Kuss des Schattenwolfs - Janin P. Klinger - E-Book

Kuss des Schattenwolfs E-Book

Janin P. Klinger

4,5

Beschreibung

Für Jason und Serena läuten die Hochzeitsglocken. Doch privates Glück und ihre Liebe füreinander verschont sie nicht vor Jokers finsteren Machenschaften. Als Jase zudem ein fataler Fehler unterläuft, der nicht nur seine Karriere als Polizist aufs Spiel setzt, sondern ihn auch psychisch unter enormen Druck setzt, beschließt er, Joker ein für allemal das Handwerk zu legen. Da Joker es auf Werwölfinnen abgesehen hat, versucht Jase, seine Frau aus der Sache herauszuhalten. Doch Serena lässt sich nicht davon abbringen, an der Seite des Mannes zu kämpfen, den sie liebt, und gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach ihrem schlimmsten Feind.

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Kuss des Schattenwolfs

Janin P. Klinger

Kuss des Schattenwolfs

Janin P. Klinger

© Sieben Verlag 2015, 64354 Reinheim

© Covergestaltung: Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864433337

ISBN eBook-PDF: 9783864433375

ISBN eBook-epub: 9783864434631

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Anhang

Danksagung

Für meinen großen Bruder Jan,

viel zu oft wüsste ich nicht, was ich ohne dich täte.

Glücklicherweise brauche ich darauf keine Antwort.

Prolog

Als er ihr zum ersten Mal begegnete, war ihm bewusst geworden, wie viel Macht Liebe besitzt.

Nie hätte er gedacht, wie viel er tatsächlich für die Person imstande war zu tun, der seine ganze Liebe galt.

Er war im Begriff, denjenigen zu töten, der vor langer Zeit sein Vater, sein Bruder, sein bester Freund und engster Vertrauter gewesen war. Inzwischen sah er in ihm nichts anderes als den Verantwortlichen für all das Leid, all die Schmerzen und Albträume, die ihr widerfahren waren.

Er war nicht mehr derselbe wie früher; ein Niemand, ohne Regeln und Pflichten. Die Entscheidung Polizist zu werden hatte sein Leben von Grund auf verändert. Anstatt einen kaltblütigen Mord zu planen, sollte er sich überlegen, wie er den Mann hinter Schloss und Riegel brachte. Doch diese Möglichkeit zog er überhaupt nicht in Erwägung, sondern ging gleich davon aus, dass ihn umzubringen, die einzige Lösung war.

Bei dem Gedanken, denjenigen zu töten, der ihm alles beigebracht, ihn zu dem gemacht hatte, der er inzwischen war und ihn vor drei Dutzend Jahren vor dem sicheren Tod bewahrte, empfand er ein merkwürdiges Gefühl. Sein einziger Blutsverwandter würde durch seine Hand sterben.

Der Gedanke war merkwürdig, aber erträglich.

Kapitel 1

1974, Los Angeles

Obwohl er wusste, dass es nicht sein konnte, fühlte sich sein Körper erschöpft an, als er sich auf eine Bank im Park fallen ließ.

Er hatte sich ein Versprechen gegeben. Selbst wenn es ihn umbrachte, er musste damit aufhören.

Sein Körper zitterte stark, als er sich seufzend zurücklehnte und durch die Haare fuhr, die feucht an seiner Kopfhaut klebten. Er schwitzte gewöhnlich nicht mehr, aber der Entzug brachte alte Gewohnheiten wieder zutage.

Wie lange war es nun her? Das letzte Mal, das wirklich allerletzte Mal, bei dem er völlig berauscht gewesen war. Bestimmt zwei Monate. Es kam ihm vor wie eine halbe Ewigkeit.

Als er noch ein Mensch gewesen war, hatte er seinen Kummer in Alkohol ertränkt und gedacht, nichts könnte schlimmer sein als dieser elendige Entzug danach.

Natürlich hatte er sich gehörig getäuscht. Auf Alkohol zu verzichten, war eine Lächerlichkeit dagegen. Nie hätte er sich ausmalen können, dass es eine andere Art von Entzug gab, die solche Qualen hervorrufen könnte. Qualen, die er in seinen schlimmsten Albträumen nicht erwartet hätte. Und dennoch wollte er nicht aufgeben. Er wollte den Kampf gegen die Sucht gewinnen, sich der Versuchung widersetzen, auch wenn das sein Leben nicht lebenswerter machte. Er existierte nur noch.

Wieder verkrampfte er sich für einige Sekunden, es fiel ihm schwer zu atmen, völlig absurd, da er nicht darauf angewiesen war. Dennoch hatte er das Gefühl, als würden seine Adern plötzlich anfangen zu pulsieren. Die Versuchung, die Sucht …

„Nein“, fluchte er leise. „Nein, nein, zum Teufel.“

Es war einfach nicht fair, er hatte das alles nicht gewollt. Lieber hätte er weiter sein tristes Dasein ertragen, als mit diesem neuen Leben in einem solchen Zwiespalt zu stecken.

Sein Körper zitterte erneut. Es gelang ihm nicht, sich von der Bank zu erheben. Fürchterliche Angst beschlich ihn, die Sorge, dass er nicht stark genug wäre, um der Versuchung zu widerstehen.

„Argh“, entfuhr es ihm, als ein erneuter Krampf quer durch seine Eingeweide zog. Diese Schmerzen würde er nicht ewig ertragen. Was bedeutete schon Ewigkeit? An diese Zeitspanne wollte er überhaupt nicht anfangen zu denken. Ohne jegliche Vorwarnung verirrte sich ein bekannter Duft in seine Nase. Es war wie ein Schlag in den Magen. Er wusste instinktiv, womit er es zu tun bekam.

„Hey Süßer“, quietschte ihm eine schrille Stimme entgegen.

Versuchung …

Er blickte auf und sah einer kleinen blonden Frau, Anfang zwanzig, die auf wackligen Beinen in seine Richtung getaumelt kam, entgegen. Sie sah nicht besonders gesund aus, unterernährt, viel zu blass – wenn auch nicht im Vergleich mit ihm – und ihre Kleidung entsprach nicht unbedingt der neuesten Mode, aber das interessierte ihn kaum. Viel ansprechender fand er ihren Geruch, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ und ihre von der Kälte leicht geröteten Wangen, die ihm versprachen, dass sich das Verlangen seiner Sucht stillen ließ …

„Oh, verflucht“, knurrte er, wandte den Blick ab und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Er musste widerstehen. Schließlich war es sein letztes Mal gewesen – für immer.

„Binni etwa so unattraktiv, dass du mir nich ma in die Augen schauen wills?“, fing die Blonde nun auch noch zu quengeln an.

Sie war eindeutig betrunken. Eine Stimme in seinem Kopf schrie: Nutze deine Chance! Sie wird es kaum spüren. Dagegen sagte sein Verstand: Du kannst ihre Lage nicht einfach so ausnutzen.

„Wieso sitzt’n mitten inner Nacht auf ’ner Parkbank?“, fragte sie und begann zu kichern.

Er schwieg. Zu einer Antwort war er nicht fähig, da seine gesamte Konzentration der Aufgabe galt, ruhig sitzen zu bleiben. Nochmals durchzog seinen Körper ein quälender Schmerz, als er kurz einatmete. Er versuchte, ihn zu ignorieren. Als der Druck in seinem Magen nachließ, blickte er nach oben, der Blondine direkt in die glasigen Augen. Wahrscheinlich hatte sie mehr als bloß Alkohol intus.

„Gaff mich nich so lüstern an“, sagte sie nun leise, rührte sich aber immer noch nicht vom Fleck.

Dies war der falsche Ort und die falsche Zeit für diese Frau, vielleicht hatte es ihr Schicksal so gewollt. Er musste sie nicht verletzen, er könnte vorsichtig sein …

Zitternd richtete er sich auf, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Atmete tief ein. Ihr Blut roch süß, verführerisch, als wollte es ihn locken, wie eine Blume eine Biene anlockt.

