Kurisches Gold - Jan Eik - E-Book

Kurisches Gold E-Book

Jan Eik

3,8

Beschreibung

Mit der Kälte aus den Wäldern Schamaiens und des fernen Rus hatte der schneidende Ostwind nur wenig Schnee gebracht, sonst wäre der Tote erst mit der Schneeschmelze im späten Frühjahr entdeckt worden. So jedoch fiel an jenem trüben Herbstmorgen des 12. November 1524 der noch vom Wein getrübte Blick des Ritterbruders Martin auf vier dicht beieinander aus der Eisfläche aufragende Aststümpfe. Nichts anderes als der blanke Übermut seiner neunzehn Jahre und die gebotene Kühlung seines schmerzenden Schädels hatten Martin von Barnhusen-Asseberg auf die gefährlich knisternde Eisdecke des Wallgrabens getrieben, auf der es sich trefflich rutschen ließ. Martin kannte die Stelle unterhalb der Wallmauer hinter der Kapelle gut. Sie ließ sich von den schmalen Fenstern des Hohen Schlosses nur schlecht einsehen. Schon im Winter zuvor hatte er sich dort gelegentlich auf dem Eis vergnügt, solange der Schnee noch nicht zu hoch lag, und im Sommer traf ihn der Priesterbruder Simon gar in der Zeit des vorgeschriebenen Stundengebets schlafend auf dem schmalen Rasenstreifen am Graben an, den Oberkörper schamlos entblößt! In der warmen Sonne hatte Martin Lust zum Baden empfunden. Nur der üble Geruch des dunklen Gewässers hielt ihn zurück. Immerhin flossen die stinkenden Abwässer des Danzkers, des Turmaborts der Burg, in diesen Graben. INHALT: 1. Der Tote im Eis 2. Wer nicht zulangt, kriegt nichts 3. Totenwache 4. Anke 5. Das Gelöbnis 6. Heimlichkeiten 7. Auf verbotenen Pfaden 8. Tigges‘ Heimkehr 9. Nächtliches Zwischenspiel 10. Der Tag danach 11. Spurensuche 12. Tigges wird munter 13. Auf Kriegsfahrt 14. Der Schneesturm 15. Genug der Fragen 16. Die Nacht im Turm 17. Mauritius hilft 18. Dittko 19. Auf Abwegen 20. Da ist ein Kreuzherr 21. Der Tote im Moor 22. Der Gefangene im Turm 23. Trauer 24. Der Überfall 25. Judas 26. Ein Angebot zum Überleben 27. Nicht aller Tage Abend 28. Die Rettung Epilog

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Impressum

Jan Eik

Kurisches Gold

Ein Hansekrimi

ISBN 978-3-95655-429-2 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 2002 bei: Die Hanse. Sabine Groenewold Verlage, Hamburg.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Für Lilly, die immer die besten Ideen hat

1. Der Tote im Eis

Mit der Kälte aus den Wäldern Schamaiens und des fernen Rus hatte der schneidende Ostwind nur wenig Schnee gebracht, sonst wäre der Tote erst mit der Schneeschmelze im späten Frühjahr entdeckt worden. So jedoch fiel an jenem trüben Herbstmorgen des 12. November 1524 der noch vom Wein getrübte Blick des Ritterbruders Martin auf vier dicht beieinander aus der Eisfläche aufragende Aststümpfe. Nichts anderes als der blanke Übermut seiner neunzehn Jahre und die gebotene Kühlung seines schmerzenden Schädels hatten Martin von Barnhusen-Asseberg auf die gefährlich knisternde Eisdecke des Wallgrabens getrieben, auf der es sich trefflich rutschen ließ. Martin kannte die Stelle unterhalb der Wallmauer hinter der Kapelle gut. Sie ließ sich von den schmalen Fenstern des Hohen Schlosses nur schlecht einsehen. Schon im Winter zuvor hatte er sich dort gelegentlich auf dem Eis vergnügt, solange der Schnee noch nicht zu hoch lag, und im Sommer traf ihn der Priesterbruder Simon gar in der Zeit des vorgeschriebenen Stundengebets schlafend auf dem schmalen Rasenstreifen am Graben an, den Oberkörper schamlos entblößt! In der warmen Sonne hatte Martin Lust zum Baden empfunden. Nur der üble Geruch des dunklen Gewässers hielt ihn zurück. Immerhin flossen die stinkenden Abwässer des Danzkers, des Turmaborts der Burg, in diesen Graben.

Simon meldete die unerhörte Begebenheit spornstreichs dem Statthalter, wie er es als seine Pflicht empfand, doch war für Martin der Vorfall mit dem üblichen Ableiern mehrerer Paternoster abgetan. Schon lange waren die höheren Herren im Konvent mit anderem beschäftigt, als sich um derlei lässliche Verstöße gegen die strengen Regeln und Gesetze des Ordens der Brüder vom Spital St. Marien des deutschen Hauses zu Jerusalem zu scheren, den die Einheimischen einfach nur Der Orden oder Die Kreuzherren nannten. Jerusalem und die heiligen Stätten lagen von der Festung Memel hier im Nordosten der bewohnten Welt in schier unendlicher Ferne, so weit entfernt etwa wie die Gründung des Ordens vor mehr als dreihundert Jahren.

Mancherlei hatte sich seit den Kreuzzügen der Ritter ins Heilige Land verändert. Deshalb empfand Martin an diesem kalten Wintermorgen keine wahre Furcht davor, bei seinem kindischen Tun entdeckt zu werden. Gestern, am Martinstag, dem Tag seiner Geburt, und noch dazu einem Fastenfreitag, hatten alle Brüder mehr als üblich dem gewürzten Wein zugesprochen, der ihnen nicht erlaubt war, und dazu ein Festmahl genossen, das lag ihm noch jetzt schwer im Magen.

Sein Schädel brummte. Die eisige Luft tat ihm gut. Mit den weichen Lederstiefeln schlitterte er auf eine kleine Schneewehe zu. Er griff mit beiden Händen hinein, um sein Gesicht zu erfrischen, als er jene aufgequollenen, zwei Zoll langen Stümpfe aufragen sah, die sich bei näherer Betrachtung als die verkrümmten Finger einer Hand erwiesen. Von deren Besitzer ließ sich unter dem rasch frei gescharrten, kaum eine Handspanne dicken Eis immerhin die bleiche Farbe eines Gesichts und ein im schmutzigen Wasser wallendes Gewand erahnen. Wie eine Mahnung reckte der Tote dem jungen Ritter Arm und Hand entgegen. Der, nach einem vergeblichen Versuch, mehr von der Gestalt freizulegen, entschloss sich schnell, Hilfe herbeizuholen.

