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Das Standardwerk - Ausführliche Darstellung aller in der Praxis vorkommender Probleme - Die ganze Palette der erfolgreichen Behandlungsverfahren von der einmaligen Sexualberatung über die niederfrequente Sexualtherapie bis hin zur hochfrequenten Psychoanalyse im Liegen, von medizinischen Behandlungen bis hin zu deren Kombination mit Sozial- oder Psychotherapie - Hochkarätiges Autorenteam unter hervorragender Herausgeberschaft
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Veröffentlichungsjahr: 2006
Mit Beiträgen von
Nikolaus Becker
Wolf Eicher
Eva S. Poluda
Wolfgang Berner
Herbert Gschwind
Reimut Reiche
Peer Briken
Margret Hauch
Hertha Richter-Appelt
Sabine Cassel-Bähr
Silvia Heyer
Ulrike Schmauch
Ulrich Clement
Andreas Hill
Christiane Schrader
Martin Dannecker
Carmen Lange
Volkmar Sigusch
Sonja Düring
Bernd Meyenburg
Bernhard Strauß
4., überarbeitete und erweiterte Auflage
5 Abbildungen
54 Tabellen
Georg Thieme VerlagStuttgart • New York
Bibliografische Information
Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 1996
2. Auflage 1997
3. Auflage 2001
© 2007 Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14
D- 70469 Stuttgart
Telefon: + 49/ 0711/ 8931-0
Unsere Homepage: http://www.thieme.de
Zeichnungen: Heike Hübner, Berlin
Umschlaggestaltung: Thieme Verlagsgruppe
Umschlagfoto: Skulptur (Ausschnitt) ‚Tanzende Paare’ von Stephan
Balkenhol; Fotograf: Axel Schneider, Frankfurt am Main
© Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main
eISBN: 978-3-13-168944-31 2 3 4 5 6
Wichtiger Hinweis: Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstandbei Fertigstellung des Werkes entspricht.
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Anschriften
Dipl.-Psych. Nikolaus Becker
Psychoanalytische Praxis
Falkenried 7
20251 Hamburg
Prof. Dr. med. Wolfgang Berner
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut und Poliklinik für Sexualforschung und
Forensische Psychiatrie
Martinistraße 52
20246 Hamburg
Dr. med. Peer Briken
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut und Poliklinik für Sexualforschung und
Forensische Psychiatrie
Martinistraße 52
20246 Hamburg
Dipl.-Psych. Sabine Cassel-Bähr
Psychotherapeutische Praxis
Rappstraße 16
20146 Hamburg
Prof. Dr. phil. Ulrich Clement
Heidelberger Institut für systemische Forschung und
Therapie
Kussmaulstraße 10
69120 Heidelberg
Prof. Dr. phil. Martin Dannecker
Joachim-Friedrich-Straße 2
10711 Berlin
Dr. phil. Sonja Düring
Psychotherapeutische Praxis
An der Alster 15
20099 Hamburg
Prof. Dr. med. Wolf Eicher
Diakonissenkrankenhaus
Frauenklinik
Kniebisstraße 5
68163 Mannheim
Dr. med. Herbert Gschwind
Psychotherapeutische Praxis
Adalbertstraße 12 a
60486 Frankfurt am Main
Dipl.-Psych. Margret Hauch
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut und Poliklinik für Sexualforschung und
Forensische Psychiatrie
Martinistraße 52
20246 Hamburg
Dipl.-Soz. Silvia Heyer
Pro-Familia-Beratungsstelle Berlin
Kalckreuthstraße 4
10777 Berlin
Dr. med. Andreas Hill
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut und Poliklinik für Sexualforschung und
Forensische Psychiatrie
Martinistraße 52
20246 Hamburg
Dr. phil. Carmen Lange
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut und Poliklinik für Sexualforschung und
Forensische Psychiatrie
Martinistraße 52
20246 Hamburg
Dr. med. Bernd Meyenburg
Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des
Kindes- und Jugendalters
Deutschordenstraße 50
60528 Frankfurt am Main
Dipl.-Psych. Eva S. Poluda
Psychoanalytische Praxis
Kaiserstraße 34
50321 Brühl
Priv.-Doz. Dr. phil. Reimut Reiche
Psychoanalytische Praxis
Oppenheimer Landstraße 55
60596 Frankfurt am Main
Prof. Dr. phil. Hertha Richter-Appelt
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut und Poliklinik für Sexualforschung und
Forensische Psychiatrie
Martinistraße 52
20246 Hamburg
Prof. Dr. phil. Ulrike Schmauch
Fachhochschule Frankfurt am Main
Fachbereich 4 Soziale Arbeit und Gesundheit
Nibelungenplatz 1
60318 Frankfurt am Main
Dipl.-Psych. Christiane Schrader
Psychoanalytische Praxis
Poststraße 5
63303 Dreieich
Prof. Dr. med. Volkmar Sigusch
Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Institut für Sexualwissenschaft
Theodor-Stern-Kai 7
60590 Frankfurt am Main
Prof. Dr. phil. Bernhard Strauß
Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie
Stoystraße 3
07743 Jena
Vorwort zur 4. Auflage
Die anhaltend positive Aufnahme unseres Buches ist mir eine große Freude.