Der brennende Schmerz in seiner trockenen Kehle war immer noch da, aber da er den Widerstand aufgegeben hatte, übertrumpfte ihn ein Gefühl der Vorfreude. Das Zittern seines Körpers ließ nach, er fühlte sich lebendiger, bereit, sein Opfer zu jagen.

„Verdammt.“ Diesmal war sein Knurren tief, was die Blondine aufschrecken ließ. Seine Adern pulsierten quälend vor sich hin, während sie die Augen aufriss und einen Schritt nach hinten machte.

Zeitgleich mit ihrer Geste erreichte ihn auch ihre körperliche Reaktion. Es mischte sich eine herbe Duftnote bei, der Geruch der Angst, den er inzwischen gut kannte. Es stachelte ihn noch mehr an. Er leckte sich die Lippen.

„Du Irrer!“, schrie sie und stolperte bei dem Versuch zu fliehen. Zähneknirschend packte er sie am Arm.

Seine letzten Kraftreserven sammelnd, stieß er sie hinter der Bank zu Boden, sodass die Beleuchtung der nächsten Straßenlaterne keine Chance hatte, sie mit ihrem Lichtkegel einzufangen.

„Ahhhh…“, schrie die Frau, aber eine Sekunde später dämpfte seine Handfläche ihre Schreie.

Sein Verstand rebellierte, sein Körper jedoch war nun voll in Fahrt. Er nahm einen weiteren Atemzug und seine Bedenken waren vollkommen vergessen.

„Scheiß auf das Versprechen. Selbst schuld, wenn du dich nachts an fremde Kerle ranschmeißt“, flüsterte er seinem Opfer zu, das ihn mit panischen Blicken fixierte.

Hoffnungslosigkeit machte sich auf ihrem Gesicht breit und er wusste, dass es berechtigt war. Heute Nacht hatte sie Pech gehabt. Heute Nacht würde er es ein letztes Mal tun. Ein allerletztes Mal.

Dann überzog ein Lächeln seine Lippen, er beugte sich völlig berauscht über die Blondine und ergab sich seiner Sucht. Seiner unendlichen Gier.

Kapitel 2

2013, New York

Quälend langsam trieb Jase sie auf den Gipfel der Ekstase zu. Serena versuchte, ein Stöhnen zu unterdrücken, doch es gelang ihr nicht. Lächelnd beugte er sich tief über sie, ohne aus dem Rhythmus zu geraten.

Als sie den Kopf zur Seite drehte und sich fest auf die Unterlippe biss, zog er irritiert die Augenbrauen hoch. Für gewöhnlich biss sie ihm in den Hals, um zu vermeiden, dass sie aufschrie. Natürlich verwundete sie ihn niemals, sondern biss nur so fest zu, dass ihre Zähne höchstens einen Abdruck auf seiner Haut hinterließen.

Es dauerte einen Moment, bis er verstand. Dann aber überkam ihn heißer Zorn und er trieb sie schneller als gewöhnlich über den Rand der Lust, sodass sie aufkeuchte und die Muskeln in ihrem Körper erschlafften. Ohne seine eigene Befriedigung abzuwarten, zog er sich zurück, drehte sich um und setzte sich ans Ende des Bettes, ihr den Rücken zugewandt.

„Was ist los?“, fragte sie alarmiert und außer Atem. Sie setzte sich ebenfalls auf.

„Du behandelst mich, als wäre ich aus Porzellan“, platzte er heraus. „Erinnerst du dich an die Zeit, bevor das hier passierte?“ Er deutete auf die Narbe an seiner Schulter, die einzige, die er besaß und die ihm erst vor ein paar Wochen zugefügt worden war. „Und erinnerst du dich an den Tag, als wir auf dem Revier Sex hatten?“, bohrte er weiter nach. „Als du mich in den Hals gebissen hast, um keinen Ton von dir zu geben? Oder, wenn wir miteinander gerungen haben, wie du mich immer spielerisch als Wolf gezwickt hast. Das alles kommt für dich inzwischen nicht mehr infrage wegen diesem einen Unfall mit Ames.“

„Ich fass es nicht, dass du sauer auf mich bist, weil ich dich nicht mehr beiße“, entgegnete sie. „Du hast echt Probleme.“

„Darum geht es nicht. Ich will nur nicht, dass du mich mit Samthandschuhen anfasst. Das tust du nämlich, seitdem du weißt, dass auch ich verwundbar bin.“

„Richtig, das bist du. Durch meinen Speichel!“ Jetzt wurde sie richtig wütend. „Und dir wäre es lieber, ich würde weiterhin nur zum Spaß dein Leben riskieren? Lieber verzichte ich auf Sex oder einen Ringkampf mit dir!“

Ironischerweise entspannte er sich, jetzt da sie sauer war. „Nun … damit stehst du allein da.“ Er grinste. „Lieber setze ich mein Leben aufs Spiel als das. Aber wir können auch weiterhin beides haben, das versuche ich doch gerade, dir zu erklären. Früher hast du mich auch kein einziges Mal verletzt.“

„Lass mich in Ruhe mit deinen kranken Fantasien. Wenn du auf mich stehst, weil ich schärfere Zähne habe als andere Frauen, dann solltest du die Hochzeit absagen, denn die werde ich nicht mehr benutzen, ob du lebensmüde bist oder nicht.“

Damit stapfte sie nackt aus dem Raum und ließ ihn verblüfft, aber auch ein wenig amüsiert zurück.

Während sie mit den Hunden rausging, duschte er, zog sich an und machte ihr Rührei. Er musste heute erst spät zur Arbeit und Serena hatte sich freigenommen, um einige Besorgungen für die Hochzeit zu erledigen. Als sie zurückkam, standen Kaffee und ein ausgiebiges Frühstück bereits auf dem Tisch. Sie betrat die Küche und sah ihn an.

Jase lehnte lässig an der Arbeitsplatte. „Weißt du, es gibt da noch ein paar mehr“, sagte er geheimnisvoll.

„Was?“, knurrte sie, wahrscheinlich ebenso wütend auf ihn wie auf ihre Neugierde.

„Gründe, weshalb ich dich liebe. Außer deinen scharfen Zähnen.“

Sie verdrehte die Augen und wandte ihm den Rücken zu, tat so, als gäbe es vor dem Fenster unheimlich interessante Dinge zu sehen.

„Ich bin sicher, du möchtest sie hören, aber deine Sturheit verbietet es dir, zu fragen. Da ich ein Gentleman bin, verrate ich sie dir auch so. Also. Zunächst einmal dein Talent zum Streiten. Darin bist du genauso gut wie ich, was meiner Meinung nach für eine Beziehung wunderbar harmonisch ist. Dann wäre da deine Dickköpfigkeit. Ich muss zugeben, darin übertriffst du mich, jedenfalls weißt du immer genau, was du willst. Es ist deshalb so traumhaft, mit dir zusammenzuleben, weil du es mich immer sofort wissen lässt, wenn du böse bist, und nicht so tust, als wäre alles in Ordnung. Das kannst du auch gar nicht, denn die knallharte Wahrheit bekommt man von dir immer sofort zu hören, ob das nun gut oder schlecht ist.“

Obwohl er lieber stehen geblieben wäre, setzte er sich auf einen Stuhl, um Serena zu verdeutlichen, dass seine Liste an negativen Dingen unendlich weitergehen würde, solange sie ihn ignorierte.

