Kurzschluss - Felix Ekardt - E-Book

Kurzschluss E-Book

Felix Ekardt

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Beschreibung

»Vernunft ist nicht der Feind, sondern der Grund der Freiheit.«
In einer immer komplizierteren Welt sind aktuell Kräfte auf dem Vormarsch, die einfache Wahrheiten und Lösungen versprechen. Doch nicht nur Populisten und ihre Anhänger, sondern wir alle tragen latent die Neigung zu vereinfachten, verzerrten und bequemen Ansichten in uns, auch die intellektuellen Weltverbesserer. Nur werden wir mit einfachen Wahrheiten die Probleme einer globalisierten Welt nicht lösen, sondern dramatisch scheitern. Wenn wir Uneindeutigkeit und Komplexität nicht aushalten, hat die offene Gesellschaft dauerhaft keine Chance. Felix Ekardt lotet in seinem neuen Buch aus, wie wir Vernunft und Demokratie langfristig fördern und bewahren können – und warum sie in der Gefahr stehen, eine historische Ausnahmeerscheinung zu bleiben.

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Seitenzahl: 193

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Felix Ekardt

KURZSCHLUSS

Wie einfache Wahrheitendie Demokratie untergraben

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Oktober 2017

entspricht der 1. Druckauflage von Oktober 2017

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag, unter Verwendung eines Motivs von Thinkstock (646076632)

eISBN 978-3-86284-399-2

Inhalt

Kerngedanken und Vorwort des Buches

I.Einfache Wahrheiten – auf dem Vormarsch?

1. Ein Gespenst geht um (nicht nur) in Europa

2. Einfache Wahrheiten – allein Folge von Populismus in Zeiten von Globalisierung, Digitalisierung, Automatisierung?

3. Globalisierung und Pluralisierung – unterwegs in eine komplexere und unsicherere Welt?

4. Wahrheit, einfache Wahrheiten, alternative Fakten – wovon ist überhaupt die Rede?

II.Einfache Wahrheiten:Wie sie auch jenseits populistischer Debatten allgegenwärtig sind

5. Energie- und Klimawende: Der etwas einfache Glaube an Öko-Helden, Technik und sozialen Fortschritt durch Wissen

6. Grenzen des Wachstums – und die Grenzen einfacher Antworten darauf

7. Reaktionen auf Terroranschläge – und ihre verdrängte Verknüpfung mit anderen Problemen

8. Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung – wenn komplexe Verteilungsfragen allzu einfach gelesen werden

III.Verhaltensforschung:Woher kommt die allzu menschliche Neigung zu einfachen Wahrheiten?

9. Wie der Einfluss von Wissen, Werten und Eigennutzenkalkülen überschätzt wird

10. Die Macht von Gefühlen und Normalitätsvorstellungen– zu Lasten von rationalen Eigennutzen- und Moralerwägungen

11. Evolutionsbiologische und kulturelle Anteile an der Neigung zu einfachen Wahrheiten – und wie kooperativ sind Menschen?

IV.Freiheit, Demokratie, Rationalität:Warum einfache Wahrheiten die Demokratie untergraben

