Kritischer Marxismus in Mexiko - Stefan Gandler - E-Book

Kritischer Marxismus in Mexiko E-Book

Stefan Gandler

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Beschreibung

Lateinamerika verortet sich heute politisch als eigenständig, wurde philosophisch jedoch von westlichen Denktraditionen geprägt. Der seit rund dreißig Jahren in Mexiko lebende und arbeitende Philosoph Stefan Gandler zeigt in »Kritischer Marxismus in Mexiko«, wie fruchtbar die Impulse lateinamerikanischer Perspektiven für die Weiterentwicklung internationaler kritischer Gesellschaftstheorie sein können. Die Sozialphilosophen Adolfo Sánchez Vázquez und Bolívar Echeverría, die beide in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Professoren an der Universidad Nacional Autónoma de México waren, nehmen dabei eine Scharnierstellung ein. Sie begründeten in ihren Hauptwerken eine andere Tradition der Moderne. Gandler legt Zeugnis von Leben und Philosophie Sánchez Vázquez’ und Echeverrías ab und schafft damit eine unschätzbare Quelle für alle, die versuchen, kritische Theorie ins Zentrum der internationalen philosophischen Diskussion zu stellen.

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Stefan Gandler

Kritischer Marxismus in Mexiko

Adolfo Sánchez Vázquez und Bolívar Echeverría

Die Realisierung dieser Ausgabe wurde mit ermöglicht durch eine Förderung der Universidad Autónoma Querétaro und des Consejo Nacional de Ciencia y Tecnología, Mexiko, im Rahmen der Projektförderung 2023: »Trabajar y significar en la Teoría crítica desde las Américas, CF-2023-I-2440«.

© 2023 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe · zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH · Hamburg Satz: Stefan Gandler

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

ISBN-Printausgabe 978-3-86674-838-5

ISBN E-Book-PDF 978-3-98737-374-9

ISBN E-Book-Epub 978-3-98737-375-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

INHALT

VORWORT ZU DIESER AUFLAGE

VORWORT ZUR ERSTAUFLAGE

EINLEITUNG: vom eurozentrischen zum peripheren Marxismus

TEIL I: HISTORISCHER UND THEORETISCHER KONTEXT

1. Leben und Werk Adolfo Sánchez Vázquez’

– Beginn der Biographie

– Der spanische Bürgerkrieg

– Die erste Zeit in Mexiko (Exil)

– Die „neue theoretische und praktische Haltung“

2. Leben und Werk Bolívar Echeverrías

– Beginn der Biographie

– Die Zeit in Westdeutschland und Westberlin

– Von der Frontstadt in die mexikanische Hauptstadt

– Die Mitarbeit bei der Zeitschrift Cuadernos Políticos

– Die erneute Konzentration auf Philosophie

3. Zur Literaturlage

a) Zur Sozialphilosophie in Lateinamerika

b) Zu Adolfo Sánchez Vázquez und Bolívar Echeverría

TEIL II: A. SÁNCHEZ VÁZQUEZ – PRAXIS UND ERKENNTNIS

4. Begriff der Praxis

a) Der Terminus „Praxis“ in verschiedenen europäischen Sprachen

b) Die Termini „praxis“ und „práctica“ und zum Problem von deren Übertragung ins Deutsche

c) Allgemeine Begriffseinführung

5. Alltagsverständnis von Praxis

a) Revolutionäre Praxis und Alltagsbewußtsein

– Praktischer Politizismus und praktischer Apolitizismus

b) Künstlerische Praxis und Alltagsbewußtsein

c) Abschluß der Kritik des Alltagsbewußtseins

6. Verhältnis der Philosophie zur Praxis in der Geschichte

a) Antike

b) Philosophie der Praxis

7. Die Thesen über Feuerbach

a) Position der Feuerbachthesen im Marxschen Werk

b) Interpretation der Feuerbachthesen

– Praxis als Grundlage von Erkenntnis (These 1)

– Praxis als Wahrheitskriterium (These 2)

– Die revolutionäre Praxis als Einheit der Veränderung des Menschen und der Umstände (These 3)

– Von der Welt Interpretation zu ihrer Veränderung (These 11)

– Nachsatz zu den Feuerbachthesen

8. Kritik an marxistischen Erkenntniskonzeptionen

a) Kritik bestimmter Marxismuskonzeptionen allgemein

b) Kritik bestimmter marxistischer Erkenntniskonzeptionen

– Erkenntnis als direktes Ergebnis weltverändernder Praxis

– Erkenntnis als rein innertheoretische

9. Nochmals zum Problem von Erkenntnis und Praxis

a) Materialismus und Idealismus

b) Politische versus produktive Praxis

10. Die zwei Fassungen von Filosofía de la praxis

TEIL III: B. ECHEVERRÍA – GEBRAUCHSWERT UND ETHOS

11. Praxis und Gebrauchswert

a) Die Theorie des Gebrauchswerts als Kritik des abstrakten Praxisbegriffs

b) Differenzen zum Praxisbegriff bei Adolfo Sánchez Vázquez

c) Historisch bedingte Schranken von Marx’ Gebrauchswertbegriff

d) Aristoteles’ Begriff des Gebrauchswerts in Marx’ Interpretation

e) Marx als Begründer des kritischen Gebrauchswertbegriffs

f) Marx’ Begriff der Naturalform in Echeverrías Ethostheorie

g) Kritik der politischen Ökonomie als Kritik der Moderne

12. Konkretion des Praxisbegriffs

a) Reproduktion und Kommunikation

b) Gebrauchswert und Zeichen

c) Zur Theorie des Werkzeugs bei Marx

d) Begriff des konkreten Universalismus

13. Moderne und Kapitalismus

a) Kritik der realexistierenden Moderne und Kritik des realexistierenden postmodernen Denkens

b) Zum Terminus der „realexistierenden Moderne“

c) Die realexistierenden Modernen als Grundlage der wirklichen, der nicht-kapitalistischen

14. Begriff des historischen Ethos

a) Zum Terminus Ethos

– Probleme der Übertragung ins Deutsche

b) Zur Begriffsbestimmung von „historisches Ethos“

c) Begriff der Moderne

d) Die Termini „realistisches“, „romantisches“, „klassisches“ und „barockes Ethos“

e) Der Begriff der vier Ethen der kapitalistischen Moderne als Beitrag zu einer materialistischen Kulturgeschichte

f) Theoretische Situierung und politische Brisanz des Ethosbegriffs

– Zivilisationsform versus Produktionsweise (zu Heidegger)

– Endlichkeit der dominierenden und aller kapitalistischen Modernen (zu Marx)

– Christentum und Kapitalismus (zu Weber)

– Exkurs: Marx zu „politischer Ökonomie und Christentum“

– Puritanismus und Realismus

15. Die vier Ethen der kapitalistischen Moderne

a) Das realistische Ethos

b) Das romantische Ethos

c) Das klassische Ethos

d) Das barocke Ethos

e) Zur Inexistenz der historischen Ethen in Reinform

f) Textvarianten zum Ethosbegriff

16. Ethos und Ideologie

a) Grenzen des Ethosbegriffs

b) Zur Rekonstruktion des Ideologiebegriffs in der Kritik der politischen Ökonomie

– Zum Text: Vorwort von Zur Kritik der Politischen Ökonomie

– Zum Text: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis

– Der Fetischcharakter der Ware

– Historische Dimension des Fetischcharakters der Ware, oder: Erkenntnis als politisch-praktischer Prozeß

– Zum Verhältnis von „Notwendigkeit“ und „Interesse“ bei Bildung bzw. Erhalt von Ideologien

– Das Kapital als Fetisch-Kritik

c) Ethosbegriff als entschärfte Ideologiekritik

d) Ein Beispiel für die Folgen der Begrenztheit des Ethosbegriffes

17. Zur Utopie der nichtkapitalistischen Warenproduzentengesellschaft

TEIL IV: ZUR RELATION VON PRAXIS UND ETHOS

18. Affirmation oder Kritik der Praxis?

19. Die begriffliche Bestimmung von Kultur und Natur

20. Philosophische Kritik des Eurozentrismus

a) Zum Problem der Konzentration auf europäische Autoren

b) Kritischer Praxisbegriff versus abstrakter Universalismus, d.i. Eurozentrismus

LITERATUR UND MATERIALIEN

ORIGINALSPRACHLICHE ZITATE

BIBLIOGRAPHIE ADOLFO SANCHEZ VAZQUEZ’

a) Bücher von Sánchez Vázquez

b) Aufsätze von Sánchez Vázquez

c) Übersetzungen von Texten Sánchez Vázquez’

- Ins Deutsche

- Ins Englische

- Ins Französische

- Ins Galizische

- Ins Italienische

- Ins Koreanische

- Ins Portugiesische

- Ins Rumänische

- Ins Russische

- Ins Serbokroatische

- Ins Tschechische

d) Vorworte, Einleitungen und Buchbesprechungen

e) Interviews mit Sánchez Vázquez und Diskussionen

f) Übersetzungen anderer Autoren Werke sowie Film-Romanfassung

g) Redaktionelle Mitarbeit bei Zeitschriften und Herausgeberschaften

h) Sekundärliteratur zu Sánchez Vázquez (Auswahl)

- Allgemein (Auswahl)

- Besprechungen von Filosofía de la praxis

i) Bibliographien zu Sánchez Vázquez

BIBLIOGRAPHIE BOLÍVAR ECHEVERRÍAS

a) Bücher von Bolívar Echeverría

b) Aufsätze von Bolívar Echeverría

c) Übersetzungen von Texten Bolívar Echeverrías

- Ins Deutsche

- Ins Englische

d) Vorworte, Einleitungen, Buch- und Filmbesprechungen

- Vorworte (und Einleitungen)