Er lief den weiten Weg um die Wehrmauer herum zum Tor und überquerte hastig den gepflasterten Schlosshof. In der Kirche betete nicht einmal ein halbes Dutzend fröstelnder Priesterbrüder, obwohl es die Zeit um Sext war, wo jeder im Konvent im Stundengebet anzutreffen sein sollte. Von den Ritterbrüdern sah er nur Siewert von Wolkenburg, der sich anscheinend von seinen astrologischen Berechnungen gelöst hatte, über denen er gewöhnlich hockte, und zwei oder drei andere. Sie bekannten sich deutlich zur Partei des Komturs. Der Konvent, so geschlossen er sich nach außen gebärdete, war tief gespalten zwischen den Anhängern des jungen Herzogs Erich, der die Herrschaft über seine Komturei Memel mit Klauen und Zähnen zu verteidigen gedachte, und seine offenen und heimlichen Widersacher, denen die weltlichen Bestrebungen des Ordenshochmeisters Albrecht von Tag zu Tag besser gefielen.

Martins heller Ausruf: „Im Graben liegt ein Toter unter dem Eis!“, ließ die Anwesenden nur kurz aufblicken, ohne dass sich jemand erhob. Selbst Siewert murmelte ungerührt seine Sprüche. Martin blieb nichts anderes übrig, als am Remter vorbei, dem gemeinsamen Speiseraum aller Brüder, in die Konventsstube zu eilen, wo er tatsächlich ein um den Tisch versammeltes Grüppchen vorfand. Von denen wollte vorerst keiner ein übertriebenes Interesse an der Leiche im Burggraben zeigen. Die Ritterbrüder würfelten, was ihnen nicht ausdrücklich untersagt war, während der Zeit der Stundengebete jedoch unschicklich erschien.

„Noch zwei, drei Frostnächte wie die letzte“, sagte der Unterkompan und Stallmeister des Konvents, Cuntz von Hawkenstein, gleichgültig, „und der Tote wird sich im Graben frisch halten bis zum Karfreitag.“

Das war ein höchst unpassender Hinweis auf den Todestag des Herrn, aber wer erwartete anderes von einem wüsten Haudegen wie Cuntz, der in seinem vorigen Leben nach eigenem Geständnis mehr Menschen den Hals umgedreht hatte als der Küchenbruder jemals Gänsen. Martin mochte den großsprecherischen Halsabschneider nicht sonderlich. Doch mitunter lauschte er ihm offenen Mundes, wenn er von den Fährnissen des freien Ritterlebens und von seinen Siegen über die reichen Pfeffersäcke schwadronierte. Hatte sein Oheim im fernen Westfalen nicht gelehrt, dass solche wie Cuntz mit ihrem räuberischen Unwesen Schuld daran trugen, den Ruf des edlen Rittertums auf ewig zu verderben? Hatte nicht andererseits der Papst dem Orden das ausdrückliche Privilegium erteilt, in Preußen selbst Räuber und Brandstifter in seine Reihen aufzunehmen, so sie nur Reue zeigten und sich als bußfertig erwiesen? Und zahlten. Das jedenfalls vergaß der Graumäntler Wilk, kam darauf die Rede, niemals hinzuzufügen.

Wilk von Nauroth war als Laienbruder nur würdig, das schwarze Kreuz der Ritter als Halbkreuz wie ein T und nicht auf weißem, sondern auf grauem Leinen zu tragen. Er fehlte eben jetzt mit seiner Weisheit, die sich nicht allein in klugen Reden erging, nein, auch in Tatkraft, an der es den übrigen Ritterbrüdern oft genug gebrach. Vor drei Tagen war Wilk, der Schäffer und damit Speicherverwalter und Wirtschafter des Memeler Konvents, nach einer lauten Auseinandersetzung mit dem starrsinnigen Feuerkopf von Komtur davongeritten, gen Ragnit am Memelfluss, wie es später hieß, wohin ihn die Geschäfte riefen. Verwundert hatte es Martin vernommen. Zu ihm hatte Wilk von anderen Vorhaben gesprochen.

„Wir können die Leiche nicht unter dem Eis belassen“, sagte Martin mit ungewohnter Festigkeit. Als dem Jüngsten im Konvent stand es ihm nicht zu, Ratschläge oder gar Befehle zu erteilen. Ob dem Komtur von dem Fund zu berichten sei, dessen Statthalter oder nur dem Hauskomtur Georg, überließ er besser den Älteren.

Einhard von Raben, ein hagerer Mann mit einer Adlernase, und der untrennbar mit ihm verbundene Stotterer Quirin von Huldt blickten nicht einmal auf von ihrem Spiel.

„Vielleicht handelt es sich ja um ein Frauenzimmer?“, merkte der rotbärtige Rüstmeister Wigamur von Tresten mit seiner scharfen Stimme an und rieb sich harmlos die fröstelnden Hände. Seine treuen Paladine Einhard und Quirin grinsten pflichtbewusst. Niemand nahm dem Rüstmeister die schlecht gespielte Arglosigkeit ab, verstand der listige Wigamur es doch, jedes Gespräch früher oder später auf den verbotenen Gegenstand zu lenken, der seine Augen funkeln ließ und anscheinend nicht nur ihn bewegte. Würde er der nächste Abtrünnige sein, der den Orden in Unehren verließ, um sich nicht nur ein Weib für eine Maien- oder Sommerehe zu nehmen wie manch anderer, sondern christlich zu heiraten, wie es des Doktor Martinus Luther gedruckte Ermahnung „An die Herren Deutsch Ordens, dass sie falsche Keuschheit meiden und zur rechten ehelichen Keuschheit greifen“ den Rittern empfahl? Von den einst sechzig stolzen Rittern des Memeler Konvents waren in den letzten Jahren durch Krankheit und Tod, Unfall und Kriegsverluste und nun auch noch durch Abwanderung und Eheschließung kaum mehr ein gutes Dutzend geblieben, oder besser, ein schlechtes Dutzend, denn mit der Stärke und Kampfkraft der Verbliebenen mochte es nicht weit her sein. Kaum waren der Komtur Erich und sein Statthalter Schönberg in der Lage, alle notwendigen Ämter gewissenhaft versehen zu lassen. Selbst etliche der Pfaffen, von den Graumäntlern niederer oder prussisch-litauischer Abkunft ganz zu schweigen, hielten sich an die Schrift des Wittenbergers: „Darum welcher Geistlicher will ehelich werden, der soll Gottes Wort für sich nehmen, daselbst sich drauf verlassen und in desselben Namen freien ...“

Martin fühlte sich nicht gänzlich unschuldig in dieser heiklen Frage, war er es doch gewesen, der den Rittern auf ihren ausdrücklichen Wunsch eben jene Druckschrift vorgelesen hatte, wobei ihm deren ketzerischer Gehalt erst nach und nach aufgegangen war. Getadelt hatte ihn dafür nur Siewert von Wolkenburg. Über den war die Nachricht rasch zum Komtur gelangt, der Martin und alle, die ihm zugehört hatten, der schweren Schuld des heimlichen Briefverkehrs zieh. Sie war gleichzusetzen der Verleumdung oder des Schlagens eines Bruders und nach Verhandlung vor dem Ordenskapitel nur durch starkes Fasten, zusätzliche Geißelung und Kasteiung wiedergutzumachen.