„Nicht zu vergessen, deine außerordentliche Gemeinheit. Du kannst skrupellos sein, im Krieg und in der Liebe ist schließlich alles erlaubt. Der Spruch passt perfekt zu dir. Wenn für dich irgendetwas dafürspricht, setzt du alle Mittel und Wege ein, die dich ans Ziel bringen.“

„Nur so zwischendurch“, unterbrach sie seinen Redefluss, ohne sich umzudrehen. „Indem du all meine Schattenseiten aufzählst, kommen wir uns garantiert nicht näher.“

„Und da ist sie wieder, die gnadenlose Wahrheit. Aber du ignorierst mich nicht mehr. Soll ich dir sagen, wann ich mich in dich verliebt habe?“

Geschlagene zwei Minuten herrschte Stille, bis sie ihre Sturheit überwunden und sich zu ihm umgedreht hatte. Sie zog abwartend die Augenbrauen hoch, womit sie ihm, auch wenn sie immer noch nichts sagte, ein bisschen entgegenkam.

„Als ich dir zum ersten Mal in die Augen gesehen habe.“

Sie schnaufte. „Wie originell.“

„Na ja, sei fair. Du hast dich auf der Stelle in einen Wolf verwandelt. Viel mehr als ein Tier mit wunderschönen Augen kann ich also nicht gesehen haben. Aber deine Augen haben gereicht.“

„Kennst du den Spruch: ‚Liebe auf den ersten Blick ist so sicher wie eine Diagnose auf den ersten Händedruck‘?“

„Ja, aber das gilt nur für Menschen. Ich spüre auch bei einem Händedruck viel mehr, als es ein Mensch tut.“ Er verzog den Mund zu einem Lächeln. „Gib mir deine Hand.“ Er streckte ihr fordernd die seine entgegen.

Misstrauisch sah sie ihn an. „Und dann?“

„Dann sage ich dir, was ich spüre.“

Wieder ließ sie sich Zeit, aber Geduld war eine seiner größten Stärken, er hätte auch Stunden gewartet und das wusste sie. Stirnrunzelnd trat sie zu ihm und legte ihre Hand in seine.

Er schloss die Augen. „Eine warme Hand mit sanften, schmalen Fingern, das wäre das Einzige, was ein Mensch fühlen könnte. Jetzt kommt meine Diagnose: siebenunddreißig Komma drei Grad. Puls …“, er zählte eine Viertelminute und multiplizierte mal vier, „sechsundfünfzig, für dich ist das leicht beschleunigt. Du hast ein starkes, trainiertes Herz. Deine normale Frequenz liegt deshalb niedriger als der Durchschnitt.“ Er öffnete die Augen und sah sie an, ohne ihre Hand loszulassen.

„Das weißt du aus Erfahrung“, konterte sie unbeeindruckt.

„Stimmt“, gab er lächelnd zu. „Dein Herz ist zwar eigentlich nur faustgroß, aber könnte man es aufklappen, wäre es so groß wie ein Heißluftballon; jedermann fände Platz darin, es ist dir ein Bedürfnis, armen Seelen zu helfen.“ Zärtlich fuhr er mit dem Daumen über ihre Hand. „Also hilf mir. Lass mich nicht weiter betteln. Beiß mich.“

Beinahe hätte sie aufgelacht, das sah er ihr an, stattdessen entzog sie ihm ihre Hand. „Du bist ein komischer Vampir. Du solltest mich beißen wollen.“

Er grinste. „Ein weiterer Grund, weshalb wir so großartig zusammenpassen. Du bist nämlich eine komische Werwölfin, die sich von einem Vampir beißen lassen will.“

„Du hast recht, also schließen wir einen Kompromiss. Du trinkst von mir und ich zwicke dich, soviel du willst.“

Ihm verging das Lachen. „Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun.“

„Ach nein? Ich finde schon, dass es vergleichbar ist. Dich zu beißen, halte ich für ein Risiko, weil ich dich unabsichtlich verletzen könnte und dabei mein Speichel in die Wunde gelänge. Aus dem gleichen Grund willst du nicht von mir trinken – weil dein Speichel in meiner Blutbahn ein ebensolches Risiko darstellt.“

„Das ist nicht der Grund.“

„Ach nein?“, wiederholte sie.

„Nein. Darum mache ich mir keine Sorgen. Es gibt ein Gesetz, das es uns verbietet, Vampire zu erschaffen, da die Anzahl der Menschen höher bleiben muss.“ Vampire können kein eigenes Blut produzieren und sind somit auf den menschlichen Körper als Nahrungsquelle angewiesen. Da Vampire ewig leben, würde es irgendwann zu einem Problem werden, weil die Anzahl von ihnen die der Menschen übersteigen könnte. „Deshalb ist es das Wichtigste, dass wir einander beibringen, so zu trinken, dass unser Speichel, der die Verwandlung auslöst, nicht übertragen wird.“

„Das geht so einfach?“, fragte sie erstaunt. „Du hast immer so getan, als ob du nicht von mir trinken wolltest, weil es gefährlich ist.“

„Ich weiß, aber das ist es nicht. Zumindest nicht nur. Ein kleines Risiko hat man natürlich immer, weil man theoretisch in einen Blutrausch verfallen kann. Aber da dies nur bei den Jungen unter uns vorkommt, habe ich diesbezüglich keine Sorge.“

„Was ist es dann, Jase?“

Hoffentlich verstand sie ihn nicht falsch. Dies war eine schwierige Angelegenheit, aber wenn er wollte, dass sie begriff, weshalb ihr Kompromissvorschlag nicht so toll war, wie sie annahm, dann musste er ehrlich sein.

„Der Vampirbiss löst bei demjenigen, der gebissen wird, eine Ausschüttung von Adrenalin und Endorphin aus, was zu einem Kick und anschließendem Wohlgefühl führt. Die meisten Menschen, die von unserer Existenz wissen, wollen sowieso verwandelt werden; man kann damit jede Krankheit heilen und wird unsterblich. Die Sucht nach den Glückshormonen des Bisses sorgt dafür, dass sich Menschen gern freiwillig als Spender anbieten, mit der Hoffnung auf spätere Verwandlung. Darum sind Werwölfe auch so gefragt. Abgesehen von dem guten Geschmack des Blutes werden sie niemals zu Nervensägen, die darum bitten, verwandelt zu werden.“

So viel hatte er gar nicht erzählen wollen, aber Serena verstand, worin seine Sorge begründet lag.

„Du hast Angst, dass ich süchtig nach dem Endorphin- und Adrenalin-Rausch werde?“

„Sieh es nicht als Beleidigung“, bat er schnell, da ihm ihr Tonfall nicht entgangen war. „Es ist keine Frage der persönlichen Charakterstärke, sondern ein körperliches Verlangen, gegen das man nichts ausrichten kann.“

„Und, hattest du dieses Verlangen schon mal?“

Irritiert über die Frage blickte er sie an.

„Nein, weil du nie gebissen wurdest“, beantwortete Serena sie selbst. „Also erlaube dir nicht, über etwas zu urteilen, das du nicht kennst. Ich dagegen kenne das Gefühl sehr wohl. Du hast mich gebissen und trotzdem war ich nicht süchtig danach.“

„Aber du bittest mich darum, es wieder zu tun.“

„Das habe ich auch schon davor getan! Weil ich es dir zuliebe möchte.“

Die nächsten Worte kamen über seine Lippen, ohne dass er es beabsichtigte. „Das war nicht dein erster Vampirbiss. Als Kind wurdest du …“ Verflucht, er merkte viel zu spät, was er da sagte.

Zuerst verstand sie nicht, doch dann … Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen und sofort bereute er, es angesprochen zu haben.

„Verstehe. Unbewusst suche ich deswegen nach dem Kick? Seit einem Biss, der mir gewaltsam vor über zwanzig Jahren zugefügt wurde?“

Die Rede war von Joker und einem Komplizen, der sie und ihre Mutter angegriffen und gebissen hatte.