- Buchbesprechung

- Filmbesprechung

e) Interviews mit Bolívar Echeverría

f) Übersetzungen anderer Autoren Werke

- Aus dem Deutschen

- Aus dem Französischen

g) Redaktionelle Mitarbeit bei Zeitschriften und Herausgeberschaften

h) Sekundärliteratur zu Bolívar Echeverría

AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE ZUR SOZIALPHILOSOPHIE IN LATEINAMERIKA

a) In Europa erschienene Texte

- In der BRD

- In der DDR

- In Frankreich

- In den Niederlanden

- In Polen

- In der Schweiz

- In Spanien

b) In Kanada und den USA erschienene Texte

- In Kanada

- In den USA

c) In Lateinamerika erschienene Texte

- In Mexiko

- Im restlichen Lateinamerika

LITERATURVERZEICHNIS

a) Philosophische/theoretische Literatur

b) Ausschließlich für Biographien verwendete/relevante Literatur

c) Interviews, Briefe und Gespräche

d) Wörterbücher und Lexika

e) Bibliographien

f) Quellen der erstellten Bibliographien

- Bibliotheken

- Buch- und Zeitschriftenkataloge

- Archive

Gewidmet

unserer unvergeßlichen Freundin,

der rastlosen Vorkämpferin gegen Rassismus und Antisemitismus

Elisabeth Link

Geb. 16. November 1955. Gest. zu Frankfurt am Main

29. Januar 1997.

VORWORT ZU DIESER AUFLAGE

Den Frankfurter Wirren entkommend, wo man mich nicht mehr in Ruhe ließ, seit ich es gewagt hatte, öffentlich tabuisierte Details aus den Leben Hermann Josef Abs' (DBK) und Hans Lutz Merkles (Bosch) zu erwähnen, insbesondere aus ihrer Tätigkeit als "Wirtschaftsführer" des Nationalsozialismus – und noch dazu in einer Livesendung des studentischen Radio ZFR, das unbürokratisch seine Übertragungen vom Uniturm startete, die Gunst der Stunde im Unistreik Ende 1988 nutzend – landete ich im darauf folgenden März mit einer PanAm-Maschine in Mexiko Stadt. Nie werde ich den ersten Eindruck in der ersten Halle des Flughafen vergessen: die Bewegungen der Menschen dort, die Art und Weise, wie sie sich im Raum bewegten, ihre Körperhaltung, ihre Schritte, ihre Art sich zu begegnen, die eine mir bis dahin unbekannte Geschmeidigkeit hatte, welche mir zugleich sehr vertraut vorkam. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich spontan einem Ort zugehörig, noch bevor ich dort ein einziges Wort mit jemanden gewechselt hatte. Das ist mein Platz, dachte ich unversehens und habe seitdem meine Meinung nicht geändert.

Freunde von Begoña Gutiérrez de Dütsch, die damals bei Egon Becker in Frankfurt/Main zu Marx' Arbeitswerttheorie promovierte, holten mich vom Flughafen ab, und berichteten mir später, als ich ihnen meine philosophischen Interessen schilderte, von Adolfo Sánchez Vázquez und Bolívar Echeverría. Sobald ich konnte, fuhr ich in die UNAM, die Universidad Nacional Autónoma de México, begab mich in die philosophische Fakultät und lauschte ihren Veranstaltungen. Es war ein Kulturschock, um das Mindeste zu sagen, der bis heute nachhallt – zum Glück: Diskussionen im philosophische Seminar, ohne das implizite Gebot, sie nicht allzu sehr mit politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen zu konfrontieren, Marx und den Marxismus untersuchen, ohne sich gleich bekennen oder bekreuzigen zu müssen, die Notwendigkeit und Möglichkeit der Überwindung der herrschenden selbstzerstörerischen Verhältnisse auf den Begriff zu bringen, als sei nichts Selbstverständlicheres auf der Welt, das kannten die Universitäten der BRD 1989 so gut wie nicht.

Es mag Manchem übertrieben, melodramatisch, erzwungen oder lächerlich klingen, doch in gewisser Weise hat Mexiko mir das Leben gerettet, zumindest das richtige. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, dieser berühmte Adorno-Satz mag dem entgegenstehen, doch es gibt Grade von Richtigkeit und Falschheit, und die Zweite war für mich in der BRD und in Europa einfach unerträglich geworden. Ich war kein Exilierter, kein Vertriebener und hatte auch keine unmittelbar lebensbedrohende Verfolgung im Nacken, und doch sitzt mir bis heute der Satz im Nacken, den mir damals ein Mann übers Gleis in einer Münchner S-Bahn-Station zugeschrien hatte: So einen wie Dich hätte man unter Hitler ins KZ gebracht.

Eigentlich wollte ich ein lockeres, unterhaltsames Vorwort zur deutschen Neuauflage dieses Buches schreiben, und hätte ich es aus mexikanischer Distanz getan, wäre es vielleicht sogar gelungen. Doch eine mexikanische Spinne hat mich im vergangenen Januar gebissen und mit der langsam aufziehenden Sepsis alles durcheinander gebracht. So kommt es, dass ich jetzt auf ungeplante Weise diese Zeilen ausgerechnet in Hessen schreibe, und die Erinnerungen kommen mit ungebremster Härte aufs Papier.

Woher die Spinne genau kam weiß ich nicht, doch biss sie mich nur wenige Tage, nachdem ich mein Korrekturexemplar der Erstauflage dieses Buches in die Hand nahm, um die dort über Jahre mit Bleistift eingetragenen Berichtigungen und Ergänzungen in die hier vorliegende Zweitauflage zu übernehmen. Sie waren zum Teil schon so alt, dass ich Mühe hatte, sie lesen zu können, so verblichen waren sie. Kam sie aus dem Buch gekrochen, hatte sie dort ein ruhiges Leben geführt und dachte sie dann, durch diese Neuauflage aufgeschreckt, mich beißen zu müssen?

Ich hatte ein eigenartiges Gefühl dabei, als ich das alte Korrekturexemplar anfasste. Mir war es eins um andere nach Händewaschen, während ich Änderung um Änderung übertrug erinnerte ich mich an die Ratschläge und Warnungen der Archivare, die historische Bücher nur mit Mundschutz und Handschuhen aufschlagen, um Pilzbefall und anderes zu vermeiden.

Ich kam mir vor wie der eigene Archivar, stieg hinab in die Tiefen meines ersten Buches, das der Anfang war von einer weiteren Entwicklung, die mir Genuss und Kurzweil und auch die ein oder andere Einsicht gebracht hat. Und doch gibt es auch eine Furcht vor diesem Eintauchen in die eigene Geschichte, nicht nur wegen der Nazis und deren stillschweigender Duldung innerhalb der geläuterten Demokratie. Bei jeder Literatur-Ergänzung, jeder Korrektur, selbst des kleinsten Druckfehlers, kamen mir mehr und mehr Erinnerungen hoch aus den Jahren vor und nach dem ursprünglichen Erscheinen.

Adolfo Sánchez Vázquez und Bolívar Echeverría waren mir wichtige philosophische, aber auch freundschaftliche Bezugspunkte geworden. Sánchez Vázquez war der erste Kämpfer gegen Faschismus und Nationalsozialismus, den ich in meinem Leben direkt kennen gelernt hatte, der in seiner Umgebung gesellschaftlich hoch angesehen war. So jemanden hatte ich in der BRD zuvor noch nie direkt erlebt. Es war absolut wichtig für mich, direkt zu erleben, dass nicht alle ehemals im Widerstand aktiven Antifaschisten marginalisiert sind.

Bolívar Echeverría wurde mir immer mehr zum Freund, je mehr wir, oft kontrovers, diskutierten, näherten wir uns im Sinne einer Freundschaft an. Unsere Debatten wurden immer intensiver und zum Teil entfernten wir uns in bestimmten philosophischen Detailfragen voneinander, nur um umso mehr die freundschaftliche Verbundenheit, die genau diese Debatten ermöglichte und die von ihnen zehrte, immer mehr zu vertiefen.

Aber zurück zur Chronologie. Der erste Aufenthalt in Mexiko endete, wie ursprünglich geplant, und sehr zu meinen Bedauern, mit Ablauf des sechsten Monats. Es vergingen vier Jahre, in denen ich dem Frankfurter AStA vorstand und meinen Magister machte, bevor ich endlich wieder zurück konnte: Am 19. März 1993 ließ ich mich dauerhaft in Mexiko nieder. Damals hätte ich mir niemals vorstellen können, dass ich für so lange Zeit an der philosophischen Fragestellung arbeiten würde, die mich zu jenem Zeitpunkt interessierte: Wie ist es möglich, dass Autoren von der Bedeutung, der intellektuellen Qualität und der politischen Relevanz eines Adolfo Sánchez Vázquez und eines Bolívar Echeverría in der sogenannten Ersten Welt praktisch unbekannt sind? Ich entschied, eine gewisse Zeit darauf zu verwenden, mich einerseits von dieser Blindheit in den philosophischen Institutionen der Bundesrepublik und anderen lokalborniert selbst-glorifizierenden Ländern zu befreien, und andererseits – und zu allererst –– um in meiner eigenen philosophischen und akademischen Aktivität etwas zu schaffen, das dieser Unfähigkeit und Selbst-Beschränkung materiell etwas entgegensetzt.

Heute wird das Produkt dieses Impulses in einer vor allem bibliographisch und biographisch aktualisierten Version wieder aufgelegt: vielleicht enthält es ja etwas Relevantes gegen diesen absurden und – zumindest – fünfhundert Jahre alten Glauben, dass Europa das Zentrum der Welt sei und das Recht, wenn nicht sogar die Pflicht habe, so gut wie alle anderen philosophischen Reflexionen zu verleugnen, beziehungsweise gering zu schätzen, die außerhalb der Mauern der Schönen Neuen Europäischen Welt entwickelt werden; Mauern, die innerhalb und außerhalb der in die Jahre gekommenen Grenzen des alten Kontinents errichtet werden.

Jetzt bin ich mehr als die Hälfte meiner bisherigen Lebenszeit in die Lehre, die Diskussion, die Analyse, die Verteidigung, die Verbreitung und die Kritik des philosophischen Denkens dieser beiden Autoren – beides Wahlmexikaner – involviert. Auch wenn ich einige andere Dinge in dieser Zeit gemacht habe, innerhalb und außerhalb der Grenzen des philosophischen Themenparks, wie eine Familie zu gründen, ein paar andere Texte zu schreiben, Philosophie und Gesellschaftstheorie zu lehren oder herumzureisen und manchmal mich schlicht und einfach zu vergnügen, so war doch dieses Buches, dessen Neuauflage ich hiermit vorlege, fast allgegenwärtig. Vielleicht habe ich mein Leben mehr in dieses Projekt involviert, als je bewusst entschieden oder ‘geplant’; nichtsdestotrotz: je ne regrette rien.

Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch ein Impuls sein möge für die Lehre, die Diskussion, die Analyse, die philosophische Kritik auf höchstem Niveau, sowie die Übersetzung der Texte von Adolfo Sánchez Vázquez und Bolívar Echeverría. Heute, beim Schreiben dieser Zeilen, sind beide nicht mehr am Leben: Bolívar Echeverría starb am 5. Juni 2010, nur Tage nach seiner letzten Seminarsitzung an der UNAM und Stunden nach unserem letzten Telefongespräch, und Adolfo Sánchez Vázquez ein Jahr später, am 8. Juli 2011, nach einigen Jahren in denen er, aus gesundheitlichen Gründen vom akademischen Leben zurückgezogen, in seiner Wohnung im Süden von Mexiko Stadt lebte.

Bei einem meiner letzten Besuche bei ihm zu Hause – gemeinsam mit Bolívar Echeverría –, wies uns seine Tochter Aurora Sánchez Rebolledo eingangs darauf hin, dass er keine Besuche mehr empfange, die länger als fünfzehn Minuten dauerten, weil nach mehr als neunzig Lebensjahren seine Kräfte begrenzt seien. An diesem Tag zusammensitzend, begann sich die Unterhaltung aber bald um den spanischen Bürgerkrieg zu drehen, und zwei volle Stunden lang besprachen und diskutierten wir einige der großen Fragen bezüglich der ‘ersten Schlacht des zweiten Weltkriegs’. Ganz so, als ob diese Fragen und Erinnerungen für einen Augenblick die außerordentlich großen Kräfte, die er während seines Lebens besaß, wiedererweckt hätten. An diesem Tag war er bei der Verabschiedung so wach wie je zuvor.

Ich habe keinen Zweifel daran, dass es nur möglich sein wird, den absurden, destruktiven, schrecklichen und absolut langweiligen (unbedacht immerzu das gleiche sinnlose Zeug, auch wenn es je anders zu sein scheint, wiederholenden) way of life, der heute in größten Teilen unseres Planeten dominierend ist, zu überwinden, wenn auch Stimmen von außerhalb der vorgeblichen Ersten Welt Gehör finden und ernst genommen werden. Dieses Buch ist zudem Teil des Versuchs, einen Schritt hinüber zu jener Generation zu tun, die weniger blind und taub ist bezüglich der Notwendigkeit, Möglichkeit und Wünschbarkeit eines Lebens ohne Ausbeutung, ohne Unterdrückung, ohne Krieg, ohne Folter, und – wie es Adorno in seiner negativen Utopie ausgedrückt hat – ohne Angst.

* * *

Um allfällige Vergleiche mit den Ausgaben in spanischer (Fondo de Cultura Económica, México 2007, 2008, 2015) und englischer Sprache (Brill Academic Press, Leiden 2015 und Haymarket Books, Chicago 2016) zu ermöglichen, wurde gewissenhaft darauf geachtet, dass die Fußnotennummerierung in allen existieren Ausgaben identisch ist. Die zu Adolfo Sánchez Vázquez und Bolívar Echeverría erstellten Bibliographien sind auf den heutigen Stand aktualisiert worden. In diesem Zusammenhang auch herzlichen Dank an Julio Echeverría und Aurora Sánchez Rebolledo.

Stefan Gandler

Eltville am Rhein, 5. April 2023

VORWORT ZUR ERSTAUFLAGE

Die vorliegende Arbeit stellt die beiden bedeutendsten an der Universität Lateinamerikas, der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM), lehrenden Philosophen in ihren sozialen und theoretischen Kontext, führt in deren Werke anhand ausgewählter Problematiken ein und versucht abschließend eine theoretische Konfrontation ihrer Sozialphilosophien. Es ist dem Verfasser darum zu tun, ausgehend von Adolfo Sánchez Vázquez und Bolívar Echeverría selbst einen Beitrag für eine Weiterentwicklung der kritischen Theorie der Gesellschaft zu liefern. Die umfassende Bibliographie beider Autoren soll als handwerkliche Grundlage zur weiteren Bearbeitung dieser Werke anregen.

Eine erste Fassung dieser Arbeit lag im Sommer 1997 dem Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe – Universität in Frankfurt am Main als Dissertation vor (Gutachter: Prof. Dr. Alfred Schmidt und Prof. Dr. Joachim Hirsch). Die hier präsentierte Version ist stilistisch überarbeitet, leicht gekürzt und um einige weitergehende Reflexionen bereichert; die Bibliographien wurden aktualisiert. Die spanischsprachigen Zitate sind in deutscher Übersetzung wiedergegeben. Die in aller Regel nicht vorhandenen Übertragungen ins Deutsche wurden vom Verfasser vorgenommen, wobei die Originalzitate – teilweise aus unveröffentlichtem Material – in einem Anhang zu finden sind.

Diese Untersuchung ist nicht denkbar ohne Anregungen und Kritik, die der Verfasser von vielen Seiten erhalten hat. Unverzichtbar waren die Hinweise insbesondere für die Erstellung der Bibliographien und Biographien – herzlicher Dank dafür insbesondere an Aurora Sánchez Rebolledo, Raquel Serur und Marco Aurelio García Barrios in México, Distrito Federal sowie in Madrid: Santiago Álvarez, Ana Lucas und den Mitarbeitern der Fundación de Investigaciones Marxistas. Adolfo Sánchez Vázquez und Bolívar Echeverría sei herzlichster Dank für ihre außerordentliche Hilfsbereitschaft und großes Interesse. Alfred Schmidt sei herzlicher Dank für die unvoreingenommene Unterstützung, die er als Betreuer dieser Untersuchung von Anfang an zukommen ließ. Allerbester Dank sei auch den Eltern Reinhold und Magrit Gandler, nicht nur für ihre bereitwilligen Hilfen beim Aufrechterhalten des Kontakts nach Europa während der Zeiten in Mexiko. Ebenfalls herzlichster Dank sei Paul Stein für wichtige technische Hilfen. Die Heinrich-Böll-Stiftung und der Deutsche Akademische Austauschdienst haben durch ihre dreijährige bzw. dreimonatige Finanzierung die Erarbeitung dieser Schrift insgesamt und besonders den mehrjährigen Forschungsaufenthalt in Mexiko Stadt ermöglicht. Die gesellschaftswissenschaftliche Fakultät der Universidad Autónoma de Querétaro hat durch eine, indes pragmatisierte, Anstellung der Fertigstellung dieser Untersuchung den Weg geebnet.

Die Diskussionen über die Rohfassungen der verschiedenen Teile waren von unschätzbarer Bedeutung inhaltlicher Art und zugleich ein unverzichtbarer Ansporn. Ein ganz herzlicher Dank dafür und für das geduldige Lesen und korrigieren dieser Arbeit in ihren verschiedenen Stadien sei darum gerichtet an: Carmen Colinas, Tim Darmstädter, Irina Djasemy, Wilfried Fiebig, Katti Geisenhainer, Charlotte Grell, Gerold Heinke, Cathia Huerta Arellano, Thomas Lemke, Isolde Ludwig, Jona Jasper, Konstanze Mörsdorf, Andrea Pascual Camps, Joachim Rauscher, Helen Rottmann, Thomas Sablowski, Mickie R. Schleicher, Gerold Schmidt, Peter Stegemann, Dorothea Stein, Eva Stein, Andrea Weber, Annemarie Wolfer-Melior und ganz besonders Stephan Bundschuh.

Zuletzt sei ein ganz besonderer Dank an die Bewohner des Centro Histórico de la Ciudad de México gerichtet, unter denen der Verfasser fast drei Jahre lebte und die ihn so spontan und freundlich als Neuen im Stadtteil akzeptierten, wie es ihm bisher an keinem anderen Wohnort widerfahren ist. Durch ihre Alltagspraxis lehrten sie ihn etwas, das er sonst unter heutigen Verhältnissen bestenfalls durch langwierige theoretische Studien hätte begreifen können, nämlich, daß Rassismus mitnichten „Fremdenhaß“ ist oder anders gesagt, daß es keine leerere Vorstellung gibt, als die heute so verbreitete vulgärmaterialistische vom „Fremdsein“.

EINLEITUNG: Vom eurozentrischen zum peripheren Marxismus

Als akademischer Bückling, zum Erreichen eines Grads abgefaßt, will diese Schrift dennoch rebellisch sein. Sie will ein Gesetz durchbrechen, das niemals niedergeschrieben wurde, weil es jeder bereits in sich trug. Der Wortlaut dieses Geheimgesetzes aber ist:

„PRÄAMBEL. Alle Vernunft geht von der Macht aus. Wo keine Macht ist, ist auch keine Vernunft.

§ 1 Hüte Dich vor Gedanken, die nicht mit der jeweils herrschenden Macht im Bunde stehen.

§ 2 Hüte Dich vor Gedanken, die mit gar keiner Macht im Bunde stehen.

§ 3 Hüte Dich vor Denkern, die mit der jeweils herrschenden Macht nicht im Bunde stehen.

§ 4 Hüte Dich vor Denkern, die mit gar keiner Macht im Bunde stehen.

§ 5 Bewahre Dich vor Denkern, die mit keiner Macht im Bunde stehen und danach nicht streben.

§ 6 Am meisten aber halte Dich fern von Denkern, die mit keiner Macht im Bunde stehen und dies nicht können, auch wenn sie wollten.

§ 7 Niemals aber lasse Dich auf Denker ein, die noch nicht einmal in den Zentren der Macht leben.

§ 8 Auf das gleichzeitige Verstoßen von § 5 und § 7 steht die Höchststrafe.

§ 9 Auf das gleichzeitige Verstoßen von § 6 und § 7 steht die doppelte Höchststrafe.“

Sehen wir uns diesen Gesetzestext (Quelle: Geheimarchiv für ungeschriebene Texte, o.O., o.J.) einmal näher an. Dem logisch geschulten Auge fällt sofort auf, daß in § 9 eine Ungereimtheit vorliegt: wie soll es eine doppelte Höchststrafe geben? Wenn etwas verdoppelbar ist, ist es damit notwendigerweise nicht das höchste. Ein positiver Jurist wüßte da sicher Rat, aber der interessiert hier nicht. Die Frage ist vielmehr, wie kommt es zu dieser Verwirrung? Es ist davon auszugehen, daß diese daher rührt, daß es fast unvorstellbar ist, daß § 9 jemals zur Anwendung kommt. Das hängt damit zusammen, daß auch § 6, auf den darin Bezug genommen wird, in der Realität schwerlich gebrochen werden kann. Wie soll es einen Denker geben, der überhaupt keine Möglichkeit hat, sich einer Macht anzunähern, noch nicht einmal einer oppositionellen? (Das Konstrukt der doppelten Höchststrafe ist also vermutlich nur zu Abschreckungszwecken gedacht, um auch schon auf das etwas leichtere Vergehen des Verstoßes gegen § 8 die Höchststrafe setzen zu können und trotzdem die in der Reihenfolge der Paragraphen angelegte Steigerung nicht zu durchbrechen.)

