Poesie ist kein Beweis - Jan Eik - E-Book

Poesie ist kein Beweis E-Book

Jan Eik

4,4

Beschreibung

Eine junge Frau stirbt an den Folgen einer Überdosis Schlaftabletten. Auf der Suche nach dem Motiv der Tat gerät der K auch der Journalist Conrad Pingel, ein Bekannter der Verstorbenen, unter die Lupe. Durch das gegen ihn gerichtete Misstrauen motiviert, beginnt er mithilfe eines „lyrischen Steckbriefes“ nach einem Mann zu recherchieren, den die junge Frau anscheinend mehr liebte als ihr Leben. Obwohl Conrad Pingel die polizeilichen Ermittlungen erschwert, in den Verdacht zumindest moralischer Schuld gerät und selbst beinahe einen Unschuldigen „überführt“, kann er die Klärung des Todesfalles durch die K auch für sich als Erfolg verbuchen. LESEPROBE: Im trüben Licht des scheidenden Wintertags betrachtet, hatte ihm dieser Freitag bisher etliche Nieten beschert. Missmutig stapfte Conny durch die matschigen Schneereste und ließ sich von hastenden Fußgängern zu einem Tempo antreiben, das seiner Gemütsverfassung keineswegs entsprach. Nur um Zeit zu gewinnen und aus Gewohnheit betrat er eine Buchhandlung, blätterte ein paar Bücher durch, die vermutlich schon vor Weihnachten dort gelegen hatten, beguckte einen Bildband, der ihm gefiel, bis auf die fünfstellige Zahlenangabe im Impressum, die neuerdings den Inlandspreis tarnte. Das Gespräch mit Pepe hatte außer dessen Gnatz, der vergehen würde, keinerlei Ergebnis erbracht - jedenfalls kein Ermittlungsergebnis, das ihn auf eine rasche Überführung des Täters hoffen ließ. Dass Pepe vorgab, Tee nicht zu mögen, war natürlich kein eindeutiger Beweis seiner Unschuld. Doch hatte er wirklich gehofft, Pepe als Mörder zu entlarven? Der Gedanke, es könnte im Kreise seiner engsten Nachbarn, ja Freunde einen Menschen geben, der einen Mord raffiniert geplant und durchgeführt hatte, erschien ihm nach wie vor absurd. Besaß er denn so geringe Menschenkenntnis, dass ihm niemand von denen auch nur unsympathisch genug für ein weniger schweres Verbrechen erschien? Pepe war ein Großmaul und ein kleiner Spekulant und ein Weiberheld, wie möglicherweise auch Jarowsky einer war, und Wilmar konnte schon recht seltsam sein - aber ein Mörder? Es wollte ihm nicht in den Sinn, dass Gerlinde einen Mann, der einer solchen Tat fähig war, nicht beizeiten durchschaut hatte. Oder hatte sie ihn durchschaut und musste deshalb sterben? Jedenfalls musste der Mann einige Zeit sehr angenehm auf sie gewirkt haben. Weshalb sollte sie sich ausgerechnet einem Unsympathischen zugewandt haben? Wirkte er selber beispielsweise unangenehm auf Frauen?

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Impressum

Jan Eik

Poesie ist kein Beweis

Kriminalroman

ISBN 978-3-95655-431-5 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1986 im Verlag Das Neue Berlin (DIE-Reihe Delikte Indizien Ermittlungen).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Die Geschichte ist erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen und tatsächlichen Begebenheiten wären zufällig.

1. Kapitel

Als Conny die dreihundert Teile des Puzzles auf seinem Schreibtisch ausgeschüttet hatte und sie nach Farben und Motiven zu ordnen begann, erlahmte sein Eifer schnell. Allzu viele Bruchstücke blauen Himmels und undurchdringlichen Dickichts waren darunter, viel mehr als die Vorlage vermuten ließ. Die Ausschnitte mit den Dächern der südlichen Stadt in der Ferne und den im Vordergrund abgebildeten Personen hatte er bald zusammengesetzt. Ein Bild von annähernder Vollständigkeit aber wollte ihm nicht gelingen.

Gitta, die ihm das Spiel zu Weihnachten geschenkt hatte, schien recht zu behalten: Ein geduldiger Mensch war Conrad Pingel nicht. Außerdem hatte er keine Zeit für derartige Späße. Buzek lauerte auf ihn und den versprochenen Gerichtsbericht von P. Legien. Von seinen zahlreichen Pseudonymen klang das am ernsthaftesten. Glossen pflegte er einfach nur mit Conny zu unterzeichnen. Für längere Beiträge standen ihm wahlweise P. Nigel oder Leo C. Pingrad zur Verfügung. Als Carl Peingold bot er den Lesern Wanderrouten und Stadthistorisches an. Congelin hieß er als Kulturrezensent, und gelegentlich nannte er sich auch Gelpin oder Leping. Aus Conrad Pingel ließ sich eine Menge neuer Namen herstellen. Selbst als Pingoin war er schon im Blatt aufgetaucht. Natürlich hatte ein gewissenhafter Leser diese Schreibweise des antarktischen Vogels bemängelt und die sprachgeschichtliche Ableitung des Namens beigefügt.

Buzeks Büro, spartanisch eingerichtet und nüchtern wie die meisten Beiträge in der Zeitung, deren Redaktion er seit Jahrzehnten angehörte, roch nach kaltem Rauch und staubigem Papier, das sich in hohen Stößen auf jedem freien Platz türmte. Der Redakteur war ein freundlich wirkender Mensch mit länglichem Schädel, auf dem nur noch wenige Haare sprossen, die er vermutlich morgens sorgfältig zur Stirn hin kämmte. Conny kannte ihn nicht anders als mit verwehten Strähnen auf dem Hinterkopf und blanker Glatze vorn, über die Buzek von Zeit zu Zeit mit den Fingerspitzen strich, als forsche er nach wiederkehrendem Haarwuchs.

