Küss niemals deinen Ex - Birgit Kluger - E-Book

Küss niemals deinen Ex E-Book

Birgit Kluger

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Beschreibung

Liebe mich lieber nicht ... Lex hat ein Problem: Jana, seine attraktive Nachbarin, mit der er sich nicht einlassen darf, von der er aber auch nicht die Finger lassen kann. Trotz aller guten Vorsätze findet er sich mitten in einer Beziehung wieder, die er nicht eingehen wollte. Kurz darauf muss er überstürzt aus München verschwinden. Jana ist am Tiefpunkt ihres Lebens: Kein Job, kein Geld - und dann auch noch die Trennung von Lex. Da kommt der Auftrag ihrer erfolgreichen Schwester gerade recht. Jana soll Thorsten Hermes, den verschwundenen Neffen eines Mandanten, finden. Doch was sich als einfache Sache darstellt, wird viel komplizierter als gedacht. Vor allem, als sie Lex, den Schatten ihrer Vergangenheit, wieder trifft.

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Küss niemals deinen Ex

Birgit Kluger

OBO e-Books

Inhalt

Teil 1 - Lügner küssen besser

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Teil 2 - Küss niemals deinen Ex

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

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Über den Autor

Teil 1 - Lügner küssen besser

1

Sonntag

VI: Die Liebenden

Ich treffe meine große Liebe. Ha, ha.

Zweifelnd sah ich die Karte an, die vor mir auf dem Tisch lag. Jeden Abend zog ich eine Karte aus meinem Tarotdeck, um herauszufinden, was mich am nächsten Tag erwartete. "Die Liebenden" hatte ich noch nie gehabt.

"Bei jedem anderen würde ich sagen, er trifft die Liebe seines Lebens", murmelte ich und zog das bunte Bild näher. Ich benutzte den Röhrig-Tarot. Ein Kartendeck, das ich normalerweise für die Fragen zurate zog, die mir meine Klienten stellten. Für mich persönlich bevorzugte ich den Haindl-Tarot. Heute aber war mir danach gewesen, das fast kitschig wirkende, moderne Deck zu befragen.

Ich wickelte eine Haarsträhne um meinen Zeigefinger, noch immer skeptisch, wie ich das Bild interpretieren sollte. "Die Liebenden" ist eine der wenigen Tarotkarten, die so eindeutig in ihrer Aussage sind.

"Liebe? In meinem Leben?"

Ich war seit zwei Jahren Single. Anfangs hatte ich das Alleinsein genossen, aber das war lange vorbei. Mittlerweile befand ich mich eher in der verzweifelten „ich will endlich wieder eine Beziehung“-Phase. Was nicht hieß, dass ich mich auf jeden Mann stürzte, der meinen Weg kreuzte. Eher im Gegenteil. Ich war schüchtern. Leider. Mehr als ein paar versteckte, heimliche Blicke in die Richtung eines Mannes, der mir gefiel, brachte ich meist nicht zustande. Und jetzt diese Karte. Würde ich wirklich bald den Mann meiner Träume treffen?

Unwahrscheinlich, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Die Skeptikerin in mir war mit nur einer Karte nicht zu überzeugen.

Vielleicht sollte ich eine weitere ziehen? Nur um sicherzugehen?

Mit den Fingern trommelte ich einen nervösen Rhythmus. Ich sollte es dabei belassen. Es ist nie gut, zu viel wissen zu wollen.

"Eine einzige kleine Karte kann nichts schaden", wandte ich laut ein. "Dann höre ich auf. Ganz bestimmt."

Meine Hand zitterte ein wenig, als ich sie ausstreckte, zögernd das Deck berührte und dann begann, die Karten zu mischen. Glatt und geschmeidig glitten sie durch meine Hände. Ein gutes Zeichen, denn es gab Tage, an denen sie fast aneinanderklebten. Tage, an denen sie nicht gefragt werden wollten.

Ich fächerte sie mit dem Bild nach unten vor mir auf, dann zog ich mit der linken Hand, der Hand der Gefühle, eine Karte und drehte sie um.

"Verdammt! Ich wusste es."

Ich sprang auf und stapfte in die winzige Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Was ich jetzt brauchte, war eine gehörige Dosis Koffein. Meine Version des Frustessens.

"Könnte auch sein, dass ‚Der Tod’ einen Neuanfang anzeigt. Das Ende eines Lebensabschnittes und der Start eines Neuen.", argumentierte ich, während ich ein Pad in die Kaffeemaschine legte und nach einer sauberen Tasse suchte. "Ich hätte nicht nachfragen sollen."

Ich drückte den Startknopf und starrte aus dem Fenster auf die Tegernseer Landstraße hinaus. Der Autoverkehr wälzte sich durch die Stadt. Obwohl es Sonntagabend war, drängten sich die Autos dicht an dicht.

Tatsache war, ich wollte mir die tatsächliche Aussage der Karte nicht eingestehen. Ich würde meine wahre Liebe treffen, aber das Ganze wäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

„Toll“, murmelte ich. „Ich treffe einen Mann der mir gefällt, aber es wird nichts draus. Wie immer.“ Ich schnappte mir die Tasse, die inzwischen mit einer heißen, dunklen Flüssigkeit gefüllt war, und trug sie an meinen Schreibtisch, doch statt eines der Bücher über Finanzmathematik aufzuschlagen, nahm ich den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer meiner Freundin Adriana. Eine Hellseherin, die ich des Öfteren konsultierte, wenn ich mal wieder nichts „sah“.

"Ich glaube, der Tarot konfrontiert dich mit deinen eigenen Sorgen und Ängsten", sagte Adriana.

"Möglich, aber du weißt, dass ich immer dazu tendiere, die Karten so auszulegen, wie ich es gerne hätte. Jedem anderen würde ich sagen, die Sache wäre zum Scheitern verurteilt."

"Dann ist es wohl so."

Ich zog eine Grimasse. Normalerweise mochte ich Adriana, eben weil sie so direkt in ihren Aussagen war. Heute hätte ich gerne darauf verzichtet.

"Könntest du für mich nachsehen?", fragte ich zaghaft.

"Nein. Du hast bereits gefragt. Also sei mit der Antwort zufrieden."

"Hmmmm."

"Das ist genau das, was du selbst deinen Klienten sagst", erinnerte sie mich.

"Ich weiß, trotzdem muss ich es nicht gut finden."

"Stimmt." Adriana schwieg für einen Augenblick. "Ziehst du immer noch jeden Tag eine Karte?", fragte sie dann.

Ich seufzte. Eine Kollegin zu haben, die Hellseherin war, konnte ganz schön nerven.

"Nein, nur noch jeden Sonntag, um zu sehen, wie die Woche wird", log ich. Es war keine richtige Lüge. Ich hatte die Absicht, nur noch einmal die Woche den Tarot zu befragen, und das klappte. Fast. Mittlerweile war ich so weit, nur noch einmal am Tag nachzusehen und nicht mehrmals.

"So, so." In Adrianas Stimme schwang Skepsis.

"Ja, wirklich. Ich muss jetzt Schluss machen. Morgen schreiben wir eine Klausur."

"Na, dann viel Glück."

Kaum hatte ich das Gespräch beendet, als sich auch schon das schlechte Gewissen regte. Auch diese letzte Aussage war eine Lüge gewesen. Klausuren schrieben wir erst am Ende des Semesters. Also in etwa sechs Wochen. Aber wahrscheinlich wusste sie das ohnehin.