Vollkommen neu sind in dieser Auflage die Kapitel „Systemische Therapie sexueller Luststörungen“ von Ulrich Clement, „Paartherapie bei sexuellen Störungen am Beispiel des Hamburger Modells“ von Margret Hauch, Carmen Lange und Sabine Cassel-Bähr, „Probleme der intersexuellen Entwicklung“ von Hertha Richter-Appelt sowie „Therapie bei sexueller Delinquenz“ von Wolfgang Berner, Andreas Hill und Peer Briken. Ich bin sehr froh, dass jetzt endlich auch die systemische Sexualtherapie als ein erfolgreiches Behandlungsverfahren und die Intersexualität als eine große Herausforderung für Psychologie und Medizin in dem Buch vertreten sind. Ebenso froh bin ich, dass die praktisch besonders relevante Paartherapie und die sich im Umbruch befindende Therapie von Sexualdelinquenten auf dem neuesten theoretischen und klinischen Stand dargestellt werden.
Alle anderen Kapitel des Buches wurden durchgesehen, aktualisiert oder korrigiert. Dabei sind manche Kapitel inhaltlich so verändert worden, dass sie umbenannt werden mussten. So heißt das alte Kapitel „Ist AIDS inzwischen eine normale Krankheit?“ von Martin Dannecker jetzt „Zur Transformation von AIDS in eine behandelbare Krankheit“, und das alte Kapitel „Sildenafil (Viagra): Wirkmechanismus und erste Ergebnisse“ von mir heißt jetzt „Sildenafil (Viagra) und andere Phosphodiesterase-Hemmer“.
Nach wie vor folgen wir der Devise: Psychotherapeuten sollten die Körperlichkeit sehr ernst nehmen, Körpermediziner die Psychodynamik. Weil die körperliche Sphäre ebenso wichtig ist wie die psychische und beide nur mit Gewalt voneinander getrennt werden können, haben wir wieder mit besonderer Sorgfalt alle gegenwärtigen und zu erwartenden körpermedizinischen Behandlungsverfahren vorgestellt und diskutiert, von PT-141 bei sexuellen Funktionsstörungen von Männern und Frauen über Dapoxetin bei der stark verbreiteten vorzeitigen Ejakulation bis hin zu LHRH- bzw. GnRH-Agonisten bei sexueller Delinquenz. Und natürlich werden auch jüngste Fachdebatten aufgegriffen wie die um die Definition von „Female Sexual Dysfunction“ (FSD) und die Wirksamkeit von PDE-5-Hemmern bei Frauen. Außerdem werden letzte Gerichtsentscheidungen, zum Beispiel zur Kostenübernahme bei Viagra oder zur notwendigen Revision des Transsexuellengesetzes, berücksichtigt.
Insgesamt breiten wir wieder die ganze Palette aus, von der einmaligen Sexualberatung über die niederfrequente Sexualtherapie bis hin zur hochfrequenten Psychoanalyse im Liegen, von medizinischen Behandlungen bis hin zu deren Kombination mit Sozial- oder Psychotherapie. Kurzum: Wir sehen die Wege der Therapie so vielfältig wie die des Lebens. Entscheidend ist für uns die Seriosität der Fachvertreter und deren Dialogfähigkeit. Nur dann kann voneinander gelernt werden – den Hilfesuchenden und Notleidenden zuliebe.
Erneut hat mich Agnes Katzenbach vom Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft Satz für Satz auf eine Weise unterstützt, die einzigartig ist. Bärbel Kischlat-Schwalm und Gabriele Wilke sorgten in unserem Institut und in unserer Sexualmedizinischen Ambulanz für eine überaus angenehme Arbeitsatmosphäre. Heide Addicks und Korinna Engeli vom Thieme Verlag kümmerten sich hinreißend um das Projekt. Ihnen allen danke ich sehr.