Noch galt der Brauch, dass jeder Bruder am Freitag seine wöchentliche disciplina empfing und mit der Geißel geschlagen wurde, wenn er sich nicht selbst genügend züchtigte. Den Ritterbrüdern allerdings stand nach den monatelangen Entbehrungen des Reiterfeldzugs der Sinn nicht nach zusätzlichem Schmerz, und so beschränkten sich die Bußübungen zu Martins stiller Genugtuung auf eher symbolische Hiebe mit der neunschwänzigen Geißel. Selbst der Komtur beließ es dabei.

Auch Martin dachte in letzter Zeit viel öfter, als es die Ordensregel erlaubte, an das weibliche Geschlecht, und dabei insbesondere an eine bestimmte Person. Obwohl es ihm sicher schien, dass die Fingerstümpfe, auf die er sich schaudernd besann, keinem weiblichen Wesen gehören konnten, widersprach er Wigamur nicht. Vielleicht brachte ja dessen Einwand die Brüder dazu, den Ertrunkenen endlich aus seinem eisigen Grab zu befreien.

Immerhin verging die Zeit bis Non, dem letzten Gebet vor der Vesper, ehe sie sich recht widerwillig dem von Martin angegebenen Ort mittels Leitern und Brettern genähert hatten, denn unter Cuntz’ schwerem Tritt ächzte die frische Eisfläche auf das Gefährlichste. Während die herbeigerufenen Knechte das Eis über dem Körper mit spitzem Werkzeug zerschlugen, drohte der Leichnam im schwärzlichen Wasser zu versinken. Gerade noch rechtzeitig schlang Cuntz einen Strick um das hochgereckte Handgelenk. So gelang es schließlich mit einiger Mühe, den Toten aufs Ufer zu zerren.

Indes hatte sich auf dem Wall und dem jüngst mit großem Aufwand erneuerten Schanzwerk jenseits des Grabens das niedere Volk von Memel versammelt und beglotzte das wenig ritterliche Tun unter allerlei Spottreden. „Wen habt ihr da wieder hineinjestoßen?“, schrien sie in ihrem breiten Dialekt. „Was hat der Lurbis euch jetan?“

Das war wieder so ein Wort aus ihrer seltsamen Sprache. Keinem aus der Ritterschar kam der Gedanke, das Gesindel mit einer Antwort auszuzeichnen. Zwischen dem gemeinen Volk und den Rittern des Heiligen Kreuzes herrschte, wenn es denn überhaupt zu einer Wechselrede kam, seit Langem ein unguter Ton. Immer häufiger wagten es aufrührerische Subjekte, Angehörige des Ordens öffentlich zu schmähen oder gar einzeln anzugreifen. Nur die wirklichen Memeler Bürger, die Kaufleute und Handwerker, wussten den Schutz zu würdigen, den ihnen der Orden bot. Oder wenigstens bieten sollte. Beim letzten Angriff der Danziger am Pfingstmorgen des unheilvollen Jahres 1520 hatten sie vergeblich auf die Kampfkraft der Ordensleute vertraut. Keiner der auf der Burg verbliebenen Ritter hatte auch nur die Hand gehoben, um die auf drei Kriegsschiffen versammelten Verbündeten des feindlichen polnischen Königs in die Schranken zu weisen und von ihren Untaten abzuhalten. Die verräterischen Danziger nahmen alle im Hafen liegenden Schiffe und legten Feuer. Die halbe Stadt und die beiden Dörfer am Strand sanken in Schutt und Asche. Dann ging auch noch Schiffsladung für Schiffslandung über Bord: Rundlinge und geschlagene Steinblöcke, die fortan die ohnehin enge Hafeneinfahrt am Dangefluss noch mehr einschränkten. Weil euer Herr und Meister unserem König den Lehnseid verweigert, hatten die Danziger ihren dreisten Überfall begründet. In Wahrheit war es ihnen nur darum gegangen, die unliebsame Nebenbuhlerschaft der stolzen preußischen See- und Handelsstadt zu treffen - wie schon anno 1457 und 1464.

Nein, von den Rittern war wenig zu erwarten außer Willkür und Hochmut, dessen war man sich inzwischen in Memel gewiss. Und seit der junge Hochmeister einen gerade achtzehnjährigen fürstlichen Komtur samt seinem Kornpan aus dem verhassten Schönberggeschlecht ins Schloss gesetzt hatte, war mit Besserung nicht zu rechnen. Mochte dieser mit der hochfahrenden Unduldsamkeit der Jugend und dem Starrsinn eines Siebzigjährigen begnadete Komtur Erich zehnmal der jüngere Bruder des regierenden Herzogs von Braunschweig sein - Braunschweig lag fern irgendwo im Deutschen Reich, in dem der spanische Kaiser Karl herrschte, und von dem hatte man hier im Nordosten nichts Gutes vernommen. Hier war man mit den eigenen Händeln beschäftigt. Ringsum lebten die angriffslustigen Schamaiten, die Semgallen und die kurischen Ureinwohner der Landschaft Pilsaten. Die Hälfte des Volkes sprach deren Sprache oder das Prussisch der eingeborenen Schalauer, das noch nicht vergessen war. Von Süden drohten jederzeit die Polen und hinter den allzeit kriegerischen Litauern die Rus, mit deren Herrscher man seit jüngstem nicht mehr verbündet war. Und dahinter lauerten die Tataren.

Auf der dünnen Schneedecke zwischen der aufragenden Wallmauer und dem Graben umstanden die Ritter das nasse Bündel, das die Knechte und Laienbrüder mit vereinten Kräften herausgefischt und über das Eis gezerrt hatten. Der tote Korpus lag vor ihnen auf dem Bauch, bedeckt von einem weiten, ehemals braunen Mantel oder Umhang, der Kopf von einer Kapuze verhüllt, das unkenntliche Gesicht in den Schnee gepresst.