Das Erscheinen seines freien Mitarbeiters stimmte ihn offensichtlich fröhlich. „Wird Zeit, dass Sie auftauchen. Ich habe etwas für Sie.“ Er schaute Conny mit strahlenden Augen an. „In Ihrer Heimatstadt! Was sagen Sie nun?“

Conny schwieg vorsichtshalber. Angesichts Buzeks dick aufgetragener Freude schien ihm das angebracht. Außerdem machte sowieso niemand einem freien Mitarbeiter eine Reportagefahrt über zweihundert Kilometer mit der Reichsbahn und für sieben Mark Tagegeld streitig.

In der Stadt, in der Conny geboren war, stand der Hochschule ein Jubiläum ins Haus. Buzek oder - was wahrscheinlicher war - die Redaktionssekretärin hatte bereits alles geklärt: Eine Magnifizenz war gefunden und ein Termin vereinbart. „Morgen um elf“, sagte Buzek. „Fünfundfünfzig Zeilen für die Wochenendausgabe.“

„Morgen?“, fragte Conny gedehnt. „Morgen ist bereits Donnerstag. So aktuell sind wir doch sonst nicht.“

Buzek strahlte nicht mehr. „Da ist was rausgefallen“, brummelte er. „Als ich bei der Zeitung anfing, wurde noch nachts gearbeitet. Sie haben bis Freitag vormittag Zeit!“

„Ich werde mir Mühe geben.“ Immerhin bot diese unvorhergesehene Reise ihm die Möglichkeit, Tilly eher zu besuchen, als er es versprochen hatte.

„Dann habe ich noch etwas Leichtes für Sie: eine Dichterlesung. Am Freitagabend.“ Buzek kramte in dem Papierberg auf seinem Schreibtisch. „Ach ja“, rief er aus und zog eine Klappkarte aus dem Stapel, „das hätte ich beinahe vergessen. Jazz für jedermann. Dienstagabend im Kreiskulturhaus. Zwanzig Zeilen. Höchstens.“ Er blickte auf und in Connys enttäuschtes Gesicht. „Irgendetwas nicht gut daran?“, fragte er. „Sie können sogar Ihre Freundin mitnehmen.“

Conny griff nach der Einladungskarte. Sollte er Buzek erklären, dass es für Gitta nur Musik aus dem eigenen Rekorder gab, allenfalls noch Disco, jedenfalls keinen Jazz für irgendwen?

„Etwas Interessanteres hätte es schon sein dürfen“, sagte er nur.

Buzek guckte vorwurfsvoll. „Dafür sind Sie der Gerichtsreporter!“

Conny zuckte mit den Schultern. „Monatlich einmal gewalttätige Alkoholiker. Oder Oberschlaue, die auf oberschlaue Weise Geld unterschlagen. Oder etwas klauen und es noch Oberschlaueren verkaufen.“

Buzek winkte ab. „Und alle reden sich auf ihre schwere Jugend ’raus. Das kenne ich noch aus meiner Reporterzeit. Die Staatsanwaltschaft kann nicht Ihretwegen pausenlos Mordprozesse inszenieren. - Trinken Sie einen Kaffee mit?“

Damit waren sie bei ihrem nicht verabredeten Ritual angelangt. Buzek stand auf. „Sie haben doch sicherlich noch zu telefonieren“, sagte er und ging, um das Gebräu zu holen, das in diesem Haus als Kaffee galt.

„Wie Sie darauf nur gekommen sind!“ Conny tat verblüfft, als würde ihm erst jetzt bewusst, ein wie guter Beobachter Buzek war. Er griff nach dem Telefon.

2. Kapitel

Conny war noch nie aufgefallen, dass Hildegard Gericke, die Frau seines Freundes Manfred, schreckhaft veranlagt war. Und doch stieß sie einen schrillen Entsetzensschrei aus, als sie die Wohnungstür öffnete und ihr Blick auf einen im oberen Türausschnitt verkeilten Körper traf. Dabei war ihr Nachbar Pepe lediglich auf die Idee verfallen, seine Künste im Kaminklettern vorzuführen.

Hildegard, die aussah wie eine Frau, die nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen ist, weder von den Kunden der Apotheke, die sie leitete, noch von den Skatspielern, die sich alle vierzehn Tage in ihrer Wohnung versammelten, taumelte in den Korridor zurück. Glücklicherweise stand Conny, der kurz zuvor gekommen war, noch dort und fing sie auf, soweit er sie zu halten vermochte.

Dieser Pepe war ein verrücktes Huhn. Federnd plumpste seine schlaksige Gestalt auf den Fußabtreter. „War nicht so gemeint“, sagte er entschuldigend. Sein parfümiertes Jungengesicht leuchtete rötlich. Verlegen fuhr er sich mit den Fingern durch die frisch geföhnte Mähne. „Böse?“, fragte er.

Hildegard, die sichtlich um Fassung rang, schüttelte den Kopf.

Inzwischen kam Manfred aus dem Wohnzimmer. Ein bisschen spät, fand Conny, bei einem so lauten Schrei der eigenen Frau. „Biete Hilde mal einen Schnaps an“, riet er ihm.

Sie wehrte ab. „Ich bin ein bisschen mit den Nerven ’runter. Ich trinke lieber einen Schluck Wasser.“

„Wasser?“ Pepe verzog angewidert das Gesicht. Er war Fensterputzer von Beruf und kam auch bei dieser Tätigkeit mit einem erstaunlichen Minimum der Flüssigkeit aus.

In seinem Betrieb begann er täglich um dreizehn Uhr zu putzen, im Winter um zwölf. Ab sechzehn Uhr sind keine Exzellenzen mehr im Bau, lautete seine Erkenntnis, da kannst du Feierabend machen, wann immer du fertig bist. Der Vormittag gehörte Pepes Privatkunden, zu denen er mit Eimerchen und Fußbank in seinem Dacia kutschierte. Fast ausschließlich Kundinnen übrigens, wie Pepe augenzwinkernd berichtete.