12. Demokratie braucht Komplexität und Differenzierung – halten wir das aus?

13. Ist Wahrheit nur subjektiv? Postmoderne und einfache Wahrheiten

14. Was ist Vernunft? Und können auch Normen und Gesellschaftsordnungen objektiv richtig oder falsch sein?

15. Warum Demokratie und Freiheit – und was ist eine offene Gesellschaft?

16. Elitenherrschaft contra »verblödete Massen«? Historisches zu Vormärz, Russland, China, Platon

17. Richtiges Entscheiden gesellschaftlicher Probleme: komplex, aber nicht beliebig

V.Schritte weg von den einfachen Wahrheiten – bei anderen, in uns, in mir

18. Menschliche Motive, Vernunft, Freiheit und Demokratie verstehen – und ihre Institutionen weiterentwickeln

19. Demokratie transnationalisieren, die sozialen und ökologischen Bedingungen sichern – europäisch und international

20. Weitere Schritte: Einfachheit auch mal nutzen, Populisten ignorieren, Medien transformieren

21. Lernfähigkeit steigern, Komplexität aushalten – Frieden schließen mit unserer biologischen Natur?

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Register

Über den Autor

Kerngedanken und Vorwort des Buches

Trump, Erdoğan, Brexit: In einer immer komplexeren Welt sind aktuell Kräfte massiv auf dem Vormarsch, die einfache Welterklärungen, klare Sündenböcke und einfache Lösungen verheißen. Dies führt zu einer Debatte über diese Personen, Vorgänge und allgemein über den Populismus, die zunehmend den gesamten politischen Diskursraum einnimmt. In der Aufregung über »verblödete Massen« und »degenerierte Eliten« geht jedoch unter, dass die Neigung zu einfachen Wahrheiten weder neu ist noch auf Populisten genannte Akteure beschränkt ist. Vielmehr tragen wir alle als Menschen latent die Neigung zu vereinfachten, verzerrten und bequemen Weltsichten in uns. Das kann im Einzelfall im Alltag sogar hilfreich sein. Nur werden wir mit einfachen Erklärungen, Sündenböcken und unterkomplexen Lösungen die Probleme einer globalisierten Welt nicht lösen, sondern dramatisch scheitern. Schlimmer noch: Wenn wir Uneindeutigkeit und Komplexität nicht aushalten lernen, hat die Demokratie dauerhaft keine Chance. Das möchte dieses Buch zeigen. Und es möchte ausloten, ob und mit welchen Mitteln wir Vernunft und Demokratie langfristig fördern und bewahren können – oder ob sie in der Gefahr stehen, eine historisch seltene Ausnahmeerscheinung zu bleiben.

Diese Abhandlung will damit einen ganz neuen Blick auf ein Phänomen werfen, das sonst allein im Feld des Populismus angesiedelt wird. Wir werden sehen: Es reicht nicht, raunend das drohende Ende der offenen Gesellschaft oder »des Westens« zu beschwören und dies dann mit Digitalisierung, Globalisierung und vielleicht noch Pluralisierung und Automatisierung in der modernen Welt zu erklären. Und besonders deren Wirken bei den weniger Gebildeten. Oder wortreich über die tagesaktuellen Schrittchen diverser politischer Führer zu räsonieren, oder darüber, was in der Interaktion der Regierungen anders hätte laufen können oder müssen. Natürlich prägen die genannten Faktoren die gesellschaftlichen Verhältnisse im 21. Jahrhundert entscheidend, im Falle von Digitalisierung, Globalisierung und Automatisierung zum Beispiel den Arbeitsmarkt und eben auch die Demokratie. Diese Faktoren jedoch, so meine These, werden überschätzt. Man muss grundsätzlicher verstehen, wie voraussetzungsreich eine freiheitlichdemokratische Gesellschaft ist. Und wie sehr sie in einem Spannungsverhältnis zu bestimmten menschlichen Grundeigenschaften steht, insbesondere – aber nicht nur – wenn die äußeren wirtschaftlichen und technischen Bedingungen die Komplexität weiter befördern.

Man ist beim Betrachten einfacher Wahrheiten – also verkürzender Analysen und angeblich schneller Lösungen zu gesellschaftlichen Problemen, insbesondere unter Benennung vermeintlich klarer Sündenböcke – und ihres Gefährdungspotentials für die liberale Demokratie zugleich bei weiteren Fragen, die fundamentaler kaum sein könnten. Was ist Wahrheit? Was ist Rationalität respektive Vernunft – was meint also gutes Denken? Gibt es objektiv gerechte und objektiv ungerechte Gesellschaftsordnungen im pluralistischen 21. Jahrhundert? Was ist überhaupt Demokratie? Auch Erdoğan, Putin oder Orbán würden sich ja selbst als Demokraten bezeichnen. Und was ist Freiheit, der inhaltliche Leitstern der gesellschaftlichen Verfahrensordnung (gewaltenteiliger) Demokratie? Diesen Fragen wird sich die vorliegende Abhandlung nicht entziehen können, und das in einer Zeit, in der Donald Trumps Team mit der Rede von »alternativen Fakten« die Wahrheitsidee offensiv pulverisiert. Und die Verteidiger der offenen Gesellschaft erscheinen dagegen oft seltsam machtlos, ist die Beerdigung von Wahrheit und Rationalität als vermeintlichen Herrschaftsmechanismen doch eigentlich ein eher linkes Projekt gewesen. Doch wir werden sehen: Vernunft ist nicht der Feind, sondern der Grund der Freiheit. Versteht man die Begriffe richtig, wird sich jedenfalls grundsätzlich die Möglichkeit von Wahrheit, Rationalität und Objektivität als nicht sinnvoll bestreitbar erweisen. Gleichzeitig wird sich zeigen, dass auch große Geister über jene Kategorien oft recht undifferenziert reden, was im öffentlichen Diskurs dann millionenfach nacherzählt wird.