Selbst Siewert von Wolkenburg, der das Haus nur noch selten verließ, war inzwischen herbeigehinkt. „Hüllt ihn ein, und lasst ihn morgen abholen“, ordnete er herrisch an, während die anderen nur auf den Leichnam starrten.

Wieder war es Cuntz, der sich zuerst aufraffte und der Gestalt am Boden mit einem nachdrücklichen Stoß seines Stiefels zu einer anderen Lage verhalf. Schwer rollte der Körper zur Seite. Ein zerschundenes Antlitz, aus dem die leeren, blutigen Augenhöhlen in das verblassende Grau des Himmels starrten.

Als Cuntz den Umhang am Hals löste, kam auf der Brust des Toten ein zerbrochenes Kruzifix aus weißem Stein zum Vorschein, das an einem ledernen Band hing. Unwillkürlich entrang sich Martins Kehle ein Aufschrei. Nur zu gut wusste er, wer dieses Bernsteinkreuz niemals abgelegt hatte. Jetzt erkannte er auch die vom Wasser aufgedunsenen Züge. Vor ihm lag, was an Wilk von Nauroth sterblich gewesen war.

2. Wer nicht zulangt, kriegt nichts

Die hochbordige Kogge lag fest vertäut an den hölzernen Uferbohlen. Auf dem Vordeck scheuchte der alte Reymer die Bootsknechte herum, als gelte es noch an diesem Abend auszulaufen, während achterwärts in der schmalen Kajüte der Schiffsherr Johann Tigges über den Büchern saß. Die Zahlen sahen nicht schlecht aus, befand er aufatmend. Aber Zahlen waren nicht alles. Im Augenblick vertrieb sich Johann Tigges nur die Zeit damit, die Bilanz zu überprüfen. Er wartete. Einmal musste der Mann erscheinen und die bestellte Ware abholen. Erst dann war Zeit für die wahren Geschäfte.

Seufzend goss er zwei Daumenbreit Branntwein in einen zierlichen Zinnbecher und trank. Ein Kaufmann hatte sich notfalls in Geduld zu üben.

Tigges, schwergewichtig und mit silbrigen Fäden im struppigen Bart, wusste, worauf es in der Welt ankam. Auf den soliden Handel nämlich. Deshalb hatte es ihn mit der „Möwe“ ausgerechnet zum Winter in die nördlichste Stadt des kriegerischen Ordenslandes Preußen verschlagen. Andere Kaufleute der wendischen Hansestädte mieden Memel und die preußischen Städte, seit der höchste Gebietiger des Ordens, der Hochmeister Albrecht, Krieg gegen den König von Polen führte und die dem Polen hörigen Danziger den Seeweg nach Kräften blockierten. Die Memeler, aber auch die Kreuzherren benötigten das eine oder andere, was sich in Kriegszeiten schwer heranschaffen ließ. Nicht einmal durch das Kapern hansischer Schiffe, wie es schon wieder Brauch war hier oben. Nichts traf einen ehrlichen Hansekaufmann mehr als diese blindwütige Kaperei.

Der Waffenstillstand zwischen dem Hochmeister Markgraf Albrecht von Brandenburg-Ansbach und seinem Oheim, dem Polenkönig Sigismund, ging ins letzte Halbjahr. Vier Jahre waren vereinbart worden, bis Ostern 1525. Vergeblich reiste der Hochmeister noch immer im Reich herum, auf der Suche nach Geld und Verbündeten. Beide waren gleich rar in deutschen Landen. Früher, so hieß es, hatten die Ritter selber gekämpft - und verloren, wie seinerzeit bei Tannenberg. Ein Reizwort noch heute für jeden Ordensmann. Inzwischen schlugen sich auf beiden Seiten längst Söldnerscharen, die nach Beute und klingender Münze gierten und ihre Auftraggeber unter Druck setzten, zahlten die nicht pünktlich. Auf diese Weise hatte der Orden die verpfändete Marienburg verloren. Man stelle sich das vor: das stolze Schloss des Hochmeisters von den Söldnern einfach an den Polenkönig verkauft. Welch eine Schande.

Der Krieg war zum Geschäft herabgesunken, und zu keinem guten, wenn man ihn fragte, Johann Tigges, privilegierter Kaufherr der Hanse und Bürger von Lübeck, gebürtig aus der westfälischen Hansestadt Soest. Das war ein Glück, denn wegen seiner Kapergeschäfte mit dem Norweger Severin stand der Orden mit Lübeck auf Kriegsfuß. Man hatte Tigges gewarnt, einen preußischen Hafen anzulaufen. Noch dazu einen, der den Schweden Severins wegen im Visier lag. Wie immer in den letzten Jahren war es schwierig gewesen herauszufinden, wer gerade wieder gegen wen rüstete, und Tigges musste sich einmal mehr auf sein gutes Gespür verlassen, das ihn auch diesmal nicht getrogen hatte.

Im Grunde fochten ihn die dänisch-schwedischen Streitigkeiten und der Händel zwischen dem fernen Hochmeister und seinem polnischen Oheim nicht an. Seine Geschäfte blieben hoffentlich unberührt davon. Von Gotland her war er mit der „Möwe“ gerade noch rechtzeitig durch das Memeler Tief ins Haff hinter der Kurischen Nehrung und in die Dangemündung eingelaufen, bevor der Schiffsverkehr zwischen Martini und Petri Stuhlfeier wie in jedem Winter zur Ruhe kam, während der Frost das wilde, weglose Land nur wenig begehbar machte. Zu seiner unangenehmen Überraschung lagen neben der Ordensjacht „Sperber“ und allerlei kleineren Schuten zwei größere Schiffe am Kai, ein Holländer, der das dringend benötigte Salz von der Loiremündung billiger lieferte als die Hanse und nun hier festlag, und ein protziger Hamburger Holk, der ihm Sorgen bereitete. In den nächsten Tagen musste er herausfinden, was es mit diesem Nebenbuhler auf sich hatte.