2

Mittwoch

Prinzessin der Schwerter

Eine Rebellin. Jemand, der mehr Mut hat als ich.

Kein Problem. Ich war nur zehn Minuten zu spät. In dem riesigen Hörsaal würde das nicht auffallen, versuchte ich mich zu beruhigen. Ich hatte es schon in der Schule gehasst, zu spät zu kommen. Das Klassenzimmer zu betreten und von allen angestarrt zu werden. Zum Glück war es an der Universität anders. Mit fünfhundert Kommilitonen in einem Hörsaal zu sitzen, bedeutete, dass alle fünf Minuten ein weiterer Student ins Auditorium schlenderte.

Ich riss die Tür auf und betrat das Auditorium. Statt mehrerer Hundert Lernwilliger, die sich in die Sitze quetschten, waren hier nur etwa zwanzig zu sehen, die die ersten beiden Reihen besetzten. Alle drehten sich zu mir um.

Der Professor, der gerade dabei war, seltsame Symbole an die Tafel zu kritzeln, wandte sich ebenfalls zu mir.

"Wie schön. Sie haben aus dem Bett gefunden."

"Tut mir leid, ich … ich habe die Bahn verpasst", stammelte ich und merkte, wie rot ich wurde.

"Vielleicht sollten Sie noch Ihre Kleidung richten", sagte der Professor, was von einem Lachen meiner Kommilitonen quittiert wurde. Ich sah an mir hinab und spürte eine Hitze in meinem Gesicht, wie man sie sonst nur von Lavaströmen kennt. Mein kurzer Rock hatte sich in der Strumpfhose verfangen. Man konnte meine Unterwäsche sehen. Verdammt! Hastig zerrte ich den Stoff heraus, glättete ihn und ließ mich auf den ersten Platz fallen, der frei war.

Herr Meinert, so hieß der Professor, der die Vorlesung Volkswirtschaftslehre I hielt, drehte sich zurück zur Tafel. Mit einem Stöhnen verbarg ich den Kopf in den Händen. So viel zu meinem unauffälligen Auftritt in einem überfüllten Hörsaal.

"Hey, so etwas passiert mir ständig."

Ich hob den Kopf und bemerkte erst jetzt, wer neben mir saß. Meine Nachbarin lächelte mich freundlich an. Sie hat genauso wenig Lust hier zu sein wie ich, außerdem plant sie eine Rebellion.

"Das glaube ich nicht. Solche Peinlichkeiten passieren nur mir."

"Stimmt nicht." Sie grinste. "Ich bin perfekt darin, über meine eigenen Füße zu stolpern."

"Ehrlich?"

"Ja. Ich erzähle dir alles über meine Missgeschicke bei einem Kaffee nach der Vorlesung", versprach meine Sitznachbarin.

"Okay."

"Das war die langweiligste Vorlesung aller Zeiten!" Meine Leidensgenossin, die sich mittlerweile als Vanessa vorgestellt hatte, lehnte sich in ihrem Stuhl nach vorne, umfasste ihre Kaffeetasse mit beiden Händen und blies auf die dunkle Oberfläche.

"Die Langweile war nicht schlimm, aber ich habe keine Ahnung, wovon der Mann gesprochen hat. Ich dachte, es sollte eine VWL-Vorlesung sein und nicht Mathe für Freaks."

"Der Meinert ist bekannt dafür, alles in Formeln zu verpacken. Was meinst du, warum der Hörsaal fast leer war? Du hättest in der ersten Vorlesung dabei sein sollen. Nach einer Viertelstunde waren von anfänglich fünfhundert Studenten noch etwa hundert übrig. Und wie viele heute in der zweiten Runde dort waren, hast du gesehen."

"Toll. Also habe ich den Mathe-Verrückten erwischt, vor dem mich alle gewarnt haben."

"Stimmt, aber dafür ist bei ihm die Durchfallquote wesentlich niedriger als bei Professor Ritter, zu dem alle anderen gehen."

"Kein Wunder, am Ende werden nur noch drei übrigbleiben." Ich seufzte. "Keine Ahnung, warum ich mir das antue. Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, eines ist so langweilig wie das andere."

"Ich weiß, warum ich hier bin. Meine Eltern möchten, dass ich etwas Solides lerne und irgendwann ihre Firmen übernehme." Man sah ihr an, dass sie aus der Münchner Oberschicht stammte. Mit ihrer blonden Mähne, der schlanken Figur, der Designerkleidung und dem Schmuck, den sie trug, passte sie genau in das Bild des Münchner Society-Girls. Trotzdem spürte ich die Rebellin, die sich unter der polierten Oberfläche verbarg, ganz wie es meine Tarotkarte heute Morgen vorausgesagt hatte. Sie rüttelte bereits an den Gitterstäben ihres "goldenen Käfigs".

"Dann geht es dir wie mir. Ich soll einmal die Steuerberaterkanzlei meiner Eltern übernehmen. Ich kann mir nichts Langweiligeres vorstellen."

"Vielleicht sollten wir das Ganze hinschmeißen und zu dem stehen, was wir wirklich wollen", meinte Vanessa.

"Wenn ich das wüsste, würde ich es tun", sagte ich und verschwieg meinen Nebenberuf als Kartenlegerin. Diese Information würde ich erst dann preisgeben, wenn ich Vanessa besser kannte. Zu oft war ich in der Vergangenheit mit abfälligen Bemerkungen konfrontiert worden und der Frage: "Du glaubst an so etwas?"

"Geht mir genauso. Ich weiß auch nicht, was ich beruflich machen soll. Bisher habe ich nur herausgefunden, wozu ich keine Lust habe." Vanessa nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und zog eine Grimasse. "Das Zeug ist fast so schlimm wie die Vorlesung."

Eine Stunde später schleppte ich mich zur Eingangstür des Apartmenthauses hinein, in dem ich wohnte. Die Einkaufstüten hatten mittlerweile ihr Gewicht verdoppelt, dabei hatte ich nur Obst, Gemüse und Müsli gekauft. Mein Versuch, gesünder zu essen. Das Gemüse würde ich in einer Woche in der Biomülltonne entsorgen. Trotzdem gab ich die Hoffnung nicht auf, zur fröhlich vor mich hin schnippelnden Hausfrau zu mutieren.

Ich holte tief Luft, um mich für den Aufstieg in den fünften Stock zu wappnen. Das Gebäude verfügte über einen Aufzug, aber ich benutzte ihn nie. Das Ächzen und Stöhnen, das jedes Mal erklang, wenn ich in der winzigen Kabine stand, reichte, um mich die Stufen freiwillig hinauf zu scheuchen.

"Kann ich dir helfen?", fragte eine männliche Stimme.

Ich sah vom Fußboden auf, den ich gemustert hatte, als gelte es, einen verborgenen Schatz zu heben. Vor mir stand ein verdammt gut aussehender Typ.

Tiefschwarze Haare, dunkelblaue Augen, durchtrainierte Figur, muskulöse Oberarme. Wow! Obwohl ich normalerweise nicht so sehr das Äußere, sondern eher die innere Verfassung eines Menschen erfasste, haute mich die Erscheinung des Mannes fast um. Mein innerer Radar schwieg, was die mentale und psychische Verfassung meines Gegenübers betraf, was vielleicht daran lag, dass meine Hormone gerade verrückt spielten.