Aus diesem Grunde und zugegebener Maßen auch aus Angst vor dem Unvorstellbaren der doppelten Höchststrafe soll in dieser Schrift das angestrebte Rebellentum nur bis zum Bruch des § 8 vorangetrieben werden.

Was beinhaltet das Brechen der einzelnen Paragraphen?

§ 1 zu brechen heißt, das eigenen Denken nicht an die herrschenden Verhältnisse zu versklaven, diese also kritisch zu untersuchen anstatt sie zu affirmieren. Dies tun bis heute eine ganze Reihe von Denkern und Denkerinnen (die im Gesetzestext gar nicht genannt werden).

§ 2 zu brechen heißt, das eigene Denken zudem auch nicht an die konkurrierenden oder in anderen Gebieten herrschenden Machstrukturen zu fesseln. Dies tun nur noch sehr Wenige. Viele der Kritikerinnen und Kritiker der kapitalistischen Gesellschaftsformation konnten sich ihr Denken nur vorstellen als gleichzeitige Affirmation einer anderen Orts herrschenden Macht, dem Realsozialismus in der Sowjetunion und den anhängenden Ländern. Diese Art von Denkern ist zusammen mit der Sowjetunion weitgehend vom Erdboden verschwunden. Es bleiben aber noch einige andere, nicht immer linke, Denker und Denkerinnen, welche die herrschenden Verhältnisse unter Bezugnahme auf eine andere existierende Macht kritisieren. Das vielleicht wichtigste Beispiel ist die Bezugnahme auf die existierenden religiösen Institutionen, allen voran die praktisch weltweit operierende katholische Kirche. Diese ist gerade auch in Ländern der sogenannten Dritten Welt Bezugspunkt vieler Kritiker (weniger Kritikerinnen) der kapitalistischen Produktionsweise. Sie bietet ein gewissen institutionellen Schutz, materielle Grundversorgung und Infrastruktur und zudem einen nicht zu unterschätzenden ideologischen Rückhalt in derartig vom Katholizismus durchdrungen Kontinenten wie zum Beispiel Lateinamerika. Ein aktuelles Beispiel ist der Bischof von San Cristóbal de las Casas im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, der sich in Form eines Vermittlers mit einer Gruppe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegen eine militärische und für eine Verhandlungslösung des Konflikts zwischen dem Ejército Zapatista de Liberación Nacional [Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung] (EZLN) und der mexikanischen Zentralregierung eingesetzt hat. Letztlich bleibt diese Richtung aber, sosehr sie interne Kritik äußern mag, einer gewaltigen und nicht selten in der Geschichte gewalttätigen Macht verpflichtet, was mit besonderer Klarheit zum Ausdruck kommt, wenn Karol Wojtila wieder einmal einen seiner innerkirchlichen Kritiker mit Veröffentlichungsverbot belegt und dieser es beachtet.

Wer § 3 bricht, ist im Begriff, das gleiche zu tun wie derjenige, der § 1 mißachtet, bloß über den Umweg, andere Denker zu Rate zu ziehen, die selber § 1 schon mißachtet haben. Er kann aber den gleichen Beschränkungen unterliegen, wie diejenigen, die § 1 brechen, aber § 2 achten. Es kann jemand aber auch § 3 brechen und §1 achten. Das ist dann der Fall, wenn ein kritischer Autor auf affirmative Art und Weise gelesen und interpretiert wird, was keine Seltenheit ist. Da letzter Fall aber nicht mit Gewißheit eintritt, haben es die anonymen Gesetzgeber offensichtlich vorgezogen, auf Nummer sicher zu gehen und die Beschäftigung mit Gedanken, die unter das Verdikt des § 1 fallen, von vornherein zu sanktionieren.

Wer § 4 bricht tritt zu § 2 in ein ähnliches Verhältnis, wie derjenige es zu § 1 bekommt, der § 3 bricht, mit allen bereits gemachten Einschränkungen.

Wer § 5 bricht, erschwert den Tatbestand des § 4, denn es geht nunmehr um Denker, die nicht deshalb außen vor bleiben, weil sie vielleicht nichts zu sagen haben oder die keiner haben will, sondern um welche, die in einem bewußten und daher um so verwerflicheren Akt den Pakt mit einer Macht dankend ablehnen. Es gilt auch hier wieder die Einschränkung, daß der Leser, die Leserin eines Textes dessen Kritik nicht in der gleichen Radikalität aufgreifen muß, dies gilt auch für die nachfolgenden Fälle und wird ab jetzt nicht jedesmal wiederholt.

Wer § 6 bricht, verdient alle Achtung, denn es ist nicht einfach, sich mit Denkern zu beschäftigen, die selbst, wenn sie wollten, nicht mit einer Macht im Bunde stehen können. Wie bereits gesagt, es ist schwer vorstellbar, wer sich denn überhaupt in solch einer erbarmungslosen Position befinden sollte. Das hängt mit dem existierenden Begriff der Denkerin oder des Denkers zusammen, denn Menschen insgesamt, die sich in solch einer Position befinden, gibt es genug, vermutlich ist es sogar die große Mehrheit der heute lebenden. Aber wer käme auf die Idee, einen oder eine von ihnen als Denker oder Denkerin zu bezeichnen? Es ist auch nicht leicht, einen klaren Gedanken mit leerem Magen zu fassen, aber nicht unmöglich. Doch selbst wenn es gelingt, wie soll er aufgeschrieben werden, wenn es kein Papier gibt, wie denn gar verbreitet? Welcher Verleger nimmt denn ein Manuskript ernst, das auf alten Pappkartons steht? Es ist also nicht leicht, daß aus solchen Verhältnissen jemand entspringt, der als „Denker“ oder gar „Denkerin“ anerkannt würde. Eine vorstellbare Ausnahme wäre es, daß derjenige, der sich mit einem solchen Denker oder einer solchen Denkerin beschäftigen will, selber hingeht zu diesem oder dieser und anfängt mit ihnen zu sprechen. Dabei stellt sich natürlich das Problem, daß, wer unbedingt den so schwer zu brechenden § 6 mißachten will, auch noch die Sprache dieser so eigenartig anmutenden Denker oder Denkerinnen beherrschen muß. Dies stellt ein neues Problem dar. Oft können sie sich gerade deshalb keiner Macht anbieten, weil sie durch eine Sprachbarriere daran gehindert werden, oder anders gesagt, sie eine der als unwichtig eingestuften Sprachen sprechen, die oft sogar noch nicht einmal als „Sprache“ anerkannt werden. Letzteres ist zum Beispiel in Mexiko der Fall bei den vorspanischen Sprachen, etwa 52 an der Zahl, die nicht als „lenguas” oder „idiomas“, sondern mit abwertendem Blick bloß als „dialectos“ bezeichnet werden.

Als ein Beispiel für jemanden, der zumindest den ernst gemeinten Versuch unternommen hat, selbst gegen den so felsenfest in unseren Gesellschaften verankerten und daher so schwer zu brechenden § 6 zu rebellieren, kann der bekannteste der erwähnten Zapatisten, deren Subcomandante Marcos, aufgeführt werden. Es kann sogar vermutet werden, daß er gerade deshalb so populär wurde, weil es einfach unfaßbar war, daß jemand § 6 bricht. Auch wenn das Geheimgesetz bisher unveröffentlicht geblieben ist, war es doch immer im Handeln präsent, oder wie Marx sagen würde: sie wissen es nicht, aber sie tun es.

Da der Verfasser dieser Schrift aber lieber im Bett schläft als im Schlamm und lieber ein Dach über dem Kopf hat, wenn es regnet, als Blätter und überhaupt doch jetzt nur ein theoretischer „Rebell“ sein will, konnte er § 6 in dieser Schrift nicht brechen. Es mußten zwar auch Sprachhürden genommen und andere Ungangbarkeiten im Rahmen des notwendigen Wohnortswechsels 9400 km west-südwestwärts überwunden werden, doch dabei blieb es dann auch, zum Glück.

Wer § 7 bricht, tut etwas, was selbst bei denjenigen, welche die §§ 1-5 brechen, deren es nicht viele gibt, unüblich ist. Der westliche Marxismus, der zu den wenigen theoretischen Strömungen Europas zu rechnen ist, welche die §§ 1-5 gebrochen haben, hat es beispielsweise nicht gemacht.

Dies genau soll also das Spezifische dieser Schrift sein: Sie will mit § 7 brechen, der fast so ehern wie § 6 während der gesamten europäischen Philosophiegeschichte ungebrochen geblieben ist. Aber das reicht noch nicht. Es sollen nicht irgendwelche Denker oder Denkerinnen aus einem Land außerhalb der Zentren der heutigen Welt thematisiert werden, sondern ganz bestimmte.

Es gibt heutzutage durchaus einige Versuche, § 7 zu brechen, aber, und das ist das Entscheidende, die meisten beschränken sich auf § 7 und wagen es nicht, auch § 8 herauszufordern. Das heißt, es gibt Versuche, Denker aus Ländern der Peripherie innerhalb der Zentren zu thematisieren, aber es handelt sich dabei in aller Regel um Denker, die nicht unter das Verdikt des § 5, meist noch nicht einmal unter § 4 und sehr oft auch nicht unter § 3 fallen. Es sind also meist Denker, die zwar in Ländern der sogenannten Dritten Welt leben, aber sie sind entweder mit der dort herrschenden Macht verbunden (in Mexiko z.B. der Literaturnobelpreisträger Octavio Paz) oder einer anderen Macht verpflichtet. Hierbei gibt es insbesondere die beiden bei der Behandlung des § 2 genannten Möglichkeiten, die eine vergangen, die andere sehr aktuell: Anlehnung an die Sowjetunion (in Mexiko z.B. Vicente Lombardo Toledano oder andere dogmatische Marxisten) oder an die katholische Kirche (in Mexiko z.B. Enrique Dussel, Ex-Befreiungstheologe). Über solche Autoren gibt es eine nicht zu unterschätzende Zahl von europäischer Literatur.