So fraglich die Zukunft der liberalen Demokratie auch sein mag, so sehr hat man schon jetzt verloren, wenn man sie nicht zu verteidigen und besser gegen die einfachen Wahrheiten zu wappnen versucht. Deswegen werden wir nicht nur genau anzugeben versuchen, was gutes Entscheiden im Lichte von Freiheit und Demokratie unter den Bedingungen von Komplexität genau ausmacht. Wir werden auch Schritte diskutieren, die zwar keine Zaubermittel sind, aber dennoch im Kampf für die Liberalität zumindest ansatzweise eine Verbesserung der Situation bewirken könnten. Kernpunkte sind: freiheitlich-demokratische Institutionen verstehen und verteidigen. Demokratie schrittweise weiterentwickeln durch intelligente Reformen wie Losverfahren, ohne Bewährtes über Bord zu werfen. Partizipation stärken, ohne sich Illusionen hinzugeben. Einfachheit auch mal konsequent nutzen, nämlich dort, wo sie möglich ist. Einen neuen Umgang mit Populisten finden, sie insbesondere stärker ignorieren. Die menschliche Lernfähigkeit stärken und uns selbst die Komplexität und die Genauigkeit im Denken zumuten, ohne die es nicht geht. Die vielleicht wichtigste Maßnahme wäre der Versuch, die liberale Demokratie konsequent auf die europäische und internationale Ebene zu heben. Wenn sie denn überhaupt eine Zukunft hat, dann jedenfalls nur, wenn wir sie konsequent dort etablieren, wo die wirklich wichtigen Entscheidungen heute fallen oder fallen müssen – und nur, wenn sie nicht unter dem Druck erodierender sozialer Sicherungen und ökologischer Existenzbedingungen zusammenbricht.

Das sind einige zentrale Gedanken der folgenden Kapitel, die einige Aspekte der Arbeit meiner Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik, seit ich vor 20 Jahren über die Bedingungen gesellschaftlichen Wandels zu promovieren begann, für ein breiteres Publikum zusammenfassen.1 Diesmal ist allerdings nicht Nachhaltigkeit das zentrale Thema, also das Ideal dauerhaft und global durchhaltbarer Lebens- und Wirtschaftsweisen. Es geht vielmehr um die normative – politisch-rechtlich verfasste und ethisch unterfütterte – Grundordnung der Gesellschaft, die wir als liberale Demokratie kennen. Und es geht um die faktischen Voraussetzungen ihres längerfristigen Erhalts. Die Fundamente dieser Überlegungen habe ich allerdings in den Jahren seit 1997 breit entwickelt, ausgehend von einer umfassenden Befassung mit Bedingungen sozialen Wandels, Gerechtigkeitsprinzipien und Politikinstrumenten. Das kann hier genutzt und weiter vertieft werden. Teilweise helfen gerade Beispiele aus der Nachhaltigkeits-, Wachstums- und Klimadiskussion dabei zu zeigen, wie sich auch in einem scheinbar intellektuellen Umfeld fernab von (insbesondere Rechts-)Populismen die einfachen Wahrheiten tummeln. Verzichten werde ich dagegen darauf, die tausendste Philippika über die vielen obskuren, mitunter fast kabarettreifen Begebenheiten rund um Personen wie Trump, Erdoğan oder auch Orbán, Kaczyński oder Putin zu liefern.