"Klar. Warum nicht? Das wäre toll. Danke. Wirklich nett von dir", brabbelte ich wie eine Idiotin drauflos. Halt die Klappe, Jana, ermahnte ich mich in Gedanken.

"Kein Problem." Er packte die beiden Tüten, die ich auf den Boden gestellt hatte, und ging neben mir die Stufen hinauf. "Warum nimmst du nicht den Aufzug?"

"Ich hasse die Dinger", murmelte ich und versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen, anstatt nach Luft japsend neben ihm her zu keuchen.

"Kann ich verstehen." Er grinste. "Der Aufzug gibt Laute von sich, als stünde er kurz davor, in die Tiefe zu krachen."

"Genau!" Ich sah ihn an, als hätte er mir mitgeteilt, er wäre mein Seelenpartner. "Jedes Mal, wenn ich in der Kabine stehe, fange ich an zu beten."

"Ich bin übrigens Alexander, aber meine Freunde nennen mich Lex."

"Ich heiße Jana."

"Jana, schön, dich kennenzulernen."

Mir wurde heiß. Das musste an den vielen Treppen liegen. Mit Sicherheit hatte es nichts damit zu tun, dass dieser Lex mit mir flirtete.

Diese Woche triffst du deine große Liebe, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Und verlierst sie gleich wieder, konterte eine andere.

"Alles in Ordnung mit dir? Du bist so ruhig."

"Oh! Nein, alles in Ordnung. Ich bin nur etwas außer Atem." Ich kramte meinen Schlüssel aus der Hosentasche und deutete auf die Tür, die links von den Treppen war. "Hier wohne ich. Danke für deine Hilfe."

Lex stellte die Einkaufstüten auf dem Boden ab und trat einen Schritt zurück. "Hab ich gern getan. Man sieht sich."

"Bis bald", sagte ich und sah ihm hinterher.

3

Lex

Ich beobachtete sie schon seit einer Weile. Seit sie vor ein paar Wochen hier eingezogen war. Über die Kamera, die vor meiner Eingangstür installiert war, konnte ich genau sehen, wer das Haus betrat oder verließ. In meinem Beruf konnte man nicht vorsichtig genug sein. Man wusste nie, wer auf wessen Seite stand oder einem als Feind gefährlich werden könnte.

Ich erinnerte mich noch gut an den Tag, an dem meine neue Nachbarin eingezogen war. Es war ein Samstag gewesen. Zusammen mit zwei Männern hatte sie ihre Habseligkeiten in den fünften Stock gebracht. Sie fiel auf. War sie doch in einem Haus mit zehn Wohnungen die einzige Mieterin unter siebzig. Sie sah toll aus mit ihren langen karamellfarbenen Haaren, der schlanken Figur und einer Oberweite, die meine Gedanken abschweifen ließ.

Jeden Abend, wenn ich am Computer den Tagesfilm durchging, wartete ich darauf, sie zu entdecken. Bald stellte ich fest, dass sie einen relativ festgelegten Tagesablauf hatte. Wahrscheinlich, weil sie ein normales Leben führte. Ich dagegen achtete darauf, das Haus jeden Tag zu einer anderen Zeit zu verlassen, den Hofausgang ebenso zu benutzen wie den Straßenausgang und mich vielfältig und variantenreich zu kleiden.

Meine Nachbarin hastete morgens meistens um kurz vor neun Uhr durch das Treppenhaus. In der Hand einen Kaffeebecher To Go. Sie balancierte ihn vorsichtig, als enthalte er mehr als nur ein heißes Getränk. Jede Wette, es war ihr erster Kaffee und sie hatte ihn dringend nötig.

Sie war auf dem Weg zur U-Bahn. Auch das wusste ich, denn ich war ihr gefolgt. Nur um zu sehen, ob sie ein Auto besaß oder nicht. Wenn sie eines hatte, dann benutzte sie es nur selten.

Mit einem Rucksack auf dem Rücken, einem Ordner unter den Arm geklemmt und dem Becher in der Hand hastete sie täglich durchs Treppenhaus. Nachmittags kam sie mit Büchern oder Einkäufen beladen zurück.

Sie war Studentin. So viel war klar.

Seit Tagen überlegte ich, ob ich sie ansprechen sollte oder nicht.

Ich setzte mich vor den Bildschirm, lehnte mich in meinem Bürosessel zurück und beobachtete die Echtzeitübertragung. Es war fünfzehn Uhr. Irgendwann zwischen jetzt und sechzehn Uhr würde sie von der Uni zurückkommen.

Es dauerte nicht lange und sie tauchte in dem Videobild auf. Beladen mit zwei schwer aussehenden Einkaufstüten ging sie auf die Treppen zu.

Ohne nachzudenken, was ich da tat, stand ich auf und ging in den Hausflur.

"Kann ich dir helfen?", fragte ich.

Sie drehte sich zu mir, überlegte einen Augenblick und nahm mein Angebot in genau dem Moment an, in dem sich mein Verstand zu Wort meldete, um mir zu sagen, welch dämliche Idee das war.

Ich lebte zurückgezogen. Vermied den Kontakt zu anderen Menschen aus genau einem Grund: Es war gefährlich. Nicht nur für mich, sondern auch für diejenigen, die mit mir gesehen wurden. Was hatte ich mir dabei gedacht?

Nichts. Das war das Problem.

Wir gingen gemeinsam in den fünften Stock. Sie erzählte mir, weshalb sie nie den Aufzug nahm. Ein weiteres Rätsel gelöst, auch wenn ich etwas Ähnliches bereits vermutet hatte.

Das Treppenhaus war nicht besonders breit und so stieg sie vor mir die Stufen hinauf. Was ein Fehler war. Ich hätte vorgehen sollen. Jetzt hatte ich ihren Körper vor mir, ihr Hinterteil praktisch auf Augenhöhe.

Wenigstens hielt mein Verstand die Klappe. Wahrscheinlich, weil kein Blut mehr in meinem Gehirn war. Als wir vor ihrer Haustür ankamen und stehen blieben, weil sie ihren Schlüssel hervorholte, begann ich wieder klar zu denken.

Ich verabschiedete mich, so schnell es ging, und verschwand.

Fest entschlossen, nie wieder mit ihr zu reden.

4

Der Teufel

Angst. Möglicherweise ein Mensch, der einem nicht guttut, Dämonen, die uns quälen. Der ganz normale Alltag also.

"Ich möchte wissen, ob mein Exfreund zu mir zurückkommt", sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Eine Welle der Trauer schwappte über mir zusammen. Susanna, wie die Anruferin hieß, war nicht nur verzweifelt, sondern an der Schwelle zum Selbstmord.

Ich bekam eine Gänsehaut. Ich hatte noch nie jemanden beraten, der so eine dunkle, verzweifelte Aura besaß. Die meisten Anrufer wollten wissen, wann die nächste Liebe in ihr Leben trat, wie es beruflich weiterging oder ob es noch eine Chance mit dem Ex gäbe. Susannas Frage passte in dieses Schema, aber die Verzweiflung und Trauer, die sie ausstrahlte, hatten eine beängstigende Intensität.