In dieser Schrift soll darüber hinausgegangen werden. Sie soll ein Beitrag zur philosophischen Marxismusdiskussion sein und zwar mit der geschilderten doppelten Zielsetzung, sowohl dem Dogmatismus als auch dem Eurozentrismus zu entwischen. Der Versuch, möglichst radikal mit dem beschriebenen ungeschriebenen „philosophischen“ Gesetz zu brechen, hat zur theoretischen Beschäftigung mit zwei undogmatischen Marxisten Mexikos geführt: Adolfo Sánchez Vázquez und Bolívar Echeverría.

Daß die Wahl des außereuropäischen Ortes ausgerechnet auf Mexiko fiel, hängt mit folgendem zusammen. Der lateinamerikanische Kontinent stand von Anfang an im Mittelpunkt des Interesses dieser Untersuchung, weil der Verfasser im Rahmen von universitären Lateinamerikastudien im Nebenfach Kenntnisse über diesen Kontinent erworben und die spanische Sprache erlernt hat. Innerhalb dieses Kontinents fiel die Wahl auf Mexiko, weil dieses Land aufgrund seiner jüngeren Geschichte eine besonders große intellektuelle und kulturelle Vielfalt besaß. In Folge der 1910 begonnenen mexikanischen Revolution ist das Land eines der wenigen des Kontinents, in dem es dieses Jahrhundert keinen Militärputsch gab. Zudem eröffnete die nachrevolutionäre Regierungspolitik unzähligen Exilanten die Möglichkeit, dort leben und arbeiten zu können. Mexiko-Stadt ist somit eine der wichtigsten Exilstädte der Welt und die wichtigste des Subkontinents geworden. Die meisten Exilanten waren Linke, und darunter wieder waren viele, die bewußt ein Exil in der Sowjetunion für sich ausschlossen. So ergab sich durch die verschiedenen Exilantenwellen, nach dem spanischen Bürgerkrieg, in der Zeit des Faschismus und Nationalsozialismus und in der Zeit der Militärdiktaturen in Süd- und Mittelamerika, eine zumindest in Lateinamerika einzigartige Ansammlung kritischer Intellektueller in der größten Stadt der Erde. Von all diesen erscheinen Adolfo Sánchez Vázquez und Bolívar Echeverría, beide selber aus anderen Ländern stammend, uns innerhalb der undogmatisch marxistischen Philosophie als die interessantesten und bedeutendsten.

Der undogmatische Marxismus ist bei genauer Betrachtung diejenige Theorieströmung, die am radikalsten mit den §§ 1-5 des ungeschriebenen Gesetzes bricht. Der Versuch einer Gegenbewegung zum ungeheuren Eurozentrismus ist die konsequenteste Art und Weise, die §§ 7 und 8 zu mißachten. Der Eurozentrismus existiert freilich nicht nur auf theoretischem, sondern auch auf politischem Gebiet, pflegt auch emanzipatorischen Ansätzen in der einen oder anderen Form anzuhaften, und er zeitigt nicht nur hier, sondern auch auf der anderen Seite der zweigeteilten Erde die fatalsten Ergebnisse: ein gegen sich selbst gewendeter Rassismus im Alltag vieler Länder der sogenannten Dritten Welt, in welchen zum Beispiel helle Hautfarbe von denjenigen, die sie gerade nicht haben, nicht weniger gefeiert, verehrt und als Schönheitsideal hochgehalten wird, sowie im politisch-gesellschaftlichen Konflikt eine enorme Orientierung an europäischen und US- amerikanischen Organisationsformen, Politikmustern und deren theoretischer Fundierung sowie Reflexion.

Dieses einseitig ausgerichtete Verhältnis schien sich auf politischer Ebene in den letzten vier Jahrzehnten mit den verschiedenen Befreiungsbewegungen in der sogenannten Dritten Welt geändert zu haben, wobei die hiesige Solidaritätsbewegung bei seltsam anmutender Fixierung auf selbige gleichzeitig den Paternalismus nicht einfach abstreifen konnte, selbst dann nicht, als im Aufstand der Neozapatisten mit den alten Guerrillastrategien gebrochen wurde. Auf theoretischer Ebene änderte sich aber trotz unterschiedlicher Anstrengungen, trotz der genannten Ausnahmen, letztlich doch so gut wie nichts. Während zum Beispiel in Mexiko jede theoretische „Innovation“ in Europa und den USA aufmerksam verfolgt und kommentiert wird, Übersetzungen sowohl erstellt als auch veröffentlicht und gelesen werden, stößt in Frankfurt am Main allein die Feststellung, daß in Mexiko zwei Philosophen leben, die zu lesen es sich lohnen könnte, bereits auf Ausrufe des Entzückens oder der Erschütterung – beide Ausdruck der gleichen behäbigen Selbstgefälligkeit.1

Die beschriebene Rebellion gegen jenes ungeschriebene Gesetz, insbesondere gegen den darin enthaltenen Eurozentrismus, ist aber keine um ihrer selbst Willen, sondern sie hat einen spezifischen Grund in der Realität selbst. Die Schwäche derjenigen gesellschaftlichen Kräfte, die sich für die Emanzipation der Menschen von Unterdrückung und Ausbeutung verwenden, rührt zum großen Teil nicht daher, daß sie keinen „Zulauf“ haben, sondern, daß sie oft genug den Anschein erwecken, gar keine Alternative zum Bestehenden zu sein. Dieser Anschein ist nicht immer trügerisch. Es gibt eine Unzahl von Aspekten in denen die Linke sich von den bürgerlichen Kräften so gut wie nicht unterscheidet, im schlechten Sinne deren Erbe angetreten hat. Genau diese Aspekte aber sind es, welche die Schwäche der Linken ausmachen und nicht, wie gern behauptet, ein angeblich zu großer Abstand von „Volkesstimme“. Diese bürgerlichen Reste in der Linken rauben ihr nicht nur jedwede Glaubwürdigkeit, sondern zerfressen sie von innen her. Emanzipation der einen kann eben nicht auf Kosten der Emanzipation der anderen erreicht werden. Diese ebenso alte wie falsche Vorstellung, die letztlich an die Begründung der Sklavenhaltergesellschaft in der Antike erinnert, ist in der Linken heute so zugegen, wie sie es von Anbeginn ihres Bestehens her war. Die klassische Formulierung zur Umschreibung dieser offensichtlich absurden Position war diejenige vom „Haupt- und Nebenwiderspruch“, mit der die ungebrochen patriarchalische Tradition in der Linken gerechtfertigt wurde. Gemeint war in Wirklichkeit: „Wir kämpfen für uns, laßt uns in Ruh’, später sehen wir dann schon zu“. Dieses Motto, das an Borniertheit kaum zu übertreffen ist, gilt bis heute weiter. Der Begriff der Solidarität wurde in der Linken in der Regel immer nur in ganz eingeschränktem Maße angewandt. Das Konkurrenzprinzip der bürgerlichen Gesellschaft wurde bloß kollektiviert und in eines zwischen eng umrissenen und streng definierten Gruppen umgewandelt. Die Einheit einer nationalen Arbeiterbewegung schien dabei z.B. kaum mehr erreichbar, von der internationalen proletarischen Solidarität, einst Traum der Ersten Internationalen, blieb schon beim ersten Anlaß nicht mehr viel übrig.

Es ist diese tiefgreifende Verbürgerlichung der Linken, die sie fast zum Verschwinden gebracht hat. Mehr als sie von außen zerschlagen oder ignoriert wurde, hat sie sich selbst von innen her ausgeschabt. Das abschreckendste Beispiel waren die Stalinisten, die zuerst in der Kulturpolitik und dann in allen andren gesellschaftlichen Bereichen einen unglaublichen Konservatismus praktizierten. Sie versuchten sogar, die bürgerlichen Methoden der gewaltsamen Produktivitätssteigerung und sonstigen Disziplinierung zu übertreffen und haben es im Vergleich zu gemäßigten bürgerlichen Gesellschaften gar geschafft, deren Repression zu übertreffen. Die Lehre aus all dem ist, daß eine Linke, um tatsächlich etwas zur Emanzipation der Menschen beitragen zu können, die in ihr existierenden Reste der bürgerlichen Unterdrückungs- und Ausbeutungslogik so gründlich wie möglich abwerfen muß.

Es könnten deren viele aufgezählt werden. Am meisten wurde in den letzten zwei Jahrzehnten die geschlechtsspezifischen Unterdrückungsund Ausbeutungsformen und das repressive Verhältnis zur äußern (weniger der inneren) Natur diskutiert. Der Eurozentrismus (übrigens auch eines der grundlegenden Merkmale der Stalinisten) wirkt aber lustig fort, die wenigen Kritiken die ihm entgegengesetzt werden sind meist lau oder platte Versuche, ihn auf den Kopf zu stellen. Er ist ohne Zweifel einer der entscheidenden Gründe für die derzeitige Schwäche der Linken weltweit. Es geht aber nicht darum, ihn nunmehr in Pamphleten oder Ansprachen wieder und wieder zu beklagen, mit der ruhigen Gewißheit, daß sich eh nichts ändere. Der Eurozentrismus kann, wenn überhaupt, dann nur im Vollzug der Dinge selbst angegangen werden: in der politischen Praxis durch die Art und Weise, wie beispielsweise internationale Kontakte aufgebaut und realisiert werden, in der Theorie in der Art und Weise, wie die internationale Diskussion organisiert wird.