Frankfurt am Main, im Juli 2006
Volkmar Sigusch
Inhaltsverzeichnis
I Einleitung
1 Was heißt sexuelle Störung?
Volkmar Sigusch
2 Kultureller Wandel der Sexualität
Volkmar Sigusch
II Sexuelle Entwicklungen und Probleme
3 Probleme der weiblichen sexuellen Entwicklung
Sonja Düring
4 Probleme der männlichen sexuellen Entwicklung
Ulrike Schmauch
5 Probleme der weiblichen homosexuellen Entwicklung
Eva S. Poluda
6 Probleme der männlichen homosexuellen Entwicklung
Martin Dannecker
III Sexuelle Symptome und Störungen
7 Das sexuelle Symptom in der Sprechstunde
Herbert Gschwind
8 Grundzüge der Sexualberatung
Christiane Schrader und Silvia Heyer
9 Diagnostik und Differenzialdiagnostik sexueller Störungen
Volkmar Sigusch
10 Symptomatologie, Klassifikation und Epidemiologie sexueller Störungen
Volkmar Sigusch
11 Organogenese sexueller Funktionsstörungen
Volkmar Sigusch
12 Psychoanalyse und sexuelle Funktionsstörungen
Hertha Richter-Appelt
13 Paartherapie bei sexuellen Störungen am Beispiel des Hamburger Modells
Margret Hauch, Carmen Lange und Sabine Cassel-Bähr
14 Systemische Therapie sexueller Luststörungen
Ulrich Clement
15 Organotherapien bei sexuellen Funktionsstörungen
Volkmar Sigusch
16 Sildenafil (Viagra) und andere Phosphodiesterase-Hemmer
Volkmar Sigusch
IV Körperliche Erkrankungenund Sexualität
17 Sexuelle Probleme und Störungen in der gynäkologischen Praxis
Wolf Eicher
18 Probleme der intersexuellen Entwicklung
Hertha Richter-Appelt
19 Chronische körperliche Erkrankungen und Sexualität
Bernhard Strauß
20 Zur Transformation von AIDS in eine behandelbare Krankheit
Martin Dannecker
V Sexuelle Perversionen
21 Psychoanalytische Theorie sexueller Perversionen
Nikolaus Becker
22 Psychoanalytische Therapie sexueller Perversionen
Reimut Reiche
VI Sexueller Missbrauch, Gewalt und Delinquenz
23 Sexueller Missbrauch und Pädosexualität
Martin Dannecker
24 Psychotherapie nach sexueller Traumatisierung
Hertha Richter-Appelt
25 Therapie bei sexueller Delinquenz
Wolfgang Berner, Andreas Hill und Peer Briken
26 Organotherapien bei sexuellen Perversionen und sexueller Delinquenz
Volkmar Sigusch
VII Geschlechtsidentitätsstörungen und Transsexualität
27 Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter
Bernd Meyenburg
28 Transsexuelle Entwicklungen
Volkmar Sigusch
VIII Fort- und Weiterbildung
29 Fort- und Weiterbildung in Sexualmedizin und Sexualtherapie
Volkmar Sigusch
Sachregister
I Einleitung
1 Was heißt sexuelle Störung?
2 Kultureller Wandel der Sexualität
1 Was heißt sexuelle Störung?
Volkmar Sigusch
Es gibt auch heute noch Experten, die ziemlich genau zu wissen glauben, welche Sexualität natürlich, normal und gesund ist. Ich gehöre nicht unbedingt zu ihnen, und zwar aus folgenden Gründen.
Seitdem es unsere Sexualität als ein Abgegrenztes und Allgemeines gibt, also eigentlich erst seit dem 19. Jahrhundert, haben sich die Vorstellungen von natürlicher und widernatürlicher, von normaler und abnormer, von gesunder und kranker Sexualität ständig verändert. Das ist nicht verwunderlich, wenn wir daran denken, wie sehr sich in den letzten zwei Jahrhunderten unser Empfinden und Denken, unser Leben und Sterben verändert haben. Zwischen der Venus von früher und der Liebesbeziehung von heute liegen nicht nur die Prozesse des Trennens, Zerstreuens und Vervielfältigens, die ich im nächsten Kapitel beschreibe. Doch die Sexualität soll immer noch so sein, wie sie einmal vor mehr als hundert Jahren von unseren wissenschaftlichen Vorgängern verstanden worden ist: ganz natürlich. Nüchtern betrachtet aber ist „natürliche“ Sexualität tierisch, nichts als Reflex, Instinkt, Verschlingung: ein Inbegriff des Schreckens.
Auf die Frage, was eine sexuelle Störung sei, gibt es heute nicht nur eine glatte, sondern auch eine verschlungene Antwort. Die glatte Antwort verweist auf Dysfunktionen, Dysphorien und Dysphilien, die in Krankheitslehren und Symptomregistern erfasst sind. Sie wird von Psychotherapeuten ebenso gegeben wie von Urologen und orientiert sich an dem, was allen geläufig scheint: Anatomie und Physiologie des Körpers und der Seele. Dieser Antwort zufolge ginge es also um gestörte Funktionen, Missempfindungen, abweichendes Verhalten und krankhaftes Erleben. Das aber wirft bereits weitere Fragen auf, die eine etwas kompliziertere Antwort erfordern.
„Funktion“ der Dysfunktion
Was beispielsweise stellen sich die Expertinnen und Experten unter „Funktion“ vor? Denken auch Psychotherapeuten bei diesem Wort an die kompetitive Hemmung von Wirkstoffen? Oder haben sie ganz andere Hemmungen im Kopf? Kann nicht die „erektile Dysfunktion“, von der unsere Mediziner gegenwärtig so selbstgewiss reden, eine seelische Funktion haben, die für das innere Gleichgewicht der Person (und des Paares) von Bedeutung ist? Und gilt das nicht noch tiefreichender für die Dysphorien und Dysphilien, für die so genannten Paraphilien oder Perversionen? Dürfen wir sie, wenn das so ist, einfach beseitigen, sofern wir mit therapeutischen Waffen schweren Kalibers dazu imstande wären? Oder bestünde die Gefahr, die Person und nicht „nur“ ihre Perversion zu zerstören? Ahnen unsere Mediziner, die in einer Etappe der allgemeinen Psychologisierung aufgewachsen sind, dass eine Dysfunktion eine Funktion haben kann, wenn sie die alte Impotenz jetzt beharrlich „erektile Dysfunktion“ nennen? Denn das heißt ja übersetzt merkwürdigerweise: „schwellfähige“, also „potente“ Fehlfunktion.
Und was meint „sexuelle“ Funktionsstörung oder „sexuelle“ Gewaltanwendung? Handelt es sich oft nicht sehr viel eher um ein allgemeines Symptom, das erst in zweiter oder dritter Hinsicht etwas mit Sexualität zu tun hat und deshalb als „sexuelles“ Symptom vordergründig oder vorgeschoben ist? Geht es in Sexualtherapien, die auf Reparaturen aus sind, wirklich um Sexualität im emphatischen Sinn? Ist nicht jede Sexualtherapie, die den Namen verdient, eine Psychotherapie, weil sich das Sexuelle (und Geschlechtliche) nicht aus der Seele lösen lässt wie das Fleisch vom Knochen? Gibt es nicht Patienten, bei denen alle sexuellen „Funktionen“ funktionieren, die aber trotzdem unglücklich sind, weil sie keine sexuelle Erfüllung finden?
