Kryex-Rebellion – Ein schmutziger Krieg - Thomas Marsek - E-Book

Kryex-Rebellion – Ein schmutziger Krieg E-Book

Thomas Marsek

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Beschreibung

Die Menschheit hat sich weit in der Galaxie ausgebreitet – vielleicht zu weit. Als man auf die aus ihrer Heimat vertriebenen Caithra trifft, kommt es zu einem blutigen Konflikt. Nolan will eigentlich nur seine Ruhe. Von der Regierung, die mit Geheimdienstmethoden und Propaganda die Bevölkerung kontrolliert, hält er genauso wenig wie von den Separatisten, die mit Terroranschlägen dagegen rebellieren. Als man ihn zwingt, Soldat zu werden, lässt er sich auf ein schmutziges Geschäft ein, damit man ihn und seine kleine Truppe auf einen ruhigen Posten versetzt. Doch in dem aufkommenden Sturm, der die Galaxie erschüttert, gibt es keinen sicheren Ort mehr… Die Autoren sind zwei Brüder aus Niedersachsen, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben: Der eine hat Geschichte studiert und sammelt alte Bücher, der andere hat einen technischen Hintergrund und fährt gerne Rallye. Politisch sind sie selten einer Meinung und auch erzählerisch haben sie oft unterschiedliche Perspektiven. Das gemeinsame Schreiben ist eine ständige Suche nach kreativen Lösungen. Trotzdem hat ihnen die Arbeit an ihrem Debütroman unerwartet viel Spaß gemacht.

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Seitenzahl: 509

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Thomas Marsek, U. D. Marsek

Kryex-Rebellion – Ein schmutziger Krieg

Impressum

 

 

 

 

 

 

Kryex-Rebellion

 

 

Ein schmutziger Krieg

 

 

 

 

 

Thomas und U. D. Marsek

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright:-vss-verlag

Jahr: 2022

 

 

Lektorat/ Korrektorat: Peter Altvater

Covergestaltung: Hermann Schladt

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

Gedruckt in Deutschland

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig.

Kapitel 1

 

Nolan wachte auf, weil jemand gegen die Tür hämmerte. Wer immer das war, Nolan wünschte sich, er würde damit aufhören.

Um sein Gehirn kreisten mehrere Pulsare. In seinem Mund steckte aus irgendeinem Grund ein pelziger toter Fisch. So fühlte es sich an.

»Sie haben neue Nachrichten.«

Wie schön. Die VI hatte gemerkt, dass er wach war. Jemand hämmerte immer noch gegen die Tür.

»Boss?«

Das war die Stimme von Scapy. Ganz eindeutig, das war Scapy. Wer auch sonst.

Nolan wälzte sich herum und zog sich die Decke über den Kopf. Konnte er nicht einfach liegen bleiben und in Ruhe sterben? Oder vorher noch mal richtig kotzen.

»Sie haben neue Nachrichten.«

Letzte Nacht… Abgesehen von seinem Mageninhalt, kamen auch ein paar Erinnerungen hoch. Es war eine von diesen langen Nächten gewesen. Sehr lang. Und er hatte sie allein für sich gehabt. Die Nacht und eine ganze Flasche Luciffa Venom.

Also ergab doch alles einen Sinn.

Vielleicht war noch was übrig.

»Boss!«

Ohne die Augen zu öffnen, streckte Nolan versuchsweise den linken Arm aus. Das war schon eine Anstrengung. Er merkte, dass seine Finger ins Leere griffen. Irgendwie erschreckte ihn das. Die Leere, das Nichts. Ihn überkam ein Gefühl von Verlorenheit.

Natürlich lag das an seinen Synapsen. Die waren noch ziemlich angefeuert. Diese Leere, das war eindeutig nur der Rand von seinem Bett.

Ein beruhigender Gedanke.

Er schob sich vorwärts, bis er mit der Hand den Fußboden erreichen konnte. Ein guter, solider Fußboden. Alles hatte seine Richtigkeit. Er fühlte mehligen, feinen Staub und körnigen Dreck an seinen Fingerspitzen.

»Boss! Kundschaft!«

Nolan tastete auf dem Boden herum. Da lagen Dinge. Seine Schuhe. Zumindest einer davon. Eine sehr schwere, sehr große Schrotflinte. Man musste auf sich aufpassen. Er tastete weiter und stieß auf Glas. Hartes, glattes, kühles Glas. Vielleicht hatten noch nicht alle Götter ihn verlassen. Es war das einzig Gute an diesem Dreckloch von einem Planeten: Solches Zeug wie Luciffa Venom war hier auf Ubayd legal.

Unbeholfen hob Nolan die Flasche auf. Er hatte jetzt kein gutes Gefühl mehr. Sie war so leicht. Blinzelnd öffnete er ein Auge. Sonnenlicht, das ihm unerträglich grell vorkam, blendete ihn.

Die Flasche war leer, wie der Raum zwischen den Sternen.

»Boss! Da will einer was kaufen!«

»Dann verkauf es ihm!« ächzte Nolan heiser in Richtung Tür. »Wofür bezahl ich dich.«

»Es gibt vielleicht ein Problem«, sagte Scapy. Er hörte auf, gegen die Tür zu hämmern.

Die Stille fühlte sich herrlich an.

»Sie haben neue Nachrichten.«

In Nolans Verstand formte sich ein einzelner Gedanke, mit großer Klarheit und Intensität. Es war der Gedanke an die absolute Unmöglichkeit, einer VI jemals begreiflich zu machen, wie vollkommen egal ihm seine Nachrichten waren und wie wenig er zu dieser oder jeder anderen Zeit an einer Unterhaltung mit ihr interessiert war.

Und leider konnte er diese VI nicht einfach stumm schalten.

»Boss?«

»Was ist denn?« fragte Nolan genervt.

Scapy senkte die Stimme. Durch die Tür, die Nolan mit Metallplatten verstärkt hatte, war er kaum noch zu verstehen:

»Er sucht einen Schlüssel.«

»Was?«

Nolan konnte den Worten, die er hörte, keine Bedeutung zuordnen. Nicht dass es ihn interessiert hätte. Er fragte nur, damit Scapy nicht wieder anfing, Lärm zu machen. Die Pulsare, die verdammten Kopfschmerzen, wurden schlimmer.

Auf der anderen Seite der Tür war es für einen Moment still. Dann raunte Scapy:

»Einen Schlüssel. Er sucht einen Portalschlüssel.«

»Sag das noch mal«, verlangte Nolan.

»Da ist ein Kunde«, wiederholte Scapy langsam, jedes Wort einzeln betonend, »und der sucht einen –« Er brach ab.

»‒ einen Schlüssel«, ergänzte Nolan.

»Ja.«

Nolan spürte, wie das Blut sich plötzlich in seiner Halsschlagader staute. Seltsam, dachte er.

»Boss?«

»Ja, ja.«

Nolans Verstand begann zu arbeiten, wenn auch träge. Seit zehn Jahren saß er auf Ubayd fest. Das hier war vielleicht die Chance, auf die er die ganze Zeit gewartet hatte.

Er kroch aus dem Bett, zuerst auf Händen und Füßen. Um in eine senkrechtere Lage zu kommen, musste er sich an der Wand abstützen. Als er erst einmal aufrecht stand, ging es besser. Nur die Pulsare. Sie pulsierten. Sie kreisten nicht mehr. Es war eher so, als würden ein paar achtarmige Götter damit Pingpong in seinem Gehirn spielen.

»Hast du ihn überprüft?« fragte er.

Irgendwo musste doch seine Hose liegen.

»Ja«, antwortete Scapy. »Er heißt Garv Harris, Kapitän des Raumfrachters Fiona.«

»Hat er das gesagt?«

»Nein. Er hat nichts weiter gesagt. Ich bin die Liste der Schiffe durchgegangen, die im Raumhafen liegen, und habe die biometrischen Holos der Kommandanten in den Akten verglichen. Er ist entweder Garv Harris oder sein Zwillingsbruder.«

»Die Kommandanten? Wie bist du denn da drauf gekommen?« fragte Nolan, während er sich weiter anzog. Er befand sich gerade nicht in optimaler geistiger Verfassung, aber wenn sich jemals ein Raumschiffkommandant in seinen Laden verirrt hätte, würde er sich bestimmt daran erinnern. Zu ihm kamen Mechaniker, selten mal ein Bordingenieur. Händler wie er machten eine Drecksarbeit, die sich kaum lohnte. Sie umkreisten den Raumhafen wie hungrige Aasfresser und suchten sich aus dem Schrott, der abfiel, das heraus, was irgendwie noch wieder brauchbar gemacht werden konnte, bevor der Rest in die Schmelzöfen wanderte. Niemand kam dabei auf seine Kosten, wenn er sich streng an die Regeln hielt. Aus Sicht der Planetaren Regierung trug Nolan dazu bei, die Effizienz der Ressourcenverwertung zu erhöhen. Deshalb wurde er geduldet, aber mehr auch nicht.

»Mir kam es so vor, als ob er in eigener Sache hier ist«, sagte Scapy. »Deshalb dachte ich, dass er vielleicht ein Schiff hat. Wofür braucht er sonst einen Schlüssel?«

Auch wieder wahr.

Ein Portal war ein ringförmiges Tor im Weltall, das ein Wurmloch öffnete und dadurch interstellare Reisen ermöglichte. Man konnte entweder einen beliebigen Punkt im Raum ansteuern, bis zu einer gewissen Entfernung, oder ein anderes Portal, das mit dem Netz verbunden war. Die Reichweite erhöhte sich dann beträchtlich. Das Portalnetz unterstand der Kontrolle des Militärs. Die Flotte hatte immer Priorität. Wenn ein ziviles Schiff die Portale benutzen wollte, brauchte es dafür einen Schlüssel.

