökonomie, ökonomistische Psychologie, psychoanalytistische Gesellschaftslehre usw. –, die sich zum Studium der wirklichen Welt verhalten wie die Onanie zur Geschlechtsliebe.

Sexualität und Gesellschaft

Nun erwartet vielleicht doch noch mancher, dass ich unverblümter aufs Sexuelle zu sprechen komme. Ich weiß: Die Frage, was natürlich am Liebes- und Geschlechtsleben sei, verfolgt uns. Die Menschen fragen seit einigen Jahrhunderten in spezifischer Weise und wir seit einigen Jahrzehnten immer irritierter, hilfesuchender und ungläubiger: Ist dieses oder jenes Sexualverhalten natürlich? Ist der Mensch von Natur aus hetero-, homo- oder bisexuell? Ist die Ehe die erste und heiligste Einrichtung der Natur, wie Rousseau einst meinte und der Vatikan gestern beteuerte? Inwiefern und inwieweit ist diese oder jene sexuelle Reaktion biologisch vorausgegeben, körperlich gesteuert? Welches Ausmaß an Fetischismus, Sadomasochismus oder gleichgeschlechtlicher Neigung ist normal, kommt bei »Naturvölkern« vor? Lebten die ersten Menschen monogam? Hat diese oder jene sexuelle Störung ursächlich mit Hormonen, Hirnzentren, überhaupt dem Körperlichen zu tun und ist sie daher solcherart zu beeinflussen? Und so weiter, und sofort. Wer diese Fragen wirklich beantworten will, muss sich zunächst der Kategorie der Natur ideengeschichtlich nähern. Das zu zeigen und angesichts der Theorielosigkeit unseres Gebietes darauf zu bestehen, ist meine Absicht.

Wird nach dem Sexuellen gefragt, so kann ich darüber, so verrückt es auch ist, nur im gewöhnlichen Verstand, auf der Ebene des locus communis sprechen. Wir haben uns ja seit einhundert Jahren mehr oder weniger daran gewöhnt. Jeder denke sich also, was er sich immer denkt, und er wird nicht aus dem Rahmen fallen. Freud sagte bekanntlich in seiner XX. Vorlesung, als er versuchte, »anzugeben, was den Inhalt des Begriffes ›sexuell‹ ausmacht«: »Im ganzen sind wir ja nicht ohne Orientierung darüber, was die Menschen sexuell heißen. Etwas, was aus der Berücksichtigung des Gegensatzes der Geschlechter, des Lustgewinnes, der Fortpflanzungsfunktion und des Charakters des geheim zuhaltenden Unanständigen zusammengesetzt ist, wird im Leben für alle praktischen Bedürfnisse genügen« (GW XI, 313 f.). Und eine Vorlesung später bemerkte er lapidar: »Vergessen Sie nicht, wir sind derzeit nicht im Besitze eines allgemein anerkannten Kennzeichens für die sexuelle Natur eines Vorganges« (GW XI, 331).

Knapp fasse ich jetzt zusammen, was mir auf der Hand zu liegen scheint (vgl. auch Sigusch 1979b):

1.

Der Mensch ist von Natur gesellschaftlich und seine Sexualität ist es auch. Sexualität ist eine gesellschaftliche Kategorie. Menschensexualität schlechthin, »reine« Sexualität ist reine Gedankenschöpfung. Das natürliche Moment am Sexuellen lässt sich vom gesellschaftlichen prinzipiell nicht abscheiden – im Sinne von primär und sekundär, von vorausgegeben und gemacht, von richtig und falsch. In jedem Trieb, in jedem Bedürfnis des Menschen ist seine ganze Gattungsgeschichte reflektiert. Die Geschichte reicht bis in die physiologischen Vorgänge hinein. Am Beispiel des Hungers ist das besonders schön gesagt worden, zuerst von Marx: »Hunger ist Hunger, aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit Gabel und Messer gegeßnes Fleisch befriedigt, ist ein andrer Hunger, als der rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und Zahn verschlingt. Nicht nur der Gegenstand der Konsumtion, sondern auch die Weise der Konsumtion wird daher durch die Produktion produziert, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv« (MEW 13, 624). Man könnte fürs Sexuelle viele Variationen bringen. Hüten wir uns also, die zarte Erektion des Hirtenknaben vergangener Jahrhunderte und seinen Umgang mit ihr als etwas Natürlicheres auszuspielen gegen die rezente Gliedversteifung einer staatstragenden Person. Oder gegen die Art und Weise wie Frau Häusermakler in ihrem Bungalow nach Lektüre von »Geruchloser Leben«, Roger Pure vorm Auge, crèmegebadet, rasiert, gezupft, gesprüht und frisiert à la français zur Musik von Boney M. in der Reizhose von Beate U. mit Gesichtsmaske aus der geilen Haut springen zu müssen meint und tatsächlich zu fahren genötigt ist.