Lässt sich das, was ein Mensch als krankhaft erlebt, nur individuell bestimmen? Oder ist es auch kulturell bedingt, vielleicht sogar in erster Linie? Unter welchen Umständen bezeichnen wir ein sexuelles Verhalten als „abweichend“, „deviant“, „paraphil“ oder „pervers“? Können wir das einigermaßen verlässlich mit psychologisch-medizinischen Kriterien tun? Oder verlassen wir dann, wenn wir das tun, den Boden unserer Profession? Was bedeutet es, wenn Psychoanalytiker davon sprechen, diese oder jene Entwicklungsphase sei „normal“ verlaufen? Gibt es das in Physiologie und Psychologie? Oder bezieht sich „normal“ immer auf Normativität und Normalität, also auf Recht und Ordnung, Moral und Common Sense?
Kulturelle Weichenstellungen
Hängt die Diagnose „sexuelle Störung“ oder „sexuelle Perversion“ nicht sehr davon ab, wer mit wem zu welcher Zeit unter welchen Umständen und mit welchem Ziel in Kontakt gerät? Ändern sich die Diagnosen womöglich schneller, als uns recht ist? Hinken wir folglich mit unseren Vorstellungen oft dem hinterher, was der Zeitgeist injiziert, die Diskurse diktieren und die Imperative bestimmen?
Fragen über Fragen. Eines aber scheint mir sicher zu sein: Wer eine glatte Antwort gibt, setzt sich und seine Patienten der Gefahr aus, auf der Ebene der Gemeinplätze zu operieren. Er folgt unreflektierten Voraussetzungen, die sich im Verlauf dieses Jahrhunderts als äußerst prekär erwiesen haben. Während jede Reflexion anstrengend und zeitaufwändig ist und eine ebenso verschlungene wie vorläufige Antwort zur Folge hat, begnügt sich die fixe Antwort mit dem, was ohnehin gang und gäbe ist, ob nun im Alltagsoder im Berufsleben. Diesem Sog sind wir alle ausgesetzt. Sprechen wir von sexuellen oder geschlechtlichen Störungen oder Krankheiten als solchen, setzen wir zwangsläufig voraus, wie jene Sexualität und jene Geschlechtlichkeit beschaffen sind, von denen wir indirekt oder direkt annehmen, sie seien rund, ungestört und normal.
Wir tun das tagtäglich, weil wir ohne solche Distinktionen gar nicht leben und arbeiten könnten, ohne von den Wirrnissen und Widersprüchen der Welt zerrissen zu werden. Wir haben alle mehr oder weniger verschattete Vorstellungen von dem, was die Menschen bewegt und bewegen sollte, Vorstellungen von einem gelungenen, gemeisterten, sinnvollen Leben, von Gesundheit und Glück, Vorstellungen, die, weil sie zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur entstanden sind, auch wieder verschwinden oder sich ändern können.
Berater und Therapeuten aber, die in relativer Ruhe professionell arbeiten wollen, müssen sich an das halten, was der Patient als Problem oder Konflikt erlebt, an das, dessentwegen er sie konsultiert. Selbst wenn sie es wollten, könnten sie eine Kultur, in der Störungen erscheinen, nicht in eine verwandeln, in der die Störungen nicht mehr auftreten. Kulturen oder Gesellschaften entziehen sich jeder Therapie. Professionell arbeiten heißt: die eigenen Begrenzungen, die persönlichen und die fachlichen, reflektieren und das individuelle Leiden der Patienten als Individuelles ernst nehmen. Daraus folgt aber nicht, dass die Probleme und Konflikte individualpathologisch ausreichend begriffen werden könnten. Sie sind von der Kultur, in der sie entstehen, umrissen und definiert – bis hin zur scheinbar rein seelischen Repräsentanz so genannter Objektbeziehungen. Für die sexuellen Störungen gilt das in einem exorbitanten Sinn, weil nur unsere Kultur gewisse Empfindungen und Verhaltensweisen als „Sexualität“ exponiert und unter besondere Beobachtung gestellt hat. Es gilt aber auch ganz generell.