»Sag ihm, ich komme gleich.«

»Er wartet schon ziemlich lange, Boss.«

Scapy ging. Nolan wischte eine Dreckschicht von dem Spiegel an der Wand. Nein, der Spiegel war nicht sein Freund. Er versuchte, sein Äußeres in einen etwas weniger erbärmlichen Zustand zu bringen. Die Finger dienten ihm als Kamm. Allerdings war das kein Ersatz für eine Dusche, eine Rasur, einen Haarschnitt und eine Ausnüchterungskur. Nach ein paar Versuchen gab er es auf.

Er tippte den aktuellen Code in das Zeitschloss an seiner Wohnungstür. Das musste er langsam machen, weil dabei ein Tiefenmuster seines Fingers genommen wurde, einschließlich Pulskontrolle und Fingerabdruck. Die massiven Riegel schnappten zurück und die Tür öffnete sich. Er wohnte nun einmal nicht in der besten Gegend.

Noch unsicher auf den Beinen, folgte er Scapy die Treppe hinunter in den Laden. Ansonsten machten ihm nur die Kopfschmerzen zu schaffen, und ein latenter Brechreiz. Etwas in seinem Magen wollte unbedingt hochschwappen. Noch einmal tief durchatmen, dann betrat er seinen Verkaufsraum.

In den Regalen an den Wänden stapelten sich Teile von Raumschiffen: Eine Membranpumpe, die vor der letzten irdischen Eiszeit mal ihren Dienst in einer Steuerdüse geleistet hatte, eine nur ganz leicht gerissene Turbinenschaufel, bei niedrigen Umdrehungen noch gefahrlos einsetzbar, jede Menge Kabel, Stecker und Schläuche, Schutzbleche und elektronische Komponenten, bei denen Nolan selbst nicht gewusst hätte, ob sie aus einem Gyroskop stammten oder aus einer Vakuumtoilette. Alles gebraucht, ohne Garantie, Preis Verhandlungssache. Was klein genug war, um es in die Tasche zu stecken und damit wegzulaufen, lag hinter Gittern.

Durch die schmalen, ebenfalls vergitterten Fenster fiel das Licht der rötlichen Sonne in langen Streifen, die den Raum insgesamt in ein Dämmerlicht tauchten. Der Laden war eine kleine Festung.

Nolan hätte einfach tun können, was andere Ladenbesitzer taten: Sie zahlten Schutzgeld an die richtigen Leute, damit nicht dauernd bei ihnen eingebrochen wurde. Das ging Nolan gegen den Strich. Er hatte stattdessen in monatelanger Arbeit Titanstahl mit einem Schweißbrenner aus dem Wrack eines Raumschiffs geschnitten, sich daraus Gitter, Riegel, Panzerplatten und andere Verstärkungen hergestellt und den ganzen Laden damit verrammelt. Er hatte auch die besten Sicherheitsschlösser eingebaut, die er sich leisten konnte, und er hatte sich eine Waffe gekauft. Bis jetzt funktionierte es.

Scapy saß hinter dem Tresen und tat so, als wäre er beschäftigt, während seine ganze Beschäftigung in Wirklichkeit darin bestand, den einzigen Kunden, der sich im Laden aufhielt, im Auge zu behalten.

Das war also Kapitän Harris, dachte Nolan. Zuerst fiel ihm sein Gesicht auf. Es wirkte blass. Auf Ubayd erkannte man daran die Außenweltler und die Raumfahrer. Seine Kleidung war staubverkrustet, wie alles auf diesem dreckigen Planeten, von den Arbeitsstiefeln bis zu der abgewetzten Jacke mit altmodischen Messingknöpfen. Auch sein Haar war staubig und vom Wind zerzaust, denn Harris trug keine Kopfbedeckung. Das war ungewöhnlich. Kaum jemand ging aus dem Haus, ohne sich auf irgendeine Weise gegen die sengenden Strahlen der Riesensonne und den Staub in der Atmosphäre zu schützen. Wenn er ein Raumkapitän war, trug er sonst wahrscheinlich eine Mütze mit Rangabzeichen und hatte sie abgenommen, um nicht erkannt zu werden.

Noch etwas fiel Nolan an den Haaren auf. Kapitän Harris war auf dem Kopf schon ziemlich grau. Das sah man selten. Gegen graue Haare konnte man Pillen schlucken. Die meisten Leute machten das. Vielleicht war Harris nicht eitel. Oder das Grau gefiel ihm. Oder er kam gerade aus dem All zurück und hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich darum zu kümmern.

»Was kann ich für sie tun?« fragte Nolan.

»Sagen Sie es mir.«

Die Stimme des Kapitäns klang trocken und sachlich. Weder ein Zeichen von Ungeduld noch Verärgerung darüber, dass er so lange hatte warten müssen.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich richtig verstanden habe, worum es geht«, sagte Nolan.

»Was haben Sie denn verstanden?« fragte Harris.

»Dass wir über etwas sprechen, das nicht ganz billig ist.«

»Manche Dinge haben ihren Preis.«

Nolan war vollkommen klar, was er jetzt eigentlich tun sollte. Er sollte vorsichtig sein. Am besten wäre es, wenn er Harris den Vorschlag machte, dass er sich wegen der Sache mal umhören würde. Bei einem zweiten oder dritten Treffen konnte man vielleicht über den Preis sprechen. Und dann musste man weitersehen. Geduld. Vorsicht. Auch ein Raumkapitän konnte für die Planetare Sicherheit arbeiten.

Es war nur so, dass er viel zu schlimme Kopfschmerzen hatte, um sich darüber Sorgen zu machen. Außerdem war es ihm in diesem Moment ganz einfach egal. Das hier war seine Chance, genug Geld für eine Passage zu verdienen. Genug Geld, um von Ubayd wegzukommen.

»Ich habe etwas im Lager, das ich Ihnen zeigen kann«, sagte er.

»Gut.«

Harris war keine Emotion anzumerken, keine Freude, keine Überraschung, kein Misstrauen. Nolan fiel es schwer, ihn einzuschätzen.

Auf jeden Fall wollte er diese Sache nicht im Verkaufsraum erledigen. Er hielt es auch für besser, wenn Scapy nicht dabei war. Das würde für alle Beteiligten sicherer sein, falls später mal jemand Fragen stellte.

»Hier entlang.«

Er führte den Kapitän durch die Hintertür, an der Werkstatt vorbei, zur Kellertreppe.

»Nach Ihnen.«

Ohne zu zögern, als wäre er bei alten Bekannten, stieg der Kapitän vor Nolan die steile Treppe hinunter. Im Keller befand sich das Lager. Sehr groß war es nicht. Es roch nach Schmiermitteln und versengtem Isolierschaum. Das schwache künstliche Licht hätte in den dunkleren Ecken kaum ausgereicht, um eine Beschriftung zu entziffern, was ziemlich egal war, weil Nolan sich nie die Mühe gemacht hatte, hier unten etwas zu beschriften.

»Warten Sie.«

Nolan ging allein weiter, an den vollgepackten Regalen vorbei, und blieb bei einer unscheinbaren Kiste stehen. Bevor er sie öffnete, vergewisserte er sich, dass Harris ihn nicht sehen konnte.

Die Kiste diente als Tarnung für einen Tresor, der sich darunter befand. Er war fest im Fundament des Gebäudes verankert. Nolan hatte ihn eigentlich in seiner Privatwohnung über dem Laden aufstellen wollen, aber es war einfacher gewesen, das schwere Ding die Treppe herunter als herauf zu schaffen. Und es machte sowieso keinen Unterschied. Bis auf eine einzige Sache lag in dem Tresor nichts Wertvolles.

Er öffnete ihn, wozu er zwei zeitabhängige Codes eingeben musste, und holte einen kleinen Gegenstand hervor, der in ein Tuch eingewickelt war. Den Tresor ließ Nolan offen. Vorsichtshalber stellte er die Tarnung durch die Kiste wieder her, bevor er zu Harris zurückkehrte.

»Lassen Sie sehen«, drängte der Kapitän.

Behutsam wickelte Nolan den Gegenstand aus. Er war flach, rechteckig und etwa so groß wie seine Hand. Auf der Oberfläche, die je nach Einfallwinkel des Lichts schwarz oder dunkelviolett schimmerte, zeichneten sich komplexe Strukturen ab. Sie verschwammen vor Nolans Blick, aber er wusste, dass sie da waren. Sie mussten da sein. Ein verwirrendes Spiel sich kreuzender Linien.

»Funktioniert er?« fragte Harris.

»Ich habe keine Möglichkeit, ihn zu testen«, antwortete Nolan. Das entsprach der Wahrheit. »Aber er sieht gut aus, oder nicht? Saubere, glatte Linien, keine Lücken. Die Versiegelung ist noch intakt.« Er hörte auf zu reden. Ihm war so verflucht schlecht.

Portalschlüssel arbeiteten mit Quantenverschränkungen, ließen sich also weder fälschen noch kopieren. Die Linien auf der Oberfläche dienten dazu, eine mögliche Degeneration der Versiegelung rechtzeitig sichtbar zu machen, bevor es zu einer Verunreinigung kam oder kritische Atome entwichen. Falls es dazu kam, war es zu spät. Dann konnte man sich das Ding höchstens noch als Dekoration an die Wand hängen.

Harris nahm den Schlüssel, hielt ihn sich dicht vor die Augen und drehte ihn etwas zum Licht, um die Oberfläche nach Anzeichen für eine Beschädigung abzusuchen. Die Linien, die auf ähnliche Weise entstanden wie Asterismen auf manchen Edelsteinen, schienen intakt zu sein. Die einzige Abweichung wies der Schlüssel an einem kleinen Metallinlay auf, wo die Seriennummer so fein säuberlich ausgetilgt worden war, dass es aussah, als wäre er fabrikneu und hätte nie eine Seriennummer gehabt.