Mit einem solchen Blick auf die offene Gesellschaft und ihre gerade nicht nur populistisch bedrohte Basis mache ich mich potentiell unbeliebt. Zunächst natürlich bei denen, die jene Gesellschaftsform ohnehin überwinden wollen. Aber auch bei denen, die sich auf der Seite der freiheitlichen, diskursiven, pluralistischen, neuerdings oft auch als »offen« bezeichneten Gesellschaft sehen. Und dabei zu wenig in den Blick nehmen, dass nicht allein Populisten und ihre Wähler, sondern in gewisser Weise wir alle Teil des Problems sind. Man könnte auch sagen: Ich lege mich mit unser aller menschlicher Neigung zu Gruppendenken und Gruppengefühlen – wir gegen die da – an. Ich bin selbst gespannt, was man damit auslösen kann, hier einen Schritt in eine neue Denkrichtung zu wagen.

Der Gegenstand bringt es mit sich, dass es im Folgenden programmatisch auch um das Vermeiden einfacher Wahrheiten gehen muss. Eindimensionale Analysen und vorschnelle Lösungen werde ich nicht offerieren. Diese Komplexitätssteigerungsübung muss man aushalten, wenn man sich auf den Kampf gegen die einfachen Wahrheiten einlässt, auch wenn dabei ganz grundlegende Fragen nach Wahrheit, Gerechtigkeit, Vernunft und den Triebkräften menschlichen Handelns auf die Tagesordnung kommen.

I.Einfache Wahrheiten – auf dem Vormarsch?

1. Ein Gespenst geht um (nicht nur) in Europa

Niemand hat es so recht kommen sehen. In einer immer komplexeren Welt scheint das Versprechen einer Rückkehr zu einer angenehmen Einfachheit aktuell einen immer stärker anschwellenden Zulauf zu finden. Einfache Analysen, klare Sündenböcke, simple Lösungen sind gefragt, populistische Kräfte sind scheinbar unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Ursächlich komplexe Phänomene wie Arbeitslosigkeit, Betriebsverlagerungen ins Ausland oder Migrationsbewegungen bilden dabei die Folie, für die entschlossene politische Kräfte scheinbar einfache Erklärungen und einfache Auswege anzubieten haben. Stopp der Migration notfalls durch Mauerbau und totale Einreiseverbote, Schluss mit dem Freihandel, Schluss mit der angeblichen Förderung des Terrors durch allzu frei agierende Medien – so einfach scheint es zu sein. Mitunter steigert sich dies zu regelrechten Verschwörungstheorien. Dann ist im Kampf für Migrationsstopp oder Euro-Ausstieg oder einfach um die politische Macht plötzlich jeder Gegner ein Terrorist, ein Volksfeind oder Angehöriger irgendeiner dunklen Macht, die Schaden anrichten möchte. Jene häufig mit Vorstellungen vom starken Mann verbundenen Sichtweisen werden gerne auch als Populismus und insbesondere Rechtspopulismus bezeichnet.1

In alledem scheint ein aktueller, viele Staaten erfassender Trend hin eben zu einfachen Wahrheiten sichtbar, dem eine wachsende Zahl von Bürgern und Politikern anheimfallen. Sogenannte Modernisierungs- und Globalisierungsverlierer, so die verbreitete Überzeugung, sind die Übeltäter, die populistische Bewegungen an die Macht bringen. Sie ließen sich, so geht die Geschichte, von der Hau-drauf-Rhetorik und den Verschwörungstheorien der Populisten mitreißen, ohne die Folgen zu bedenken. So scheint sich in mehr und mehr westlich geprägten Staaten die Entwicklung rückwärts zu bewegen und insbesondere die liberale Demokratie mehr und mehr prekär zu werden. Die Kooperation freiheitlicher Staaten, Minderheitenschutz, Offenheit für Migranten, freie Presse, ja, teils selbst freie Wahlen scheinen keine Selbstverständlichkeit mehr zu sein – und geraten zunehmend unter Druck. Es gibt vorgeblich wieder einfache Kausalitäten und klar zu benennende Schuldige, die zupackende Männer in ihre Schranken weisen müssen, dann wird alles wieder gut.