2.

Zu interessieren hat uns der geschichtlich-gesellschaftliche Charakter des Sexuellen. Das ist philosophisch ebenso wie politisch geboten. Nur so erkennen wir, was für die Menschen konkret und bedeutsam ist. Nur bei dieser Blickrichtung können wir Pornografie, Partnertausch oder Gruppensexualität als das begreifen, was sie sind: Ausfluss hingerichteter Begierde. Dass der letzte Schrei immer US-amerikanisch klingt – fist fucking, poppers, escort girls, peep shows –, sagt uns, wo die Zerstörung am gründlichsten ist. Wer es liebt, den Atem am Kultur-, Sitten- und Seelenzerfall zu haben, der Reise nach New York. Aber Pornografie und peep show sind nicht unnatürlicher als die begierlich erlahmende, eifernde, kurzmütige, unfreundliche, bittere, fetischistische und zwanghaft das Ihre suchende Art und Weise, wie wir alle gehalten sind, einen anderen Menschen zu lieben (vgl. Sigusch 1979a). Nur diese Optik erlaubt uns eine menschliche Sicht des gegenwärtigen Liebes- und Geschlechtslebens, bewahrt uns vor flottem Zynismus gegenüber massenhaftem Erleben, vor schneller Abscheu und Resignation.

3.

Wenn der natürliche Anteil alles Sexuellen nie unmittelbar, sondern stets nur als historisch Gewordener und gesellschaftlich Produzierter in Erscheinung tritt, ist das Sich-Berufen auf die Natur der Sexualität Ausdruck der allgemeinen Verblendung und Ratlosigkeit, von rechts bis links. Wer von »natürlicher« Sexualität als biologisch vorausgegebener, gesunder, normaler, richtiger, als nur gesellschaftlich überlagerter oder als der ungebrochenen, ungehemmten des »einfachen« Menschen redet, leugnet die gattungsspezifische Natürlichkeit des Menschen, die in seiner gesellschaftlichen Geschichtlichkeit besteht, will menschenfeindliche medizinische Attacken rechtfertigen (Beispiel: Psychochirurgie), will entschuldigen und vorm Zeigefinger bewahren (Beispiel: Homosexualität), entwürdigt die Entwürdigten zusätzlich (Beispiel: sog Arbeitersexualität), will »alternative« Lebensformen unter die Leute bringen (Beispiel: Psychosekten), kocht sein eigenes Süppchen und hat Grund dazu.

4.

Wenn gesagt wird menschlich Sexuelles werde erst in seiner gesellschaftlichen Vermitteltheit konkret und bedeutsam, erst dadurch werde es über das Körperlich-Morphologische hinaus konstituiert, dann heißt das nicht, dass der natürliche Anteil am Sexuellen in den Weisen gesellschaftlicher menschlicher Praxis und theoretischer Bearbeitung ganz und gar aufgelöst werden könnte. Die anatomisch physiologische Ausstattung des Menschen bleibt der geschichtlich-gesellschaftlichen Bildung seiner Sexualität nicht ganz und gar äußerlich, sie setzt Richtungen und Begrenzungen, wenn auch noch so randständige und kraftlose, wie die klinische Pathologie uns oft lehrt. Und vergessen wir nicht: Ohne den gesellschaftlichen Lebensprozess gibt es kein biologisches Leben der Gattung Mensch.