In Gerickes Wohnzimmer wartete bereits Wilmar Weimann auf dem viersitzigen Sofa, ein schlanker, beinahe hagerer Mensch von unbestimmbarer Jugendlichkeit. Ein Gebirge sorgfältig abgestufter lackschwarzer Locken bedeckte seinen nach oben ausladenden Schädel und ließ das ausgeprägt schmale Kinn um so länger erscheinen. Bekleidet war er mit einer kunstvoll gemusterten Strickjacke mit Wildlederaufsatz, einem roséfarbenen Hemd und einem bunten Halstuch. Dazu trug er Jeans und Kamelhaarpantoffeln. Er war eben Künstler.

Und noch dazu einer, um den mehr dünne Mädchen herumschwirrten, als ein einzelner Mann binnen Jahresfrist vernaschen konnte.

Wilmar war Fotograf. Modefotograf hauptsächlich. Die meisten dieser überschlanken Damen tauchten früher oder später, exotisch bekleidet und vor Industrieanlagen oder auf Hafenmolen bizarr postiert, als Farbfotos in großformatigen Journalen auf. Oft fehlten auf den Bildern ihre Füße, wahrscheinlich des unpassenden Schuhwerks wegen, nie jedoch ein mokant-gelangweilter Gesichtsausdruck, durch dämonische Augenmalerei noch verstärkt. Ließ sich mit solchen Frauen außer Fotografieren überhaupt etwas anfangen? Die Aktstudien jedenfalls, die Wilmar Conny einmal gezeigt hatte, strahlten kein erotisches Flair aus.

Eine Frau wie Hildegard Gericke hatte Wilmar vermutlich noch nie auf den Film gebannt: eine vollbusige, mütterliche Mitdreißigerin mit kräftiger Figur und strammen Waden. Erstaunlich leichtfüßig trug sie eine Platte mit belegten Schnitten und Appetithäppchen und einen gedrechselten Holzkäfig mit Flaschenbier herein.

Auf dem Tisch, der aussah wie geschnitzt, stand eine Flasche Weinbrand bereit, dazu Schwenker, Bierseidel, Aschenbecher, eine Schale mit Erdnussflips, ein Glas mit Salzstangen; Zigaretten, Spielkarten - nichts war vergessen. Hildegard, die vollendete Gastgeberin. Überdies besaß sie Geschmack. Selbst die Anbauwand mit dem japanischen Farbfernseher wirkte in ihrem behaglichen Wohnzimmer weniger klotzig als in den meisten Wohnungen, die Conny im Laufe seiner Reportertätigkeit kennengelernt hatte.

„So“, sagte sie befriedigt, „nun esst erst mal einen Happen.“ Conny ließ sich in den tiefen Sessel an der Stirnseite des Tisches fallen. Wilmar schaute ihn missbilligend an und sagte: „Wie wundervoll Sie das alles wieder vorbereitet haben, Frau Hildegard.“ So nannte er sie tatsächlich. Sie wurde rot und verschwand eilig.

„Was hast du vorhin wieder angestellt?“, erkundigte sich Wilmar bei Pepe, denn wer sonst konnte etwas angestellt haben.

Pepe, schon wieder mit der ihm eigenen fröhlichen Unverschämtheit, entgegnete: „Bei manchen Softies würde eine Frau nie schreien.“

Das Turnier war eröffnet.

Die Idee und die Einladung zu den regelmäßigen Skatabenden stammten von Manfred, einem äußerlich gelassen wirkenden Spieler, dabei bauernschlau und berechnend, während Pepe kühn und mit vorgetäuschter Sicherheit frech das Glück herausforderte, das ihn nur selten verließ. Wilmar hingegen, den Conny eines Tages als vierten Mann mitgebracht hatte, spielte still und vorsichtig und verlor meistens.

Conny betrachtete das Spiel als Zeitvertreib. Er mochte die Atmosphäre dieser Abende, Hildegards Delikat-Happen und Pepes vorlaute Anpflaumerei, Wilmars sparsame Gesprächsbeiträge oder die Schnurren aus der Jugendzeit, die Manfred beisteuerte. Er und Conny hatten sechs Jahre lang im gleichen Klassenraum mit den Stühlen gekippelt, bevor sie sich für beinahe zwei Jahrzehnte aus den Augen verloren und schließlich hier in der 13. Etage des Hochhauses als Flurnachbarn wiederentdeckt hatten. Manfred Gericke arbeitete als Ingenieur irgendwo bei der Reichsbahn, eine Tätigkeit, von der es auch allerlei zu erzählen gab. Vorher hatte Conny jedenfalls nicht gewusst, dass man Büros mit alten Lokomotiven heizen konnte.

Wilmar fand, Lokomotiven gäben ein reizvolles Backgroundmotiv ab.

Conny erwartete die fachmännische Stellungnahme des Modelleisenbahners Pepe, aber der schwenkte um auf das zweite seiner beiden Lieblingsthemen oder vielmehr sein Thema Nummer eins.

„Stellt euch vor“, sagte er und klaubte Karte für Karte vom Tisch, „ich putze heute in so einer alten Scheune die Oberlichter und gucke mal ’runter, quer über den Hof - da steht drüben eine am Fenster und kämmt sich in aller Seelenruhe die Haare. So lang.“

Er hielt die freie Handfläche in Höhe seines unteren Rippenbogens. „Steht da und kämmt sich und hat Jeans an.“

„Achtzehn“, sagte Wilmar. „Zwanzig. Zwei. Drei. Vier …“

Bei jeder Zahl nickte Pepe großzügig. „Nur Jeans. Versteht ihr?“

Natürlich verstanden sie. Ganz beiläufig übernahm Pepe bei sechsunddreißig das Spiel und sortierte mit flinken Fingern seine Karten.

„So schnell habe ich noch nie poliert. Dann ’rüber zu ihr und geklingelt: Ob’s nichts zu putzen gäbe …“

Ungläubig fragte Manfred: „Und das Mädchen trug wirklich nur Jeans?“

„Hatte eine Strickjacke übergezogen. Mit sehr weiten Maschen. Meinte, ich könnte ihr das Schößchen putzen, sie käme schlecht ’ran.“

Er machte eine effektvolle Pause und legte zwei Karten zur Seite.