Wer kennt nicht die Patienten, die in die Praxis kommen, wie sie zu Aldi oder Massa gehen. Sie leben in einer Kultur, die verheißt, alles bewerkstelligen zu können, und wir wundern uns, wenn sie nur durchgecheckt und dann repariert werden wollen. Sie leben in einer Kultur, in der die meisten Menschen systematisch entwertet werden, und manche Therapeuten sind entsetzt, wenn sich das in den Beziehungen niederschlägt. Diese Therapeuten nennen diese Beziehungen neuerdings „pervers“, verschwenden aber keinen Gedanken darauf, ob sich hier nicht allgemeine Tendenzen niederschlagen und warum ihre „Perversionen“ möglicherweise nichts mehr mit Sexualität im bisherigen Sinn zu tun haben. Die Patienten leben in einer patriarchalen Kultur, und einige Psychoanalytiker haben nur das Schicksal des klassisch und positiv gefassten Ödipuskomplexes im Kopf, als seien die hundert Jahre alten Physiologien der Liebe noch der Maßstab. Die männlichen Patienten hörten von klein auf die Losung „Etwas wert ist nur der, der seinen Mann steht“, und wir sind irritiert, wenn sie mit destruktiven Techniken ihre „Potenz“ wiederherstellen wollen. Die Patienten leben in einer Kultur, zu deren Generaltechniken Verführung gehört, und wir haben große Schwierigkeiten, Verständnis dafür aufzubringen, dass sie sich als verführt begreifen und nicht sehen können, was sie selbst mit dem Versagen und dem Verbrechen zu tun haben. Die Älteren waren der Parole ausgesetzt, nach der alles, was Spaß macht, erlaubt sei; sie sind mit der Verheißung aufgewachsen, Sexualität sei befreiend, mache glücklich und zufrieden und müsse auch deshalb möglichst umfassend gelebt werden, und wir kommen uns altmodisch vor, wenn wir ihnen nahe bringen müssen, dass diese Verheißungen uneinlösbar sind. Patienten klagen sexuelles Funktionieren bis ins höchste Alter und trotz schwerer Krankheit ein, und wir gestatten uns nur sehr zaghaft den Gedanken, dass alle Blüten einmal verwelken und der Prothesengott, dem wir frönen, am Ende nicht mehr maskieren kann, was er produziert.
Historische Relativierungen
Wie sehr die Frage, was eine sexuelle Störung sei, der glatten Antwort spottet, zeigt am deutlichsten ein Blick in die alte Literatur. Zur Zeit Lallemands (1836–42) klagten Ärzte über das Grassieren der Spermatorrhoe, weil angeblich immer mehr Männern der Samen einfach ohne Zeichen der Erregung herauslief. Zur Zeit Krafft-Ebings (1886) wurde der Geschlechtstrieb, der bei Kindern oder älteren Männern in Erscheinung trat, als paradox bezeichnet und den „cerebral bedingten Neurosen“ zugerechnet. Zur Zeit der epochalen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ von Freud (1905; vgl. zur Rezeption nach 100 Jahren Dannecker u. Katzenbach 2005, Quindeau u. Sigusch 2005) wurde der aktive Mundverkehr, auch von Freud selbst, als „pervers“ angesehen. Und der ebenso kritische wie liberale Sexualforscher Eulenburg (1906: 190), der sich mit einer einzigartigen Enzyklopädie der gesamten Medizin seiner Zeit verewigt hat, fürchtete allen Ernstes, dass ein Mann, an dem eine Frau den passiven Mundverkehr, genannt „Fellation“ oder „Irrumation“, vornimmt, durch dieses anomale „Uebermaass von Genuss“, das „Virtuosinnen der Liebeskunst zu gewähren im Stande“ seien, entweder an einer Impotenz oder an einer Neurasthenie oder an einer „sexualen Hypochondrie“ erkranken werde. Spätere Psychoanalytiker und Sexualwissenschaftler – um ein letztes Beispiel zu erwähnen – sahen alle Frauen, die den „richtigen“, den „vaginalen“, „reifen“ Orgasmus nicht erreichen konnten, als frigide an. Einige hatten nichts dagegen, diese Frauen einer Klitoridektomie zu unterziehen, das heißt, ihnen die Klitoris operativ entfernen zu lassen.
Zu jeder Zeit hatten die Experten natürlich (und das meint immer kulturell) einen anderen nosomorphen Blick, der andere Störungen und Krankheiten zu sehen meinte, weil die epistemologischen Raster und die allgemeinen Dispositive anders beschaffen waren. In den siebziger Jahren stachen uns die Anorgasmie der Frau und die vorher kaum gesehene Ejaculatio deficiens bei jungen Männern ins Auge, ein Ausbleiben des Samenergusses, für den kein organischer Grund gefunden werden konnte. Gleichzeitig verschwand die Sodomie von der Bildfläche, um nur wenige Beispiele zu nennen. Wie sich die Lage am Beginn des neuen Jahrhunderts fachintern darstellte, kann der interessanten Bestandsaufnahme von Ulrike Brandenburg und Steffen Fliegel (2001) entnommen werden. Heute sticht Lustlosigkeit hervor, vor allem bei Frauen, aber inzwischen auch bei Männern (vgl. Hauch et al. in Kap. 13, Tab. 13.1). Offenbar gibt es so etwas wie kulturelle Lustlosigkeit, soziale Impotenz, diskursiven Missbrauch und mediale Perversität.
Außerdem ist heute die Konstruktion von Krankheitsbildern aus unmittelbar ökonomischem Grund nicht mehr zu übersehen. Als sich abzeichnete, dass mit dem Phospodiesterase-Hemmer Sildenafil (Viagra) bei der Behandlung von Erektionsstörungen des Mannes jedes Jahr ein Milliardengeschäft zu machen ist, entdeckte die Pharmaindustrie und auf ihrer Leimrute eine Legion angesehener Forscherinnen und Forscher die weibliche Sexualität. Seither wird versucht, eine „Female Sexual Dysfunction“ (FSD) herauszustanzen, die unter design- und ergebnisstrategischen Gesichtspunkten so eindeutig ist wie die „Erektile Dysfunktion“ (ED) beim Mann – aus gegenwärtiger fachlicher Sicht eine Illusion, die aber durch Umdefinition einiger Physiologika, Schulenbildung der üppig finanzierten Forscher und anhaltende Investition in die Werbung zur diskursiven Gewissheit werden könnte. Zur Zeit wird allerdings noch heftig gestritten und der Trick kritisiert, alles erotischsexuelle Unwohlsein, das eine eher gesunde, auf jeden Fall angemessene Reaktion auf partnerschaftliche, überhaupt soziale Schwierigkeiten ist, in eine FSD umzumünzen, sodass eine riesige Prävalenz und damit ein riesiger Bedarf an Viagra für Frauen herauskommt (vgl. z. B. Basson 2005, Basson et al. 2000, Hauch 2005, Matthiesen u. Hauch 2004, Moynihan 2003, Tiefer 2000, West et al. 2004, Working Group 2003, vgl. auch Kap. 9 und 10).