Ob es dabei um Terrorismus, Migration, Eurokrise oder Klimawandel geht: Die in diesem Stil präsentierten Ansichten und Lösungen sind oftmals nicht nur erschreckend simpel gestrickt. Man kann gar den Eindruck gewinnen, dass das Konzept der Wahrheit als solches zur Disposition steht. Begriffe wie Fake News, die im politischen Diskurs zunehmend wechselseitig als Vorwürfe gebraucht werden, oder gar das Reden von alternativen Fakten (kreiert von der Trump-Beraterin Kellyanne Conway), so als könnten einfach mehrere Wahrheiten parallel zueinander existieren, bringen das eindrucksvoll auf den Punkt.

Die beschriebenen Tendenzen gegenwärtiger Politik lassen sich nicht ernstlich leugnen. Doch sind sie wirklich neu – und sind sie wirklich auf Populisten beschränkt? Demagogische Politik oder Kontroversen um Wahrheit sind, so fällt bereits auf den ersten Blick auf, ja nichts, was der bisherigen Menschheitsgeschichte fremd wäre. Zeitphänomene wie Digitalisierung, Globalisierung oder eine gewandelte Medienlandschaft mögen aktuell verstärkend wirken, doch multiplizieren sie womöglich einfach eine menschliche Grundkonstellation? Letzteres hätte freilich große Auswirkungen. Geht es mit einfachen Wahrheiten um ein allgemeinmenschliches Phänomen, wären politische Strömungen wie der gegenwärtige Populismus politisch eher als Regelfall und eine dauerhafte, ernst gemeinte Demokratie eher als prekäre Ausnahme zu erwarten oder vielmehr zu befürchten. Ob ein angeblicher Trend zu immer mehr Demokratien weltweit solche Befürchtungen hinfällig macht, werden wir kritisch zu prüfen haben (Kapitel 12).

Tragen wir vielleicht alle latent die Neigung zu vereinfachten, verzerrten und bequemen Weltsichten in uns – und nicht nur die imaginären verblödeten Massen, die Erdoğan, Orbán und Le Pen wählen? Also auch »Weltverbesserer« mit ihren intellektuell elaborierten Diskursen über diese und jene gesellschaftliche Problemlage? Wenn man das überprüfen will, muss man die Erklärungskraft aktueller Entwicklungen wie der Globalisierung für das Phänomen Populismus kritisch prüfen. Und man muss andere, nicht populistisch geprägte Diskurse als Vergleich dafür heranziehen, ob diese wohl weniger von einfachen Wahrheiten geprägt sind – oder eben nicht. Ferner muss man verhaltenswissenschaftlich untersuchen, ob die Neigung zu den einfachen Wahrheiten eher ein zeitbedingtes Konstrukt benachteiligter Kreise ist – oder ob es sich in wesentlichen Hinsichten um ein allgemeinmenschliches Phänomen handelt, wenn man die menschlichen Verhaltensantriebe umfassend unter die Lupe nimmt.

Darauf aufbauend werden wir dann fragen können, was all das für die Zukunft der offenen Gesellschaft bedeutet. Können wir mit einfachen Wahrheiten die Probleme einer globalisierten Welt lösen? Und wenn wir Uneindeutigkeit und Komplexität nicht aushalten, hat die Demokratie dann dauerhaft überhaupt eine Chance? Dieses Buch lotet aus, ob und mit welchen Mitteln wir Vernunft und Demokratie langfristig fördern und bewahren können – oder ob sie in der Gefahr stehen, eine historisch seltene Ausnahmeerscheinung zu bleiben.