Die flügellahme „Möwe“ war alles andere als ein prächtiger Hansesegler. Eine altmodische Dreimast-Kogge nur, der man die Jahre ansah, in der Breite ein wenig plump geraten und insgesamt nicht im besten Zustand. Die Schiffsknechte und die hiesigen Schiffszimmerleute würden allerhand Arbeit haben in den langen Wintermonaten. Hier im Norden waren die Tage noch kürzer als in Lübeck, aber dafür die Löhne geringer und das Eichenholz billig. Obwohl es Tigges nicht an Geld mangelte. Dafür war er schließlich Kaufmann. Im Handel mit England hatte er manches Pfund Gulden verdient, bis man seinem besten Nebenverdienst auf die Schliche gekommen war. Die gesalzene Buße, mit der ihn die Lübecker belegten, konnte er verschmerzen, auch wenn er einen Teil seiner Schiffsparten verkaufen musste. Hauptsache, der Bürgerbrief und das Kaufmannsrecht blieben ihm erhalten, so sehr auch die Steinmollers und Mulichs und andere Hanseherren in den zehn Kompanien gegen ihn hetzten. Ihm gehörten immer noch fünf Achtel der „Möwe“. Ein Viertel hielt der alte Reymer, das letzte Achtel wollte der Londoner Kompagnon nicht hergeben. Dennoch: Damit ließ es sich von Neuem klein anfangen.

Lange hatte es ihn nicht in dem dumpfen Kontor an der Trave gehalten, wo er die scheelen Blicke der missgünstigen Widersacher durch die Fenster spürte. Da fuhr er lieber mit der „Möwe“ und dem alten Reymer hinaus und bahnte neue Geschäfte an, wie es einem wahren Kaufmann anstand, der sich nicht auf andere verließ.

Ins abseits gelegene Städtchen Memel, das die Aus- und Einfahrt ins Kurische Haff beherrschte, war er eher durch Zufall geraten. Lange vor Albrechts Reiterkrieg anno 20/21 war er auf dem Törn mit livländischem Flachs und Pelzen von Reval und Riga im vorzeitig eingebrochenen Winter hier hängen geblieben. Die preußische Stadt erwies sich als gastfreundlich und überaus günstig gelegen für den Wachshandel aus der Rus über den Memelfluss. Das Städtchen selbst, dem Ritterorden untertan, der in seinen goldenen Zeiten die schützende Hand über die Hanse gehalten und dabei mit eigenen Geschäften kräftig verdient hatte, war keine Hansestadt wie Braunsberg oder Königsberg. Schon einmal hatten die Memeler die Schiffe der Lübecker und Hamburger aufgebracht und gekapert, bis der Orden die Stadt und die eigene Burg zurückeroberte.

Die Memeler waren nicht wenig stolz auf ihre Kaperkünste und ihre Widersetzlichkeit, wie Johann Tigges bald erfuhr. Lang zogen sich die Abende in der Herberge „Zum Elch“ hin, und es wurde viel geredet. Erstaunlich viel, zog man die ererbte Maulfaulheit und Gemächlichkeit des eingeborenen Menschenschlags in Betracht. Zu dem waren in den letzten Jahren allerlei prussische und litauische Läuflinge, Überläufer aus Schamaiten, gestoßen. Zwar stammten die Deutschen - und auf die kam es im Ordensland in erster Linie an - aus allen Teilen des Reiches, aber auch aus Masowien und aus Böhmen. Manchen, insbesondere den Schwaben und den Sachsen, haftete noch lange das heimisch geschwinde Geschäftsgebaren an, bevor sie sich dem zähen Zeitfluss der nördlichen Wildnis anpassten.

Auch Tigges, je älter er wurde, und unaufhaltsam näherte er sich der Fünfzig, neigte von Natur aus zu körperlicher Breite und Behäbigkeit. Er galt als starker Esser und ausdauernder Zecher und wusste sich überdies notfalls mit seinen Händen wie Ruderblättern allseitigen Respekt zu verschaffen. Dabei blitzte hinter seiner vorgeblichen Trägheit ein stets überwacher Geist auf, der es ihm gestattete, noch nach dem zwölften Humpen Bier jedes Wort klar aufzunehmen, unter seinem dicken Haarwust zu speichern und gegebenenfalls zum eigenen Vorteil und Gewinn zu verwenden.

Das Leben war nicht eben leicht mit ihm umgesprungen. Der Vater sandte den Elfjährigen, den die junge Stiefmutter ob seiner stummen Widersetzlichkeit hasste, zu einem befreundeten Kaufmann nach Lübeck. Mit Schläue und ausdauernder Duckmäuserei gewann Johann das Vertrauen seines Lehrherrn, fuhr als Geselle bis Porto, London und Bergen und mehrte mühsam die eigenen Einkünfte. Wer nicht zulangt, der kriegt nichts, lautete nicht von ungefähr ein unter den Hansen verbreiteter Spruch, den er sich zu eigen machte.

Johann, zu einem jungen Mann von großer Körperkraft und Findigkeit herangewachsen, überstand alle blutigen Rituale der Aufnahme in die Kaufmannschaft und schreckte vor der letzten Prüfung nicht zurück. Ein echter Hanseherr musste die Tochter eines wohlhabenden Lübecker Patriziers ehelichen. Der Lehrherr hatte vier, sämtlich älter als Johann und wahre Blüten ihres Geschlechts: Auch Disteln blühen einmal im Jahr. Er heiratete die vierte. Deren Ehegemahl war gerade im fernen Spanien einer Krankheit erlegen, die als die Franzosen eben ihren unheimlichen Todesmarsch durch Europa antrat.

Die Witwe erwies sich wider Erwarten als treu sorgende Hausfrau. Sie gebar im Verlauf von acht Ehejahren sechs Kinder, von denen nur eine Tochter überlebte, während sie selbst bei der Geburt des letzten im Wochenbett verschied. Da stand Johann längst mit wohlgefüllter Kasse auf eigenen Füßen, besaß Parten an drei Schiffen und das Kontorhaus mit dem Blick auf die Trave. Für Jahre blieb er in England, nicht allein aus Furcht, einer der noch immer unverheirateten Schwägerinnen angetraut zu werden; nein, es gefiel ihm unter dem strengen Regiment des Oldermans im Londoner Stalhof, wo die privilegierten Herren Faktoren der deutschen Hanse unter sich blieben, von gelegentlichen Gastbesuchen der englischen Gesellschaft abgesehen.

Das Hamburger Bier oder der begehrte Rheinwein lockerten die Zungen mitunter auf gefährliche Weise. Tigges war sich der eigenen Verschwiegenheit sicher. Für seinen Kompagnon hingegen wollte er die Hand in keine Kerzenflamme halten. Der schwor tausend heilige Eide, ihm sei kein verräterischer Laut entschlüpft, doch im stickigen Raum stand das hässliche Wort von der Butenhanse. Von da war es nur ein Schritt, bis die Engländer Klage erhoben gegen ihn, der die Zollfreiheit des Stalhofs für den widerrechtlichen Fremdhandel genutzt habe. Tigges, schon einmal wegen der verbotenen Ausfuhr von Glockenguss aufgefallen und mit einem Strafzoll belegt, wusste, wie die Hansen solchen Verstoß ahndeten. Hals über Kopf begab er sich nach Lübeck, um wenigstens das Ärgste zu verhindern.