Es ging hier um sehr viel Geld. Nolan hatte keine Ahnung, wie hoch der offizielle Preis für einen Portalschlüssel lag. So etwas wurde in Hinterzimmern ausgehandelt. Die Summen mussten enorm sein, denn auf diesem Weg wurde der interstellare Handel an den Kosten für das Portalnetz beteiligt. Leisten konnten sich das nur große Konzerne. Was die einmal in den Händen hatten, gaben sie nicht wieder her, schon gar nicht, wenn sie es so teuer bezahlt hatten. Es gab keinen Markt für gebrauchte Portalschlüssel. Es sei denn, es tauchte mal einer auf, der gestohlen war.

Nolans Laden hatte wenig Ähnlichkeit mit der Zentrale eines interstellaren Konzerns. Kapitän Harris konnte unmöglich glauben, dass Nolan auf legalem Weg in den Besitz dieses Schlüssels gelangt war.

Harris ließ sich Zeit mit der Begutachtung. Endlich sagte er:

»Ich trage also das Risiko, dass er defekt ist.«

»Ja«, sagte Nolan offen heraus. »So ist es. Sie könnten auch einen Schlüssel bei der Flotte kaufen. Ansonsten ist dieser hier der Einzige, den Sie auf Ubayd finden werden. Das kann ich Ihnen garantieren.«

In dem Punkt war er sich völlig sicher. Ubayd war im Grunde nur ein Flottenstützpunkt. Es gab den Raumhafen, der überwiegend militärisch genutzt wurde, und die Stadt, die daneben entstanden war. Weil es die einzige Stadt auf dem Planeten war, und weil phantasielose Bürokraten über so etwas entschieden, hieß sie ebenfalls Ubayd. Es gab da draußen noch ein paar einsame Bergwerke, aber das war’s auch schon. Die gesamte Einwohnerzahl von Ubayd belief sich auf knapp 300.000 Menschen. Wenn mal ein interstellares Handelsschiff eintraf, war das ein Ereignis.

Der Umstand, dass der Schlüssel gestohlen war, machte ihn nicht automatisch wertlos. Nolan war Mechaniker, kein Physiker. Er wusste darüber nur das, was allgemein bekannt war: Quantenverschränkungen konnte man nicht auslesen, ohne sie zu zerstören. Deshalb war es physikalisch unmöglich, einen gestohlenen Schlüssel von der Portalseite her zuverlässig zu sperren. Man konnte ihn über die Verschränkungen nicht von anderen Schlüsseln unterscheiden.

»Nennen Sie mir Ihren Preis«, sagte Harris.

Seit Jahren war Nolan auf der Suche nach einem Käufer für den Schlüssel. Ein paar lächerlich niedrige Angebote hatte man ihm gemacht, aber da hätte er das Ding lieber eingeschmolzen. Einer von den Schwarzmarkthändlern, an die er sich gewandt hatte, musste Harris den Tipp gegeben und ihn zu ihm geschickt haben.

Was sollte er verlangen?

Er brauchte das Geld für eine Passage. Genug für einen interstellaren Flug zu einem der Zentren menschlicher Zivilisation. Außerdem Startkapital für den Neuanfang auf einer anderen Welt. Sonst ließen sie ihn gar nicht erst rein. Den Laden würde er verkaufen. Was würde das bringen? Wahrscheinlich nicht viel. Das Gebäude gehörte ihm nicht. Es hatte leer gestanden und er hatte es übernommen. Die Lizenz, die ihm das Recht dazu gab, war nicht so einfach übertragbar. Blieben noch die Waren in seinem Lager. Das meiste davon war Schrott. Ein paar hochwertigere Ersatzteile waren dabei. Nur fehlten ihm dafür meistens die Herkunftsnachweise. Vielleicht konnte man bei der Lizenz noch was drehen.

Wenn Harris ihm 200 MUN zahlte, überlegte Nolan, würde für ihn nach dem Verkauf des Ladens und nach Abzug der Passage eine nette Summe übrig bleiben. Er rechnete in MUN, wie in der Raumfahrt üblich. Das war die übergeordnete Währung, die von allen menschlichen Kolonien und auch von einigen nichtmenschlichen Völkern für den interstellaren Handel benutzt wurde. Für die lokale Wirtschaft hatte jeder Planet seine eigene Währung. Wenn man es umrechnete, war 1 MUN schon mehr, als ein gewöhnlicher Arbeiter in einem Erdenmonat verdiente.

Das Problem war, dass Harris überhaupt nichts zahlen würde, wenn er nicht mehr daran glaubte, dass der Schlüssel funktionsfähig war. Deshalb durfte er keinen zu niedrigen Preis verlangen. Ein funktionierender Portalschlüssel, gestohlen oder nicht, war ein Vermögen wert. Den würde niemand verschenken. Harris musste glauben, dass Nolan glaubte, dass der Schlüssel funktionierte.

»1.000 MUN«, sagte Nolan.

»Ich gebe Ihnen 50«, entgegnete Harris kalt.

Nolan war erleichtert, dass Harris ihm überhaupt ein Angebot machte. Selbstverständlich durfte er das nicht zeigen. Er musste im Gegenteil über eine so niedrige Summe verärgert sein.

»Reden wir ernsthaft«, sagte er. »Machen Sie mir ein realistisches Angebot.«

»Ja«, stimmte Harris ihm zu. »Kürzen wir es ab. Ihnen ist doch klar, dass dies ein riskantes Geschäft ist?«

»Und ist Ihnen klar, was dieser Schlüssel wert ist?« hielt Nolan dagegen.

»Beweisen Sie mir, dass er funktioniert«, sagte Harris.

Für so eine Verhandlung war Nolan nicht in der richtigen Verfassung. Es kostete ihn schon genug Kraft, sich nur auf den Beinen zu halten. Er glaubte nicht eine Sekunde, dass Harris auf eigene Rechnung handelte. Selbst wenn er wohlhabend war, wenn er Anteile an seinem Schiff besaß, würde er nicht 50 MUN aus seinem eigenen Vermögen riskieren, um von einem dubiosen Händler einen gestohlenen und vielleicht defekten Portalschlüssel zu kaufen. Hinter ihm mussten Geldgeber stehen, für die der Verlust einer solchen Summe nicht ins Gewicht fiel.

»Wie weit können Sie gehen?« fragte Nolan.

»Sie wollen mein letztes Wort hören?«

»Ja.«

»Mein letztes Wort sind 100 MUN.«

Für diese Summe konnte man eine Passage nach Delion kaufen. Es wäre genug. Aber Nolan brauchte noch etwas Kapital, und überhaupt durfte er das Angebot nicht annehmen. Vielleicht wollte Harris ihn damit nur testen. Wenn Nolan wirklich davon überzeugt war, dass der Schlüssel funktionierte, würde er nicht so schnell nachgeben.

»Das kann ich nicht machen«, sagte er.

»Dann kommen wir nicht ins Geschäft.«

»Bedauerlich«, sagte Nolan. »Sie wollen den Schlüssel. Ich will ihn verkaufen. Zwei vernünftige Menschen sollten eine Lösung finden.«

Harris hielt den Schlüssel noch in der Hand. Dieses kleine Gerät, würde es funktionieren, wäre der Zugang zum Portalnetz der Menschheit, zu Millionen Kubiklichtjahren Raum, zu Hunderten Kolonien, zu unbegrenzten Möglichkeiten. Noch einmal sah sich der Kapitän die völlig intakten Linien an. Dann gab er Nolan den Schlüssel zurück.

»Ich gehe jetzt«, sagte er. »Sie denken noch einmal über den Preis nach, und ich auch, und wenn ich wiederkomme, werden wir uns vielleicht einig.«

Das gefiel Nolan nicht besonders. Warum wollte Harris gehen? Um ihn unter Druck zu setzen? Um mit seinen Geldgebern Rücksprache zu nehmen? Um ihn an die Planetare Sicherheit zu verraten?

Nolan zwang sich zu einem gleichgültigen Achselzucken:

»Wie Sie wollen.«

Er wickelte den Schlüssel wieder in das Tuch ein. Anstatt ihn gleich zurück in den Tresor zu legen, steckte er ihn in die Tasche. Harris sollte nicht davon ausgehen, dass er wusste, wo Nolan den Schlüssel aufbewahrte.

Sie kehrten in den Verkaufsraum zurück. Nolan brachte den Kapitän zur Tür. Keiner von ihnen machte einen Versuch, die Verhandlung wieder aufzunehmen. Sie gingen auseinander wie Männer, die nicht unbedingt damit rechneten, den anderen noch einmal wiederzusehen, und denen auch nicht sehr viel daran gelegen war.

»Wie ist es gelaufen, Boss?« fragte Scapy, als sich die Tür hinter Harris geschlossen hatte.

»Weiß ich noch nicht.«

Scapy tat jetzt nicht mehr so, als ob er beschäftigt wäre. Er schaltete den Bildschirm auf dem Tresen, der eigentlich für die Arbeit gedacht war, auf einen der Nachrichtenkanäle um und sah sich die neueste Kriegspropaganda an. Das Netz war voll davon. Überall Krieg. Von dem Lenaady-Skandal, der Ubayd angeblich in die schwerste politische Krise seit wer weiß wann gestürzt hatte, sprach niemand mehr.

Vor ein paar Monaten hatten die Caithra begonnen, menschliche Kolonien anzugreifen. Eine jahrzehntelange Periode des Friedens war damit zu Ende.

Idiotisch, dachte Nolan. Als ob das Weltall nicht groß genug wäre.

Durch das Portalnetz konnten auch Informationen fast ohne Zeitverlust über interstellare Distanzen übertragen werden. Deshalb war es kein Problem, auf Ubayd, tausende Lichtjahre von den Kampfgebieten entfernt, aktuelle Berichte über den Krieg zu erhalten. Natürlich unterlagen diese Berichte der Kontrolle durch das Militär, denn das Militär kontrollierte das Portalnetz.