"Augenblick, Susanna. Ich mische die Karten für dich", sagte ich und griff zu dem Deck, das ich nur selten benutzte. Der Haindl-Tarot ging sehr in die Tiefe der menschlichen Psyche, normalerweise war er für oberflächliche Fragen, wie Susanna sie eben gestellt hatte, nicht geeignet, aber ich wollte sichergehen, eine Antwort zu geben, die sie aus ihrer Depression und Verzweiflung herausholen würde. Danach würde ich ihr raten, einen Therapeuten aufzusuchen. Falls sie mir die Chance dazu gäbe, denn viele Anrufer knallten den Hörer auf, sobald sie ihre Antwort erhalten hatten.

Ich legte die Karten zum keltischen Kreuz aus, ein Legesystem, das sich gut dazu eignet, eine einzelne, spezielle Frage zu beantworten. Ich ahnte schon, wie die Aussage ausfallen würde, trotzdem machte sich hohle Leere in meinem Magen breit, als ich die Auslage musterte.

Natürlich würde er nicht zurückkommen. Und was die Gefühle betraf, die ich von ihr aufgenommen hatte, so hatte ich recht. Susanna balancierte gefährlich nahe am Abgrund. Ich konnte nur hoffen, sie ein Stück von der Kante zurückzuholen und sie dazu zu bewegen, sich professioneller Hilfe anzuvertrauen.

In Schweiß gebadet, beendete ich das Gespräch nach etwa fünfzehn Minuten. Normalerweise sagte ich geradeheraus, was ich sah, aber Susanna war emotional bereits so fragil, dass ich sehr vorsichtig war. Ich sandte ein Dankgebet zum Himmel, weil ich ihr das Versprechen abnehmen konnte, sich einen Therapeuten zu suchen.

Nach dem Telefonat stand ich auf und ging in dem Zimmer auf und ab. Ich hätte sie nach ihrer Telefonnummer fragen sollen. Dann hätte ich sie anrufen können, um zu erfahren, wie es ihr ging. Ich sah zum Fenster hinaus, ohne wirklich etwas wahrzunehmen.

Ich könnte es öffnen und mich hinauslehnen. Vornüberbeugen. Der Fall wäre schnell vorüber und ich wäre tot. Alles hätte ein Ende. Die Trauer. Der Schmerz. Die Verzweiflung.

Whoa! Ich zuckte zurück, als hätte ich einen Stromschlag bekommen. Das waren nicht meine Gedanken, sondern Susannas.

Ich ging zum Computer und loggte mich mit zitternden Fingern ein. In meinem Nutzerkonto konnte ich die Namen der Anrufer sehen und ihnen über das System eine Mail senden.

"Hast du Lust zu skypen? Mein Skypename ist Shikara", schrieb ich und klickte auf "senden".

"Bitte antworte mir. Bitte sag, dass du dich gut fühlst und ich diejenige bin, die spinnt", murmelte ich und setzte mich.

Während ich auf Susannas Antwort wartete, surfte ich planlos durch das Netz. Verweilte ein paar Minuten auf Facebook, sah bei Twitter vorbei, las die Klatschnachrichten, ohne zu wissen, was ich da gelesen hatte.

Alle zwei Minuten klickte ich auf meinen Posteingang.

Nichts.

"Schreibe mir, Susanna", sagte ich beschwörend. Als hätten die Worte die Kraft, sie zu ihrem Computer zu führen.

Mein Skype-Telefon klingelte.

"Susanna, bist du es?", fragte ich, als ich das Gespräch von MiseryinGermany annahm.

"Ja. Warum wolltest du mit mir sprechen? Ich dachte, du lässt nur mit dir reden, wenn ich dafür bezahle."

"Ich habe mir Sorgen gemacht", gab ich zu. "Außerdem wollte ich dich an dein Versprechen erinnern und dir sagen, dass du mich jederzeit über Skype kontaktieren kannst, wenn es dir schlecht geht."

"Das ist so lieb von dir." Susanna klang, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. "Du bist der einzige Mensch, der sich Sorgen um mich macht."

Für einen Augenblick wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Klar, ich hätte mit Floskeln um mich werfen können. Ihr sagen, dass es bestimmt viele Menschen gab, die sie mochten und die um ihr Wohlergehen besorgt waren. Aber ich spürte die Ehrlichkeit hinter ihren Worten. Irgendwelche allgemeine Aussagen würden ihr nicht helfen.

"Ich habe im Internet recherchiert", sagte ich. "Es gibt Telefonhotlines für Menschen, die selbstmordgefährdet sind. Versprich mir, dort anzurufen, wenn du dich schlecht fühlst."

"Versprochen", sagte Susanna leise.

"Kann ich mich darauf verlassen?"

"Ja."

"Gut." Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und atmete erleichtert aus. Susanna klang aufrichtig, außerdem hatte ich so etwas wie aufkeimende Hoffnung von ihr empfangen. Der Drang, ihrem Leben ein Ende zu machen, war nicht mehr ganz so stark. Falls sie bei einer Telefonhotline anrief, konnte man ihr bestimmt helfen. Dort arbeiteten Menschen, die wussten, wie man mit jemandem sprach, der selbstmordgefährdet war.

5

Donnerstag

Prinz der Stäbe

Er liebt mich. Er liebt mich nicht … Verdammt, warum kann ich nicht den "Prinz der Kelche" ziehen?

Ich war kurz davor, eine Lupe zu holen. Warum war die Schrift auf dem Röhrig-Tarot so klein? Normalerweise störte mich das nicht, da ich den Tarot interpretierte, ohne die vorgegebene Deutung zu nutzen. Aber wenn ich für mich selbst legte, war ich blind. Ohne die angegebene Interpretation fühlte ich mich wie eine Anfängerin.

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte den Text zu lesen. Stand da "erblühende Liebe?"

Ja, eindeutig. "Erblühende Liebe". Warum aber war das Herz von lauter Rissen durchzogen?

Vielleicht sollte ich eine zweite Karte ziehen? Nur zur Erklärung?

Ich trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.

Eine kleine Zusatzinformation konnte nichts schaden. Beim letzten Mal hat es ja auch so gut geklappt.

Wie von selbst griff meine Hand nach den Karten, mischte sie und fächerte sie auf der Tischplatte auf. Dann konzentrierte ich mich auf das, was ich wissen wollte. Die nähere Bedeutung der Prinz-der-Stäbe-Karte.

Meine linke Hand strich über den Tarot, darauf bedacht, keines der umgedrehten Bilder zu berühren, sondern zu spüren, welche Karte meine Frage beantworten würde.

8 der Schwerter.

Verdammt! Hätte ich nur nicht gefragt.

"Ich habe sowieso keine Zeit für eine Beziehung", murmelte ich und starrte trotzig die Karte an, die mit "Unentschiedenheit" betitelt war. Der Name sagte alles, aber um die Aussage wirklich idiotensicher zu machen, war ein Mann abgebildet, der sich nicht zwischen zwei Frauen entscheiden konnte.

"Genau. Ich kann die Ablenkung nicht gebrauchen", führte ich mein Selbstgespräch fort. Das Studium und mein Beruf nahmen mich voll in Anspruch. München war teuer. Um meinen Aufenthalt hier zu finanzieren, musste ich jeden Tag online für Beratungsgespräche zur Verfügung stehen. Dazu noch der Unterrichtsstoff und die Klausuren, die am Ende des Semesters wie eine dunkle Wolke vor mir aufragten. All das war genug, um meine Tage auszufüllen, auch ohne einen Mann, der nicht wusste, ob er mit mir oder einer anderen flirten wollte.