„Vielleicht habe ich mich ja auch nur aus diesem einen Grund in dich verliebt, hm? Weil du ein Vampir bist und ich mir wünsche, dass du endlich meine Sucht stillst.“ Inzwischen brüllte sie fast. „Dass meine Wahl auf dich gefallen ist, war anscheinend ein dummer Fehler. Ich finde sicher einen willigeren Vampir!“

Zornig wollte sie aus der Küche stürmen, doch Jase war vor ihr an der Tür und versperrte ihr den Weg. In ihrer Eile stieß sie gegen ihn. Er streckte die Hände aus, um sie aufzufangen, doch sie schüttelte seine Hilfe ab.

„Fass mich nicht an.“

„Lauf jetzt nicht weg“, bat er und streichelte gegen ihren Willen ihre Wange. „So war es nicht gemeint.“

„Dann bin ich sehr auf deine Erklärung gespannt, wie genau du es gemeint hast!“

Resignierend seufzte er. „Nur, dass es unnötig ist, das Risiko, dass du süchtig werden könntest, einzugehen, wenn es auch andere Möglichkeiten gibt.“

„Andere Möglichkeiten? Ja, richtig. Wie heißt deine Kleine noch gleich – Sophie?“

Ungläubig starrte er sie an. „Willst du mich auf den Arm nehmen? Du bist doch schuld daran, dass ich Sophie habe, du erinnerst dich? Vor zwei Monaten hast du mich im Blood Hunter quasi dazu genötigt, sie zu nehmen! Ich wollte wie immer Blutkonserven.“

„Damals kannte ich deine wahren Gründe auch nicht. Du hättest mir ja eine ehrliche Antwort geben können.“

Es kostete ihn einige Überwindung, seine wahren Beweggründe zu offenbaren, aber er entschied sich dafür. „Okay, du willst Ehrlichkeit. Ich erlaube mir deshalb, über die Auswirkung von Vampirbissen zu urteilen, weil ich es selbst erlebt habe. Wenn das Geld bei uns knapp war, hat mein Vater mich als Kind an Vampire verkauft.“

„Er hat was getan?“ Fassungslos starrte Serena ihn an.

Jase ließ ihr Zeit, weil klar war, dass sie keine Wiederholung hören wollte.

„Wieso … wie kann er …?“ Verzweifelt suchte sie nach Worten, ehe sie eine vernünftige Frage zustande brachte. „Wie alt warst du?“

„Ich bin nicht sicher, wann es anfing. Mein Vater war heroinsüchtig und hatte nichts. Sein Blut wollte wahrscheinlich keiner, da blieb ihm nur meines. In meiner frühesten Erinnerung war ich etwa sechs. Das war, soweit ich mich entsinne, das erste Mal, als ein Vampir an meinem Hals in einen Blutrausch fiel.“

Serena war nicht fähig, etwas zu erwidern. Mit einer Hand vor dem Mund schwieg sie.

„Du weißt noch, dass wir letztens im Blood Hunter mit angesehen haben, wie ein Vampir beim Trinken von einer jungen Frau in einen Rausch fiel. Und du erinnerst dich an meine Reaktion. Vielleicht kannst du dir jetzt vorstellen, weshalb ich so impulsiv gehandelt habe. Diese Hilflosigkeit, die Angst und Verzweiflung“, einen Moment zögerte er, dachte an das Gefühl, „es macht einen wahnsinnig, zu merken, wie jemand dir all dein Blut aussaugen will. Wie du schwächer und schwächer wirst …“ Noch einmal hielt er inne und sah Serena an. „Und du kannst nichts tun.“

Als er nicht fortfuhr, räusperte sie sich. „Das ist so entsetzlich. Und bist du davon …?“

Er ahnte, was sie wissen wollte. „Ob ich von den Bissen süchtig geworden bin? Nein, anders als du war ich ja nicht bereit, mein Blut herzugeben. Darum bestand ich nur aus Angst. Aber die Endorphine haben es erträglicher gemacht, haben mich meine Angst manchmal vergessen lassen.“

Inzwischen verstand Serena seine Sorge. „Tut mir leid, ich wollte dich nie bedrängen.“

Jase nahm sie in den Arm und nun ließ sie die Berührung zu. „Schon gut. Das war es eigentlich gar nicht, was ich mit diesem Gespräch erreichen wollte. Zwischen uns würde es natürlich vollkommen anders sein und das weiß ich.“ Er löste sich aus der Umarmung. „Gerade deshalb habe ich Angst, dass es dir zu sehr gefallen könnte. Wenn du allerdings versprichst, dass du mir sofort Bescheid gibst, solltest du das Gefühl haben, dass du ohne die Endorphine nicht mehr auskommst, gehe ich gern auf deinen Kompromiss von eben ein.“

„Ehrlich?“

„Absolut.“

„Dann also versprochen!“

„Versprochen.“ Er küsste sie auf die Stirn. „Und wegen des Versprechens, das wir uns in einer Woche vor dem Traualtar geben, muss ich kurz etwas erledigen. Lass dir dein Frühstück schmecken.“

Er ging nach draußen, um ein Telefonat zu führen.

„Wenigstens unsere Flitterwochen könnten wir gemeinsam planen.“ Serena platzte kurze Zeit später ins Wohnzimmer und schnitt das Thema zum wiederholten Male an.

„Love“, sagte Jase geduldig und sah sie über die Zeitschrift an, die er gerade las. „Nichts wäre mir lieber, aber du kommst nicht mal mit deinem Kleid und der Trauzeugenplanung zurecht.“

„Also erstens“, knurrte sie beleidigt und zog einen Schmollmund, „komme ich sehr wohl mit meinem Kleid zurecht.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Ach, hast du mittlerweile eins?“

„Nein, aber ich habe genaue Vorstellungen davon, wie es aussehen soll – was nicht leicht war in Anbetracht der Tatsache, dass nur ein Millionstel aller fertigen Brautkleider weiß-rot sind. Ich lasse es jetzt einfach meinen Wünschen entsprechend schneidern. Aber die Sache mit dem weiß-rot für mich, schwarz-rot für dich, war keine gute Idee.“

Sein amüsiertes Schnauben ließ sich nicht verhindern und sofort wurde ihr Blick noch eisiger. „Bitte?“

Er zuckte die Achseln. „Ich muss sicher nicht erwähnen, dass es deine Idee war, uns mit diesem kleinen Detail farblich aufeinander abzustimmen. Ich habe das Rot an meinem Anzug übrigens schon gewählt. Und sieben Tage für die Herstellung deines Brautkleides? Ist doch kein Thema.“ Sie musterte ihn weiterhin abwartend und nach einer Minute des Schweigens gab er seufzend nach. „Na ja, ich dachte außerdem, dass vielleicht deine genauen Vorstellungen das Problem sind, weshalb du und deine Mutter euch nicht einig werdet.“

„Heiratet sie oder ich?“

„Auf jeden Fall du. So gern ich deine Mutter auch habe, aber die Angst vor deinem Vater hält meine Leidenschaft für sie doch in Grenzen.“

„Blödmann.“ Endlich grinste sie. „Ich weiß selbst, dass die Zeit inzwischen knapp wird. Alles, was meine Mutter mir bisher mit Rot ausgesucht hat, sah total kitschig aus – ich möchte dir gar nicht beschreiben, wie rote Rosenknospen auf einem Brautkleid aussehen.“ Sie zog eine Grimasse. „Und meine Ideen findet sie alle zu extravagant oder, mit anderen Worten, zu schlampig.“

„Dann lass dir einfach nicht von ihr reinreden. Rena, mir ist es schnuppe, was du trägst, meinetwegen einen Schlafanzug oder einen Jeansrock, ganz egal. Für mich zählt nur, dass du meine Braut bist. Aber du hast bei erstens aufgehört?“, nahm er den Gesprächsfaden von eben wieder auf.