Aus Sicht der Zentren der gegenwärtigen Welt ist oder wäre dies ein äußerst schmerzhafter Prozeß. Sollte es tatsächlich gelingen, den Eurozentrismus in der linken Theoriebildung aufzuheben, würde dies eine zumindest jahrzehntelange Krise für die hiesigen kritischen Geister bedeuten. Die in Jahrhunderten gewachsene und auch in linken Köpfen weiterlebende Gewißheit der Überlegenheit der europäischen Zivilisation würde tagtäglich mit der neuen Realität zusammenprallen. Es wäre ein derartig schmerzhafter Prozeß, daß der Verfasser ihn sich auch unter Anstrengung aller Phantasie nicht vorstellen kann. Der selber publizierende Leser, die selber veröffentlichende Leserin stelle sich nur einmal vor, er oder sie müßte auf dem Buchmarkt plötzlich nicht nur mit den deutschen und einigen europäischen und US-amerikanischen Theoretikern und Theoretikerinnen sondern mit solchen aus der ganzen Welt um die Gunst des Publikums buhlen, wäre es nicht schrecklich? Was würde es bedeuten, man würde von den Intellektuellen der sogenannten Ersten Welt, nicht nur erwarten, die Literatur des angeblich alten Kontinents und der USA einigermaßen zu kennen, sondern auch die des Restes dieser nunmal recht großen Erde? Und stellen wir uns nur vor, wir kämen in eines dieser Länder, in denen bis heute Europa als Hort der Kultur, der Kritik und der blitzenden Gedanken gilt und plötzlich würde es uns nicht mehr als großer Verdienst angerechnet, aus Europa zu stammen. Stellen wir uns nur vor, man würde uns bitten, unsere Theorie erst mal in ein paar Sätzen zusammenzufassen, weil man von uns noch nichts gehört hat, obwohl wir doch vielleicht in Europa eine angesehene Frau oder ein angesehener Mann sind, was heute noch die absolute Garantie dafür ist, z.B. in Lateinamerika auch bekannt zu sein. Wäre es nicht erniedrigend?

Es wäre schmerzhaft, so wie jede Emanzipation nicht ohne Geburtswehen vonstatten gehen kann. Der Eurozentrismus, der historisch als Begleitideologie aus der ökonomischen und militärischen Überlegenheit dieses Kontinents hervorging, hat sich derartig verselbständigt, daß auch diejenigen, die diese Ökonomie abgeschafft sehen möchten, doch nicht auf die Idee kommen, daß spätestens dann der Eurozentrismus auch abgeschafft gehört. Genauer betrachtet gehört er aber schon vorher bekämpft, so wie alle anderen Ideologien auch, die zur Stabilisierung der gegenwärtigen Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse beitragen.

Ein Blick auf die Weltkarte macht noch etwas Weiteres anschaulich: was wäre Europa eigentlich ohne Eurozentrismus, nunmehr als ideologische und zugleich materielle Kraft gedacht? Es wäre bestenfalls eine Halbinsel des asiatischen Kontinents, im Geographieunterricht andrer Kontinente en passant vielleicht mit „westliches Westasien“ oder ähnlichen Ungeheuerlichkeiten bezeichnet. Wenn nicht die Art der Projektion der Oberfläche der Weltkugel auf die zweidimensionale Weltkarte ebenso geschickt gewählt wäre wie auch die Positionierung des Äquators, der sich in fast keiner Weltkarte in der Mitte, sondern fast immer nach unten verschoben befindet, würde man Europa überhaupt erst nach mehrmaligem Hinsehen wahrnehmen. Eine Welt ohne Eurozentrismus ist aus europäischer Perspektive schlicht eine Frechheit, eine bodenlose Unterschätzung der ungeheuren Bedeutung, die wir doch haben. In dieser Ansicht unterscheidet sich das Gros der europäischen Linken bestenfalls um Haaresbreite vom bürgerlichen Allgemeinbewußtsein.

„Ja, stimmt schon alles, aber, man muß schon zugestehen, daß in diesen Ländern, wirklich nicht so viele Theorien hervorgebracht wurden und schon gar nicht so viele linke Theorien, Marx war ja auch kein Mexikaner.“ Das ist der Einwand, der an dieser Stelle nach Protokoll zu kommen hat. Daß Karl Marx aus Trier und nicht aus Anenecuilco stammt, ist unbestritten. Daß die ökonomische Lage in Mexiko weniger Menschen erlaubt, theoretischer Muße zu frönen als in der Bundesrepublik Deutschland, ist es ebenfalls. Das alles ist aber kein vernünftiger Grund für die erstaunliche Konsequenz, mit der hierzulande2 Theorieproduktion aus Ländern der sogenannten Dritten Welt entweder gar nicht oder nur als Exotikum zur Kenntnis genommen wird.

Den bürgerlichen Muff der tausend Jahre unter den Talaren zu lüften, heißt ohne Zweifel auch und an entscheidender Stelle, den eurozentrischen Dünkel ein für alle Mal über Bord zu werfen. Diese Forderung ist keine, die paternalistisch für die Bewohner und Bewohnerinnen der Dritten Welt aufgestellt wird, sondern eine, die unmittelbar aus den hiesigen Notwendigkeiten hervorgeht. Nur wenn radikal mit überkommenen Traditionen gebrochen wird, kann wirklich ein erneuter Anlauf für eine linke Theoriebildung gelingen, und das gleiche gilt für die politische Praxis. Im Eurozentrismus stecken zu bleiben, heißt, in einer der Grundfesten bürgerlicher Ideologie zu verharren und damit, so radikal und kritisch ansonsten die Praxis und Theorie auch daherkommen mag, letztlich doch nur bourgeoisen Schnee von gestern zu recyclen.

Die vorliegende Schrift soll ein Beitrag zu einem ersten Schritt der Überwindung der eurozentrischen Bornierung innerhalb der links-undogmatischen Theoriebildung (genauer gesagt: innerhalb der philosophischen undogmatischen Marxismusdiskussion) sein. Sie wird sicher die gewaltigen Defizite, die es diesbezüglich hierzulande gibt, nicht aufheben können. Doch ist es ihr Anspruch, zumindest, um nochmals das Marxsches Wort zu verwenden, die Geburtswehen in diesem unumgänglichen, aber schmerzhaften Prozeß abzukürzen.

Den Eurozentrismus in der Theoriebildung zu überwinden oder zumindest zu unterlaufen versuchen, kann aber nicht heißen, die behandelten Autoren aus Mexiko, nachdem sie solange hierzulande ignoriert wurden, nunmehr mit den Samthandschuhen der Apologie zu behandeln. Das wäre zum einen zutiefst langweilig, und zum anderen wäre weder ihnen noch der dringend gebotenen internationalen Diskussion emanzipatorischer Theoretiker und Theoretikerinnen gedient. Es wird in dieser Schrift also eine Auseinandersetzung mit den Theorien Adolfo Sánchez Vázquez’ und Bolívar Echeverrías versucht, die, wo angezeigt, auch Kritik zu beinhalten hat.

Solche Kritik wurde dem Verfasser wiederum in Mexiko mehr als einmal von Adepten der beiden besprochenen Philosophen in Diskussionen als Eurozentrismus angekreidet. Der Vorwurf ist jedoch mehr dem Wunsch nach einem ungestörten, national oder regional abgeschotteten, Diskussionszusammenhanges (die Rückseite des Ethnozentrismus) denn etwas anderem geschuldet. Es verhält sich in dieser Schrift vielmehr umgekehrt so, daß, da sie den Anspruch hat, in die Theorien der beiden Autoren einzuführen, die zu formulierende Kritik hinter der vom Verfasser in Mexiko in Auseinandersetzungen in Kolloquien, Vortragsveranstaltungen, Kongressen und sonstigen wissenschaftlichen Veranstaltungen formulierten zurückbleibt. Es wird zwar in beiden Fällen an bestimmten Stellen auf uns fragwürdige Aspekte deren Theorien eingegangen, aber der gegebene Rahmen begrenzt die Kritik an Sánchez Vázquez und Bolívar Echeverría auf ein Maß, das hinter dem bereits im mexikanischen Kontext geäußerten erheblich zurückbleibt. Dies ist vertretbar, insofern hierzulande die Diskussion mit den beiden Philosophen erst mit dieser Schrift ernsthaft beginnt, also von Null ausgegangen werden muß, was sich in Mexiko, wo beide Autoren im sozialwissenschaftlichen Bereich allgemein bekannt sind, selbstredend anders verhält. Sollte tatsächlich der Fall eintreten, daß hierzulande eine Debatte über mexikanische oder lateinamerikanische Sozialphilosophie in Gang gesetzt werden könnte, werden wir in diese sicherlich mit spezifisch kritischen Beiträgen zu Adolfo Sánchez Vázquez und Bolívar Echeverría eingreifen.

Beim Ersten wäre dabei beispielsweise auf im Gesamtwerk doch immer wieder auftauchende dogmatische Reste einzugehen, Reste, die den praktisch ersten Bruch eines marxistischen Philosophen in Lateinamerika mit der sowjetischen Orthodoxie, den Sánchez Vázquez vollzogen hat, überstanden haben. Beim Zweiten wäre genauer, als in dieser Schrift ansatzweise geschehen, zu untersuchen, ob seine Versuche einer theoretischen Fundierung einer nicht-ethnozentristischen und zugleich doch universalistischen Theorie geglückt sind, oder er doch bei einem gewissen Relativismus gelandet ist, sich eventuell der Mittel zu einer radikalen Gesellschafts- und Ideologiekritik selbst beraubt hat. Allgemeiner formuliert ist es die Frage, was der Preis seines Versuchs der Überwindung des abstrakten, falschen, d.h. eurozentrischen Universalismus ist.

Sánchez Vázquez’ Hauptwerk, die Filosofía de la praxis, kann als ein Meilenstein in der philosophischen Marxismusdiskussion Lateinamerikas gesehen werden, in gewisser Weise als Beginn deren undogmatischer Version. Sie enthält einige Parallelen zu Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein, wurde aber völlig unabhängig von dessen Werk entwickelt, wie der Autor versichert. Für Generationen kritischer Gesellschaftstheoretiker in Mexiko und anderen Ländern Lateinamerikas, einschließlich Brasilien, war dieses Buchs ein Angelpunkt ihrer Lehrjahre. Daß es in der deutschsprachigen Diskussion, im Gegensatz zu der Englands, den USA und Jugoslawiens, völlig unbekannt geblieben ist, spricht Bände über die spezifische Ausbildung des philosophischen Eurozentrismus im Land von Karl Marx. Was immer man letztlich von seiner Theorie halten mag, die Kenntnis des Hauptwerkes Sánchez Vázquez’ ist sozusagen die „Pflicht“ in der ersten Annäherung an die zeitgenössische Sozialphilosophie Mexikos.