Tigges war kein Mann, der vergangenen Zeiten lange nachtrauerte. Gelassen sah er dem Winterquartier in Memel entgegen. Kälte und Schnee, und davon gab es hier im Norden reichlich, machten ihm nichts aus, solange des Abends ein wärmendes Feuer und ein guter Trunk auf ihn warteten. Und vielleicht eine reizende Hausfrau ...

Aber das war wohl zu weit gedacht. Immerhin waren ihm schon in vergangenen Wintern die blonden Töchter des Landes nicht unangenehm aufgefallen, was ihn selbst verwunderte. Im Stalhof blieb Frauen der Zutritt streng untersagt, und was er sonst von der Londoner Weiblichkeit sah, hatte ihn selten länger als ein gut bezahltes Stündchen gefesselt.

Immerhin, er war ein ansehnlicher Mann im besten Alter. Die herangewachsene Tochter hatte er in Lübeck dank eines ordentlichen Brautgeldes gut verheiratet zurückgelassen - weshalb sollte er nicht an seinen nahenden Lebensabend denken. Zwar waren die aufdringlichen Kaufherren aus Augsburg längst dabei, auch den hiesigen Pelzhandel endgültig zu ruinieren, aber er hatte eine goldene Nische entdeckt. Noch zwei, drei erfolgreiche Winterfahrten nach Memel, und er konnte aller weiteren Sorgen ledig an den wohlverdienten Ruhestand denken. Manchmal schmerzte es ihn, dass er keinen Sohn und Erben sein eigen nannte. Aber selbst dafür war es noch nicht zu spät.

In der Kajüte war es empfindlich kalt geworden. Tigges schlug das dicke Buch zu, das den vorweisbaren Teil seiner Geschäfte enthielt, löschte die blakende Öllampe und zog den Pelz um seine mächtigen Schultern. Weder waren der Schäffer noch ein anderer Ordensbruder erschienen. Das wunderte ihn. Unmöglich konnte den Kreuzherren die Ankunft der „Möwe“ entgangen sein. Der Winterhafen auf dem Holm in der Dange lag im Blickfeld der Burg, oder des Schlosses, wie sie ihren groben Backsteinbau auf dem Hügel zwischen Dange und Haff gerne nannten. Tigges hatte freilich andere Schlösser gesehen in seinem Leben.

Ächzend erhob er sich aus seinem Stuhl und reckte die kurzen Arme. Wohl oder übel würde er im Städtchen herumfragen müssen, was er nicht gerne tat. Aus fremden Geschäften hielt sich Johann Tigges heraus. Und dass er an das Burgtor klopfte, kam erst recht nicht infrage. Er war Kaufmann, kein fahrender Händler, der seine Waren vor Toren und auf Plätzen feilbot.

Der alte Reymer murmelte Unverständliches, als der Schiffsherr grüßend die Hand hob, über die Bordwand stieg und sich am Tau zum Kai hinunterließ. Es mochte auf die vierte Nachmittagsstunde zugehen. Grau glomm ein Rest von Tageslicht über der nahen Nehrungsspitze. Etwas Helligkeit kam allenfalls von den dünn dahinwehenden Schneeschwaden zu Tigges Füßen. Die steckten in derben Stiefeln. Verfluchter Norden, dachte er für einen Augenblick. Aber auch daheim in Westfalen, im feuchten Lübeck oder gar im nebligen London war der November ein unwirtlicher Monat, und auf eine Stunde Licht kam es nicht an, wenn man Geld genug für Kerzen besaß oder gar selber mit Wachs handelte. Man musste höllisch achtgeben, dass es die Händler aus der Rus nicht mit billigem Unschlitt aus Rindertalg verschnitten. Aber so weit hatten diese aus fernen Gegenden anreisenden Gestalten ihn schon kennen und fürchten gelernt, dass sie derlei üble Späße nicht mehr an ihm erprobten. Stampfte er mit seinen säulenartigen Beinen zornig auf die Planken der „Möwe“, so wagte keiner, Tigges’ Kenntnisse allerfeinster Wachssorten einschließlich seiner persönlichen Beziehungen zum obersten Kerzenzieher des Heiligen Vaters in Rom anzuzweifeln. Dabei glaubten diese Orthodoxen nicht an den Papst.

Auch Tigges waren der Heilige Vater und alle seine römischen und deutschen Kerzengießer herzlich gleichgültig. Die fromme Stiefmutter hatte das letzte Quäntchen Glauben aus ihm herausgeprügelt, und er hatte die Kirche nur noch unter Zwang aufgesucht. Seit Neuestem war er nicht mehr allein mit seiner geheimen Häresie. Im sächsischen Wittenberg hatte der Doktor Martinus Luther seine Zweifel an der gottgewollten päpstlichen Ordnung und ihren irdischen Vertretern offen ausgesprochen und schriftlich in die Welt posaunt. Wie Feuerbrand breitete sich die ketzerische Lehre aus. Drüben in Gotland predigten sie in der Kirche nichts anderes mehr, ja, selbst der Bischof von Samland bekannte sich neuerdings zu den Reformierern und entweihte Königsbergs Domkirche mit Luthers Wort. Und die Domherren, sämtlich Deutschritter, schwiegen dazu.

Auch Tigges hatte nie an die Wirksamkeit eines erkauften Ablasses geglaubt, und Luthers Wort von der unersättlichen Basilika in Rom gefiel ihm ebenso wie die Frage, weshalb der Papst das Fegefeuer nicht einfach abschaffte, wenn er die Macht darüber besaß.

Ein schlauer Fuchs, dieser Wittenberger. Die Erlösung ist ein Geschenk Gottes. Geschäfte machte man hier auf der Erde, nicht im Himmel. Seinen Gott trug Tigges, wie jeder gute Kaufmann, im Beutel am Gurt mit sich, soweit er nicht an sicherem Ort Aufbewahrung fand.

Zielstrebig schritt Tigges über die hölzerne Brücke auf die Stadt zu. Einer der Torposten an der Palisade erkannte ihn und winkte ihn gnädig durch. Solcher Vorzug ließ sich leicht mit einem Silberstück ausländischer Münze erkaufen, seit das preußische Geld mehr und mehr an Wert verloren hatte.