2. Einfache Wahrheiten – allein Folge von Populismus in Zeiten von Globalisierung, Digitalisierung, Automatisierung?

Das Hereinbrechen konfrontativer, stark vereinfachender, eben populistisch genannter Politikstile in den letzten Jahren kam in den liberalen Demokratien für viele unerwartet. In großer Linie betrachtet geht es den westlichen Staaten wirtschaftlich in der Summe seit dem Zweiten Weltkrieg schrittweise immer besser, und zwar in einem menschheitsgeschichtlich bis dahin ungekannten Ausmaß. Selbst wenn davon nicht jeder gleichermaßen profitiert, ist auch für weniger Begünstigte sozialstaatlich – vereinfacht gesprochen – sehr oft durchaus gesorgt. Und von den politischen Kontroversen her dachte man nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1990 gar, man sei am Ende der Geschichte angekommen. Parteipolitische Gegensätze etwa zwischen Sozialdemokraten und Konservativen erodieren in den meisten Demokratien zunehmend. Der Grad der gewollten Einflussnahme auf die Wirtschaft kann zwischen den politischen Akteuren noch streitig sein, aber er ermöglicht keine klare Rechts-Links-Scheidung mehr. Rhetorisch kommen mitunter noch die einen übers Soziale, die anderen übers Christliche, aber das bedeutet nicht unbedingt inhaltliche Unterschiede. Sicherheit wollen alle, gegen sozialen Abstieg, Arbeitsplatzverlust, gegen Kriminalität, Terror, hohe Mieten oder die Folgen der Globalisierung.

Unter dem Label Populismus wird nun aber scheinbar das schläfrig-konsensual wirkende politische Spektrum von den Rändern her aufgemischt.2 Scheinbar genau dadurch kommt eine verstärkte Neigung zu einfachen Wahrheiten im beschriebenen Sinne in die Welt – vorgeblich leicht erklärbar durch jene Faktoren, die die aktuelle politische Lage prägen. Und in der Tat: Dass jedenfalls teilweise aktuelle Faktoren ein populistisches Streben nach einfachen Wahrheiten begünstigen, erscheint trotz aller nötigen Differenzierungen plausibel, wie wir im Folgenden sehen werden.

Populismus als Begriff verlangt zunächst nach einer Definition, da heute oft mehr oder minder alles als Populismus bezeichnet wird. Die relative Diffusität ist dabei wohl mitursächlich für die Beliebtheit des Begriffs, wie es von anderen vagen Begriffen wie Nachhaltigkeit oder Gemeinwohl schon lange geläufig ist. Mit Populismus gemeint ist eine Vorstellungswelt, nach der sich die Gesellschaft angeblich in homogene, gegnerische Gruppen aufteilt, typischerweise das »authentische Volk« und »die korrupte Elite« – wobei dem entmachteten Volk vorgeblich die Macht durch einfache, klare Maßnahmen zurückgegeben werden soll. Dabei präsentieren sich die populistischen Führer von im Detail unterschiedlicher Ausprägung von Trump über Putin, Erdoğan, Kaczyński oder Le Pen als Stimme des Volkes, die die Elite endlich einmal in ihre Schranken weisen werden.

Populismus bezeichnet ein mehrfaches Verwerfungspotential, wobei auch Fragen adressiert werden, die sich unzweifelhaft stellen, zum Beispiel danach, wie Volkssouveränität in der Demokratie tatsächlich realisiert werden kann. Nicht von ungefähr versammeln sich Empörte unter seinem Banner, die auf ominöse Mächte im Dunklen, auf die »da oben« und »da draußen« verweisen – auf Schuldige in den verschworenen Zirkeln von Lobbys oder Lügenkartellen, in Brüssel oder in der Presse. Dabei sollte man den »Populismus« wohl für politische Bündnisse reservieren, die offensiv, eindeutig und umfassend auf einfache Analysen und Lösungen setzen und damit Aggressionen und Ressentiments zum Ausdruck bringen. Populismus ist dabei nicht automatisch politisch rechts. Wie man in Lateinamerika oder Griechenland, aber auch anhand einiger Parteien in anderen Staaten beobachten kann, lässt sich das beschriebene Politikmuster auch mit linken Inhalten füllen. Es kann zudem ideologisch gemeint sein oder einfach pragmatisch eine Strategie darstellen, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Was von beidem etwa auf Donald Trump zutrifft, könnte man kontrovers diskutieren. Und für Ahnherren aktueller Populismen in Europa wie Jörg Haider oder Silvio Berlusconi ebenso.

Es gibt eine Vielzahl aktueller Entwicklungen, die den aktuellen scheinbaren Siegeszug von Populismus und einfachen Wahrheiten möglicherweise (mit) erklären können. Wir betrachten diese jetzt kurz nacheinander. So lässt sich überprüfen, wie plausibel die These ist, dass eine Neigung zu einfachen Wahrheiten gerade im Kontext aktueller Entwicklungen als sozusagen neue Tendenz entstanden ist.