„Schößchen?“, fragte Conny prompt.

„Kommt das nicht aus eurer Gegend da unten? Nachher hat sie mir nämlich erklärt, dass sie die Oberlichter meinte.“ Wilmar sah Pepe strafend an. „Spielen wir nun - oder …“

„Grand“, sagte Pepe und griente breit.

Conny schaute zu Manfred, der ihm im Sessel gegenübersaß. Manfred erwiderte seinen Blick und zwinkerte ihm zu. „Bei so viel Glück in der Liebe - da geben wir vorsichtshalber Kontra“, sagte er.

„Gesellt sich deine Gattin heute nicht zu uns?“, fragte Wilmar, dem Pepes Aufschneiderei an die Nieren zu gehen schien. Üblicherweise saß Hildegard mit ihrem Strickzeug in der Sofaecke, während die Männer spielten. Oder sie tat, als sei sie in ein Buch vertieft. In Wirklichkeit aber passte sie auf, dass die Gläser rechtzeitig gefüllt und die Aschenbecher geleert wurden.

„Sie fühlt sich nicht wohl“, erklärte Manfred, und unwillkürlich begegneten sich Connys und sein Blick schon wieder. Conny schüttelte fast unmerklich den Kopf. Glaubte Manfred etwa, er hätte sich was anmerken lassen?

Pepe protestierte: „Ej, wir sind hier nicht bei der Pantomime!“

Besonders schlecht schien es Hildegard Gericke glücklicherweise nicht zu gehen. Sie kam herein, stellte wortlos die Ordnung auf dem Tisch wieder her, schüttete Erdnussflips auf und goss Weinbrand ein. Dann setzte sie sich in ihre Sofaecke zwischen Wilmar und Conny und nippte an einem Glas Saft. Conny, der ein schwaches Karo aus der Hand zu spielen versuchte, spürte, dass sie ihn ungewohnt aufmerksam beobachtete. Er wurde noch nervöser, und natürlich verzählte er sich bei den Trümpfen und verlor.

„Alles in Ordnung bei dir, Conny?“, erkundigte sich Hildegard teilnahmsvoll.

„Alles in Ordnung. Ich spiele so mies wie immer.“

Wenn Hildegard etwas ahnte oder gar wusste, dass er etwas wusste - diesen Gedanken empfand Conny als höchst unangenehm. Er schielte zu Manfred hinüber, der gerade unter dem Buchstaben C gewissenhaft den Verlust notierte.

Es war kurz vor Weihnachten gewesen. An jenem Abend war Conny früher als gewöhnlich von Gitta weggegangen und in einer der nahen Kneipen eingekehrt. Es handelte sich um ein einstmals für den werterhöhten Geschmack vorgesehenes Etablissement, an dem der Zahn des gastronomischen Alltags indessen genagt hatte. Während Conny wehmütig die Bisswunden betrachtete und dabei einen Korn und ein Bier trank, waren seine Gedanken noch bei Gitta gewesen und bei dem Urlaub, der vor ihnen lag: ihr erster gemeinsamer. So hatte er erst nach geraumer Zeit gemerkt, dass die gut gefärbte Blondine, die er durch die Portiere zu einem Seitengemach mit der Überschrift WEINABTEILUNG beobachten konnte, nicht etwa seine abwesenden Blicke, sondern die ihres Gegenübers erwiderte. Er sah dessen Hand mit der Zigarettenschachtel, dann seine Rückansicht, die schwarzen, schon ein wenig melierten krausen Haare über einem blütenweißen Hemdkragen. Die Frau, im besten Alter oder zumindest vorteilhaft geschminkt, sah aufregend aus in ihrem weit ausgeschnittenen metallglänzenden Pullover. Ein richtiges feines Paar. Nur war der Blick zu feurig, um miteinander verheiratet zu sein.

Der Mann beugte sich noch weiter vor, das angezündete Gasfeuerzeug in der kräftigen Hand. Dann sah er sich um und Conny direkt in die Augen. Es war Manfred Gericke. Erschrocken wollte Conny sein Bier im Stich lassen. Nur keine Komplikationen unter Freunden. Doch noch ehe er zahlen konnte, stand Manni schon neben ihm: Setz dich zu uns. Ich muss dir meine Bekannte vorstellen.

Sie hieß Barbara Seidlitz. Eine sehr gute Bekannte, den Blicken nach zu urteilen. Sie gefiel Conny, obwohl sie einem Typ entsprach, dem er sich nie genähert hätte. Er holte sich nicht gerne eine Abfuhr. Sie sah einfach nicht aus, als wäre sie ohne Manfreds Anwesenheit besonders freundlich zu ihm gewesen. So aber lächelte sie ihn an, was ihn nicht hinderte, sich unbehaglich zu fühlen. In seinem Unterbewusstsein ahnte er genau die Situation voraus, in der er sich nun befand: zwischen Hildegard und Manfred sitzend, die beide etwas von ihm erwarteten. Hildegard offensichtlich eine deutlichere Antwort als die über seine Qualitäten als Skatspieler und Manfred sein Schweigen, wie man es bei seinem ältesten und besten Freund voraussetzen durfte. Als den hatte er Conny der blonden Barbara vorgestellt, und das war nicht gelogen.

Conny nickte Manfred wiederum beruhigend zu und sagte: „Ich denke, für mich wird das die letzte Runde. Ich bin heute nicht in Form.“

„Also doch Probleme“, meinte Hildegard.