"Wahrscheinlich ist er ein eingebildeter Idiot", sagte ich laut. Meine Worte verhallten in der leeren Wohnung. Ich wollte es nicht zugeben, aber mir fehlten meine Freunde und meine Familie. Dabei hatte ich mich gerade von meinen Verwandten lösen wollen. Ich studierte nicht in Frankfurt, sondern war nach München gezogen, um auf mich selbst gestellt zu sein und mir darüber klar zu werden, was ich tatsächlich in meinem Leben erreichen wollte.

Das schrille Geräusch meines Handyweckers riss mich aus meinen Gedanken. Höchste Zeit, meine Sachen zu packen und zur U-Bahn zu hetzen. Die nächste spannende Vorlesung von Professor Meinert wartete auf mich.

Ich weiß nicht, wie es kam, aber statt an der Uni fand ich mich auf dem Viktualienmarkt wieder. Meine Füße hatten eine eigene Meinung entwickelt und mich nicht zur U-Bahn-Haltestelle geführt, sondern über die Isar hinweg zur Stadtmitte.

Obwohl es bereits Mitte Oktober war, strahlte die Sonne vom Himmel. Die Stände auf dem Viktualienmarkt erblühten in all ihrer bunten Pracht und der Geruch nach etlichen Leckereien stieg mir in die Nase. Wie von selbst steuerte ich die kleine Bude an, bei der es die besten Weißwürste Münchens gab.

Ich bestellte mir eine Wurst und eine Tasse Kaffee. Ich weiß, ein Stilbruch, aber ich bin keine Biertrinkerin. Zufrieden setzte ich mich auf eine der Bänke und knabberte an meiner Brezel.

"Guten Appetit", begrüßte mich eine Stimme, die mir bekannt vorkam. Lex stand vor mir. Er hatte seine Baseballkappe so tief in die Stirn gezogen, dass ich ihn fast nicht erkannte. In der Hand hielt er eine Kaffeetasse. "Kann ich mich zu dir setzen?", fragte er, bevor ich mich aus meiner Starre lösen und etwas sagen konnte.

"Ja, klar. Freut mich, dich zu sehen. Ich …" Warum verwandelte ich mich jedes Mal in eine brabbelnde Idiotin, wenn er mich ansprach?

"Gehörst du auch zu den Glücklichen, die einen freien Tag haben?", fragte Lex und setzte sich.

"Nein, ich gehöre zu den Faulenzern, die ihre Vorlesung schwänzen", gab ich zu.

"Das ist fast schon eine Verpflichtung, wenn man studiert."

"Ich bin mir da nicht so sicher. Das letzte Mal habe ich kein Wort von dem verstanden, was der Prof da vorne erzählt hat. Es wäre klüger, im Hörsaal zu sitzen."

"Was studierst du?"

"BWL."

Lex nickte wissend. "An deiner Stelle wäre ich auch lieber hier als an der Uni."

"Und du? Was machst du, wenn du nicht auf dem Viktualienmarkt bist?"

"Ich bin Softwareprogrammierer." Lex zuckte mit den Schultern. "Nichts Aufregendes, kommt gleich nach Buchhalter."

Ich musterte ihn. Irgendetwas stimmte nicht an dieser Aussage, aber ich wusste nicht was. Behutsam streckte ich meine Fühler aus, suchte in seinem Energiefeld nach einer Erklärung für das Gefühl, aber ich fand nichts. Interessant. Lex hatte eine Mauer hinter dieser Aussage errichtet. Wahrscheinlich unbewusst. Aber eines war klar: Er wollte nicht, dass man hinter die Fassade sah.

"Du siehst nicht aus wie ein Buchhalter oder ein Programmierer."

"Danke." Lex grinste. "Wie sehe ich denn aus?"

"Also, ich … keine Ahnung. Du trägst keine langweiligen Anzüge …" Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mittlerweile ähnelte ich mit Sicherheit einer Tomate. Lex sah mir tief in die Augen, was nicht hilfreich war. Im Gegenteil, ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber mir wurde noch heißer. Vielleicht war ich extrem früh dran mit den Wechseljahren. So mussten sich Hitzewallungen anfühlen.

"Schmeckt dir die Weißwurst nicht mehr?", erlöste Lex mich aus der Starre.

"Die? Oh, doch!" Hektisch zupfte ich an der Wurst. Der Appetit war mir vergangen. Das war immer so, wenn ich verliebt war.

Augenblick.

Ich war nicht verliebt! Ausgeschlossen. Ich kannte den Mann nicht. Okay, er sah gut aus, war nett, trug mir die Einkäufe fünf Stockwerke hinauf und flirtete mit mir.

Aber er kann sich nicht zwischen mir und einer anderen entscheiden!

Die Weißwurst rutschte aus meiner Hand auf den Teller zurück. Bei meinem Geschick konnte ich froh sein, dass sie nicht auf meinem Schoß landete.

"Ich muss weg. Heute ist eine wichtige Vorlesung. Habe ich total vergessen." Bevor Lex etwas sagen konnte, stand ich auf und stürzte ich mich in den Pulk japanischer Touristen, der Fotos schießend den Viktualienmarkt überflutete. Zum Glück hatte ich mein Essen bereits bezahlt.

Vielleicht täuschen sich die Karten, argumentierte ich, während ich zur U-Bahn hastete.

Sie haben sich noch nie geirrt, hielt ich mir selbst entgegen. Stimmt, aber ich habe mich schon des Öfteren bei der Interpretation getäuscht.

6

Lex

Soweit also zu meinen guten Vorsätzen. Obwohl ich zu meiner Entschuldigung sagen muss, dass unser Treffen auf dem Viktualienmarkt Zufall war. Ich hatte kurz zuvor eine Verabredung mit einem meiner Kontakte gehabt. Danach war ich über den Markt geschlendert.

Als gäbe es eine Verbindung zwischen uns, hatte ich sie sofort entdeckt. Sie saß auf einer Bank, vor sich eine Weißwurst und eine Tasse Kaffee. Und wieder schaltete sich mein Verstand aus. Ich zog meine Baseballkappe tiefer in die Stirn, holte mir ebenfalls einen Kaffee und setzte mich zu ihr.

Das ist das letzte Mal. Ich unterhalte mich mit ihr, frage, wie es ihr geht, dann verschwinde ich.

Ja, genau. Keine Ahnung, warum ich dachte, ich könne mir etwas vormachen. Ich wusste, warum ich hier war. Um mehr über sie zu erfahren, mit ihr zu flirten und sie in mein Bett zu bekommen.

Wenn ich Glück hatte, würde ich außerdem feststellen, dass ich sie nicht leiden konnte. Als ich ihre Einkaufstüten trug, hatten wir nur kurz miteinander gesprochen. Zu kurz, um wirklich herauszufinden, ob sie nicht vielleicht doch eine blöde Kuh war.

Wir unterhielten uns. Sie bestätigte, was ich ohnehin schon wusste: Sie studierte hier in München. BWL. Was ich nicht gedacht hätte, denn sie sah nicht wie die langweiligen Zahlenschieber aus, die normalerweise dieses Fach favorisierten.

Ich verkaufte ihr die Story, dass ich Programmierer wäre. Als ich die Lüge, nicht zum ersten Mal, vortrug, musterte sie mich. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, sie sähe hinter meine Fassade. Sähe den Menschen, der ich wirklich war.