Unmittelbar naheliegend wird ein populistischer Trend zu einfachen Wahrheiten zunächst mit allseits zugestandenen Problemen verbunden, die demokratischen Institutionen anhaltend mit Leben zu erfüllen. Schwindende Mitgliedschaft in Parteien und Verbänden, Entpolitisierung, Globalisierung – die wegen der auch ökonomisch-sozialen Effekte im folgenden Abschnitt gesondert betrachtet wird –, »Konzernmacht«, »degenerierte Eliten«, »Fassaden- oder Postdemokratie« sind Stichworte für verbreitete Empfindungen, dass sich viele Bürger politisch nicht oder nicht mehr ausreichend repräsentiert fühlen. Wirtschaft und Technik werden scheinbar immer komplexer, und zugleich wirkt Politik für viele zunehmend wie ein Klein-Klein, in dem Politiker ihre arbiträren Statements gegenseitig kommentieren, statt an großen Lösungsentwürfen zu arbeiten. Konflikte werden in dieser Sicht nur noch wegmoderiert, echte politische Programmarbeit wird kaum noch geleistet. Mancher meint auch, dass sogenannte Identitätspolitik zunehmend wirkliche wirtschafts-, sozial- oder friedenspolitische Probleme überlagert – also Fragen etwa der Homo-Ehe oder der Gleichstellung von Mann und Frau, was in einigen Kreisen den Politikverdruss nur noch weiter steigere.

An dieser Stelle ist – wie im gesamten Buch – nur bedingt entscheidend, ob dieser etwas grobstrichig entworfene Befund so zugespitzt tatsächlich zutrifft. Bestimmte Kreise junger Leute etwa zeigen sich weiterhin politisch interessiert, allerdings nicht mehr innerhalb klassischer Partei- und Verbandsstrukturen. Gleichwohl scheint der Befund das Lebensgefühl erheblicher Bevölkerungsgruppen wiederzugeben. Ursächlich dafür könnte auch eine gesteigerte Erwartungshaltung sein. Wie immer finden Entwicklungen ja nicht nur objektiv statt, sondern hängen in ihrer Wahrnehmung maßgeblich davon ab, was sich Menschen erhoffen. Und an dieser Stelle drängt sich durchaus der Eindruck auf, dass bestimmte letztlich keineswegs neue Vorgänge hier als vermeintlich neu debattiert werden. Schon für die oft im Nachgang als golden wahrgenommenen 1970er Jahre in westlichen Demokratien erscheint nur bedingt plausibel, dass Politiker und politische Mitbestimmungsmöglichkeiten damals von grundsätzlich anderer Art waren als heute. Erst recht ist menschheitsgeschichtlich ein vermeintlicher Trend weg von der Demokratie in dieser Eindeutigkeit nicht zu zeigen. Vielmehr sind generell demokratische Herrschaftsformen historisch die absolute Ausnahme (dieser Umstand wird im vorliegenden Buch noch eine größere Rolle spielen). Zudem gibt es aktuell auch klar gegenläufige Entwicklungen. So mögen zwar die ausgehöhlten Demokratien gerade vielerorts ins Auge stechen. Gleichzeitig nimmt indes die Zahl »offizieller« Diktaturen, die wie China selbst auf den Anschein freier Wahlen verzichten, sichtbar ab. Und Entwicklungen wie die zunehmende Geschlechter-Gleichberechtigung machen deutlich, dass es keinesfalls per se einen reaktionären Trend in unseren Tagen gibt.