Für Pepe gab es nur eine Art von Problemen, und er kannte die Lösung: „Schaff dir ein paar scharfe Bräute an, und du wirst sehen, wie gut es dir geht.“

Hildegard wusste es besser. „Wie gut es denen mit solchen Bräuten geht, verraten die Rezepte der Fachärzte für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Erspare dir das lieber, Conny.“

Pepe griente. „Keine Gefahr. Du musst dich an die fest Vergebenen halten.“ Und zu Hildegard gewandt: „Pardon, Frau Nachbarin. Das Leben ist nun einmal so.“

Wilmar blickte vom Kartenmischen auf und musterte Pepe spöttisch. „Das Leben ist so leicht zu durchschauen. Besonders wenn die Scheiben gut geputzt sind.“

„Dunkelkammern haben keine Fenster!“, konterte Pepe. „Du solltest dir beispielsweise mal deine Nachbarin angucken. Diese kleine Dolmetscherin ...“

Das war zu viel für Hildegards Geschmack. „Sie sollten sich schämen, Pepe! Das ist eine grundanständige junge Frau. Und außerdem mindestens fünf Jahre älter als Sie!“

„Wer redet denn vom Alter? Nur unzufriedene Frauen altern zusehends. Und wenn sie nicht anständig wäre, würde ich sie mir gar nicht angucken.“ Sein Augenaufschlag war entschieden scheinheilig, schien aber Hildegard zu beruhigen.

„Bloß den Kumpel, der bei ihr wohnt, den habe ich schon zweimal mit einer anderen im Fahrstuhl getroffen.“ Pepe sah sich zufrieden um. „Das sind die wahren Probleme, auf die man achten muss, mein Lieber“, sagte er gönnerhaft zu Conny.

„Ich habe keine Probleme. Ich bin müde und muss morgen wegen einer Dienstreise früh ’raus.“ Und um seinen Worten Glaubwürdigkeit zu verleihen, lehnte Conny sich wie erschöpft in den Sessel zurück.

Pepes seelenkundiger Blick durchschaute die Komödie. „Gib zu“, sagte er feixend, „du hast noch was Besseres vor.“

Damit spielte Pepe zweifellos auf Gitta an. Und warum sollte er nicht zu ihr fahren? Seit ihrem verregneten Winterurlaub hatten sie sich nicht wiedergesehen.

Hildegard ließ es sich nicht nehmen, ihn zur Tür zu begleiten. „Willst du deinen Schlüssel vorsichtshalber hierlassen?“, fragte sie fürsorglich.

„Nein. Ich bleibe nur einen Tag.“ Außerdem hatte seit einiger Zeit Gitta diesen Schlüssel, aber das erwähnte er nicht. Hildegard sah ihn noch immer an, als erwarte sie mehr von ihm.

„Mit mir kannst du über alles reden“, sagte sie dann.

„Ich weiß“, entgegnete Conny, und wieder überkam ihn das ungute Gefühl wie in der Gaststätte.

Hinter ihnen trat Manfred aus dem Zimmer. „Bringst du bitte Bier mit“, bat er Hildegard und blieb abwartend.

„Gute Nacht“, sagte Conny und zog eilig die Tür hinter sich ins Schloss.

3. Kapitel

Gitta wohnte in einer grauen Straße mit abgebröckelten Fassaden. Ihr Berliner Zimmer, im zweiten Hof hochparterre links, Toilette eine halbe Treppe höher, maß dreiunddreißig Quadratmeter; der Hof, auf den das elektrische Licht durch das einzige Fenster des Zimmers hinausdrang, nicht viel mehr. Gittas Sohn Guido litt an Bronchitis.

Als Conny an diesem späten Abend in der Küchentür auftauchte, die gleichzeitig die Wohnungstür war, ließ Guido ein nicht unfreundliches „Hallo, Conny!“ hören, bevor er sich wieder den Ereignissen auf der Mattscheibe des weiß lackierten Fernsehgeräts zuwandte.

Die Küche war ein lang gezogener, meergrün getünchter Raum, in dem sich die mit biberbraunem Autolack verschönten Küchenmöbel verloren ausnahmen. Die Türen des Küchenschranks zeugten von Gittas Versuchen in naiver Bauernmalerei.

Wollte Conny nachts bei Gitta bleiben, musste Guido in der Küche auf dem Sofa schlafen, auf dem er jetzt saß. Zwar war das Zimmer groß genug für wesentlich mehr als drei Personen, doch Gitta hielt nichts von Anschauungsunterricht für Guido, auch nichts von Hörspielen. Und die blieben nicht aus, wenn sie und Conny beieinander waren. Dazu waren sie schließlich beieinander. Wenn es sein musste, sogar auf dem zu kurzen Küchensofa.

„Hast du Abendbrot gegessen?“, fragte Gitta.

Conny küsste sie auf ihre weiße Stirn. „Reichlich“, sagte er. Gitta kniff die Augen ein wenig zusammen und sah ihn forschend an. „Du hast auch was getrunken“, stellte sie ohne Vorwurf fest.

„Ich habe mich beim Skatabend ausgeblendet. Deinetwegen.“

Gitta reagierte nicht. „Ich hole uns was zu trinken“, sagte sie und ging ins Zimmer, aus dem das quarrende Geräusch des Rekorders drang.

Ohne von den grauen Konturen auf dem Bildschirm wegzublicken, äußerte Guido in einem sehr endgültigen Ton: „Ich schlafe nicht auf dem Sofa.“

Conny spielte den Erstaunten. „Wie kommst du denn darauf?“

Er rückte den Küchentisch ein wenig nach vorn und ließ sich neben dem Jungen auf den ächzenden Sprungfedern nieder. Was Guido sich da auf dem Fernsehschirm als Bild zusammenreimen mochte, blieb schleierhaft.

Er versetzte Guido einen sanften Stoß mit dem Ellenbogen. „Hast du großer Bengel etwa Angst?“

Guido vergewisserte sich, ob seine Mutter ihn nicht hören konnte, bevor er vertraulich flüsterte: „Hier gibt es Ratten!“ Conny lachte. „Aber nicht in der Küche. Nur in eurem ollen Keller.“

Er dachte mit Unbehagen an die modrigen Gänge, die zu Gittas Kohlenkeller führten.

„Warum schreibst du nicht mal was über Ratten in deiner Zeitung?“, wollte Guido wissen.