„Richtig. Und zweitens: Die Frage, wer unsere Trauzeugen sind, ist viel schwieriger als die, wo wir unsere Flitterwochen verbringen.“

„Würde ich nicht behaupten. Dir ist die Planung unserer Flitterwochen erst eine Woche vor der Hochzeit eingefallen. Vor zwei Monaten hatte ich eine viel bessere Auswahl.“

„Also hast du das Hotel bereits gebucht, direkt, nachdem ich Ja gesagt habe?“, hakte sie nach.

„Yep“, meinte er fröhlich und grinste sie an.

„Du bist ziemlich überzeugt davon, dass ich keinen Rückzieher mehr mache, obwohl du mich so unter Zeitdruck setzt – und ohne mir zu sagen, warum ausgerechnet dieses Datum.“

Sein Grinsen wurde noch breiter, weil er ihre Ungeduld so deutlich heraushörte. Sie hasste es, dass er eine Überraschung für sie hatte, aber ihr Hoffen, dass er irgendwann aus Versehen damit herausrutschte, war pure Zeitverschwendung.

„Das sowieso. Aber mal im Ernst. Mach dir keine Sorgen wegen der Kirche und der Flitterwochen, das ist alles geregelt.“

„Wir waren noch nie zusammen im Urlaub“, meinte sie nachdenklich. „Ist dir das aufgefallen?“

„Liegt wohl daran, dass du ein Workaholic bist und wir nie die Zeit dazu hatten.“

Sie kicherte vergnügt, weil sie genau wusste, dass es ihm in dieser Hinsicht nicht anders ging. „Kommen Bloss und Shad mit?“

Mit hochgezogenen Brauen antwortete er: „Glaubst du im Ernst, ich würde deine beiden Schätze außen vor lassen? Keine Bange, ich kenne dich inzwischen besser, als du denkst.“ Wie aufs Stichwort kam die Australian Shepherd Hündin hereingetrottet und legte ihren Kopf in Jase’ Schoß. „Und du hättest mir ebenfalls die Hölle heißgemacht, wenn ich euch nicht eingeplant hätte, nicht wahr?“, meinte er und kraulte ihr den Kopf. „Außerdem würde es ihr das Herz brechen, Love“, sagte Jase zu Serena, „weißt du denn nicht, dass Blossom eine Schwäche für mich hat?“

Serena schnaubte amüsiert. „Eingebildet wie eh und je. Was liest du da eigentlich?“

Sie lehnte sich neugierig zu ihm herüber und wollte in die Zeitschrift sehen, die er in der Hand hielt, aber er war schneller und ließ das Magazin blitzschnell hinter seinem Rücken verschwinden.

„Ich schaue bloß nach einem Anzug“, log er.

„Ach? Sagtest du nicht eben, den hättest du schon?“

„Nur das Rote“, erweiterte er. In Wahrheit wartete der Anzug seit einer Woche abholbereit beim Schneider.

„Verstehe. Und den Rest übernimmt nicht deine mysteriöse Anruferin?“

„Interessant, dass du glaubst, dass mich immer eine Frau anruft.“ Er grinste. „Aber du wirst nicht erfahren, wer das ist. Jedenfalls nicht vor nächster Woche. Doch ich versichere dir, dass sie mit den Vorbereitungen nichts am Hut hat“, fügte er aus einem Impuls heraus hinzu, weil er unbedingt ihren Gesichtsausdruck sehen wollte. Tatsächlich wurde er reichlich belohnt.

„Ha!“ Zunächst triumphierte Serena. „Also habe ich recht, es ist wirklich eine Frau.“ Sie dachte über seine Worte nach und zog fragend die Augenbrauen hoch, runzelte dann die Stirn und musterte ihn anschließend frustriert. „Sie ist nicht zufällig deine Hochzeitsplanerin?“

Jase schüttelte lächelnd den Kopf. Ihm war klar, dass sie das angenommen hatte.

„Was macht sie dann? Was für Pläne heckt ihr beiden seit Wochen aus? Bitte“, flehte sie. „Sag mir zumindest ihren Namen.“

„Nein, das kannst du vergessen. Du bist ein Cop, wir wissen beide, dass du mit ihrem Namen ihren Beruf rausbekommen würdest und das wäre zu offensichtlich. Aber ich geb dir einen Tipp: Sie entwirft dein Hochzeitsgeschenk.“

Ihre Augen fingen an zu leuchten, denn das war der erste Hinweis, den er ihr gegeben hatte. „Oh! Sie entwirft es? Was kann man denn entwerfen? Ein Gemälde?“

„Nein.“

„Ein …“

„Das sollte heißen“, unterbrach er sie, „nein, keine weiteren Fragen.“

Sie seufzte genervt. „Dafür hasse ich dich, Jase.“

„Sobald du es siehst, wirst du mich wieder lieben.“

Während sie aus dem Raum stapfte und er das Magazin hinter seinem Rücken wieder zum Vorschein holte, hörte er sie vor sich hinmurmeln: „Aber bis dahin bin ich längst vor Frustration gestorben!“

Hoffentlich behielt er recht und es gefiel ihr wirklich.

Die Vorbereitungen für ihren großen Tag waren in vollem Gange. Aus dem meisten hielt Jase sich raus, denn Serenas Mutter Cherry hatte Spaß am Aussuchen der Kirche sowie der Organisation bezüglich Blumen, Dekoration, Sitzordnung und Catering. Gerade für Letzteres war er unheimlich dankbar, da er selbst seit über dreißig Jahren keine feste Nahrung mehr zu sich nahm und den Sinn für Geschmack verloren hatte. Außerdem war die einzige Sache, mit der er sich überraschen lassen wollte, die Gästeliste. Besser wäre es, wenn er bis zum Schluss nicht wusste, wie viele Werwölfe anwesend sein würden. Er gab es nicht zu, aber er war unglaublich aufgeregt. Nicht wegen der Heirat, daran fand er nichts Besonderes, denn Serena war schon seit Langem die einzige Frau für ihn und nur, um es amtlich aufs Papier zu bringen, bräuchte er diesen ganzen Hokuspokus nicht. Was ihn so nervös machte, war die besagte Überraschung. Würde es ihr wirklich gefallen? Es war immerhin keine Kleinigkeit und alles zu organisieren, ohne sich mit ihr abzusprechen, beinhaltete schon ein gewisses Risiko, aber er war sicher, dass sein Stil zu ihr passen würde. Und wenn nicht? Nun, dann gäbe es eine ganze Menge Arbeit, um seinen Fehler rückgängig zu machen, aber unmöglich war auch das nicht.

Es klingelte und da Serena unter der Dusche stand, ging er, mit Shadow und Blossom im Schlepptau, um die Tür zu öffnen.

Eine junge Frau strahlte ihm fröhlich entgegen. „Hi. Du bist sicher Jason?“, begrüßte sie ihn mit leicht französischem Akzent. Ehe er zustimmen konnte, fiel sie ihm bereits um den Hals. Sie war eine Werwölfin, schoss es ihm durch den Kopf. Mühsam schluckte er, während er die Umarmung verhalten erwiderte – er sollte demnächst noch Nahrung zu sich nehmen, bevor weitere Verwandte eintrafen. Zu viele Versuchungen, die ihm wie diese Dame derart nah kamen, verursachten ihm Unbehagen, wenn er durstig war.

„Wow, sie hat wirklich nicht übertrieben, du siehst umwerfend aus“, sagte die Fremde und musterte ihn von Kopf bis Fuß.

Auch Jase betrachtete sie jetzt genauer. Er schätzte sie auf Serenas Alter, obwohl sie aussah wie Mitte zwanzig. Das war bei dieser Spezies normal; sie wirkten jünger, als sie waren, da die Verwandlungen in einen Werwolf den Alterungsprozess entweder hinauszögerten, oder bei regelmäßigen Verwandlungen sogar gänzlich stoppten. Sie hatte lange schwarze Haare und ein hübsches Gesicht. Ihr Körper war, wie üblich für Werwölfe, schlank und durchtrainiert, nur etwas zu klein geraten, ihr Kopf reichte Jase gerade bis zum Kinn.