Persönlich ging der Krieg Nolan nichts an. Das war alles weit weg. Und die Menschen, was immer man sonst über sie sagen konnte, besaßen eine ziemlich mächtige Flotte. Die Caithra würden diesen Angriff noch bereuen.

Nolan konnte der Versuchung nicht widerstehen, auch einen Blick auf das Propagandavideo zu werfen. Die Caithra waren vierarmige, aufrecht gehende Herpetoide. Technologisch hoch entwickelt.

Der Anblick dieser Wesen, mit ihren intelligenten, völlig fremdartigen feuchtgrünen Augen, war der eine kleine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nolan sank mitten im Laden in die Knie und kotzte sich die Seele aus dem Leib.

»Alles in Ordnung, Boss?« fragte Scapy.

Nolan glaubte, eine Spur von Sarkasmus in seiner Stimme zu hören.

»Wieso?« keuchte er lahm. »Was soll sein?«

Der Geruch, der ihm in die Nase stieg, war widerlich. Der saure Geschmack in seinem Mund war auch nicht besser. Aber da war nichts mehr in seinem Magen, was er noch hätte auskotzen können.

»Ich geh mal«, sagte er, »und nehm ’ne Dusche.«

»Gute Idee, Boss.«

Scapy holte einen Eimer Wasser, um die Sauerei zu beseitigen. An manchen Tagen war Nolan ganz froh, dass er ihn damals eingestellt hatte.

 

»Sie haben neue Nachrichten«, erinnerte ihn die VI.

Nolan seufzte. In seinem Schlafzimmer, das auch sein Wohnzimmer war, sah es aus wie nach einer verdammten Invasion.

Was hatte er sich dabei gedacht.

Er vermied es, in den Spiegel zu blicken. Wenn er einen Wunsch hatte, dann nur den, so lange unter einer kalten Dusche zu stehen, bis die Kopfschmerzen nachließen.

Genau das tat er auch. Es funktionierte, einigermaßen. Kaltes Wasser und Zeit. Er hätte auch ein paar Pillen schlucken können, aber Pillen und Luciffa Venom waren keine besonders gute Kombination.

Irgendwann fühlte sich sein Kopf wieder halbwegs normal an. Ihm war immer noch schlecht, und ihm war kalt, und er hatte Hunger. Trotzdem betrachtete er das als einen Fortschritt.

Was war gerade passiert? Jemand war zu ihm gekommen und hatte ihm 100 MUN für den Portalschlüssel geboten. Für ein Stück Schrott. Nolan war sich beinahe sicher, dass der Schlüssel defekt war. Er hatte seine Gründe, das zu glauben.

100 MUN. Genug Geld für eine Passage zu einem Planeten, auf dem man leben konnte, ohne wahnsinnig zu werden. Darauf hatte er 10 Jahre gewartet. Standard-Erdenjahre. Auf Ubayd dauerte ein Jahr nur 116 Tage, dafür dauerte ein Tag 41 Stunden. Ein furchtbarer Planet.

»Sie haben neue Nachrichten.«

Der Portalschlüssel und die VI. Das waren die beiden Dinge, die ihm noch geblieben waren, die ihn an sein altes Leben erinnerten.

Er war auf Horegond geboren worden, einer jungen Agrarkolonie. Ihm war es vorgekommen wie der langweiligste Ort im Universum. Eine Passage zu einem anderen Planeten hätte er sich nie leisten können. Subventioniert wurde die Auswanderung nur auf der Erde, und auf ein paar anderen Welten mit Überbevölkerung. Horegond war ein halb gescheitertes Kolonialprojekt, das verzweifelt versuchte, Zuwanderer anzulocken.

Eine einzige Möglichkeit hatte es jedoch gegeben. Er konnte sich zum Mechaniker ausbilden lassen und auf einem interstellaren Raumschiff anheuern. Man würde ihn noch dafür bezahlen, dass man ihn zu einem Planeten brachte, auf dem es sich leben ließ. So hatte er sich das gedacht. Seine Freunde hatten ihn ausgelacht und ihm gesagt, dass er nie von Horegond wegkommen würde. Aber er hatte die Sache durchgezogen.

Allein hätte er es sicher nicht geschafft. Er hatte einen guten Lehrer gehabt. Wenn der ihn jetzt sehen könnte.

Als er 18 Jahre alt war, bei der ersten Gelegenheit, hatte er sich um eine Stelle auf einem Raumschiff beworben. Er war angenommen worden, auf einem interstellaren Handelsschiff. Die Griffin. Sein erster Flug sollte zum Delion-System gehen.

Es hätte alles so einfach sein können. Er war eben noch sehr jung gewesen. Grün hinter den Ohren. Damals hatte er ein echtes Problem damit, wenn ihm jemand sagte, was er tun oder lassen sollte. Welche Rolle spielte es, wie er einen Job erledigte, solange er ihn erledigte? Aber die Kommandantin der Griffin, Meret Saikhs, mögen die Götter sie verfluchen, hatte ein Problem damit, wenn jemand nicht tat, was ihm gesagt wurde. Das passte nicht zusammen.

Scheiß Erinnerungen. Wer hätte gedacht, dass sie ihn einfach rausschmeißen würde? Sie hatte ihn beim Zwischenhalt im System von Ubayd knallhart in diesem Dreckloch sitzen lassen.

Seitdem war er hier. Er hatte die Griffin nicht mit leeren Händen verlassen. Natürlich hatte man ihm bei seinem Rauswurf alle Zugangsberechtigungen entzogen. Sie wussten ja nicht, dass er sich längst eine Kopie der Schiffs-VI besorgt hatte. Das war eine schwerwiegende Sicherheitslücke. Wenn er sich damit ausgekannt hätte und sich rächen wollte, hätte er mit der VI und ihren Autorisierungscodes sonst was anstellen können. Er hatte sich aber nur Zugang zu einem gesicherten Lager verschafft, ohne bestimmte Absicht, einfach aus Wut auf Saikhs. Es war ein Akt der Rebellion. Ihm war auch noch gar nicht klar gewesen, dass er vielleicht für den Rest seines Lebens auf Ubayd festsitzen würde. Er hatte gedacht, dass er früher oder später auf einem anderen Schiff anheuern könnte. Von einer Schwarzen Liste hatte er da noch nie was gehört.

Allerdings hatte er gewusst, dass sich in dem gesicherten Lager ein ausgedienter Portalschlüssel befand. Die Versiegelung eines Schlüssels war selbst in fabrikneuem Zustand nicht perfekt. Sie konnte die kritischen Partikel aus physikalischen Gründen nicht für unbegrenzte Zeit einschließen. Das hatte etwas mit Tunneleffekten zu tun. Dabei ging es um Wahrscheinlichkeiten von quantenmechanischen Ereignissen. Ein Portalschlüssel besaß eine Art Halbwertszeit, wie radioaktive Elemente. Die Lebensdauer war auf Jahrzehnte angelegt und konnte innerhalb einer Baureihe, bei Geräten, die aus der gleichen Fertigung stammten, um Monate oder sogar Jahre variieren. Nolan hatte das später gründlich recherchiert.

Der Punkt war, dass Portalschlüssel eine statistische Lebenserwartung besaßen. Der Schlüssel auf der Griffin hatte diese überschritten und war deshalb ausgetauscht worden. Auch wenn er damals noch funktioniert hatte, waren seitdem 10 weitere Jahre vergangen. Er konnte nicht mehr funktionieren. Es war praktisch unmöglich. Die Versiegelung sah noch intakt aus, aber das erklärte sich Nolan damit, dass der Schlüssel in einem Tresor in seinem Keller lag, wo er, anders als auf einem Schiff, keiner Strahlung oder starken Magnetfeldern ausgesetzt war.

Wie dem auch sein mochte, Nolan hatte ihn damals an sich genommen und von Bord geschmuggelt. Ansonsten hätte man den ausgedienten Schlüssel auf Delion entsorgt. Da konnte er mehr damit anfangen. Hatte er gedacht.

Wahrscheinlich hatte man das Fehlen des Schlüssels erst bemerkt, als die Griffin das System von Ubayd längst wieder verlassen hatte. Natürlich war danach auch auf Nolan ein Verdacht gefallen. Wochen später hatte die Planetare Sicherheit auf Ubayd ihn deswegen befragt. Er hatte angegeben, nichts darüber zu wissen. Jedes andere Mitglied der Besatzung hätte sich Zugang zu dem Schlüssel verschaffen können, während er ja keine Berechtigung mehr hatte. Auf der Griffin gab es auch zahlende Passagiere. Viele mögliche Verdächtige.

Nolan hatte nie wieder von der Sache gehört. Aus Vorsicht hatte er Jahre gewartet, bevor er versucht hatte, den Schlüssel zu verkaufen. Diese Bemühungen waren erfolglos geblieben. Wer auf Ubayd besaß genügend Geld und hatte Interesse an einem gestohlenen Portalschlüssel?

»Sie haben neue Nachrichten.«

Er massierte sich die Schläfen.

»Nachrichten abspielen«, sagte er.

»Sie haben eine Nachricht mit hoher Priorität.«

»Abspielen«, wiederholte er ärgerlich.

»Reservist Nolan Vessoa«, las die VI in freundlich lockerer Modulation vor, »ohne Bürgerrecht auf Ubayd. Hiermit werden Sie darüber informiert, dass gemäß der Resolution des Direktoriums der Äußeren Welten von 06-08-4361 ab sofort auf allen Planeten, Monden und in sonstigen Kolonien, die im Direktorium vertreten sind, oder die gemäß den Artikeln 126 oder 178 im Vertrag von Fargun in einem Schutzverhältnis stehen, oder die nach Artikel 249 angegliedert wurden, der allgemeine Kriegszustand herrscht.