Gitta, zwei mit Rotwein gefüllte Zahnputzgläser in Händen, sah von der Zimmertür aus strafend auf die beiden. „Ihr mit euren Ratten“, sagte sie angeekelt. „Ich werde unsere Kotelettknochen künftig in Folie wickeln, und du wirfst sie in deinen hygienischen Müllschlucker.“

Conny lächelte ihr besänftigend zu. Hygienischer Müllschlucker klang wie der Anfang einer unguten Diskussion. Gitta, so ausgeglichen und zufrieden sie gewöhnlich wirkte, kannte zwei Themen, die sie jederzeit aufregten: ihr Sohn und ihre Wohnung.

Wenn sie alle Beispiele von verspießerten Kleinstfamilien in sonnigen Riesenwohnungen, von Schiebungen, Vertröstungen und Ablösungen im Referat Wohnungswesen in die Waagschale der Ungerechtigkeit warf, erwies sich des Neubaubewohners Conny letzte optimistische Reportage vom Wohnungsbaugeschehen allemal als zu leichtgewichtig. Deshalb stand er behände auf, so behände, wie das Sofa es zuließ, und küsste Gitta. Sie hatte schon von dem Rotwein gekostet. Es war eine herbe Sorte.

Er nahm ihr ein Glas aus der Hand und trank. „Die süßeste Ratte, die es hier gibt, bist du“, sagte er und verzog die Lippen.

Guido tat, als könnten ihn nur die diffusen Vorgänge auf der Mattscheibe fesseln.

Als der Junge endlich im Bett lag, setzte sich Gitta entspannt neben Conny auf das Sofa. Die Augen wie immer ein wenig zusammengekniffen, nicht allein wegen der Qualität des Fernsehbildes, Gitta war kurzsichtig. Statt sich eine Brille verschreiben zu lassen, bekämpfte sie die Fältchen in ihren Augenwinkeln mit einer Creme, deren Geschmack Conny nicht mochte.

Gittas Haut war weiß und zart und ihr halblanges Haar beinahe schwarz. Ein Mädchen wie Milch und Blut und Ebenholz. Und viel zu jung, fand Conny, der sich in ihrer Nähe stets schlecht rasiert und ungekämmt fühlte.

Möglicherweise war Gitta für ein klassisches Schönheitsideal eine Spur zu pummelig. Connys tastende Finger spürten keine Rippenbögen unter dem festen Fleisch. Er wanderte mit seiner rechten Hand weiter auf ihrer kühlen Haut entlang und griff mit der linken nach dem Glas.

„Du beulst mir den Pullover aus“, sagte Gitta ungewohnt sachlich.

„Alle deine Pullover haben an dieser Stelle Beulen.“

Gitta lachte nicht. Sie sah ihn nur an mit ihren braunen Augen.

Er küsste ihre Krähenfüße, trotz der Creme. „Weißt du“, sagte er nachdenklich, „ich hätte dich neulich zu meiner Mutter mitnehmen sollen.“

Im Rekorder jammerte eintönig eine ganze Heerschar von Gitarristen. Auf dem Bildschirm kämpften schweigende Schatten.

„Wie kommst du gerade jetzt auf deine Mutter?“, fragte Gitta.

„Nur so. Sie sollte dich endlich kennenlernen.“

„Hast du ihr inzwischen von Guido erzählt?“

Ihr Ton verriet die Nähe des gefährlichen Themas. Sanft knetete seine Hand ihr rundes Schultergelenk. „Je weniger sie weiß, um so weniger kann sie sich aufregen.“

Mit einem Ruck setzte sich Gitta auf und schob unwillig seine Hand aus dem Pullover. „So viel Rücksicht werde ich von Guido später nicht verlangen!“

Sie stand auf, rückte das Kettchen am Halsansatz gerade und zog ungewohnt energisch ihren Pullover glatt. Ein wenig betroffen beobachtete Conny sie. Spielte sie ihm etwas vor, oder war sie tatsächlich sauer?

„Ich fahre morgen zu ihr. Aber du musst ja wohl arbeiten ...“, sagte er, und es schien ihm selber reichlich lahm zu klingen. Gitta stand am Küchenschrank und goss sich den Rest aus der Flasche ein. Mit einem langen Zug leerte sie das Glas und knallte es in die Abwaschschüssel. Sie wirkte kampflustig. Es stand ihr nicht einmal schlecht.

„Versteh das mit meiner Mutter bitte nicht falsch, Gitta“, begann er vorsichtig. „Ich muss sie langsam vorbereiten. Sie ist alt und hockt mutterseelenallein in ihrer hochherrschaftlichen Bude, das Zimmer vier Meter hoch und massenhaft Stuck an der Decke ...“

Gitta sah ihn mit wachen Augen an. „Ich wusste gar nicht, dass du so vornehmer Abkunft bist.“

Conny versuchte es mit einem offenen Lächeln. „In meiner Heimatstadt sind alle Leute vornehm. Außer mir. Deswegen bin ich auch nicht dort geblieben. Man ist dort entweder Professor - oder man macht wenigstens beim Herrn Professor sauber. Zumindest ist man an einem Inschtitut tätig!“

Gitta stand vor ihrem weiß lackierten Fernseher und wechselte mit einem geräuschvollen Knopfdruck die stummen Schattenbilder. Conny trank den letzten Schluck des herben Rotweins und betrachtete sie versunken. Ihre Beine wirkten nicht direkt grazil, und die ausgetretenen Hausschuhe ließen sie nicht länger und schlanker erscheinen. Und doch interessierten diese Beine Conny im Augenblick hundertmal mehr als fruchtlose Diskussionen über seine Heimatstadt und seine Mutter. Oder als dieses nebelgraue Fernsehbild, auf das Gitta wie gebannt zu blicken vorgab. Er trat sehr dicht hinter sie. „Schalte den Kasten ab“, sagte er rau.“

„Das Bild ist wirklich beschissen“, stellte Gitta trocken fest und schaltete den Apparat aus. Wie unabsichtlich streifte sie dabei seine Hände von ihren Oberarmen und nahm eine ziellose Wanderung von Möbelstück zu Möbelstück auf.