„Äh, sehr erfreut, dich kennenzulernen …“

„Ich heiße Felicitas, aber bitte sag einfach Feli.“

„Okay, komm doch herein.“

Die beiden Hunde waren sichtlich beleidigt, weil niemand ihnen Aufmerksamkeit schenkte und aus den Augenwinkeln sah Jase, wie Shadow den neuen Gast misstrauisch beäugte.

„Ist Serena gar nicht da?“, fragte Felicitas, nachdem Jase ihr angeboten hatte, im Wohnzimmer Platz zu nehmen.

„Sie duscht gerade. Ich sage ihr Bescheid“, meinte er, da es ihm unhöflich erschien zu fragen, wer sie denn nun genau war.

„Prima. Aber warte“, fuhr sie dann plötzlich fort, als er Richtung Badezimmer ging, „sag ihr nicht, wer da ist!“

„Na schön.“ Wie erfreut sie sein würde, wenn er wieder auf geheimnisvoll machte, dachte er, kam der Bitte aber trotzdem nach.

Er hörte noch, wie Felicitas die Hunde begrüßte, und hatte keinen Zweifel, dass die drei gleich beste Freunde sein würden. Vollkommen gleichgültig, wie skeptisch Shadow Fremden gegenüber war, Werwölfe hatten von Natur aus einen leichten Zugang zu Hunden.

„Willst du reinkommen?“, fragte Serena sogleich verführerisch, als er ins Bad trat.

„Sehr gern, Baby, bloß möchte ich deinen Gast nicht zu lange warten lassen.“

„Welchen Gast?“, fragte sie neugierig und fing eilig an, sich den Schaum aus den Haaren zu waschen.

„Kann ich dir nicht sagen, ich kenne sie nicht.“

So schnell wie nie zuvor war ihre Dusche beendet und er konnte ihr gerade noch rechtzeitig ein Handtuch reichen, um zu verhindern, dass er völlig nass wurde, als sie tropfend aus der Kabine sprang.

„Ist das jetzt die Überraschung?“

Er verdrehte die Augen. „Haben wir schon geheiratet? Außerdem kann man keine Person entwerfen. Das Geschenk gibt’s erst in drei Tagen.“

„Wer ist es dann?“, wollte sie wissen und rubbelte sich die Haare trocken.

„Sag du’s mir.“

Sie schlang sich das Handtuch um den Körper und lief hinüber ins Wohnzimmer, um dort kreischend und hüpfend die junge Frau zu begrüßen. „Feli!“

„Rena!“

Wie zwei Flummis sprangen die beiden miteinander umher, hielten sich dabei an den Händen und japsten Worte, die bald unverständlich wurden, da sie sich augenblicklich verwandelten.

„Na prima und wer klärt mich jetzt auf?“, murmelte Jase zu niemandem. Nun konnte er verstehen, wieso Überraschungen Serena so nervten.

Da bei dem Gestaltwechsel viel körperliche Anstrengung notwendig war, fingen Serenas und Felicitas’ Herzen an zu rasen und pumpten das Blut deutlich schneller durch deren Adern als normalerweise. Aus Erfahrung wusste er, dass es angenehmer für ihn wäre, so lange etwas Abstand zu halten, also ging er hinüber in die Küche und blätterte in einem Katalog herum. Nach ein paar Seiten fand er, was er suchte und rief seine Innenarchitektin an. „Hallo, Marie. Hör mal, ich denke wir nehmen doch die weißen oder was sagt deine fachmännische Meinung?“

Er telefonierte ein paar Minuten mit ihr, als Serena plötzlich – wieder vollständig bekleidet und menschlich – hereingestürmt kam und ihn beinahe zu Tode erschreckte. Sie aber bemerkte den aufgeschlagenen Katalog vor ihm überhaupt nicht, sondern sprang gleich auf seinen Schoß. Unauffällig ließ Jase ihn unter den Tisch fallen und beendete kurz angebunden das Gespräch: „In Ordnung, wir reden später darüber, danke.“

Das Handy war kaum in seiner Hosentasche, da fiel ihm Serena bereits um den Hals. „Ist das zu fassen?! Feli ist daaaha!“

Derart aufgedreht hatte er sie noch nie erlebt, dass sie noch nicht einmal versuchte, herauszubekommen, mit wem er telefoniert hatte.

„Ja, hab’s schon mitbekommen. Und wer genau ist sie?“

„Na Feli eben!“ Sie küsste ihn sehr intensiv mit Zunge und er hatte Schwierigkeiten, sich zu beherrschen. Ja, er musste eindeutig bald trinken – die durch die anstrengende Wandlung hervorgerufene Hitze, die von Serenas Körper ausging, und das pulsierende Blut machten es ihm nicht unbedingt leichter. In zweierlei Hinsicht stellte sein umnebeltes Gehirn in dem Moment fest, da eine seiner Hände sich wie automatisch auf ihren Oberschenkel legte.

Serena jedoch hielt seine Hand fest, beendete den Kuss und kicherte leise. Während Jase noch um Fassung rang, brüllte sie: „Feli!“

Sofort erschien diese an der Tür, bekleidet mit Serenas Klamotten, die Jeans und die Ärmel des Sweatshirts hochgekrempelt. Eng an ihrer Seite befanden sich, wie Jase erwartet hatte, Blossom und Shadow.

„Das, Jase“, erklärte Serena begeistert, „ist Felicitas Morgan-Duvalier, meine allerbeste Freundin aus Kindertagen. Wir sind zusammen aufgewachsen und waren unzertrennlich. Vor sechs Jahren ist sie mit ihrem Freund Fabrice Duvalier nach Frankreich gezogen. Und das ist, wie du dir denken kannst“, wandte sie sich nun an ihre Freundin, „mein Verlobter, Jase LaFavre. Aber ihr habt euch ja bereits kennengelernt.“

Felicitas musterte Jase neugierig. „LaFavre ist dein Name? Parlez-vous français?“, fragte sie überrascht.

Langsam kehrten seine Sinne zurück und er brachte ein Lächeln zustande. „Absolument. Je n'aime la langue.“

„Hey, sprecht gefälligst englisch!“, beschwerte sich Serena und Felicitas lachte.

„Il parle français, ma chérie. C'est le pied! Ich glaube, ich mag ihn.“

„Was parlt?“

„Love“, sagte Jase immer noch grinsend, „wir haben bloß festgestellt, dass wir eine zweite gemeinsame Sprache sprechen.“

„Kommst du ursprünglich aus Frankreich?“, wollte Felicitas interessiert wissen.

„Nein, der Nachname ist erfunden.“

„Schade. Aber sollte ich hier unter lauter Amerikanern mal ein Verständnisproblem haben, weiß ich ja, an wen ich mich wenden kann.“

„Jederzeit“, versprach er.

„Gut. Wie schaut’s mit meinen Pflichten als Trauzeugin aus – wobei kann ich helfen?“

„Du könntest Rena ein Brautkleid besorgen, langsam wird’s nämlich knapp“, neckte er seine Zukünftige, woraufhin sie ihm in den Bauch kniff.

„Erzähl doch nicht. Mein Kleid ist fertig, ich habe vor einer Stunde mit der Designerin telefoniert.“

„Ja, worauf warten wir dann noch?“, kreischte Felicitas drei Oktaven zu hoch für Jase’ Geschmack. „Du musst es sofort anprobieren!“

Während die zwei zur Anprobe fuhren, beschäftigte sich Jase mit den letzten Feinheiten seiner Überraschung. Shadow und Blossom nahm er zum ersten Mal zur Besichtigung mit, um zu klären, ob sie mit seinen Vorstellungen zufrieden waren. Ohne ihren Segen konnte er die ganze Sache schließlich sowieso vergessen.