Zwischen den eng stehenden Hausgiebeln war es schon fast dunkel. Umsichtig bewegte der Kaufmann seinen massigen Leib durch den Kot der unbeleuchteten Gassen. Ein wahres Glück, dass der Frost eingesetzt hatte und dem Boden ein wenig Festigkeit verlieh. Gegen die stolze Hansestadt Lübeck war Memel mit seinen vom Krieg gezeichneten Holz- und Lehmbauten und den schlammigen Gassen nur ein öder Marktflecken, kaum mehr als eine Lischke, wie sie das hier nannten.

In der bescheidenen Herberge „Zum Elch“ fand Tigges die Damrauerin mit von Tränen geröteten Augen vor. Auf seine mitleidigen Fragen wich sie aus und bot ihm heißen Würzwein an, den er dankbar annahm. Er wohnte jetzt den vierten Winter in einer der Kammern über der großen Diele, die gleichzeitig als Schankstube diente, und fühlte sich beinahe zur Familie gehörig. Frau Ruta war trotz ihres Alters um die Vierzig eine ansehnliche Person, auf der Tigges’ Blick oft lange ruhte, wenn er des Abends hier saß und den Gesprächen zuhörte, soweit er sie verstand. Sie war schlank geblieben und hielt sich aufrecht, wie es den Frauen hierzulande eigen schien. Dabei trug sie die ganze Last der Wirtschaft und des kleinen Handels, den sie geschickt betrieb. Ihr kränklich aussehender Mann kümmerte sich vornehmlich um die Bierbrauerei im Hof und das Vieh im Stall. Nur selten und immer schweigend tauchte er in dem düsteren Raum mit dem Lehmfußboden auf, stand ein Weilchen gebeugt und wie verloren herum und verschwand wieder. So auch heute. Begütigend legte er zuvor seiner Frau die Hand auf die Schulter, eine vertrauliche Geste, wie sie Tigges zwischen den Eheleuten noch nie beobachtet hatte.

Mit einem Schaff Wasser in der Hand trat vom Hof her die Tochter Anke ein und grüßte mit einem zurückhaltenden Nicken. Sie war ein hübsches Kind gewesen, als er im März davongesegelt war, ein heranwachsendes Mädchen, das ihn wohlgefällig an die eigene Tochter erinnerte. Nun schien sie über den Sommer aufgeblüht zu einer blonden Schönheit mit der Anmut einer jungen Frau. Und sie war der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.

Unwillkürlich verspürte Tigges ein Ziehen an jener Stelle, wo unter dem Rock und all den Muskeln das Herz versteckt sein musste. Auch bei Rutas Anblick war ihm das schon widerfahren. Eine wie Ruta hätte er genommen, wenn er noch mal an die Ehe dachte. Hatte er im Stillen gehofft, der sauertöpfische Gemahl würde es nicht mehr lange machen, so elend, wie er aussah? Oder musste er warten, bis auch Ruta alt und grau geworden war? Hatte er nichts Jüngeres verdient?

Und wenn schon ein junges Weib, dann eins wie Anke.

Warum nicht sie? Weil sie jünger war als die eigene Tochter? Wen ging das etwas an? Hatte sein Vater ihn gefragt, bevor er die fromme Stiefmutter ins Haus brachte, die erst siebzehn Jahre zählte und sich als ein garstiger Drachen erwies?

Das Mädchen schien seine Gedanken zu erraten. Sie wich seinem Blick aus, als sie ihm den frisch gefüllten Humpen hinschob. Von Ruta und ihrem Mann war nichts zu sehen. Drei kurische Fischersleute aus der Vitte saßen jetzt im halbdunklen Eck. Statt wie sonst die Würfel auf den Tisch zu schlagen, erregten sie sich in unterdrücktem Ton, wobei sie ein ums andere Mal verstohlen zu ihm herüberschauten. Ihre Sprache klang für ihn so unverständlich wie all die einheimischen Dialekte der Balten: Kurisch, Prussisch oder Litauisch. Und in Reval gar Estnisch, das dem Finnischen ähnlich sein sollte. Welcher Christenmensch mochte das unterscheiden. Selbst in den Kirchen predigten sie neuerdings in diesen fremden Zungen, wie Tigges wusste. Das war alles dem Doktor Luther zu verdanken. Ihm konnte es gleichgültig sein.

Er winkte Anke zu sich. Sie stützte sich auf die grobe Tischplatte und sah ihn nicht an. „Das Abendessen?“, fragte sie.

Vertraulich legte er seine schwere Pranke auf ihre schlanken Finger und schüttelte den Kopf. „Was ist heute bei euch los?“, erkundigte er sich eindringlich.

Sie entzog ihm die Hand und richtete sich auf. „Nichts“, sagte sie nicht einmal unfreundlich und blickte über ihn hinweg.

3. Totenwache

Wilk von Nauroths Tod stürzte Martins Gemüt klaftertief ins Schwarze. Der Graumäntler war ihm so etwas wie ein Lehrer und ein Leitbild gewesen, und wenn Martin es gewagt hätte, ihn einen Freund zu nennen, so hätte er es gerne getan. Jetzt war es zu spät d afür. Wilks entstellter Körper lag aufgebahrt in der düsteren Kapelle unter dem weißen Kreuzbanner des Ordens. Um ihn herum hielten Graumäntler Totenwache; die Pfaffen murmelten ihre Gebete. Mit schroffen Worten hatte der Komtur es abgelehnt, dem Schäffer die letzte Ehre einer Totenwache durch die Ritter zu erweisen und ihn hinter dem Altar der Kapelle beizusetzen.

„Er war kein Krieger wie wir. Wer weiß, ob er nicht freiwillig aus dem Leben geschieden ist.“

Martin schwieg dazu, obwohl er es besser wusste. Wilk war ein mutiger Mann gewesen, tapferer als die meisten Ritterbrüder im Konvent, und zu meinen, er habe sich selbst entleibt, war angesichts der ausgestochenen Augen eine ungerechtfertigte Mutmaßung. Des Komturs abschließende Feststellung: „Außerdem war er ein Prusse“, klang noch abwegiger. Hatte ihm Wilk nicht gerade deswegen als unbestechlicher Schäffer und nimmermüder Tolke, als sprachkundiger Dolmetsch also, die besten Dienste geleistet?