Diese Vorgänge erinnern daran, wie vor gar nicht so langer Zeit „Premenstrual Syndrome“ (PMS) resp. „Premenstrual Dysphoric Disorder“ (PMDD) als Krankheitsbilder konstruiert worden sind (Chrisler u. Caplan 2002) – mit einem Resultat, das nahtlos in jede patriarchale Gesellschaft passt: Eine Frau ist immer unvernünftig, krank oder inkomplett, ob sie nun menstruiert oder nicht mehr menstruiert. Und damit die Männer auch dann, wenn sie alt geworden sind und weniger Androgene produzieren, komplett bleiben können, wurden PADAM („Partielles Androgen-Defizit des Alternden Mannes“), „Aging Male Syndrome“ und ADAM-Syndrom („Androgen-Defizienz des Alternden Mannes“) erfunden (siehe ausführlich Kap. 15). Konkreter gesagt: Die Pharmaindustrie verspricht sich in den reichen Gesellschaften des Westens, in denen die Menschen immer älter werden, hohe Umsätze. Da wird es unter dem Strich nichts helfen, wenn inzwischen selbst namhafte Urologen die „breite Vermarktung der neuen Testosteron-Gele als ‚Lifestyle-Medizin’ gegen die Midlife-Crisis“ als „irreführend“ bezeichnen (Weidner 2003: 29).
Wie sich unsere eigenen Vorstellungen verändert haben, könnte ein Vergleich des vorliegenden Buches mit dem Gemeinschaftswerk „Therapie sexueller Störungen“ zeigen, das ihm in zwei Auflagen vorausgegangen ist (Sigusch 1975; 1980). In den Jahrzehnten zwischen 1975 und heute wurden alle Gegenstände neu betrachtet und folglich im vorliegenden Buch auch neu dargestellt. Sonja Düring spielt im Kapitel 3 darauf an, wie andromorph unser Blick in den siebziger Jahren war. Tatsächlich enthält erst die Auflage von 1980 einen Beitrag von Margarete Mitscherlich-Nielsen über Theorien und Probleme der psychosexuellen Entwicklung der Frau. Heute erörtern wir auch die Probleme der männlichen Entwicklung (Kap. 4) und trennen die homosexuellen Entwicklungen nicht mehr durch die Anordnung der Themen von den heterosexuellen ab, damit auch dem letzten Verdacht begegnet werde, wir würden die Homosexualität als solche als Pathologie betrachten, obgleich immerhin Fritz Morgenthaler in der Auflage von 1980 als erster Psychoanalytiker versuchte, die Homosexualität mit seelentheoretischen Mitteln grundsätzlich zu entpathologisieren. 1975 aber musste Martin Dannecker noch davor warnen, dass „die Therapie der Homosexualität die Lage der Homosexuellen verschlechtert“, wie der Titel seines Beitrages lautete. Heute wollen die meisten Psychotherapeuten nicht mehr die Homosexualität beseitigen, sondern Konflikte, die mit ihr einhergehen wie mit der Heterosexualität auch. Der Wille zum Psychopathologisieren aber ist noch virulent. Und um noch ein Beispiel für den Wandel zu nennen: Erst in der zweiten Auflage der „Therapie sexueller Störungen“ erörterten wir die „Untersuchung und Behandlung transsexueller Patienten“ (Sigusch u. Reiche 1980), wodurch wir unwillkürlich daran beteiligt waren, den Verlust, der der Medizin durch das Heraustreten einiger Abweichler aus ihrem Bannkreis drohte, wenn nicht zu kompensieren, so doch abzuschwächen. Experten aber, die Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter hätten erörtern können, gab es damals bei uns nicht. Bernd Meyenburgs Aufsatz in der ersten Auflage dieses Buches (vgl. Kap. 27) ist der erste seiner Art in deutscher Sprache.
Pro und Kontra der Medizinalisierung
So kämpft sich offenbar die eine Menschengruppe aus Medizin und Psychologie heraus – gegenwärtig sind es vor allem die Intersexuellen (vgl. Kap. 18) –, während die andere von ihnen umschlungen wird. Umso ernster sind die Bedenken von Eva S. Poluda zu nehmen, mit denen sie an ihren Beitrag heranging: heute die Probleme der weiblichen homosexuellen Entwicklungen in einem medizinischen oder therapeutischen Zusammenhang darzustellen (vgl. Kap. 5). Die Medizinalisierung der Sexualität, die Eberhard Schorsch (1988) an der Entwicklung der Sexualmedizin aufgezeigt hat, treibt sie unweigerlich tiefer in die allgemeine Verstofflichung hinein. Die Autorinnen und Autoren dieses Buches gehören wohl eher zu jenen, die diese Tendenz kritisieren. Andererseits kann niemand aus einer Therapiegesellschaft einfach heraustreten, in der die Vorstellung verbreitet ist, Therapie sei Leben und Leben sei Therapie. Insofern ist es realitätsgerecht und ein Stück Normalität, wenn sich lesbische Frauen oder homosexuelle Männer in eine Beratung oder Psychotherapie begeben (und begeben können, weil es Therapeutinnen und Therapeuten gibt), ohne befürchten zu müssen, die Therapeuten betrachteten ihre Lebensweisen als Pathologien und wollten sie liquidieren. Einiges spricht dafür, dass dieser Respekt zunehmend auch anderen Patienten mit abweichendem Erleben und Verhalten, ob nun „pervers“, „transgenderistisch“ oder „intersexuell“ genannt, entgegengebracht wird.