Gemäß Paragraph 37b der Planetaren Verteidigungsgesetze von Ubayd sind alle Reservisten nach Aufforderung durch die Planetare Regierung verpflichtet, sich spätestens innerhalb von 10 Tagen persönlich bei der zuständigen Einberufungsstelle zu melden. Wenn Sie dieser Aufforderung nicht bis 14-09-4361 nachkommen, unterliegen Sie den Strafbestimmungen gemäß Paragraph 39 der Planetaren Verteidigungsgesetze.«

 

Kapitel 2

 

»Warum bist du der Reserve beigetreten, Boss?« fragte Scapy.

Nolan starrte düster vor sich hin. Er konnte es immer noch nicht fassen.

»Ich hatte keine Wahl.«

Sie saßen in der Werkstatt. Hier stapelte sich das Zeug, das Nolan demnächst reparieren wollte. Manches wollte er seit Jahren demnächst reparieren.

Den Stuhl weit nach hinten gekippt, hatte er ein Bein auf die Werkbank gelegt, mit dem anderen stemmte er sich dagegen und hielt so das Gleichgewicht. Er versuchte zu denken.

Scapy warf ihm einen zweifelnden Blick zu.

»Was hätte ich tun sollen?« herrschte Nolan ihn an. »Mich mit einem Schild in der Hand an die Straße stellen?«

Gekränkt wandte Scapy sich ab und schwieg.

Mist. Das hätte ich nicht sagen sollen, dachte Nolan.

Manchmal ging Scapy ihm auf die Nerven. Aber er war schon in Ordnung. Nolan hatte ihn vor ungefähr vier Jahren eingestellt, als der Laden endlich angefangen hatte, etwas Geld abzuwerfen. Scapy hatte mit einem Schild in der Hand an der Straße gestanden: Arbeite für Essen. Eine zerlumpte, ausgehungerte Gestalt, wie die anderen Penner. Er hatte nicht gewusst, wie man einen Lötkolben hält, aber er hatte stundenlang Rost – und ein paar Seriennummern – von alten Ersatzteilen geschliffen, ohne sich zu beschweren, und er hatte nicht versucht, ihn zu bestehlen. Seitdem arbeitete er für Nolan. Er wohnte auch im Laden. Nolan hatte ihm erlaubt, sich neben dem Verkaufsraum eine kleine Schlafkammer einzurichten. Das war praktisch, denn so konnte Scapy rund um die Uhr den Laden bewachen.

»Ich habe kein Bürgerrecht«, beantwortete Nolan nach langem beiderseitigem Schweigen Scapys Frage. »Ich musste mich als Reservist registrieren lassen, um die Genehmigung für den Laden zu kriegen.«

»Für die Lizenz?« fragte Scapy.

Das war eine seiner guten Eigenschaften. Er war nie lange beleidigt.

»Ja.«

Wieder Schweigen.

Ausgerechnet jetzt, dachte Nolan, da er vielleicht eine Chance hatte, den Schlüssel zu verkaufen, musste das passieren. Schlimmer konnte es gar nicht kommen. Verdammte Caithra. Verdammte Regierung.

»Boss?«

»Was?«

»Könnte ich eine Lizenz für ein Geschäft kriegen, wenn ich mich zur Reserve melde?« fragte Scapy.

»Soll das ein Witz sein?«

»Ich hätte das wahrscheinlich gemacht«, sagte Scapy, »wenn ich gedacht hätte, dass die mich nehmen.«

»Deshalb bist du nicht in der Reserve?« fragte Nolan ungläubig. »Weil du gedacht hast, die würden dich nicht nehmen? Du hast keine Ahnung, wie die Dinge laufen. Aber sei froh. Sonst hätten sie dich auch eingezogen.«

Scapy schien ihm nur halb zugehört zu haben.

»Die Typen, die ich früher kannte«, sagte er, mit einem Ausdruck, den sein Gesicht manchmal annahm, wenn er an seine Vergangenheit dachte, »die Typen, die sich registrieren ließen, das waren die Türsteher vor den Bars und vor den Bordellen. Die haben das für die Waffenlizenz gemacht. Das war nicht meine Liga.«

»Darum geht’s doch gar nicht«, sagte Nolan. »Das spielt überhaupt keine Rolle. Warum, glaubst du, haben die mich eingezogen?«

»Du bist Mechaniker, Boss. Mechaniker werden im Krieg gebraucht.«

»Du meinst, die fliegen mich dreitausend Lichtjahre weit an die Front, weil unserer Flotte ein Mechaniker fehlt? Und unsere Elite-Spezialeinheiten da draußen holen sich ein paar Türsteher von Ubayd zur Hilfe. Die treten den Caithra dann kräftig in den Arsch. So wird’s sein.« Allmählich redete Nolan sich in Fahrt. »Die wollen Typen wie mich loswerden. Darum geht es. Die Planetare Regierung. Wenn du zur Reserve gehst, verpflichtest du dich nicht bei der Flotte, sondern bei der Regierung von Ubayd. Die zwingen uns doch praktisch dazu. Alle, die kein Bürgerrecht haben. Alle, die in ihren automatisierten Fabriken nicht gebraucht werden und trotzdem essen wollen. Alle, die nur stören. Ohne die Registrierung gibt’s keine Arbeitsgenehmigungen, keine Lizenzen, gar nichts. Die Kriegserklärung durch das Direktorium ist für sie nur die Gelegenheit, auf die sie gewartet haben. Wir werden alle eingezogen und in den nächsten Truppentransporter gesteckt, sogar auf Kosten der Flotte. Problem gelöst! Das ist eine Säuberungsaktion.«

Scapy dachte darüber nach. Nolan wunderte sich über ihn. Für jemanden, der auf Ubayd geboren war, unter einem politischen System, das ihn sein ganzes Leben lang benachteiligt hatte, fiel es ihm manchmal erstaunlich schwer, die Zusammenhänge zu durchschauen. Dabei hatte man es im letzten Sugbaki-Krieg auch schon so gemacht. Das war vor Nolans Zeit gewesen, doch man musste nur mit den Leuten reden, die alt genug waren, um sich daran zu erinnern. Von den Reservisten, die sie damals in den Krieg geschickt hatten, war kaum einer nach Ubayd zurückgekehrt. Sie waren entweder gefallen, oder sie hatten sich nach dem Kriegsende als Veteranen auf anderen Kolonialwelten niedergelassen. Im Netz gab es natürlich kaum Informationen darüber, schon gar keine zuverlässigen.

»Aber die Regierung von Ubayd kann dieses Spiel doch nicht allein spielen«, sagte Scapy nach einer Weile. »Die Flotte holt die Reservisten ab, die eingezogen werden.«

»Ja, sicher.«

»Also braucht die Flotte die Reservisten auch«, folgerte Scapy. »Sonst würden die das nicht machen. Es ist doch ein großer Aufwand, jemanden dreitausend Lichtjahre weit an die Front zu fliegen.«

»Wenn die Flotte uns braucht, dann als Kanonenfutter. Weißt du, wie man Reservist wird? Man unterschreibt einen beschissenen Vertrag. Das ist alles. Es gibt keine Ausbildung. Es gibt auch kein Geld. Das ist reine Verarschung. Aber nicht mit mir.«

»Hast du einen Plan, Boss?«

»Ja! Ja, allerdings! Ich mache da nicht mit.«

»Das ist der Plan?«

»Mir fällt schon noch was ein.«

Nolan war längst alle Möglichkeiten im Kopf durchgegangen. Allzu viele waren es nicht. Vielleicht konnte er einen Arzt finden, der ihn für untauglich erklärte. Damit würde er sich jedoch höchstens etwas Zeit kaufen. Man würde ihn von einem Militärarzt untersuchen lassen, und das war es dann. Um wirklich untauglich zu werden, hätte er in den letzten Jahren noch wesentlich mehr saufen müssen.

Wenn er das geahnt hätte.

Er konnte in eine Bar gehen, sich Mut antrinken und den Schuppen auseinandernehmen. Wenn er das gründlich genug machte, würden sie ihn für ein paar Monate in eine ruhige kleine Zelle sperren. Scapy konnte sich in der Zeit um den Laden kümmern. Vielleicht war der Krieg ja vorbei, wenn er wieder raus kam.

Nein, sie würden ihn nicht in eine Zelle sperren. Sie würden ihn trotzdem zum Militär einberufen, mit einem Vermerk in seiner Akte. Das war mit Sicherheit keine gute Idee.

Um zu wissen, was passierte, wenn er einfach nicht hinging, brauchte er nicht den Paragraph 39 der Planetaren Verteidigungsgesetze nachzuschlagen. Da der Kriegszustand verhängt war, galt das als Desertion. Darauf hatten sie ihn damals hingewiesen, bevor er unterschrieben hatte. Auf Ubayd gab es keine Todesstrafe. Man hatte sich etwas anderes einfallen lassen, das humaner sein sollte: die Finale Stasis. Der Verurteilte wurde in ein tiefes Koma versetzt und in einer Art Tank mit Schläuchen am Leben erhalten, bis er eines ›natürlichen‹ Todes starb. Das ließ die Möglichkeit offen, ihn wieder aufzuwecken, falls sich herausstellen sollte, dass er unschuldig war. In der Praxis kam das natürlich so gut wie nie vor. Die Henker fühlten sich wahrscheinlich besser dabei. Sie beendeten ein Leben, ohne jemanden umzubringen. Nolan hatte nicht die geringste Lust, diesen feinen Unterschied im Selbstversuch zu testen. Es gab Gerüchte, dass den Verurteilten in den Tanks Organe für Transplantationen entnommen wurden. Darüber dachte man besser nicht zu lange nach.

Die bei weitem beste Option war, das zu tun, was er schon seit zehn Jahren vorhatte: sich von diesem Planeten wieder zu verabschieden. Er hatte sich nur gegenüber der Regierung von Ubayd als Reservist verpflichtet. In jeder anderen menschlichen Kolonie wäre er ein freier Mann, vorausgesetzt, dass er sich aus dem Staub machte, bevor die Flotte ihn in die Finger bekam.