Die „Kür“ ist dann die Beschäftigung mit Echeverrías Werk. Als der Verfasser dieser Schrift seine Untersuchungen zu Bolívar Echeverría begann, war dessen Theorie in Mexiko, mal abgesehen von in der Regel gut informierten Kreisen, eher ein Geheimtip. Das hat sich mittlerweile radikal geändert, was in etwa einher ging mit der Veröffentlichung seines Buches zu den Illusionen der Moderne und einem von ihm herausgegeben Sammelband zu Moderne, kulturelle Mestizaje und barockes Ethos, Anfang 1995. Auch wenn es keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den beiden Theorien gibt, so ist doch festzuhalten, daß Adolfo Sánchez Vázquez in begrifflicher wie institutioneller Hinsicht in Mexiko das Terrain für eine philosophische Marxismusdiskussion undogmatischer Art geschaffen hat, in dem Bolívar Echeverría seine Theorie dann entwickeln konnte. Trotz der erheblichen theoretischen Differenzen innerhalb dieses „Terrains“ hat Sánchez Vázquez immer wieder Echeverría institutionellen Flankenschutz gewährt, wenn es notwendig war.

Ein entscheidender Unterschied zwischen beiden Autoren ist ihr Verhältnis zum Praxisbegriff. Sánchez Vázquez hält ihn in Abgrenzung zum mechanistischen Materialismus des Sowjetmarxismus hoch, im Sinne einer Wiederaufwertung des (einzelnen) Menschen als Subjekt der Geschichte, der nicht schlicht auf die unausweichliche Selbsttätigkeit der Geschichte und ihrer „Gesetze“ vertröstet werden kann. Praxis heißt dabei für ihn nicht jede Tätigkeit, sondern nur die begrifflich schon vermittelte, die reflektierte. Im Praxisbegriff selbst ist damit bereits das Verhältnis von Theorie und Aktion angelegt, dies auch in dem Sinne, daß nur das Objekt zum Gegenstand menschlicher Erkenntnis werden kann, das schon durch die historische Praxis der Menschen erfaßt wurde.

Bolívar Echeverría hat ein wesentlich skeptischeres Verhältnis zur Praxis. Während Sánchez Vázquez gegen den orthodoxen Marxismus die Eingriffsmöglichkeit des Subjekts hochhält, zweifelt er an der unbeschränkten Veränderbarkeit des Gegebenen und auch daran, ob es wünschenswert ist, alles der menschlichen Praxis zu unterwerfen. Er ist dabei nicht so sehr von ökologischen Debatten inspiriert, in denen ebenfalls auf die fatalen Folgen unbeherrschter menschlicher Praxis aufmerksam gemacht wird, sondern bezweifelt mehr, was die menschlichen Gesellschaften selbst betrifft, ob diese so einfach von heute auf morgen veränderbar sind. Er geht dabei von tiefliegenden komplexen Organisationsformen der jeweiligen Gesellschaften aus, die wesentlich mehr umfassen als nur den Umstand, ob sie beispielsweise kapitalistisch sind oder nicht. Auch innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise sieht er höchst unterschiedliche Formen der Alltagsorganisation, die stark auf der jeweiligen Art und Weise der Produktion und Konsumtion der Gebrauchswerte aufbauen und von ihm mit dem neuen Begriff „historisches Ethos“ belegt werden. Seine Rückgriffe auf Marx sind dabei wesentlich stärker auf dessen ökonomische Schriften ausgerichtet, während Sánchez Vázquez’ mehr das „philosophischere“ Frühwerk vor Augen hat, wenn auch beide einhellig die Annahme eines Bruches in Marxens Entwicklung („philosophisches Frühwerk / wissenschaftliches Hauptwerk“) ablehnen.

Während Sánchez Vázquez den Hemmschuh für eine revolutionäre Beendigung der herrschenden Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse insbesondere in der komplizierten Verflochtenheit von Theorie und Praxis sieht, die sich gegenseitig bedingen, beide sich aber nur weiter entwickeln können, wenn die jeweils andere es schon getan hat, was zumindest auf den ersten Blick ein Teufelskreis ist, sieht Echeverría dieses Dilemma als ein falsches an. Ihm geht es explizit darum, Politikmöglichkeiten innerhalb der Entfremdung zu finden. Dazu reduziert er die Radikalität der Erkenntnis- und Ideologiekritik, was es ihm zugleich erlaubt, in aller Ruhe, ohne die ständige Frage nach Wahrheit oder Falschheit, sich den jeweils unterschiedlichen Formen verschiedener kapitalistischer Modernen (in der Mehrzahl!) begrifflich anzunähern. Hierin steckt die Eurozentrismus-kritische Brisanz seines Ansatzes. Auf konkrete ideologische Formen und ihre mögliche Falschheit angewandt, kann Echeverrías Theorieansatz allerdings in Bedrängnis geraten und versagen, wie anhand eines Aufsatzes von ihm zur sogenannten deutschen Wiedervereinigung anschaulich wird.

Hier werden wir wieder zurückverwiesen auf die wesentlich radikalere Erkenntniskritik, die Sánchez Vázquez betreibt, der sich dazu in der Hauptsache auf einen der Urtexte des undogmatischen Marxismus, die Feuerbachthesen, stützt. Davon ausgehend macht er den Versuch einer Bestimmung des komplexen Verhältnisses von Idealismus und Materialismus, dem mit einfachen „Grundfrage“-Formeln nicht beizukommen ist. Die in derartigen Überlegungen erreichte philosophische Begriffsschärfe wird von Echeverría bisweilen nicht eingeholt.

Die Stärke von Echeverrías Ansatz liegt darin, analysieren zu können, wie linke Politik zu oft die konkreten Formen einer bestimmten Gesellschaft, die auf ihrer ganz spezifischen Art und Weise der Produktion und Konsumtion von Gebrauchswerten fußen, übersehen hat und somit die realen Möglichkeiten zu einer radikalen Umgestaltung nicht ergreifen konnte.

1Die herrschende Ignoranz wirkt allerdings nicht nur gegenüber theoretischen Entwicklungen in Ländern der sogenannten Dritten Welt, sondern tritt – wenn auch in schwächerem Maße – gegenüber Nachbarländern auf. Die Barriere, die zum Beispiel zu Frankreich hin besteht, war in Mexiko, wo ein großes Interesse für die Entwicklung in den verschiedenen europäischen Ländern besteht, kaum glaubhaft zu machen.

Der erwähnte Abschottungsmechanismus ist selbstredend nicht allein geographisch zu bestimmen. So werden hierzulande auch bestimmte Themen systematisch ins „theoretische Hinterland“ verbannt; allen voran der Nationalsozialismus: 20 bis 30 Jahre gingen schon ins Land, bis Standardwerke zu diesem Thema, z.B. Behemoth von Franz Neumann oder Die Vernichtung der europäischen Juden von Raul Hilberg in deutscher Sprache veröffentlicht wurden.

2Das Wort „hierzulande“ bezieht sich auf die Bundesrepublik Deutschland im gesamten Verlauf der Schrift, auch wenn diese zu einem großen Teil in Mexiko erarbeitet wurde. Um größere Verwirrungen zu ersparen, wurde diese Festlegung getroffen, die zudem zur Hauptabsicht dieser Schrift, dem deutschsprachigen Publikum die behandelte Thematik zu eröffnen, paßt.

ERSTER TEIL: HISTORISCHER UND THEORETISCHER KONTEXT

Zu Beginn dieser Schrift sei auf die Biographien der beiden behandelten Autoren eingegangen. Die Notwendigkeit für diese Darstellung ergibt sich zum einen schlicht aus dem Umstand, daß sie hierzulande so gut wie unbekannt geblieben sind. Es liegen im Falle Sánchez Vázquez’ zwar Buchübersetzungen ins Englische, Serbokroatische, Portugiesische und demnächst ins Italienische sowie Aufsatzübersetzungen zusätzlich ins Französische, Tschechische, Rumänische und Russische vor, auf Deutsch waren bisher aber lediglich ein stark gekürzter Referatstext in einem Sammelbändchen und ein kleiner politisch-theoretischer Vortrag von ihm in einer Studentenzeitung zu lesen1, ein einziger deutschsprachiger Autor erwähnte ihn in einem seiner Texte.2 Bolívar Echeverría gibt zwar ab und zu kleinere Kurse in der Freien Universität Berlin, hielt einen Vortrag an der Johann Wolfgang Goethe – Universität Frankfurt am Main, doch machte ihn das hierzulande selbstredend ebenso wenig bekannt, wie die Veröffentlichung eines Textes von ihm in einer hiesigen politisch-kulturellen Zeitschrift.3

1. Leben und Werk Adolfo Sánchez Vázquez’

Die Biographie Sánchez Vázquez’ ist zum anderen beim Thema „Praxis und Erkenntnis“ auch deshalb von besonderem Interesse, da sich in dieser ein ganz bestimmtes Verhältnis von (politischer, gesellschaftlicher) Praxis und begrifflich-theoretischer Anstrengung oder Entwicklung ausmachen läßt. Sánchez Vázquez zaudert nicht, seine theoretische Erkenntnis als unmittelbar von politischer Umwälzung und Praxis abhängige darzustellen: In einer von der kubanischen Zeitschrift Casa de las Américas anläßlich der 20. Jährung der Revolution von 1959 initiierten Umfrage unter dem Titel »Was hat für Dich die Kubanische Revolution bedeutet?«, antwortet er, unter anderem auf sein für diese Schrift zentrales Buch Filosofía de la praxis (Philosophie der Praxis) bezugnehmend:

»Ohne meine erste lebendige und direkte Begegnung 1964 mit den Menschen und den Errungenschaften der Kubanischen Revolution, wäre mein Buch Las ideas estéticas de Marx nicht möglich gewesen, wie auch mein Vorhaben in Filosofía de la praxis, den Weg des Marxismus weiter zu gehen und dabei die Krücken der gängigen Lehrbücher links liegen zu lassen.«4

Aber auch die andere Tendenz der Bewegung – von der Theorie zur Praxis – ist in seinem Leben vorgekommen. Sánchez Vázquez nennt solche Beispiele, wenn auch nicht mit der gleichen Vehemenz wie im umgekehrten Fall: darunter die Auswirkungen seines frühen Essays Ideas estéticas en los “Manuscritos económico-filosóficos” de Marx5 auf die Kulturpolitik in der ersten Zeit des nachrevolutionären Kuba, sowie das Interesse, das eine Reihe von Sandinisten bis in höchsten Ämtern und Würden im „Neuen Nicaragua“ an einer theoretisch-politischen Auseinandersetzung mit ihm hatten.