Erst wenn Probleme und Konflikte, die einer Beratung oder Behandlung bedürfen, darunter auch solche, die mit der abweichenden Entwicklung unmittelbar zusammenhängen, ganz „normal“ behandelt werden, kann jener Mechanismus entfallen, der Ängste und panische Reaktionen von außen antreibt. Denn wer in einer Therapiegesellschaft nicht nur nicht behandelt wird, sondern als unbehandelbar gilt, ohne ganz normal zu sein, steht mit dem Rücken zur Wand. Wehe ihm, wenn sich die kulturelle Liberalität verflüchtigen sollte. Trotz aller Reserve gegenüber der Therapeutifizierung des Lebens ist nicht zu übersehen, welchen Schutz gegen blinde kollektive Wut und den ordentlichen Willen zur Vernichtung jedenfalls etablierte Psychotherapie zu bieten vermag.
Die Beispiele mögen genügen, um zu illustrieren, dass auch die Therapien einem Wandel unterliegen. Dieser kann allerdings, wenn wir an einige körpermedizinische und suggestiv-anpassende Verfahren denken, in großen Bereichen so langsam oder überhaupt nicht vor sich gehen, dass wir ihn zu unseren Lebzeiten nicht beobachten können. Viele Scheußlichkeiten, wie wir auch noch hören werden, schleppen sich einfach fort, und neue Barbareien kommen natürlich hinzu. Sicher ist nur, dass wir heute einen alten impotenten Mann nicht mehr dadurch heilen dürfen, dass wir ihn zwischen zwei junge Mädchen legen, was ihn nach den Berichten unserer Vorväter, die ja nicht nur verblendet waren, ungemein beleben würde durchs Überspringen unverbrauchter Vitalität.
Grenzen der Psychotherapie
Die Grenzen jeder Psychotherapie liegen in der Kultur, im Therapeuten selbst und in dessen fachlicher Gebundenheit. Dem einen Therapeuten sind eigentlich nur neurotische Symptome geheuer, der andere wagt sich auch an solche der Delinquenz. Dann aber muss er den üblichen Rahmen seiner Profession wenn nicht verlassen, so doch erheblich modifizieren. Entscheidend ist aber nicht, ob der Therapeut verwirrende und ängstigende Störungen zu behandeln wagt, sondern dass er zu reflektieren vermag, für welche Störungen er als Therapeut ungeeignet ist. Eine Ausbildung ist nicht zuletzt dann gelungen, wenn sie dazu geführt hat, diese persönliche Grenze zu erkennen und zu respektieren. Wer so weit gekommen ist, hat es vielleicht auch nicht mehr nötig, auf Vertreter anderer Richtungen herabzuschauen. Er ahnt wenigstens, dass alle mit Wasser kochen und dass das somatoforme Denken nicht nur bei Körpermedizinern zu finden ist. Schließlich gibt es ein borniert psychoformes Denken, das dem somatoformen an Beschränktheit in nichts nachsteht. Starrt das eine Denken nur auf den erektilen, starrt das andere nur auf den seelischen Apparat. Von den kulturellen Umbrüchen wollen beide nichts wissen. Kommt bei dem Therapeuten, dem das psycho- oder somatoforme Denken nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist, durch therapeutische oder klinische Erfahrungen, durch Lektüre und Konsilien dann noch ein differenzialtherapeutisches Vermögen hinzu, das zwischen Organo-, Sozio- und Psychotherapie, zwischen Beratung, verhaltenstherapeutischen und psychoanalytischen Verfahren zu unterscheiden vermag, ist viel gewonnen.
Es gibt Ärzte, Psychologen und Vertreter anderer Berufe, die ohne eine psychotherapeutische Ausbildung über eine große Empathie und über eine gewissermaßen naturwüchsige Introspektionsfähigkeit verfügen. Grundsätzlich aber ist auf dem Wahrnehmungstraining der dem Alltagsverstand entzogenen Äußerungen des Unbewussten und damit auf einer psychotherapeutischen Ausbildung zu bestehen, weil Warmherzigkeit allein, vom gesunden Empfinden ganz zu schweigen, im Allgemeinen nicht ausreicht, sobald es um die Unwägbarkeiten im Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen geht, die sich nun einmal auch dem sozialen Mitgefühl entziehen.