5.

Es ist gefährlich, am Sexuellen einen konstanten von einem variablen Anteil zu trennen. Selbst das, was wir gelegentlich etwas vorlaut »Naturbasis« des Sexuellen genannt haben, ist zur historisch-gesellschaftlichen Seite hin nicht blind. Als solches hat es keine Bedeutung. Jede Aussage über die zentralnervöse Steuerung der Sexualität, über die Physiologie der Fortpflanzung, über Sexualhormone und dergleichen ist durch die jeweils in gesellschaftlichem Maßstab regierende Art und Richtung sowie Vollständigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, durch das jeweilige Bild vom Menschen, das jeweilige Naturbewusstsein, die jeweilige Naturideologie hindurchgegangen, deren Boden sich nach dem allgemeinen Verhältnis von Mensch-Natur-Gesellschaft bemisst. Greifen wir den Geschlechterdimorphismus mit dem entscheidenden Umstand: dass die Frau empfangen, gebären, dass der Mann zeugen kann – und das ist ja der biologische Kern der Alternativgeschlechtlichkeit – greifen wir dieses Merkmal heraus, das man als das relativ stabilste gegenüber dem Historisch-Gesellschaftlichen ansehen könnte, dann sehen wir sofort dreierlei. Zum einen ist das Zusammenpassen der männlichen mit den weiblichen Geschlechtswerkzeugen keine zwischengeschlechtliche Garantie, welche sexuelle Anziehung und Aktion zwischen Mann und Frau zu halten vermochte. Zum anderen wissen zunehmend weniger Menschen, wes Geschlechts sie sind, ob, wie, wann und wozu sie empfangen oder zeugen sollen. Auch hier also wieder: Abgelöst vom Menschen und seinem gesellschaftlichen Lebensprozess hat Biologisches keinen Sinn. Zum dritten ist die Fortpflanzung, ohnehin ein nichtsexueller Vorgang, aus dem Körper des Menschen bereits herausgeschält. Und nur moralische Resthemmungen und das Chaos des Monopols hindern Wissenschaftler zur Zeit daran, die Lösung massenhaft zu probieren, mittels genetischer Techniken billigste »menschliche« Ersatzteillager anzulegen, überhaupt menschliche Arbeitskraft künstlich zu produzieren.

6.

Eine von Geschichts- und Gesellschaftstheorie getrennte Theorie der Sexualität des Menschen ist keine. Wer über Sexualität ernsthaft nachdenkt, hat die ganze Gattungsgeschichte des Menschen und mehr am Hals. Die Arbeit ist die erste Kategorie der Sexualwissenschaft. Während das noch bestritten werden muss, ist allgemeine Überzeugung, dass es eine Sexualtheorie außerhalb einer umfassenden Persönlichkeitstheorie nicht geben kann. Die aus der gesellschaftlichen Dialektik wie der Knochen aus dem Fleisch herausgelöste Psyche (samt Sexualität) ist aber entsubjektiviert – und sei die psychologische Theorie in sich noch so »stimmig« und begeistere sie einen noch so sehr. Sexualität als autonomes Feld bearbeiten, heißt, sie zu einem Objekt des Forschens und Behandelns machen nach der gesellschaftlichen Manier des Abstrahierens, des Trennens und des Bruches. So, als Firlefanz, passt Sexualforschung vorzüglich ins allgemeine Geschäft. Und namentlich die US-Amerikaner belästigen uns jeden Tag mit Variationen zum Thema »Wie die Sexualforschung im Zuge des imperialistischen Kulturzerfalls immer läppischer wird«. Das Aufschütten unverbundener Datenberge und anschließende Herumstochern in ihnen sollte uns kalt lassen. Soweit es mich betrifft, können sie ihre Schein-mit-Schein-Korrelationen, genannt Reports, für sich behalten. Ich diskutiere dann wirklich lieber mit Moraltheologen und lese Gehlen.

7.