Aber das war nur ein Moment. Dann war das Gefühl verschwunden. Ich schüttelte den Gedanken ab, konzentrierte mich auf Jana und packte meinen Charme aus. Der war offensichtlich eingerostet, denn kurze Zeit später sprang sie auf und hastete zur U-Bahn, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Etwas verblüfft schaute ich ihr nach. Es war ja nicht so, dass Frauen über mich herfielen. Aber weglaufen taten sie in der Regel auch nicht.

Ich hatte etwas falsch gemacht. Aber was?

7

Freitag

6 der Schwerter

Wissenschaft. Dieser Tag wird ganz dem Studium gewidmet sein. Toll.

"Du hast gestern einiges verpasst", begrüßte mich Vanessa, als ich mich fünf Minuten vor Beginn der Vorlesung neben sie setzte. Sie hatte mir zugewinkt, als ich den Hörsaal betrat. Ich war froh darüber, eine Leidensgenossin zu haben, mit der ich über meine Probleme reden konnte. Mittlerweile waren es nur noch etwa fünfzehn Studenten, die die Vorlesung besuchten. Was nicht gut war, denn so würde es auffallen, wenn ich vor Langeweile einschlief.

"Ich hatte einen wichtigen Termin", log ich, obwohl ich wusste, dass Vanessa mir die Wahrheit nicht übelgenommen hätte. Ich war noch nicht so weit, ihr von Lex zu erzählen. Zum einen, weil es nichts zu erzählen gab, und zum anderen, weil ich Vanessa mochte, sie aber kaum kannte.

"Hast du es gut." Vanessa musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. "Bist du sicher, der wichtige Termin hatte nichts mit einem heißen Date zu tun?"

"Ähhhh."

Vanessa winkte mit einem Grinsen ab. "Schon gut. Dein Geheimnis ist bei mir bestens aufgehoben. Ich werde keiner Seele davon erzählen."

"Ich weiß nicht, wie es kam, aber statt zur Uni zu gehen, war ich auf dem Viktualienmarkt und dort habe ich meinen Nachbarn getroffen", gab ich zu.

"Ich wusste es." Vanessa hob ihre rechte Hand und gab mir einen High five.

Ein Räuspern unterbrach uns. Professor Meinert stand neben unserer Bank und sah uns mit strengem Blick an. "Meine Damen, die Vorlesung hat bereits vor fünf Minuten begonnen. Es wäre nett, wenn Sie uns mit Ihrer Aufmerksamkeit beehrten." Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er hinunter zum Podium.

"Er ist doch gerade erst gekommen", murmelte Vanessa, senkte dann aber brav ihren Kopf und begann eifrig mitzuschreiben, während ich dasaß und versuchte, zu verstehen, wovon der Meinert sprach.

"Erzähl. Ich habe über eine Stunde lang wie auf heißen Kohlen gesessen und die langweiligste Vorlesung der Welt über mich ergehen lassen, nur um zu hören, was mit dir und deinem Nachbarn ist."

"Nichts", sagte ich und zuckte mit den Schultern. "Wir haben uns unterhalten. Mehr ist nicht passiert."

„Er hat dich nicht nach einem Date gefragt?“

„Nein, warum sollte er?“

„Warum? Um dir näher zu kommen!“ Vanessa runzelte die Stirn. "Vielleicht hat er Bindungsängste", meinte sie dann.

"Eher Entscheidungsprobleme", murrte ich und rührte in meinem Kaffee, was vollkommen unnötig war, denn ich trank ihn weder mit Zucker noch mit Milch.

"Was? Er hat noch eine andere?"

Verdammt. Ich hatte mal wieder gesprochen, ohne vorher nachzudenken. Jetzt würde Vanessa wissen wollen, woher …

"Woher weißt du das?"

"Ich … also …"

"Jana. Spann mich nicht so auf die Folter."

"Ich weiß nicht, ob ich es dir erzählen soll", gab ich zu. "Vielleicht denkst du, ich bin verrückt oder eine von diesen verschrobenen Persönlichkeiten, die mit sich selbst reden und Engel sehen oder so."

"Bist du eine Stalkerin?" Vanessa beugte sich über den Tisch zu mir. Ihre Neugierde war ehrlich, stellte ich mit Überraschung fest. Sie verurteilte mich nicht und bewertete auch nicht, was ich sagte, sondern sie wollte erfahren, woher ich diese Information hatte.

"Nein. Ich lege Karten."

"Wow! Das ist ja so cool!"

"Meine Eltern finden das nicht."

"Klar." Vanessa machte eine wegwerfende Handbewegung. "Es ist der Job deiner Eltern, sich Sorgen zu machen. Außerdem klingt es natürlich besser, zu sagen 'meine Tochter studiert BWL', als 'meine Tochter ist Kartenlegerin'."

"Zum Glück haben sie noch meine Schwester, die erfolgreiche Juristin." Ich schaufelte mir ein paar Löffel Zucker in den Kaffee und rührte. Wahrscheinlich würde ich keinen Schluck von dem Zeug hinunterkriegen.

"Hey, sie haben dich bestimmt genauso gerne. Du machst es ihnen nur schwieriger, es zu zeigen."

"Bestimmt. Aber wir haben genug über mich geredet."

"Richtig. Der Nachbar!"

Mist, ich hatte das Gespräch auf Vanessa lenken wollen, nicht auf mein nicht vorhandenes Liebesleben. "Ich habe dir schon alles erzählt. Mehr gibt es nicht dazu zu sagen. Was ist mit dir? Hast du einen Freund?"

"Nein. Vor zwei Wochen habe ich mit Daniel Schluss gemacht. Das ist ganz gut so, ich brauche Zeit für mich." Vanessa sah aus dem Fenster des Cadu auf die ummauerte Terrasse hinaus, als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen. "Vielleicht kannst du mir die Karten legen. Irgendwann. Und nachsehen, wann der Mann fürs Leben kommt", sagte sie und lächelte. "Wer weiß, vielleicht läuft dort draußen jemand herum, der nur auf mich wartet."

"Ganz bestimmt." Ich erwiderte ihr Lächeln. "Irgendwann muss es ja klappen mit den Männern."

"Ich würde gerne einmal deine Tarotkarten sehen. Ich kenne so etwas nur aus dem Fernsehen."

"Wir können zu mir gehen, wenn du möchtest, dann zeige ich sie dir." Ich versuchte möglichst gelassen auszusehen und nicht so, als würde ich verzweifelt nach Gesellschaft hungern. Denn genau das war der Fall. Vanessa war meine erste und einzige Freundin in München. Die Einsamkeit, die mich umgab, sobald ich die Universität verließ, zehrte allmählich an meinen Nerven.

"Gute Idee." Vanessa winkte der Bedienung. "Ich lade dich ein", sagte sie. "Für zukünftige Informationen über mein Liebesleben", raunte sie mir zu, während sie auf ihr Wechselgeld wartete.

"Vielleicht ist mit dieser Karte gar keine andere Frau gemeint", sagte Vanessa und studierte die 8 der Schwerter, die mich in Zweifel gestürzt hatte.

"Bei dem Bild? Siehst du die beiden Frauen und den Typ, der nachdenklich zwischen ihnen sitzt?" Die Frage war überflüssig. Das Motiv war zentral auf der Karte abgebildet. Vanessa hätte blind sein müssen, um es nicht zu bemerken.

"Ja, aber der Titel lautet 'Unentschiedenheit', das deutet auf die Schwierigkeiten hin, eine Entscheidung zu treffen. Er könnte mit einem stressigen Beruf liiert sein, der kaum Zeit für eine Beziehung lässt. Oder es steht eine Versetzung in eine andere Stadt an."