Zu seiner größten Freude waren sie begeistert.

Kapitel 3

Zwei Tage vor der Hochzeit saßen Jase und Serena gemeinsam auf dem Sofa. Der Fernseher war ausgeschaltet und als einziges Geräusch in der ganzen Wohnung ertönte Shadows leises Schnarchen vom Teppich her, während er mit aus dem Maul hängender Zunge auf dem Rücken schlief. Blossom hatte sich im Bett breitgemacht, aber Shadow konnte, wie ein kleines Kind ohne seine Mutter, nicht ohne Serena schlafen. Jase verstand ihn inzwischen sehr gut, aber heute fanden Serena und er trotz der Gegenwart des anderen keine Ruhe.

„Eigentlich ist es doch keine große Sache“, flüsterte sie, als hätte sie seine Gedanken erraten. Sie saß zwischen seinen Beinen und lehnte mit dem Rücken an seiner Brust, während er die Arme um sie geschlungen hatte und sein Kopf auf ihrem ruhte. „Ich meine, dadurch ändert sich ja nichts. Wieso können wir da vor Aufregung nicht schlafen?“, fuhr sie leise fort.

„Nun, es ist immerhin etwas anderes, ob du mich jederzeit einfach so in den Wind schießen könntest oder ab übermorgen dafür die Scheidung einreichen musst.“

Sie schnaubte. „Als ob man dich einfach so in den Wind schießen könnte. Du würdest mich doch wie ein Bullterrier verfolgen.“

„Du kennst mich einfach zu gut.“ Er grinste. „Aber theoretisch könntest du es tun.“

„Kannst du denn auch wegen der Hochzeit nicht schlafen?“, wollte sie wissen.

„In gewisser Weise schon“, gab er zu. „Ich hätte nicht gedacht, dass es eine solche Bedeutung für mich haben könnte, wo ich dich bereits seit Langem als meine Frau betrachte. Trotzdem bin ich aufgeregt. Aber es gibt noch einen anderen Grund.“

„Und der wäre?“

„Heute habe ich ein paar Worte mitbekommen, die nicht für meine Ohren bestimmt waren. Feli hat Vince um den Ersatzschlüssel zu deiner Wohnung gebeten. Offenbar plant sie eine Entführung.“

Kerzengerade fuhr Serena hoch und drehte sich halb zu Jase um. „Das ist nicht dein Ernst!“

Shadows Schnarchen strauchelte einmal, bevor es wieder in einen gleichmäßigen Takt überging. „Doch“, erwiderte er leise. „Oder hast du deinen Junggesellinnenabschied vergessen?“

Sie verzog mürrisch die Schnute und kuschelte sich wieder an seine Brust. „Oh, ich will nicht“, murmelte sie und nahm seine Hand. „Kannst du nicht die Tür verbarrikadieren oder so?“

„Das wäre ziemlich fies.“

„Du kennst Feli und ihre Partys nicht. Die sind fies. Was muss ich tun, damit du mich vor ihr beschützt?“, fragte sie flehentlich und spielte mit seinen Fingern.

„Du wirst von mir vor jedem beschützt, der eine Gefahr für dich darstellt. Auf deine Brautjungfer trifft dies nicht zu, ganz egal, wie schlecht ihre Ideen sind. Apropos Brautjungfer“, fiel ihm da ein, „wer sind denn nun eigentlich unsere Trauzeugen?“

„Meiner wird wohl Darren und deiner Steven?“, meinte sie, aber es klang eher wie eine Frage.

Jase zuckte die Achseln. „Um den Part wolltest du dich kümmern. Hat dein Bruder tatsächlich Lust?“

„Hm“, sie machte ein zerknirschtes Gesicht. „Ich weiß nicht, ob man von Lust sprechen kann, aber er würde es machen. Bloß Steven …“, sie suchte nach den richtigen Worten, „na ja, ich denke, er hat aus Höflichkeit Ja gesagt, aber in Wahrheit will er nicht derart im Rampenlicht stehen. Das sagt zumindest Alex. Ich möchte aber nicht nur meine Brüder neben uns stehen haben. Und Feli will lieber Brautjungfer sein. Wie wäre es denn mit einem der Jungs von der Band? Meintest du nicht, sie wären alte Kumpels von dir?“

„Nein, sie haben bei uns am Traualtar nichts zu suchen“, begann er, zögerte dann aber. Wie konnte er es am besten erklären, ohne sie an Joker zu erinnern? „Ich kenne sie von früher, sie spielen tolle Musik, aber befreundet bin ich schon lange nicht mehr mit ihnen.“

„Woher kennst du sie denn?“

„Kennengelernt haben wir uns in einer Bar, sie bestanden aus einem Sänger, einem Schlagzeuger und einem Pianisten. Ihnen fehlte ein weiteres Instrument und das habe ich zufällig mitbekommen.“

Sie hob den Kopf und musterte ihn erstaunt. „Und dann?“

„Habe ich ein paar Jahre in ihrer Band E-Gitarre gespielt.“

„Du kannst E-Gitarre spielen?“, fragte sie ungläubig und Jase zuckte die Achseln.

„Kann ziemlich langweilig sein, ein Leben ohne Verpflichtungen und Job, da brauchte ich ein paar Hobbys.“

„Das hast du mir noch nie erzählt. Wie heißen die Typen noch gleich?“

„Shane McDywer, Matt Toni und David Wes. Wieso?“

„Nur so.“ Sie grinste spitzbübisch. „Also du warst Gitarrist, interessant, interessant. Wie viele Geheimnisse verschweigst du mir noch?“

„Ich wusste nicht, dass das ein Geheimnis für dich ist. Außerdem hast du nie gefragt.“

„Okay, also frag ich jetzt“, räumte sie ein. „Wieso spielst du nicht mehr?“

„Ich weiß nicht.“ Schulterzuckend dachte er einen Moment darüber nach. „Ich habe die Jungs aus den Augen verloren und der Job ist für mich in den Vordergrund gerückt. Vielleicht sollte ich mir wieder eine Gitarre zulegen, mal sehen.“

Sie schien zufrieden mit der Antwort. „Okay. Und was hast du sonst noch so gemacht, bevor du Polizist wurdest?“

Seufzend lehnte er sich zurück. „Mit neunundzwanzig, als mein zweites Leben begann, habe ich mir all das angeeignet, was ich in meinem ersten verpasst hatte. Bildung mit einem guten Abschluss, ein paar Hobbys, wie eben die Musik oder das Motorradfahren … Tanzen“, fügte er grinsend hinzu und genoss Serenas erstaunten Gesichtsausdruck. „Ich wollte eben alles lernen, was mich zu einem charmanten Kerl machen könnte, oder auch nur irgendwie interessant, weil mir mein neues Leben vorkam wie ein Fluch. Diese Sucht, das Verlangen nach Blut … es hat mich abgestoßen und ich wollte nicht sein, was ich geworden war. Deshalb versuchte ich, so viel wie möglich Normales zu tun, nicht wie die meisten meiner Art den ganzen Tag verpennen, um nachts in irgendwelchen Vampir-Lokalen abzuhängen. Ich war viel auf Reisen und hab ein paar Sprachen gelernt.“

„Welche kannst du fließend?“, hakte sie neugierig nach.

„Französisch, wie du ja mitbekommen hast. Spanisch, Italienisch und das irische Gälisch.“

„Und wieso ausgerechnet die?“

Leise lachte er in sich hinein, amüsiert über ihre Wissbegier. „Weil ich diese vier Sprachen am meisten brauchte, abhängig davon, wo ich gelebt habe. Ich habe dir erzählt, dass ich in Kanada aufwuchs?“

„Flüchtig“, meinte Serena. „Du hast davon genauso wenig gesprochen, wie von allen anderen Dingen aus deiner Vergangenheit, aber diese Tatsache war nicht zu überhören. Ich glaube, als Allererstes habe ich mich in deine penible kanadische Aussprache verliebt.“ Sie grinste verschmitzt und er lächelte erneut.