Gegen die allgemeine Sexualnot und gegen die allgemeine Aphanisis des Sexuellen aber, gegen kulturelle Lustlosigkeit und gesellschaftlich produzierte Gewalttätigkeit ist überhaupt kein therapeutisches Kraut gewachsen, ob nun ein auf den Körper oder die Seele gerichtetes. Wer trotzdem glaubt, mit Hilfe von Psychotherapie die Tränen des Eros wegwischen zu können, hängt demselben Größenwahn an wie unsere Erektiologen. Versuchen wir also, der Realität und damit, wie wir gleich hören werden, Anteros zugewandt, immer wieder vom hohen Ross des metaphysisch unzerstreuten Eros herabzusteigen, ohne jenem Zynismus zu erliegen, der sich nicht scheut, Pillen, Prothesen und Pumpen „Liebesmittel“ zu heißen.
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2 Kultureller Wandel der Sexualität
Volkmar Sigusch
Ärzte, Berater und Therapeuten, die das Liebes- und Sexualleben ihrer Patienten kennen, wissen, dass die Wertvorstellungen, Sehnsüchte und Erfahrungen von Generation zu Generation erheblich differieren. Denn das, was wir uns unter Sexualität vorstellen und was wir als sexuell erleben, unterliegt einem ständigen kulturellen Wandel. Deshalb durchzieht auch alle Sexualtheorien der Moderne die Frage, was am Sexus „natürlich“ und was an ihm „kulturell“ sei, eine Frage, die zur Zeit den Streit zwischen Essenzialisten und Konstruktivisten bestimmt. Wenn aber die gesellschaftliche Sexualform permanenten Umkodierungen, Umwertungen und Transformationen unterliegt, ist es nicht nur sexualtheoretisch problematisch, die Sexualität als eine unveränderliche Einheit anzusehen, sondern auch sexualberaterisch und sexualtherapeutisch. Denn tatsächlich versehen die Gesellschaftsindividuen immer wieder das, was unveränderbar schien, mit anderen Bedeutungen.
Dabei geht es in unserer Kultur seit zwei Jahrhunderten, anders als in anderen Kulturen, vorrangig um das materielle und manifeste und nicht um das immaterielle und spirituelle Befriedigen von Gier und Neugier. Leibhafte Bedürfnisse werden nicht wie in der europäischen Antike und im alten China maßvoll reflektiert begrenzt oder gar wie im alten Indien kunstvoll beseitigt; sie werden vielmehr maß- und kunstlos befriedigt, und zwar im Allgemeinen auf einem niedrigen Ritualitäts- und Reflexivitätsniveau, um nicht zu sagen: auf dem Niveau einer Kulturbeutel-Kultur. Solcherart abgespeist, bleiben Gier und Neugier präsent, können umstandslos jederzeit neu entfacht werden. Darauf aber kommt es in der experimentell-ökonomischen Tausch- und Wissensgesellschaft entscheidend an. Dieser Mechanismus des ebenso selbstsüchtigen wie kurzfristigen Befriedigens scheint das Geheimnis der Dauerhaftigkeit dieser Gesellschaftsformation zu umschließen. Ununterbrochen wird die scheinbar abgeschlossene Sexualform fragmentiert, um ihr neue Begierden und Bedeutungen zuschreiben, neue Bedürfnisse und Wissbarkeiten einpflanzen, neue Praktiken und Dienstleistungen abmarkten zu können.
Neuerdings ist auch die Geschlechtsform in diesen Sog geraten, von der die tonangebende Philosophie jahrhundertelang glaubte, sie sei eine Unio inerta. Als die Sexualform gesellschaftlich fabriziert wurde, erhielt sie zwangsläufig dispositionell eine patriarchale Struktur: in einer Männergesellschaft von Männern für Männer konstruiert und durchgesetzt. Philosophen und Wissenschaftler verwandten im 19. Jahrhundert viel Energie darauf, der Frau katexochen die Dignität eines vernunftbegabten und selbstmächtigen Subjekts und damit einer eigenständigen Geschlechts- und Sexualform abzusprechen, nachdem ihre Vorgänger sie nur als Sinnesund Gemütswesen hatten sehen können. Als ideologische Fluchtpunkte blieben nur die Schöpfungsordnung einerseits und die Naturzwecke der scheinbar Aufgeklärten andererseits. Das heißt, der „Geschlechtssinn“ der Frau war keine Angelegenheit von Individuen; er erfüllte blind den Gattungszweck der Fortpflanzung, ordnete sich der Schöpfung instinktiv und damit transindividuell ein. Beim Lesen dieser andromorphen Literatur fällt einem irgendwann Freuds (1909: 462) aus heutiger Sicht gelungen paradoxe Wendung „organische Verdrängung“ ein, die er zunächst auf die Rückentwicklung des Geruchssinnes und damit der Riechlust beim Menschen angewandt hat: Das sexuell-aggressiv Triebhafte der Frauen wurde so lange und so erfolgreich gesellschaftlich dekonstruiert und wegkodiert, „verdrängt“, bis es schien, es wäre einer „organischen“ Rückbildung erlegen. Alte Sexuologen meinten folglich, den Frauen sei der Geschlechtstrieb „wegerzogen“ worden, und die Frigidität des Weibes wäre so allgemein, dass man sie gar nicht als krankhaft bezeichnen könne. Die „organische Verdrängung“ des „Geschlechtssinnes“ der Frau war jedenfalls stabiler als seelische Verdrängung und instabiler als somatische Involution, wie die sexuellen Revolutionen des 20. Jahrhunderts gezeigt haben, durch die es zunächst zu einer Resexualisierung der Frau als Genus und anschließend zu einer Regenuierung der erstmals eigensinnigen weiblichen Sexualform gekommen ist.
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