Nur hatte er eben nicht genug Geld für eine Passage, und er wusste schon lange, dass kein Schiff ihn noch einmal als Mechaniker an Bord nehmen würde. Jetzt war alles sogar noch viel schlimmer. Selbst wenn er das Geld für die Passage hätte, würde ihm das nichts mehr nützen. Es herrschte Kriegszustand und er war Reservist. Er konnte den Planeten nicht mehr auf legalem Weg verlassen. Nur in einem Truppentransporter.

Seine einzige Chance wäre eine illegale Passage. Bei den scharfen Kontrollen im Raumhafen, den hohen Kosten und bei der geringen Anzahl von zivilen interstellaren Schiffen, die Ubayd anflogen, war das nahezu aussichtslos. Doch versuchen konnte er es. Er hatte nichts zu verlieren.

Zumindest kannte er jetzt einen zwielichtigen Raumkapitän, der etwas haben wollte, das sich in seinem Besitz befand. Kapitän Harris.

Nolan ließ sich die Sache noch ein wenig durch den Kopf gehen und aktivierte dann die VI. Sie verfügte immer noch über die Autorisierungscodes der Griffin. Dadurch war es für Scapy einfach gewesen, Harris zu identifizieren.

»Liegt der Frachter Fiona, Kapitän Garv Harris, zur Zeit im Raumhafen?« fragte Nolan.

Er hasste es, mit einer VI zu sprechen. Deshalb formulierte er seine Sätze sorgfältig, damit er sie nicht wiederholen musste. Seine Nerven lagen jetzt schon blank. Wenn er von diesem dummen Programm aufgefordert wurde, seine Fragen zu präzisieren, würde er für nichts mehr garantieren können.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis die VI antwortete:

»Ja.«

»Technische Daten der Fiona anzeigen.«

Sein Tablet leuchtete auf und lieferte ihm die Informationen, die er verlangt hatte. Er überflog sie nur. Die Fiona war einer dieser altertümlichen Raumfrachter, die im System von Ubayd für den Erzabbau auf Asteroiden eingesetzt wurden. Kein interstellares Schiff. Kein Portalschlüssel.

»Wann soll die Fiona planmäßig starten?« fragte Nolan.

»Unbekannt«, antwortete die VI.

Das war seltsam. Erzfrachter hatten normalerweise feste Flugpläne. Auch wenn ein Starttermin aus irgendwelchen Gründen nicht eingehalten werden konnte, war der Termin trotzdem in der Datenbank eingetragen.

»Warum ist das unbekannt?«

»Dazu liegen keine Informationen vor.«

Nolan merkte, wie eine Ader in seiner Stirn anschwoll. Wie konnte er die Frage so formulieren, dass er eine sinnvolle Antwort erhielt?

»Was ist der aktuelle Status der Fiona?«

»An dem Schiff werden Wartungsarbeiten durchgeführt.«

Das ergab schon eher einen Sinn.

»Welche Art von Wartungsarbeiten?«

»Dazu liegen keine Informationen vor.«

Wieder seltsam.

»Befindet sich Kapitän Harris an Bord der Fiona?«

»Dazu liegen keine Informationen vor.«

»Wer ist Eigentümer der Fiona?«

»Die Fiona ist im Besitz der LCWR«, sagte die VI. »Letzte Aktualisierung: Pachtvertrag mit der Planetaren Regierung von Ubayd für Erztransport wurde gekündigt.«

Die LCWR. Nolan hatte sich bei denen mal um eine Stelle als Mechaniker beworben. Das war ganz zu Anfang gewesen, als sie ihn auf der Griffin rausgeschmissen hatten und er noch nicht kapiert hatte, dass er auf der Schwarzen Liste stand. Die LCWR betrieb ein paar Raumfrachter im lokalen System, die Rohstoffe transportierten, hauptsächlich für den Bedarf der Flotte.

Einer dieser Frachter war also die Fiona, das Schiff von Kapitän Harris, und für die hatten sie gerade ihren Pachtvertrag mit der Regierung verloren. Das passte schon irgendwie zusammen.

Handelte Kapitän Harris im Auftrag der LCWR?

Ein altes Schiff, für das es im System von Ubayd keine Verwendung mehr gab. Trotzdem Wartungsarbeiten. Anstatt die Fiona zu verschrotten, versuchten Harris und die LCWR, sie mit einem Portalschlüssel, von dem sie natürlich nicht wissen konnten, dass er gestohlen war, in ein anderes Sternensystem zu verlegen, wo man weiter Geld mit ihr verdienen konnte. Das klang plausibel.

Leider würde daraus nichts werden, weil der Schlüssel defekt war. Auch Harris musste mit dieser Möglichkeit rechnen. Doch wenn das Geld von der LCWR kam, ging er selbst ja kein Risiko ein.

Nolan brauchte eine illegale Passage. Die LCWR konnte sie ihm vielleicht verschaffen. Dafür würde er ihnen den Schlüssel geben. Das war das Geschäft.

Sollte er dem Kapitän eine Nachricht schicken? Besser nicht. Harris war es vermutlich lieber, wenn keine Spuren im Netz entstanden. Nolan verließ sich sonst auf die VI. Durch sie hatte er nicht nur Zugriff auf Daten des Raumhafens, er konnte auch seine Identität verschleiern. Jedem Raumschiff mit gültigen Autorisierungscodes musste ein ungehinderter Zugang zu den lokalen Kommunikationsnetzen ermöglicht werden. Das war eine Bestimmung des Direktoriums, die für alle menschlichen Kolonien Gültigkeit hatte. Natürlich war Nolans Laden kein Raumschiff. Als er die Codes der Griffin zum ersten Mal benutzt hatte, kurz nach seiner Ankunft auf Ubayd, hatte er damit gerechnet, innerhalb von Minuten aufzufliegen. Inzwischen machte er das seit zehn Jahren und hatte nie Ärger deswegen gehabt.

In diesem Fall beschloss er, vorsichtig zu sein.

»Scapy.«

»Ja?«

»Hier ist ein Auftrag für dich«, sagte Nolan. »Du gehst jetzt zum Raumhafen.«

»Ja.«

»Du findest heraus, wo Kapitän Harris steckt. Wenn du ihn gefunden hast, schickst du mir sofort eine Nachricht. Keine Namen.«

»Verstanden, Boss.«

 

Die Tage auf Ubayd waren so endlos lang wie die Nächte. Ein Planet, der 41 Stunden brauchte, um sich einmal um seine Achse zu drehen, war wie ein langweiliger Film, den man sich in Zeitlupe ansah, nur dass dieser Film immer wieder von vorn anfing.

Der größte Teil des Nachmittags verging, bis eine Nachricht von Scapy eintraf. Sie lautete kurz und knapp:

»Im Sheol.«

Gut für ihn, dachte Nolan. Er kannte jede Bar in diesem Teil der Stadt. Das Sheol spielte Deeprance Musik. Mit den Tänzerinnen wollte man sich nicht anlegen, aber das Publikum war größtenteils harmlos. Man ging dorthin, um sich zu entspannen. Wer wollte, konnte bleiben, bis ihm das Geld ausging. Das Sheol hatte immer geöffnet.

Nolan schloss den Laden zu und machte sich auf den Weg. Die rötliche Sonne stand wie ein weit aufgerissenes, entzündetes Auge riesengroß am gelblichen Himmel. Ein kräftiger, beständiger Westwind trieb Staub von der Hochebene hinunter in die Stadt. Die wenigen Menschen in den Straßen hatten sich zum Schutz dagegen so verhüllt, dass kaum ein Gesicht zu erkennen war.

Fast niemand hier besaß ein eigenes Fahrzeug. Es gab nur die eine verfluchte Stadt. Wohin sollte man fahren? Die Bevölkerungszahl war auch zu gering, als dass sich eine industrielle Produktion gelohnt hätte. Es gab Transportfahrzeuge, die entweder der Flotte gehörten oder die jemand gebraucht von der Flotte gekauft hatte. Alles auf Ubayd stammte von der Flotte oder diente ihr, direkt oder indirekt.

Nolan hätte die Untergrundbahn nehmen können. Die nächstgelegene Station, von seinem Laden aus, war Katsilas. Das war ein 400 Meter Fußweg. Dann Linie 6 bis Elmirey. Aber das Sheol lag fast am anderen Ende des Vergnügungsviertels. Aus Erfahrung wusste Nolan, dass er zu Fuß schneller da sein würde.

Viele Gebäude in dieser Gegend waren heruntergekommen, vor allem in den Nebenstraßen. Manche standen leer und waren ein Unterschlupf für Bettler und Junkies. Nolan zog sich die Kapuze seiner wetterfesten Jacke tief ins Gesicht, schob die zu Fäusten geballten Hände in die Taschen und trottete mit gesenktem Kopf voran. Vielleicht sah man ihm an, wie geladen er war, denn die Bettler ließen ihn in Ruhe.

Er versuchte, sich eine Taktik für Harris zu überlegen. Für ihn ging es nicht mehr um Geld. Es ging um sein Leben. Er brauchte eine illegale Passage. Das musste er Harris unmissverständlich klar machen, möglichst ohne dabei verzweifelt zu wirken.

Das Vergnügungsviertel Elmirey bildete einen scharfen Kontrast zu der Gegend, in der Nolan seinen Laden hatte. Hierhin zog es die Menschen, hier wurde Umsatz gemacht. Am Straßenrand lagen keine Bettler, sondern Betrunkene. Schon von weitem sah Nolan die bunte Leuchtreklame des Sheol, die sich in den Fensterscheiben der gegenüberliegenden Gebäude spiegelte.

Scapy wartete vor dem Eingang.

»Alles klar?« fragte Nolan.

»Ja. Er ist noch drin, denk ich«, antwortete Scapy.