Besonders stark wird ein angeblich populistischer Trend zu einfachen Wahrheiten neben dem angenommenen Verfall demokratischer Institutionen mit der Digitalisierung der letzten 20 Jahre in Verbindung gebracht – und mit der rasanten Ausbreitung der sozialen Medien. Dass Facebook & Co. die blitzartige Verbreitung sehr eigenwilliger und ungeprüfter Ansichten erleichtern, liegt auf der Hand. Freilich ließe sich hier auch die umgekehrte Geschichte erzählen. Das Internet ermöglicht es sehr vielen Stimmen, sich politisch Gehör zu verschaffen, ohne auf einige ausgewählte Journalisten oder eine große eigene Bekanntheit angewiesen zu sein. Damit könnte man die moderne digitale Entwicklung auch gerade als Garant liberal-demokratischer Gesellschaften erleben – der zwischenzeitlich gefeierte Arabische Frühling lässt grüßen. Ist die Digitalisierung damit also demokratisch ambivalent, kommt man unvermeidlich zu der Frage, ob es wirklich das Internet ist, das den Trend zu einfachen Wahrheiten bis hin zu Verschwörungstheorien auslöst. Sicherlich haben soziale Medien das Potential hierzu, doch müssen sie dazu auch auf einen Akteur, nämlich den Menschen, treffen, der Verschwörungstheorien etwas abgewinnen kann, der zu Filterbubbles neigt und bestimmte Dinge eben nicht so gerne und andere dafür umso lieber hören möchte.

Das Internet kann ein solches Denken bestärken, es kann es durch seine Pluralität umgekehrt aber auch gerade erschweren. Früher, als die meisten Menschen auf dem Dorf oder in kleinen Städten lebten, haben wenige Männer das kontrolliert, was an Informationen zugänglich war: der Lehrer, der Bibliothekar, der Priester. Auch dass über mediale Wege mitunter Sündenböcke auserkoren werden, ist nicht neu, sondern war schon zu Zeiten des ersten Medienhochs in den Kontroversen um die Reformation im 16. Jahrhundert so. Und Desinformations-Kampagnen interessierter Mächtiger gab es zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte – sie sind heute leichter zu organisieren, aber gleichzeitig sind sie auch leichter zu überprüfen. Dass alte Intellektuelle wie Jürgen Habermas oder selbst fleißige Twitterer nur noch kleine Teile der Öffentlichkeit erreichen, kann man als Problem, aber auch als begrüßenswertes Zeichen von Pluralität und demokratischer Kontrolle erleben. Dass überall auf der Welt zugleich Populismen entstehen oder erstarken, von den Philippinen über die USA bis nach Ungarn und Russland, muss irgendwie auch in den zeitgleich ablaufenden technischen Umwälzungen begründet sein, nur sind die Zusammenhänge vielfältiger, als es sich eine einseitige Fixierung auf die neuen Medien ausmalen könnte.

Jede Epoche muss mit ihren Medien umzugehen lernen. Der Buchdruck beförderte im 16. Jahrhundert den Protestantismus – denn ohne Buchdruck wäre die Forderung, dass jeder selbst seine Bibel liest und seine Zwiesprache mit Gott persönlich hält, nicht denkbar gewesen. Der Buchdruck brachte auch die Philologie – und damit den Zweifel, ob die Bibel tatsächlich Gottes Wort sei und nicht eher ein reichlich wirres Textkonvolut, das nur die Aufklärung entziffern kann. Er brachte protestantische und antiprotestantische Polemiken, und zugleich brachte er ganz neue Möglichkeiten, sich selbst eine begründete Meinung zu bilden. Natürlich brachte der Buchdruck auch den »Hexenhammer«, die Anleitung zur Hexenverfolgung, einen der ersten Bestseller der modernen Mediengeschichte.

Ein weiterer Faktor spricht dagegen, vorschnell eine aktuelle Entwicklung mit einer klaren Richtung auszumachen. Es wird dadurch potentiell ein übermäßig einheitliches Bild aktueller Entwicklungen gezeichnet, und deren Vielschichtigkeit und historische Relativität gerät aus dem Blick. Vielen gefällt beispielsweise auch jenseits der Erklärung des Phänomens Populismus die Idee, dass im Weltgeschehen alles immer besser oder immer schlechter wird. Vermeintlich zwangsläufig vollzieht sich etwa bei Marx die gesellschaftliche Entwicklung erst hin zum Kapitalismus und später dann irgendwann zur klassenlosen Gesellschaft. Ebenfalls in einer solchen geschichtsphilosophischen Denkweise bewegt sich die klassische Erzählung vom immer weiter voranschreitenden gesellschaftlichen und technischen