„Wir werden dir mal einen neuen Fernseher spendieren.“ Wenn du deine neue Wohnung hast, hätte er beinahe hinzugefügt, hielt sich aber rechtzeitig zurück. Irgendetwas an Gitta war anders als sonst.

Er fragte eindringlich: „Was ist mit dir?“

Sie schwieg und wich ihm aus. Dann plötzlich sagte sie: „Wer sagt mir, ob du wirklich nur deine Mutter besuchst, sooft du dorthin fährst.“

„Wie kommst du darauf?“, fragte Conny überrascht.

Sie sah ihn nicht an. „Am besten gehst du jetzt. Ich muss um fünf Uhr ’raus.“

„Wenn du meinst ...“, sagte Conny und griff nach seiner Kutte.

Sie rief ihn nicht zurück.

4. Kapitel

Der Wind fuhr in heftigen Böen durch die kahlen Vorgartenbäume und blies Connys Kutte zu einem olivgrünen Ballon auf, als er die vertraute Straße vor Tillys Haus überquerte.

Eine Burg im Jugendstil, geschützt durch einen mannshohen schmiedeeisernen Zaun, dessen Ornamente sich in den flaschengrünen Fliesengirlanden der düsteren Hausflurhalle hinter dem pompösen Krematoriumsportal wiederholten.

Conny pflegte seine Umwelt und sich selbst mitten darin mit Aufmerksamkeit zu beobachten. Jede seiner Handlungen hätte er in optimistisch formulierten und dabei sogar verständlichen Sätzen zu beschreiben vermocht. Schließlich war er Journalist.

Mit federnden Schritten steigt der junge Mann die ausgetretenen Stufen der breitgeschwungenen Treppe empor ... Tatsächlich aber fühlte er sich bei diesem böigen Föhnwetter nicht besonders jung, und er hielt Ausschau nach dem schäbigen, blassgrün gestrichenen Stuhl, der seit Jahren auf dem Treppenpodest zwischen der zweiten und dritten Etage stand. Vielmehr: gestanden hatte. Der Stuhl war verschwunden. Bedächtig stieg Conny weiter die Stufen hinauf. Die Mieter von Häusern ohne Aufzug wohnten anscheinend immer im obersten Geschoss. Das Wort Fahrstuhl vermied Conny sogar beim Denken. Zu oft hatten ihn naseweise Leser berichtigt.

Er lauschte auf das dünne Läuten hinter der Tür mit den eingeschnitzten Wasserpflanzen, aber das vertraute lang gezogene Jaa? blieb aus. Wieder hob Conny den Messingring, der einem glatt geputzten Löwenhaupt anstelle der Fangzähne aus dem Maul hing. Kein Zweifel, Tilly war nicht zu Hause. Unzufrieden begann Conny über die Komplikationen nachzudenken, die sich daraus ergaben. Er hatte vorgehabt, den Abend mit ihr zu verbringen, zumal er erst für den Spätzug eine Platzkarte bekommen hatte. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich von Männern mit Bierflaschen in Händen gegen D-Zug-Wände schubsen zu lassen.

Nach mehrmaligem vergeblichem Klingeln erinnerte er sich, dass Tilly bei ihrer Nachbarin einen Schlüssel hinterlegt hatte. Für alle Fälle. Conny entschied, dass ein solcher Fall vorlag. In dem halligen Treppengehäuse war es nicht sonderlich gemütlich. Der springende Hirsch im oberen Flurfenster schimmerte matt in den letzten Lichtstrahlen und knackte beängstigend unter dem heftigen Ansturm des Windes.

Conny drückte auf den Klingelknopf unter dem Namen Thierfelder. Wahrscheinlich hatte sich der Löwe nicht auf das melodische Dingdong umstellen lassen, das ergebnislos in den Weiten der Thierfelderschen Wohnung verklang. Conny registrierte es verwundert. Nach Tillys Erzählungen setzte sich Frau Thierfelder nur selten und ungern den Fährnissen des öffentlichen Lebens außerhalb des Hauses aus.

In dem Treppenhaus, das normalerweise die Geräusche aus den Wohnungen wie ein Resonanzraum verstärkte, herrschte eine auffällige Stille. Unlustig stieg Conny die Treppe hinunter.

Das metaphysische Gesetz der Serie bewahrheitete sich auch im Fall der Frau Schulze, die direkt unter Tilly wohnte und ebenfalls nicht zu Hause war. Conny, nun schon ein wenig grimmig, hatte es ohnehin geahnt. Wenn er in der Redaktion begann, eine lange Liste von Telefonanrufen abzuarbeiten, gab er nach dem dritten vergeblichen Versuch auf. Die anderen Teilnehmer waren dann garantiert ebenfalls nicht zu erreichen, wie sich oft genug herausgestellt hatte.

Er warf einen verstohlenen Blick auf die gegenüberliegende Tür. Hinter den Profilglasscheiben war es dunkel, was Conny mit einem gewissen Gefühl der Erleichterung registrierte. War er nicht an dieser Tür vorhin besonders leise vorbeigegangen?

Er lächelte vor sich hin und stieg die Treppe zum vierten Stockwerk wieder hinauf. Seltsam mutete es schon an, dass offenbar niemand diesen stürmischen Januarnachmittag in seiner Behausung verbrachte.

So bequem es eben ging, ließ er sich auf der letzten Stufe vor Thierfelders Tür nieder und zog seine Notizen aus der Umhängetasche. In Anbetracht des Alters der meisten Mieter war der Automat auf fünf Minuten eingestellt. Irgendwo in der Tiefe des Gemäuers begann ein Kind zu weinen, beruhigte sich aber gleich wieder.

Der von Buzek erwählte Professor hatte sich als ein Mann erwiesen, der auch aussah wie ein Professor und überdies mit sonorer Stimme die seltene Kunst der freien Rede beherrschte. Einleitend sprach er zwanzig Minuten in wohlgesetzten wissenschaftlichen Termini, bevor es Conny gelang, eine erste Frage einzustreuen.