»Dann sollte er jetzt gute Laune haben. Gehen wir rein.«

Wie jede Bar, die etwas auf sich hielt, hatte das Sheol eine Luftschleuse am Eingang. Man konnte die innere und äußere Tür gleichzeitig öffnen, denn sonst wäre die Schleuse bei einem Brand oder einer Panik zur Todesfalle geworden. Aber nur einem Außenweltler, der gerade erst auf Ubayd angekommen war, hätte es passieren können, dass er die innere Tür öffnete, bevor sich die äußere geschlossen hatte. Das war die sicherste Methode, sich unbeliebt zu machen, noch bevor man einen Fuß in die Bar gesetzt hatte. Niemand wollte Sand in seinem Drink.

Die Farbe der Beleuchtung in der Schleuse wechselte von einem flammenden Blutrot zu einem tiefen Blau und zeigte damit an, dass sie die zweite Tür öffnen durften. Sie wurden empfangen von den dunklen, verwirrenden, verlockenden Rhythmen des Deeprance. Die Musik war nicht laut. Man konnte sich durchaus unterhalten. Trotzdem ging sie tief ins Gehirn, wenn man sich ihr überließ. Die Luft roch nach synthetischen Stimulanzien, die von der Klimaanlage verteilt wurden. Das war auf Ubayd legal. Der Planet hatte auch seine guten Seiten.

Eine Tänzerin kam ihnen entgegen. Ihr hautenges, schwarzes Kostüm ließ eine Brust frei. Sie lächelte auf eine Art, die Nolan gut kannte: Verheißungsvoll und leicht entrückt. Er erwiderte ihr Lächeln. Die Zeit musste man sich nehmen. Sie kam ihm noch näher und zwang ihn, stehenzubleiben. Für einen Moment hätte er fast vergessen, weshalb er hier war.

Plötzlich änderte sich ihr Gesichtsausdruck:

»Keinen Ärger!« raunte sie. Ihre Augen funkelten wach und gefährlich. Das Lächeln war wie ausgelöscht.

Nolan hob beschwichtigend die Hände und ging in einem respektvollen Bogen an ihr vorbei. Das fehlte ihm jetzt gerade noch.

»Du bist öfter hier, Boss?« fragte Scapy.

»Schon ’ne Weile her.«

»Die hat sich noch an dich erinnert.«

»So ist das, wenn man gut aussieht.«

Nolan musterte die anderen Gäste. Für die Uhrzeit war die Bar einigermaßen gut gefüllt. Der Frauenanteil im Publikum war wie meistens etwas höher als bei anderen Bars dieser Art, die Prostituierten nicht gerechnet.

Das Sheol besaß zwei Ebenen. Dazwischen ragte eine Plattform in den Raum, getragen von einer Säule aus einem milchigen, durchscheinenden Material. Die Plattform diente als Bühne für die Tänzerinnen. Von der unteren Ebene blickte man zu ihnen herauf, von der oberen blickte man auf sie herab. In die Säule war ein Aufzug eingebaut, mit dem die Tänzerinnen von ihrem Umkleideraum unter der Bar direkt hinauf zur Plattform fuhren. Dabei warfen sie sich in ihre jeweils eigene Pose. Das gehörte zum Ritual, zur Show. Durch die milchige Säulenwand sah man nur ihre Silhouette.

Die Show wurde nie unterbrochen. Es befanden sich immer Tänzerinnen auf der Plattform. Alle paar Minuten kamen ein, zwei oder drei dazu, andere gingen. Das waren fließende Übergänge, die mit ebenso fließenden Veränderungen in der Musik und der Beleuchtung einhergingen. Und alles, einschließlich der Gäste, war umrahmt von einem Kranz aus rhythmisch wabernden Flammen, die riesengroß auf die dunklen Wände des Sheol projiziert wurden.

Nolan gab Scapy seine Anweisungen: »Du behältst hier unten die Dinge im Auge. Pass auf, dass Harris die Bar nicht verlässt, aber bleib im Hintergrund. Er fühlt sich vielleicht bedroht, wenn wir zu zweit bei ihm auftauchen.«

»Verstanden, Boss.«

Sie trennten sich. Auf der unteren Ebene sah Nolan sich nur flüchtig um. Wenn er Harris richtig einschätzte, war er eher der Typ, der gern von oben auf die Dinge herabblickte. Damit, dass es gefährlich werden könnte, rechnete Nolan eigentlich nicht. Das Sheol war nicht der Ort dafür. Andererseits, man wusste ja nie.

Er stieg die breite, gewundene Treppe hinauf. Einige Bereiche der oberen Ebene lagen im Dunkeln, über andere ergossen sich gerade Wasserfälle aus Licht. Er hatte Glück. Für Sekunden fiel das Licht auf Harris. Der Kapitän saß allein an einem Tisch.

Zielstrebig ging Nolan auf ihn zu. Es hatte keinen Zweck, so zu tun, als wäre dies eine zufällige Begegnung. Er setzte sich Harris gegenüber. Dieser schien ihn jetzt erst zu bemerken.

»Sind Sie hier, weil Sie mein Angebot annehmen wollen?«

»Ich bin hier«, sagte Nolan. Er versuchte, so zu klingen, als würde er ihm damit einen riesigen Gefallen tun. Um noch weiter den Eindruck zu erwecken, dass er Trümpfe in der Hand hielt, wandte er seine Aufmerksamkeit zunächst den Tänzerinnen auf der Plattform zu. Ihre Bewegungen, die hypnotische Musik, die Stimulanzien, die er einatmete, und ein kleiner Rest Luciffa Venom in seinem Blut übten zusammen eine gewisse Wirkung auf ihn aus.

»Da Sie wissen, wer ich bin, hätten Sie mir auch gleich sagen können, wer Sie sind, Kapitän«, meinte er.

»Welche Rolle sollte das spielen?«

»Wir haben bisher nur über Geld gesprochen«, sagte Nolan. »Vielleicht gibt es noch andere Möglichkeiten, ins Geschäft zu kommen.«

»Woran denken Sie?«

»Ein Schiff und ein Schlüssel. Das ist eine interessante Kombination in einer Zeit, in der viele Leute lieber heute als morgen Ubayd verlassen würden.«

»So.«

»Finden Sie nicht?«

»Ich finde, dass man sich vor falschen Kombinationen hüten sollte.«

Das war nicht die Antwort, auf die Nolan gehofft hatte.

Eine Tänzerin ließ ihr wahrscheinlich vorletztes Kleidungsstück zu Boden gleiten. Mit schlangenhaften Bewegungen beugte sie sich langsam nach vorn, im Rhythmus der Musik, um es mit den Zähnen aufzuheben. Nolan kam der Gedanke, Harris den Schlüssel für 100 MUN zu verkaufen und das ganze Geld im Sheol zu verhuren und zu versaufen. Eine letzte große Party, und dann in den Krieg.

Verdammte Stimulanzien.

»Sprechen wir über eine Passage«, sagte er.

»Bei mir gibt es keine Passage«, wies Harris ihn ab.

»Eine Frage des Preises?« versuchte Nolan es noch einmal.

»Nein.«

»Was wollen Sie mit dem Schlüssel?«

»Das ist meine Sache.«

Nolan atmete tief durch. Harris war völlig kalt. War er an dem Geschäft nicht mehr interessiert? Oder wollte er einfach den Preis noch weiter drücken?

»Die Umstände haben sich für mich geändert«, sagte Nolan. »Ich muss Ubayd verlassen. Wie die Dinge stehen, hat die Regierung etwas dagegen. Bringen Sie mich auf ein Schiff und besorgen Sie mir eine Passage. Dafür gebe ich Ihnen den Schlüssel. Anders bekommen Sie ihn nicht.«

»Die Umstände ändern sich für uns alle«, sagte Harris unbewegt. »Ihnen sollte klar sein, dass zur Zeit niemand durch die Kontrollen am Raumhafen kommt, der auf einer Rekrutierungsliste steht. Daran kann ich nichts ändern.«

»Wenn nicht Sie, dann vielleicht die LCWR?«

Nolan behielt Harris bei diesen Worten scharf im Blick. Aber der Kapitän zeigte keine Reaktion. Nicht das kleinste Zucken, das Nolan verraten hätte, ob er mit seiner Vermutung richtig lag, dass die Gesellschaft im Hintergrund beteiligt war.

»Wohl kaum«, sagte Harris nur.

Eine ganz unverbindliche Antwort. Er stritt nichts ab. Er bestätigte nichts. Keine Andeutung.

»Sie wissen, was ich will«, sagte Nolan. »Ich hoffe, dass Sie auch wissen, was Sie wollen.«

Harris lehnte sich zurück. Sie maßen einander mit Blicken.

»Ich war bereit, 100 MUN zu zahlen«, sagte Harris. »Doch wie wir gemeinsam festgestellt haben, ändern sich die Umstände zur Zeit sehr schnell. Ich mache Ihnen ein neues Angebot. Ob Sie es akzeptieren oder nicht, ist Ihre Sache. Ich zahle Ihnen 40 MUN für den Schlüssel. Mehr ist nicht möglich. Bei Ihren Problemen mit der Regierung kann ich Ihnen nicht helfen.«

Nolan starrte ihn an. Dann stand er mit einem Ruck auf.

»Gehen Sie zur Hölle.«

»Da bin ich längst«, sagte Harris ruhig.

Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, hatte Nolan eine Angriffshaltung eingenommen. Harris ignorierte ihn. Er hatte sich demonstrativ abgewandt und blickte hinunter auf die Bühne, als würde Nolan ihn nichts mehr angehen.

Eine Tänzerin, die gleiche wie vorhin, sah misstrauisch zu ihnen herüber. Nolan ließ die Schultern sinken. Das hier war sinnlos.

Er verließ das Sheol ohne ein weiteres Wort. Scapy folgte ihm.