„Nun, ich wuchs bei meinem Vater in Vancouver auf.“ Jase’ Lächeln verschwand. „Wie du weißt, war er drogenabhängig. Als ich siebzehn war, fand ich ihn bewusstlos, nachdem er sich Heroin gespritzt hatte.“ Er sprach in völlig nüchternem Tonfall, doch Serena kannte ihn gut genug. Genau so konnte Jase über Mordfälle und Todesopfer sprechen – scheinbar ohne Gefühl, doch das war nur eine Fassade. „In diesem Moment war mir egal, ob er lebte oder tot war. Ich wusste nur, dass ich fortmusste, also bin ich weggelaufen. Es verschlug mich nach Quebec. Damit kommen wir zu meiner zweiten Muttersprache, denn dort wird hauptsächlich französisch gesprochen. Allerdings habe ich da nur drei Jahre verbracht, gerade lang genug, damit ich aus Kanada ausreisen konnte.

Um mich so weit wie möglich von meiner Vergangenheit loszusagen, zog ich nach Irland. Dort habe ich den Rest meines ersten Lebens verbracht – also gut zehn Jahre. Ich habe dieses Land geliebt und darum auch die einheimische Sprache gelernt. Obwohl dort überwiegend englisch gesprochen wird, war es sehr nützlich, gälisch zu beherrschen. Aber leider konnte auch Irland mich auf Dauer nicht glücklich machen und so zog ich weiter, um mehr von der Welt zu sehen und bin schließlich in Amerika gelandet. Mein Plan beinhaltete, eine Weile in Los Angeles zu leben. Ein großer Fehler, wie ich etwas später dachte. Dort bin ich 1974 verwandelt worden und lernte kurz darauf Joker kennen. Wir freundeten uns an und ich blieb einige Jahre. Nachdem er …“, Jase zögerte kurz, während er nach dem richtigen Ausdruck suchte, „sich veränderte, bin ich erneut geflohen. Ich habe Amerika verantwortlich für mein Pech gemacht, genauso wie ich es in meiner Kindheit mit Kanada tat.

Bevor ich mein richtiges Zuhause in New York fand, war ich in ein paar Dutzend Ländern, aber in den meisten nur für wenige Monate. Frankreich gehörte dazu, weil es mir aufgrund der Sprache vertraut vorkam. Und auch Spanien hat mich etwas länger in seinen Bann gezogen. Es ist ein sehr schönes Land, bei Gelegenheit muss ich dir meine Lieblingsorte zeigen. Oh, was ich fast vergessen hätte, auf Italienisch und Gälisch lässt es sich am leidenschaftlichsten fluchen“, schloss er seinen Vortrag und brachte Serena damit zum Lachen.

„Logisch, dass du deswegen so lange in Irland warst!“ Sie schüttelte amüsiert den Kopf.

Einen Moment lachte er mit ihr, weil ihr Lachen einfach ansteckend war, aber dann wurde er wieder ernst. „Nein, nicht nur. Irland ist meine erste Heimat gewesen, in der ich mich wohlgefühlt habe, ich bin dort erst richtig erwachsen geworden.“

„Erzähl mir davon“, bat sie mit glitzernden Augen.

Und das tat er. Jase berichtete ihr noch ausführlicher von den Orten und den Landschaften, an denen er gewesen war, und den Erfahrungen, die er gesammelt hatte. Natürlich auch von den wenigen Menschen, die kleine Rollen in seinem Leben gespielt hatten. Flüchtige Bekannte oder Freunde, die er von Zeit zu Zeit hatte. Von dem kleinen Jungen, der ihm spaßeshalber regelmäßig Gälisch-Unterricht gegeben hatte und dem Jase im Gegenzug dafür zeigte, wie man Schlösser öffnete und Autos knackte. Nur Joker erwähnte er mit keinem Wort.

„Wow“, murmelte sie, als er geendet hatte. „Und ich hab gedacht, ich wüsste alles über dich. Feli kann mich nicht abholen, du musst mir die ganze Nacht von deiner Vergangenheit erzählen.“

Grinsend streichelte er ihre Wange. „Das wird als Ausrede nicht genügen, denn ab übermorgen wirst du mich schließlich eh nie wieder los.“

„Ja, aber so was sollte man alles vor der Hochzeit erfahren“, protestierte sie.

„Damit du nicht die Katze im Sack kaufst?“, zog er sie auf.

„Quatsch. Weil man sich als Ehepaar genauestens kennen muss. Wie sieht’s mit Frauen aus? Wenn du so viel herumgekommen bist …?“

„Nein“, unterbrach er sie. „Es hat kaum Frauen in meinem Leben gegeben.“

„In welchem deiner Leben?“, wollte sie wissen.

„In meinem ersten überhaupt keine. Na ja, abgesehen von derjenigen, die es beendete.“

„Wow, wow, stopp.“ Hastig richtete sich Serena auf, um sich zu Jase umzudrehen und ihn richtig ansehen zu können. „Erst erzählst du mir, was du damit meinst, überhaupt keine, und dann, wer diejenige war, die dein erstes Leben beendete.“

„Eigentlich gehört beides zu einer Geschichte, denn wie du weißt, habe ich als Mensch auf der Straße gelebt. Dadurch erklärt sich von selbst, dass Frauen mich nicht anziehend fanden.“

In ihrer ganzen gemeinsamen Zeit hatte Serena ihn nie gedrängt, etwas zu erzählen, das er nicht auch erzählen wollte. Am Anfang wäre es ihm tatsächlich unangenehm gewesen, von seinem Vater zu sprechen, da Serena eine so tolle Familie hatte. Inzwischen vertraute er ihr mehr als sich selbst und sah keine Notwendigkeit, irgendetwas zu beschönigen, deshalb erzählte er ihr alles über seine Kindheit und seinen Vater. Wie dieser Jase’ Blut verkauft hatte, seit er denken konnte.

„Wo war deine Mutter bloß?“, fragte Serena mit sorgenvollem Gesichtsausdruck. „Wie konnte sie dich mit diesem Mistkerl allein lassen?“

„Ich kann mich überhaupt nicht an sie erinnern, weil sie uns verlassen hat, als ich ein Baby war. Kein Wunder.“ Jase zuckte die Achseln.

„Aber dass sie dich nicht mitgenommen hat!“

„Vielleicht war sie zu jung und dachte, wenigstens seinem eigenen Sohn gegenüber würde er sich anständig verhalten.“

„Falls das so war, dann hat sie sich gehörig geschnitten.“

„Wie dem auch sei. Ich habe kein eigenständiges Leben geführt. Ich war eine Ware, mehr nicht. Mein Selbstbewusstsein war nicht existent, auch noch, nachdem ich von ihm weg war. Danach fing ich nur sehr langsam an, richtig zu leben. Mir blieb keine Chance, eine Frau kennenzulernen. Das meinte ich damit, dass es keine in meinem menschlichen Leben gab.“

„Bis auf diejenige, die es beendete“, schloss Serena.

„Richtig. Mit siebzehn verließ ich also Vancouver.“

Einige Jahre später hatte Jason nicht viel mehr in seinem Leben erreicht als sein Vater, aber wenigstens schlug er keine unschuldigen Kinder, um sein Selbstbewusstsein zu stärken oder seinen Frust abzubauen. Er musste sich nicht mehr selbst verkaufen, um zu überleben. Wenn er sich ordentlich kleidete und die Haare wusch, sah er ganz akzeptabel aus und so hielt er sich mit ein paar Nebenjobs über Wasser. Doch wie sollte er aus diesem sinnlo