Seufzend durchblätterte Conny seine seitenlangen Aufzeichnungen. Von den fünfundfünfzig Zeilen gingen mindestens zwanzig für den historischen Hintergrund ab. Blieben fünfunddreißig für den redseligen Professor.

Er wollte aufstehen, um auf den Lichtschalter zu drücken, aber jemand nahm ihm die Mühe ab. Vom Fuße des Treppenschachts drang Stimmengewirr zu ihm herauf. Begleitet vom anhaltenden Gemurmel mehrerer Frauenstimmen, näherten sich langsame Schritte. Es war nicht zu verstehen, worüber sich die Frauen unterhielten, weil alle zugleich sprachen, bis sich schließlich das sägende Ostpreußisch der Frau Schulze durchsetzte: „Ja, einmal missen wir alle in die Kiste wie die arme Marjell ...“

Eine Beerdigung. Dass er darauf nicht gekommen war!

Es verging noch ein Weilchen, bis endlich unter Schnaufen und stoßweisen Unmutsäußerungen über den verschwundenen Stuhl Frau Thierfelder um die Ecke bog, von Tilly dichtauf gefolgt, als schiebe sie die wohlbeleibte Nachbarin. „Conrad!“, rief sie, als sie ihn erblickte, und ließ Frau Thierfelder mühelos hinter sich.

Tilly sah gut aus. Schwarz kleidete ihre schlanke Figur und passte zu dem frisch frisierten hellen Haar.

„Wenn ich gewusst hätte, dass du auf mich wartest!“

„Dann wärst du losgerannt, bevor sie den Sarg runterlassen“, ergänzte Conny lächelnd.

Entgeistert sah ihn Tilly mit weit aufgerissenen Augen an. „Wie kannst du da lachen!“ Sie drehte sich abrupt um und kramte in der Handtasche nach ihrem Schlüsselbund. Es schien eine ihr nicht ganz gleichgültig gewesene Person zu sein, die da verstorben war.

Von der Tür gegenüber guckte, noch immer nach Atem ringend, Frau Thierfelder neugierig herüber. Tilly schob Conny in die Diele. Drinnen beugte sich Conny zu ihr hinunter und drückte sie an sich. Der schwarze Mantel roch nach Mottenpulver.

„Wie kannst du nur so roh sein!“, sagte Tilly. Sie weinte tatsächlich. „Woher weißt du es überhaupt?“

„Es war wohl jemand, den du sehr mochtest?“

Tilly schnäuzte sich und brachte es fertig, ihn dabei vorwurfsvoll zu mustern. „Tu nur nicht so!“, sagte sie. „Auf jeden Fall eine, die dich sehr mochte. Und nun so etwas. Bringt sich einfach um, das Mädel!“

In Conny stieg eine dunkle Ahnung auf. „Etwa Gerlinde?“ Seine Stimme kickste bei dem I. Tilly bemerkte es wohl. „Natürlich Gerlinde. Ich denke, du weißt alles!“

In ihren mehr als siebzig Lebensjahren hatte Tilly mancherlei gelernt, und vieles davon beherrschte sie noch immer mit bewundernswerter Vollkommenheit, aber eine Information rezipientenfreundlich aufzubereiten und die Grenze zum Kommentar zu wahren lag außerhalb ihrer Möglichkeiten. So mischte sie in ihrer Rede die Trauernachricht, den verschwundenen Stuhl und den trunksüchtigen Nachbarn, der für Schnaps alles mögliche verhökerte, kunterbunt durcheinander, während Conny immer nur dachte: Gerlinde ist tot. Weshalb mochte sie das getan haben? Sie war nicht der Typ dafür. Ein bisschen verschlossen und melancholisch vielleicht, aber weder wehleidig noch pessimistisch veranlagt.

Und dabei hörte er seiner Mutter geduldig zu. Nie hatte er sie anders als Tilly genannt, und die Zeit, in der er ihr wegen einer verworrenen Stuhlgeschichte über den Mund gefahren wäre, lag lange zurück. Außerdem war Zuhören wenn auch nicht der kürzeste, so allemal der sicherste Weg, um zu erfahren, was mit Gerlinde geschehen war.

„Hast du nicht einmal das Siegel bemerkt?“, fragte Tilly endlich.

„Nein.“ Weshalb hatte er es nicht bemerkt, nachdem ihm der fehlende Stuhl aufgefallen war? Und nachher, als er von Frau Schulzes Tür hinübergeguckt hatte?

„Es war wohl schon zu dunkel auf der Treppe“, sagte er, aber das war nur die halbe Wahrheit.

„Sie haben das Oberste zuunterst und das Unterste zuoberst gekehrt.“ Tilly sah sich um wie ein Indianer auf dem Kriegspfad. „Sagt jedenfalls die Schulzen. Fünf Stunden hat es gedauert. Und gestern sind sie gleich wieder drin gewesen, nachdem sie doch gestorben ist.“

Noch immer wollte sich in Conny der Gedanke an Gerlindes Tod nicht durchsetzen. „Da war heute schon die Beisetzung?“, fragte er mit so flacher Stimme, dass Tilly ihn prüfend anschaute.

„Wie kommst du denn darauf? Das arme Mädel wird jetzt auf so einem entsetzlichen kalten Tisch liegen, wie man das im Fernsehen immer sieht. Frau Schulze meint, sie werden sie völlig zerschneiden. Ich denke mir, sie werden wohl den Magen untersuchen.“

Die Vorstellung der gerichtsmedizinischen Autopsie versetzte Conny einen Schock. Einmal hatte er so etwas mitgemacht, und er hatte nicht bis zum Ende durchgehalten. Und nun lag Gerlinde auf der Zinkplatte ...

Dennoch versuchte er, Tilly zu beruhigen: „Sie nehmen bloß kleine Proben. Nur zur Sicherheit.“

„Das sagt diese unsympathische Frau von der Polizei auch. Schon am Montag hat sie uns ausgefragt. Und heute waren wir alle zum Verhör bestellt.“

„Zu einer Befragung“, berichtigte Conny schwach.