In den Straßen waren die Schatten länger und tiefer geworden, der Wind kälter. Am Horizont zogen schon die ersten abendlichen Wolken auf. So heiß und trocken die langen Tage auch immer sein mochten, nachts kam mit erstaunlicher Zuverlässigkeit der Regen – mal mehr, mal weniger heftig – und verwandelte all den Staub in einen widerlichen, klebrigen Schlamm.

»Was machen wir jetzt, Boss?« fragte Scapy.

Nolan antwortete ihm nicht. Was sollte er jetzt machen? Er hatte keine Ahnung.

 

Kapitel 3

 

Zurück in seiner Wohnung lief Nolan noch eine Weile auf und ab wie ein gefangenes Tier in einem Käfig. Irgendwann schlief er in düsterer Stimmung ein.

Er wachte auf, als sein Bett vibrierte.

Diese Funktion diente eigentlich zu einem anderen Zweck, aber er hatte sie als ein stilles Warnsignal an das Alarmsystem angeschlossen, das von der VI kontrolliert wurde.

»Was ist los?« fragte er. Der Adrenalinstoß machte ihn sofort hellwach.

Seine Frage war nicht gerade sehr präzise formuliert, trotzdem erhielt er von der VI eine sinnvolle Antwort:

»Eine unautorisierte Person befindet sich im Gebäude.«

»Wie viele unautorisierte Personen?« fragte er nach.

»Eine.«

Da sich die VI jetzt davon überzeugt hatte, dass er nicht mehr schlief, schaltete sie die Vibration aus. Er lauschte. Zu hören war nichts.

Wahrscheinlich falscher Alarm, dachte er genervt. Vielleicht war Scapy pinkeln gegangen, und jetzt hielt die VI ihn für eine unautorisierte Person.

In den ersten Jahren, nachdem Nolan den Laden eröffnet hatte, war dauernd bei ihm eingebrochen worden. Deshalb hatte er das Gebäude zur Festung umgebaut. Seitdem war es niemandem mehr gelungen, in den Laden einzudringen, wenn er geschlossen war. Nolan glaubte auch nicht, dass irgendein Kleinkrimineller das schaffen würde. Das könnte höchstens ein Profi.

Und was sollte ein Profi bei ihm suchen?

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in die Nieren. Harris war in seinem Lager gewesen und hatte den Portalschlüssel gesehen. Das war ein Objekt, für das ein Profi sich interessieren würde – oder dessen Auftraggeber.

Nolan griff nach seiner Schrotflinte. Es war eine Dekkan GX7, die schwerste Waffe, die er als Reservist legal auf Ubayd besitzen durfte. Ihr großer Vorteil war, dass man damit auf kurze Entfernung unmöglich daneben schießen konnte. Sie hatte eine Streuung wie eine vulkanische Eruption. Man musste auch nur einmal abdrücken. Die Durchschlagskraft der Dekkan reichte aus, um eine wütende Büffelherde zu stoppen. Das zeigte das Werbevideo. Nicht dass es auf Ubayd Büffel gegeben hätte. Aber wenn man der Werbung trauen konnte, waren die Viecher auf der Erde ein echtes Problem.

Der Nachteil der Dekkan war, dass man sich durch den Rückstoß mindestens ein paar Prellungen holte, wenn man keine gepanzerte Schutzkleidung trug. Außerdem traf man mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur das Ziel, sondern auch noch einige andere Dinge, die man nicht unbedingt treffen wollte.

So schnell, wie er es in der Aufregung schaffte, entriegelte Nolan seine Wohnungstür. Dann trat er in den dunklen Gang hinaus, tastete sich voran, den Finger am Abzug seiner Waffe. Nicht aus Versehen Scapy erschießen, sagte er sich. Überhaupt hätte er es vorgezogen, die Sache zu klären, ohne dass irgendwer erschossen wurde. Aber den Schlüssel konnte er nicht aufgeben. Der Schlüssel war seine einzige Chance, von Ubayd zu verschwinden. Seine einzige Chance.

Er blieb stehen, um zu horchen. Nichts. Vielleicht doch nur ein falscher Alarm?

Ich hätte Überwachungskameras installieren sollen, dachte er. Das hatte er nicht getan, weil es ihm wie eine dumme Idee vorgekommen war, sich bei seinen Geschäften selbst zu filmen. Seinen Kunden hätte das auch nicht gefallen.

Plötzlich trat er ins Leere. Beinahe wäre er im Dunkeln seine eigene Treppe herunter gestürzt.

Ganz ruhig.

Er wartete, bis sein Herzschlag ihm nicht mehr den Hals abschnürte. Sollte er doch das Licht einschalten? Nein. Jemanden, der entschlossen war, den Portalschlüssel in seinen Besitz zu bringen, würde das wohl kaum vertreiben. Es würde ihn nur warnen.

Weiter. Die Treppe machte ungefähr auf halber Höhe einen Knick. Während er sich darauf konzentrierte, so leise wie möglich aufzutreten, stieß der Lauf seiner unhandlich großen Waffe mehrfach an die Mauer und verursachte ein scharrendes Geräusch. Nolan fluchte innerlich darüber, und dann passierte es ihm doch wieder.

Er gelangte an das Ende der Treppe. Was nun? Der Einbrecher hatte mehr als genug Zeit gehabt, um in den Keller zu gelangen, wenn das sein Ziel war. Dort säße er in der Falle. Es gab keinen zweiten Ausgang.

Nolan hielt es für besser, zuerst den Verkaufsraum zu kontrollieren. Im Vorbeigehen versuchte er, die Tür zur Werkstatt zu öffnen. Sie war verschlossen.

Als er den Verkaufsraum betrat, tauchte am Rand seines Blickfelds eine schemenhafte Gestalt auf. Reflexhaft fuhr er herum, bereit zu schießen.

»Ich bin’s, Boss«, flüsterte Scapy.

Das war knapp.

»Bleib, wo du bist.«

Im Verkaufsraum gab es etwas mehr Licht, das hauptsächlich von verschiedenen elektrischen Anzeigen stammte. Eine davon gehörte zu dem Sicherheitssystem an der Ladentür. Nolan überprüfte es. Die Tür war offen. Entriegelt – nicht aufgebrochen.

Wie war das möglich? Für einen Moment keimte in Nolan ein Verdacht gegen Scapy auf. Scapy hätte die Tür von innen öffnen und einen Dieb hereinlassen können. Aber das war Unsinn. Auf Scapy war Verlass. Und er kannte das Alarmsystem. Wenn er es ausgeschaltet hätte, wäre Nolan nicht geweckt worden. Der Dieb hätte alle Zeit der Welt gehabt.

Damit blieb nur eine Erklärung übrig. Jetzt hatte Nolan doch Lust, jemanden zu erschießen, nämlich den Mistkerl, der ihm das Sicherheitsschloss verkauft hatte.

Er verriegelte die Tür wieder. Das satte Klicken beim Einrasten dröhnte in der herrschenden Stille viel lauter, als er es in Erinnerung hatte.

Was machte der Einbrecher jetzt gerade? Versuchte er, den Tresor zu knacken? Das ginge höchstens mit Gewalt. Wenn man es eilig hatte, nur mit Sprengstoff. Dabei würde der Portalschlüssel zerstört werden. Der Versuch wäre sinnlos.

Allerdings hatte Nolan das von dem Sicherheitssystem an seiner Ladentür auch geglaubt. Ihm kam noch ein anderer Gedanke: Was würde der Dieb tun, wenn er es nicht schaffte, den Tresor zu knacken? Als Profi musste er auf diese Möglichkeit vorbereitet sein. Es gab eine Lösung: Er konnte den Besitzer des Tresors zwingen, ihn zu öffnen.

Das sollte er ruhig versuchen, dachte Nolan. Der Verkaufsraum, der durch die vielen Regale unübersichtlich war, erschien ihm nicht als der geeignetste Ort, um dem Einbrecher aufzulauern. Es war besser, ihn abzufangen, sobald er aus dem Keller kam. Ohne noch lange zu überlegen, schlich er im Dunkeln zurück zur Treppe, die Dekkan im Anschlag.

»Wenn’s losgeht, schaltest du das Licht an«, raunte er in Scapys Richtung.

Hinter der Treppe staute sich seit Jahren das Gerümpel. Alles, was Nolan zu schwer gewesen war, um es in den Keller zu bringen, hatte er dort abgeladen. Hundertmal hatte er Scapy gesagt, dass er die Ecke aufräumen sollte. Dann hatte Scapy ihn gefragt, wo die Sachen hin sollten, und über den Punkt waren sie nie hinausgelangt.

Da Nolan kaum etwas sah, verließ er sich mehr auf seinen Tastsinn und seine Erinnerung. Irgendwie zwängte er sich hinter einem Wärmetauscher, der ihm etwas Deckung gab, an die Wand. Seine Schrotflinte, die ihm allmählich zu schwer wurde, konnte er so aufstützen, dass ihre Mündung auf die Kellertreppe zeigte.

Er wartete. Die Stille dehnte sich aus. Nolan hörte nur seinen eigenen Atem. Mit einem Mal kam es ihm so vor, als ob sein Atem zu laut war. Der Gedanke setzte sich in ihm fest. Er versuchte, leiser zu atmen. Nach einer Weile führte das dazu, dass er ein Gefühl hatte, als würde er ersticken. Sein Herz fing wieder an zu rasen.

Was machte der Dieb jetzt? Nolan stellte sich einen Profi vor, der völlig ruhig seiner Arbeit nachging, an das Risiko gewöhnt. Wahrscheinlich besaß er eine exzellente Ausrüstung. Illegale Waffen. Granaten mit Betäubungsgas, die Nolan gleich um die Ohren fliegen würden. Eine winzige Drohne, die er weder sehen noch hören würde, bis sie ihn erwischte. Ein Infrarotsichtgerät, mit dem der Dieb Nolan und Scapy schon die ganze Zeit durch die Kellerdecke hindurch beobachtete.