Nicht einmal der raue Cuntz hätte jemals zu Lebzeiten Wilk von Nauroths ein Wort über dessen Abstammung verloren. Wilks Familie gehörte zum einheimischen Adel, zu den Großen Freien oder Witingen, die dem Orden bei der Eroberung des Landes Beistand geleistet und seither treu gedient hatten. Gewiss, kein Prusse, Kure oder Litauer konnte ohne Weiteres ein vollwertiger Ritter des Deutschen Ordens sein, und die Festlegung im Thorner Frieden, auch polnische Ritter in den Orden aufzunehmen, war niemals Wirklichkeit geworden. Nur Michael Werner von Skloden, der Vertrauensmann des Hochmeisters, den sie seiner Herkunft wegen „Preuß“ nannten, war im Orden zu einigen Ehren aufgestiegen, argwöhnisch beäugt vom Herzog Erich und seinen Anhängern. Auf Befehl des Hochmeisters sollte Preuß sogar nach Gotland reisen, um mit den Schweden gegen Severin Nörby über einen Frieden für Preußen und Memel zu unterhandeln. Dem waren die Lübecker zuvorgekommen, denen der Schwedenkönig einräumte, bis Michaelis keine Angriffe gegen die Preußen zu führen. Und die Lübecker ließen sich diesen Dienst gut bezahlen. Severin, gestern noch Freund und Verbündeter in Memel, galt nun als Feind.

Für jeden, auch für Martin, war es schwierig zu durchschauen, wer mit wem verbündet war und wer gegen wen antrat. Wilk von Nauroth war ihm da von Anfang an ein zuverlässiger Führer gewesen. Gleich nach Martins Eintritt in den Orden, bei der monatelangen Belagerung von Heilsberg, war ihm der Graumäntler zugeteilt worden. Die Kreuzherren hatten ihr ringförmiges Lager abseits von den anderen aufgebaut. In der Mitte war der notdürftig überdachte Feldaltar aufgeschlagen, zu dem sich die Ritter nicht sonderlich hingezogen fühlten. Sie vertrieben sich die Zeit mit Kampfspielen und hungrigen Ausritten in die Umgebung, wo es schon lange nichts mehr zu holen gab, so sehr man die Dörfler auch bedrängte und peinigte. Martin tat kräftig mit, war jedoch nicht mit dem Herzen dabei. Die geschundenen Bauern sahen elend genug aus und waren keine Heiden, sondern Christen.

Wilk ahnte wohl etwas von Martins Beklommenheit. Im Zelt, wo sie zu viert auf dem blanken Boden nächtigten, sprach er bis in die Nacht mit ihm. Dabei galten nach dem Komplet, dem letzten Gebet nach Sonnenuntergang, für alle Ordensbrüder Schweigegebot und Nachtruhe. Mochten die wüsten Landsknechte draußen bis gegen Morgen noch so lärmen, wenn der Kaplan die Ritterbrüder zu Matutin weckte, dem ersten Gebet, das die meisten von ihnen verfluchten, war die Nacht zu Ende.

Es war alles ganz anders, als Martin es sich vorgestellt hatte. Tagsüber vermochte er in dem Wirrwarr von Bewaffneten und Pferden, Geschützen und Hunderten Trosswagen, von wüsten Reden und schaurigen Gerüchten weder Sinn noch Plan zu erkennen. Wilk hingegen teilte mit steinerner Miene die kriegerische Brandung ringsum wie ein Fels. Von ihm erfuhr Martin, was vor sich ging. Dass der Hochmeister Albrecht gemeinsam mit seinem Bruder, dem argen Markgrafen Kasimir, gegen den polnischen König, den Bruder der eigenen Mutter, stand. Albrecht verweigerte ihm den Treueid, zu dem ihn der Vertrag von Thorn verpflichtete. Mehr als fünfzig Jahre lag die Schmach von Thorn zurück. Doch Ehre blieb Ehre, und Albrecht, selber gerade dreißig geworden, wollte nicht auf Danzig und das reiche Thorner Land verzichten. Sein Vetter Joachim herrschte als Kurfürst in Brandenburg, und dessen Bruder wiederum, noch ein Markgraf Albrecht aus dem Geschlecht der Hohenzollern, hatte sich mit dem Geld der Familie zum jüngsten Erzbischof von Magdeburg und Kurfürst von Mainz aufgeschwungen. Die reichen Augsburger Fugger liehen ihm Geld, der Papst privilegierte ihn zum Ablasshandel, wenn die Hälfte der Einnahmen für den Bau des Petersdoms nach Rom flössen. Erzbischof Albrecht holte den wegen Ehebruchs zum Tode durch Ersäufen verurteilten und vom Sachsenherzog zu ewiger Haft begnadigten Dominikaner Tetzel aus dem grimmmaischen Turm zu Leipzig und ernannte ihn zum „Untersuchungsrichter der ketzerischen Entstellungen“ und zu seinem obersten Ablasskrämer. War es ein Wunder, dass sich der Doktor Luther in Wittenberg gegen Tetzels freches Gebaren empörte und die halbe Christenheit aufschrie?

Martin hörte all das staunend. Von Luther war auch in Lemgo, woher er stammte, und in Lübeck die Rede gewesen. Allein, dass ein Markgraf sich gegen den eigenen Oheim erhob, erschien ihm unbegreiflich, war er doch selbst auf der Burg des Bruders seiner Mutter zum Knappen herangewachsen.

Düster starrte Martin auf den schrecklichen Leichnam vor seinen Augen. Wer sollte ihm künftig derlei Angelegenheiten erklären? Da lag der treue Lehrmeister kalt und fremd, nur von fröstelnden Graumäntlern und herunterbrennenden Kerzen umgeben, auf dem Katafalk. Schon morgen würde man ihn auf dem winzigen Burgfriedhof zu Grabe tragen.

Der herrische junge Komtur, dem man kaum Betroffenheit über den unerwarteten Tod seines gewissenhaften Schaffers anmerkte, hatte angesichts des Zustandes der Leiche eine schnelle Beisetzung angeordnet, nicht ohne starke Worte gegen das lutherisch verseuchte, aufständische Bauern- und Bürgerpack zu finden, das diesen braven Diener des Ordens wie manch anderen auf dem Gewissen habe. Die Ritter hatten Vergeltung gelobt, verfiel doch jeder, der gegen einen Angehörigen des Ordens die Hand erhob, nach altem Recht unweigerlich der Todesstrafe.

In Wahrheit schien sich niemand dafür zu interessieren, auf welche Weise Wilk zu Tode gekommen sein mochte, ein kräftiger Mann in den besten Jahren, der sich seiner Haut wohl zu wehren wusste. Bruder Mauritius, der dunkelhäutige Spittler, hatte ihn untersucht und mehrfach den Kopf geschüttelt, auf Martins Fragen jedoch nicht geantwortet.