"Hmmmm."

"Wie würdest du die Karte interpretieren, wenn du für mich fragen würdest? Wärest du dann auch sicher, dass es um eine andere Frau geht?"

Ich zögerte einen Augenblick. "Obwohl ich den Tarot benutze, gibt es neben den Karten noch andere Informationsquellen. Deshalb wüsste ich, worum es geht. Wenn ich für mich nachsehe, fehlt mir der Zugang zu diesen Quellen. Ich habe zu viele Vorurteile und Wünsche, was das Ergebnis betrifft, stehe mir selbst im Weg oder interpretiere das hinein, was ich gerne hätte."

"Interessant." Vanessa sah mich an, als sei ich eine neue Spezies Mensch, die sie nie zuvor gesehen hatte. "Ich wünschte, ich könnte das auch."

"Bei uns liegt es in der Familie, auch wenn meine Mutter es lieber hätte, wenn dem nicht so wäre."

"Wie kann deine Mutter nur so etwas ablehnen? Hat sie auch diese Gabe?"

"Ich weiß es nicht. Vielleicht. Aber wenn, dann verdrängt sie diese Talente. Es ist ihre Schwester, die mich zum Tarot gebracht hat und auch Karten legt, allerdings nicht professionell."

"Cool!"

"Ich weiß nicht." Ich seufzte. "Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob es nicht besser wäre, so wie jeder andere zu sein."

"Hey, wer will schon sein wie jeder andere? Das ist langweilig! Außerdem habe ich jetzt eine Freundin, die in die Zukunft sehen kann." Vanessa grinste. "Das ist toll. Aber ich werde es nicht ausnutzen, ich verspreche es dir."

"Kein Problem. Das mache ich gerne."

Vanessa knuffte mich in die Seite. "Dann hätten wir mein zukünftiges Liebesleben so gut wie geregelt. Jetzt müssen wir deines in Gang kriegen."

"Da gibt es nichts in Gang zu setzen", murmelte ich und ordnete die Karten.

"Doch. Du musst herausfinden, ob es eine andere Frau gibt oder ob meine Vermutung stimmt."

"Wie soll ich das anstellen? Den Tarot brauche ich nicht zu befragen. Der zeigt mir nur meine Hoffnungen und Ängste."

"Hast du es schon mit Observieren versucht?"

"Observieren?"

"Ja, wie im Krimi, wenn ein Privatdetektiv eine andere Person beschattet. Du könntest dich unten im Hof an den Gartentisch setzen und so tun, als würdest du an deinem Laptop arbeiten. Da siehst du genau, wer das Haus betritt und wieder verlässt. Falls dein Lex etwas mit einer anderen hat, bekommst du das heraus."

"Ich weiß nicht."

"Was hast du zu verlieren?"

"Meinen Stolz?"

Vanessa winkte ab. "Stolz ist überbewertet. Glaube mir. Also, was ist? Wollen wir die Mission starten? Wenn du Glück hast, gibt es keine andere Frau und du kommst mit Lex ins Gespräch."

Zwei Stunden später beendeten wir das Unterfangen. Zum einen, weil Vanessa noch eine Verabredung hatte, zum anderen, was weitaus entscheidender war, weil es anfing zu regnen.

"Das ist das Dumme an dieser Idee. Du brauchst gutes Wetter", sagte meine Freundin und umarmte mich zum Abschied. "Nicht aufgeben. Ich zähle auf dich", rief sie über ihre Schulter und trat auf die Straße.

Ich schloss die Eingangstür und begann den Aufstieg in den fünften Stock.

"Hallo!", ertönte eine Stimme in meinem Rücken.

"Hallo, Lex." Ich drehte mich um und versuchte meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bekommen, die kurz davor waren, in ein breites Grinsen zu entgleisen.

Lex sah die beiden Kaffeetassen an, die ich trug, und zog die Augenbrauen hoch. "Du warst wohl ziemlich durstig heute?"

"Nein, meine Freundin war hier. Ich wollte ihr nicht zumuten, noch einmal in den fünften Stock hinaufzugehen. Mit ihren Absätzen hat sie es nicht leicht."

"Schade, ich wollte dich gerade auf einen Kaffee zu mir einladen." Er lehnte sich gegen die Hauswand und sah mich lächelnd an. "Vielleicht kann ich dich für ein Bier begeistern?"

"Das ist nett von dir, aber heute nicht. Morgen habe ich eine Vorlesung, für die ich noch lernen muss", log ich.

"Schade." Lex stieß sich von der Wand ab und ging zu seiner Wohnung. "Vielleicht ein anderes Mal."

Ich biss mir auf die Lippen und drehte mich um. Beinahe hätte ich ihm "Super!" hinterhergerufen, aber ich konnte es mir gerade noch verkneifen.

Ich hätte seine Einladung annehmen sollen, ging es mir durch den Kopf, während ich die Stufen hinaufging.

Er hatte nichts als Sex im Sinn und das ist mir zu früh, hielt ich dagegen. Die andere Stimme verstummte, denn es stimmte. Gestern war ich nicht in der Lage gewesen, Lex zu "lesen", aber heute war die Absicht hinter seiner Einladung so deutlich gewesen, als hätte er sie laut ausgesprochen.

8

Lex

Ich war eingerostet. Oder Jana hatte meine Einladung als das durchschaut, was sie war: Der Versuch, sie zu einem One-Night-Stand zu überreden. Gut für sie, dass sie mich hatte abblitzen lassen. Und gut für mich, aber das war ein Gedanke, der keine Freude aufkommen ließ. Ihre dunklen Augen ließen mich genauso wenig los wie ihre tolle Figur, ihr Lachen und der Sex-Appeal, den sie ausstrahlte.

Ich hatte mir vorher alles genau überlegt. Eine Einladung in meine Wohnung. Sex. Am besten mit einer Warnung zuvor, in der ich ihr klarmachen würde, es ginge nur um ein bisschen Spaß. Eine einmalige Sache ohne Konsequenzen, ohne Nachspiel.

Sah ganz so aus, als könne sie mich entweder nicht leiden oder hätte kein Interesse. Vielleicht musste ich meine Taktik ändern. Signalisieren, dass ich sie wirklich kennenlernen wollte und es mir nicht nur um das Eine ging. Möglicherweise wäre sie dann eher bereit, sich auf mich einzulassen.

Die Sache hatte nur einen Haken: Eine Beziehung mit mir konnte für sie genauso gefährlich werden wie für mich. Für sie würde es bedeuten, sich auf mehr einzulassen, als einen Freund zu haben.

Nach außen hin sah ich aus wie ein harmloser Softwareprogrammierer. Manchmal, in meiner Freizeit, programmierte ich sogar. Aus Spaß. Und weil ich nicht alles vergessen wollte, was ich während meines Studiums gelernt hatte. Außerdem verging die Zeit in der Computerbranche wesentlich schneller als im normalen Leben. Ein paar Jahre lang keine Software zu schreiben bedeutete, man lebte, was den Kenntnisstand anbelangte, in der Steinzeit.

Für mich war es ebenso gefährlich, mich mit Jana einzulassen. Für mich wäre sie eine Schwachstelle.