Die folgende kurze und schlaglichtartige Biographie soll dabei nicht einfach den „Lebensweg“ eines Einzelnen, zufällig von uns herausgegriffenen, „in-die-Welt-geworfenen“ nachzeichnen, sondern anhand der Person Sánchez Vázquez einen Blick auf die Generation von antifaschistischen Intellektuellen ermöglichen, die ihre Hoffnungen in die zweite spanische Republik sowie die dort scheinbar mögliche gesellschaftliche Umwälzung auf demokratisch-parlamentarischem Weg gesetzt hatten und nach niedergeschlagenem Widerstand gegen den franquistischen Putsch die schwere Last des Exils tragen mußten.

Biographie

An die Nachgeborenen II

In die Städte kam ich zu der Zeit der Unordnung

Als da Hunger herrschte.

Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs

Und ich empörte mich mit ihnen.

So verging meine Zeit

Die auf Erden mir gegeben war.

Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten

Schlafen legte ich mich unter die Mörder

Der Liebe pflegte ich achtlos

Und die Natur sah ich ohne Geduld.

So verging meine Zeit

Die auf Erden mir gegeben war.

Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit.

Die Sprache verriet mich dem Schlächter.

Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden

Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.

So verging meine Zeit

Die auf Erden mir gegeben war.

Die Kräfte waren gering. Das Ziel

Lag in großer Ferne

Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich Kaum zu erreichen.

So verging meine Zeit

Die auf Erden mir gegeben war.

(Bertolt Brecht)

Adolfo Sánchez Vázquez wird am 17. September 1915 in Algeciras, Küstenstadt der andalusischen Provinz Cádiz, als Sohn von María Remedios Vázquez Rodríguez und Benedicto Sánchez Calderón geboren. Sein Vater, Oberleutnant einer Abteilung von Gendarmeriesoldaten, wird in seiner Karriere zu Beginn des spanischen Bürgerkriegs abrupt aufgehalten werden: Festnahme bei der Besetzung Málagas durch franquistische Truppen, Todesurteil, das in langjährige Haftstrafe umgewandelt wird. Adolfo ist das zweite Kind nach der Schwester Ángela und vor dem Bruder Gonzalo, späteres Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE).

Nach einer Zeit in El Escorial (Provinz Madrid) zieht die Familie 1925 in die südspanische Stadt Málaga.6 Dort besucht er die Grund- und Oberschule und studiert von 1932 bis 1934 für das Lehramt. Das Leben in dieser stark politisierten Stadt prägt seine erste Entwicklung sowohl in literarisch-poetischer als auch in politischer Hinsicht; Sánchez Vázquez dazu rückblickend 1985:

»Diese ‘wilde Stadt’, die den ersten kommunistischen Abgeordneten in die Cortes de la República [Abgeordnetenhäuser der zweiten spanischen Republik, S.G.] entsandt hatte, und die wegen der Streitlust ihrer Jugend und Arbeiterklasse damals ‘Málaga, die Rote’ genannt wurde, zeichnete sich auch durch ein intensives kulturelles Leben aus.«7

Hier bildet er sich literarisch und poetisch an der Seite von Emilio Prados und der »mächtigen Poetengruppe« Málagas.8 1933 veröffentlicht die von Rafael Alberti herausgegebene Zeitschrift Octubre einen ersten poetischen Text von Sánchez Vázquez.9 Im gleichen Jahr gehört er bereits dem Bloque de Estudiantes Revolucionarios (BEOR) innerhalb der FUE (Federación Universitaria Española) an und tritt der Kommunistischen Jugend bei. Diese, wie Sánchez Vázquez später sagt, »frühreife« politische Entwicklung begann bereits mit der Geburt der zweiten spanischen Republik am 14. April 1931 und entwickelt sich mit den Hoffnungen, die insbesondere die studentische Jugend mit dieser verbindet.10 52 Jahre später wird er über die Kommunistische Jugend Málagas, eine Organisation von weniger als hundert Mitgliedern, schreiben:

»Aufgrund ihres Kults für die an Abenteuer grenzende Aktion unterschied sie sich kaum von den anarchistischen Juventudes Libertarias, zu denen sie andererseits alles andere als ein freundschaftliches Verhältnis hatte. Der Reichtum ihrer gewalttätigen Praxis verband sich mit ihrer Armut auf dem Gebiet der Theorie. Aber in jener Zeit beunruhigte mich diese Armut nicht.«11

Mit ersten theoretischen Texten marxistischer und anarchistischer Ausrichtung macht ihn in diesen Tagen der Onkel Alfredo Vázquez, ein »mehr romantischer als revolutionärer Rebell, der sich niemals jedweder Parteidisziplin unterwerfen wollte« und der in den ersten Tagen des Putschs von Franquisten erschossen werden wird, bekannt.12

Im Oktober 1935 zieht Adolfo Sánchez Vázquez nach Madrid, um an der dortigen Universidad Central zu studieren. Er schließt sich in der Hauptstadt einigen der florierenden Literaturzirkel an, lernt hierüber zum Beispiel Pablo Neruda kennen und befreundet sich mit José Herrera Petere. Er schreibt des öfteren in der Literatursparte der PCE-Tageszeitung Mundo Obrero und verantwortet zwei kurzlebige Blätter: Línea (Madrid, »politisch-intellektuell«) mit José Luis Cano und Sur (Málaga) mit Enrique Rebolledo. Am Vorabend des spanischen Bürgerkriegs schreibt er zwischen Madrid und Málaga sein erstes Buchmanuskript, eine Gedichtsammlung mit dem Titel El pulso ardiendo (Der brennende Pulsschlag). Der Text wird von dem spanischen Verleger Manuel Altolaguirre nach Mexiko gerettet und dort im Jahre 1942 veröffentlicht werden.13

In die geisteswissenschaftliche Fakultät der Universität tritt er nach Bestehen einer Aufnahmeprüfung ein, die mit 80% Durchfallquote von ihm als »akademisches Massaker«14, vom „spiritus rector“ der Facultad de Filosofía y Letras, José Ortega y Gasset, als Möglichkeit, seine Vorstellung der Universität als »Brutstätte ‘erlauchter Minderheiten’«15 zu realisieren, begriffen wird.

Das dortige Studium befriedigt Adolfo Sánchez Vázquez wegen des hohen Niveaus vieler Veranstaltungen, insbesondere von José F. Montesinos, Juan de la Cruz und Ortega y Gasset, akademisch, nicht aber ideologisch.16 Er findet nichts, das dem Marxismus, zu dem er über »zwei Praxen« gekommen ist, der poetischen und der politischen17, auch nur ähnelt. So ist er gezwungen, sich auf diesem Gebiet autodidaktisch und außerhalb der Universität, verknüpft mit seinen politischen Aktivitäten, weiterzubilden. Hierbei helfen ihm »einige klassische Texte [von Marx, S.G.] in den ersten und ausgezeichneten Übersetzungen von Wenceslao Roces.«18

Die spanische Universität ist in dieser Zeit politisch umkämpft. Der unter linker Führung stehende Studentenverband FUE (Federación Universitaria Española) wird dort von der 1931 in Valladolid gegründeten rechtsradikalen Junta de Ofensiva Nacional-Sindicalista (JONS), die gleichzeitig für ihre Mitglieder militärische Ausbildung betreibt, bekriegt.19 Die rechtsradikale Falange hat dort einen ihrer wichtigsten Ursprungsorte:

»In fact the Falange and its student sector, the SEU (Sindicato Español Universitario) were, in the words of one of its prominent leaders, one and the same thing, since the Falange was born with ‘the mark of the university youth’.«20

Der Campus der Universidad Central wird wenige Zeit später »einer der Orte erbittertster Kämpfe« sein21, wenn dort über Monate der Versuch der „Nacionalistas“, in die Hauptstadt militärisch vorzudringen, zurückgehalten und hierbei ein großer Teil der auf Seiten der Republik stehenden FUE (Federación Universitaria Española) mitkämpfen wird.22

Der spanische Bürgerkrieg

beginnt am 17./18. Juli 1936 mit der Erhebung von Militärteilen unter dem General Franco gegen die am 16. Februar des gleichen Jahres gewählte Volksfrontregierung Azaña und dem spontanen Widerstand großer Teile der Bevölkerung gegen den Putschversuch. Dieser Krieg wird von verschiedenen Autoren wegen seiner internationalen Bedeutung und Verflechtung (militärische Unterstützung der Franquisten durch das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland, indirekte Unterstützung der Franquisten durch die „Politik der Nichteinmischung“ seitens des demokratischen Englands und Frankreichs, z.B. durch Nicht-Passieren-Lassen von Waffenlieferungen, sowie Unterstützung der spanischen Republik durch Waffenlieferungen seitens der Sowjetunion und Mexikos – im ersten Fall auch durch verschiedenes Militärpersonal – und schlußendlich durch die Internationalen Brigaden) als »erste Schlacht des Zweiten Weltkriegs« bezeichnet werden.23 Das Verhalten der europäischen Demokratien zum spanischen Bürgerkrieg als auch die erbitterten Kämpfe innerhalb der auf seiten der Republik Stehenden (insbesondere zwischen Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten) und die fatale Rolle, welche die Sowjetunion dabei spielt, werfen bereits ein Licht auf die Summe politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen, die das mitermöglichen, was später als Zivilisationsbruch die Geschichte umschreiben wird. Mit dem Fall Madrids und dem Sieg der Nationalisten am 1. April 1939 kann die deutsche Luftwaffe ihren Einsatz beenden und genau fünf Monate später mit dem Überfall auf Polen der deutsche Vormarsch nach Osten begonnen werden.

Sánchez Vázquez ist einer der abertausenden von Spaniern und Spanierinnen, die sich diesem Putsch spontan entgegenwerfen und vor ihrer Niederlage immerhin fast drei Jahre lang bedeutende Teile Spaniens dem franquistischen Zugriff entziehen. Er tut dies als Mitglied der im April 1936 aus der Vereinigung von sozialistischer und kommunistischer Jugend hervorgegangenen Juventud Socialista Unificada (JSU).24