Niemand weiß, wo ich lebe. Welches Auto ich fahre, oder wie ich wirklich heiße, argumentierte ich mit mir selbst. Bisher hatte ich es geschafft, alle Aspekte meines Privatlebens geheim zu halten. Warum sollte mir das nicht weiterhin gelingen? Warum sollte sich daran etwas ändern, wenn ich eine Freundin hätte?

Weil so etwas immer schlecht endet.

Außerdem wusste ich nicht einmal, ob Jana sich jemals auf mich einlassen würde. Im Moment sah es eher so aus, als könne sie mich nicht schnell genug loswerden.

9

Dienstag

Der Herrscher

Autorität. Jemand, der die Situation im Griff hat. Kann sich unmöglich auf mich beziehen.

"Was treibt der Mann den ganzen Tag?" Vanessa schaute auf ihre Armbanduhr und runzelte die Stirn. "Er kann unmöglich bis acht Uhr abends arbeiten."

"Warum nicht? Meine Schwester macht das jeden Tag."

"Vielleicht ist sie nicht deine Schwester. Möglicherweise hat man sie im Krankenhaus vertauscht."

"Wenn man ein Baby nach der Geburt vertauscht hat, dann mich. Ich bin das schwarze Schaf in der Familie."

"Hey, lass dich nicht unterkriegen."

"Ist schon gut. Das Wochenende war etwas stressig." Ich deutete auf die Wohnungstür, hinter der Lex' Appartement lag. "Ich glaube, wir sollten gehen. Es sei denn, du möchtest hier noch länger herumstehen." Ich streckte mich. Auf Vanessas Vorschlag hin hatten wir es immerhin zwei Stunden im Treppenhaus ausgehalten. Es regnete, wodurch unser Posten vom letzten Mal nicht für die Observation in Frage kam.

Ich hatte bereits gefühlte hundert Mal meinen Briefkasten aufgeschlossen und wichtig darin herumgewühlt, sobald sich die Eingangstür öffnete und einer der anderen Bewohner das Haus betrat.

"Mir reicht es für heute", sagte Vanessa und gähnte. "Außerdem kommt er garantiert erst, wenn ich weg bin. Es ärgert mich immer noch, ihn das letzte Mal so knapp verpasst zu haben."

"Das war Pech."

"Was lief an dem Abend eigentlich noch? Seid ihr etwas trinken gegangen oder habt ihr euch wenigstens unterhalten?"

"Wir haben 'Hallo' gesagt." Ich merkte, wie ich rot wurde. Wenn ich ehrlich war, ärgerte ich mich, Lex' Angebot nicht angenommen zu haben. Das bedeutete nicht, dass ich gleich mit ihm im Bett gelandet wäre.

"Raus damit. Irgendetwas ist passiert."

"Er hat mich auf einen Kaffee eingeladen, ich habe abgesagt", gab ich zu.

"Warum?"

"Weil ich gespürt habe, dass er mit mir ins Bett will."

"Na und? Was ist falsch daran? Außerdem musst du nichts tun, was du nicht willst."

"Ich weiß, ich ärgere mich auch darüber."

"Vielleicht war das gar nicht so schlecht. Es ist besser, er merkt, dass du nicht so einfach zu haben bist."

"Ja, oder er redet nie wieder mit mir."

"Dann wollte er ohnehin nur Sex. Und du willst mehr, oder?"

"Ich weiß es nicht. Ich glaube schon. Es ist alles so kompliziert.“ Ich seufzte. „Komm, lass uns nach oben gehen und einen Kaffee trinken. Das hier bringt sowieso nichts."

"Na gut, aber dann muss ich gehen. Ich will deine Chancen auf ein weiteres Treffen nicht ruinieren."

"Wie funktioniert das?", fragte Vanessa, als wir mit zwei Tassen Kaffee versorgt an meinem Küchentisch saßen. "Du hast gesagt, du spürst die Absicht hinter den Worten. Oder in Lex' Fall wusstest du, worauf er mit seiner Einladung wirklich hinauswollte."

"Es fühlt sich manchmal an, als würde ein sanfter Windstoß die Gefühle anderer Menschen zu mir wehen. Es gibt aber auch Momente, da weiß ich genau, was der andere will oder was er vor mir verbirgt, ohne zu wissen, woher diese Gewissheit kommt."

"Klingt spannend."

"Ja, aber es kann auch sehr nervend sein. Wenn ich mich an Orten mit vielen Menschen aufhalte, zum Beispiel in der U-Bahn oder auf einem Konzert, zieht es mir fast den Boden unter den Füßen weg, weil so vieles auf mich einstürmt. Wenn ich mich vorher nicht darauf einstelle und gedanklich schütze, wird es unangenehm."

"Cool!"

"Was ist daran cool?"

"Hey, du spürst, was andere fühlen. Du kannst mit deinen Karten in die Zukunft schauen. Wir normalen Menschen müssen uns so durchs Leben schlagen. Ich weiß nie, ob ein Mann nur Sex haben will oder der Reichtum meiner Eltern ihn lockt."

"Auch wieder wahr."

"Sag ich doch. Du hast es leicht."

"Nicht immer. Wenn meine eigenen Gefühle zu stark sind, verliere ich meine Fähigkeiten. Dann ist alles nur noch ein einziges Chaos."

"Dann empfindest du nichts für Lex?"

"Ich kenne ihn nicht richtig." Ich stand auf und werkelte in der Küche, um Vanessas prüfendem Blick zu entgehen.

"Du hast Angst, dich getäuscht zu haben", rief sie triumphierend.

Meine neue Freundin war intuitiver, als sie zugeben wollte.

"Ich bin mir ziemlich sicher, gespürt zu haben, was er wollte", erwiderte ich steif.

"Bist du nicht. Und jetzt ärgerst du dich darüber, ihm abgesagt zu haben."

"Willst du nicht an meiner Stelle die Karten legen?" Ich setzte mich wieder. "Du kannst das besser als ich."

"Kann ich nicht, aber du bist ein offenes Buch. Fang bloß nie mit Pokerspielen an."

10

Lex

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und betrachtete fasziniert die Szene, die sich vor meinen Augen abspielte. Die Echtzeitübertragung meiner Kamera zeigte zwei Frauen, die im Hausflur standen. Streng genommen war daran nichts Ungewöhnliches. Meine Nachbarn unterhielten sich des Öfteren im Flur vor den Briefkästen.

Allerdings taten sie das selten über eine Stunde lang. Noch ungewöhnlicher war das Verhalten von Jana. Sobald jemand die Haustür öffnete, schoss sie zu ihrem Briefkasten und tat so, als würde sie die Post herausholen. Die andere Frau, wahrscheinlich ihre Freundin, stand währenddessen neben ihr und unterhielt sich mit ihr. Die beiden versuchten möglichst unauffällig Zeit zu vertrödeln, sodass der Hausbewohner, der hereinkam, vor ihnen in seiner Wohnung verschwand.

Ich beobachtete sie, seit ich Jana und die Andere auf meinem Bildschirm entdeckt hatte. Ein wohliges Gefühl breitete sich in mir aus, denn bald wurde eines klar. Sie warteten auf mich. Zum Glück sahen sie das Grinsen nicht, mit dem ich die leise geführte Unterhaltung über den Lautsprecher verfolgte.

Sie ist an mir interessiert!

Das war die beste Information seit Wochen.

Eine weitere Viertelstunde lang passierte nichts. Die beiden hatten aufgehört miteinander zu sprechen und lehnten nebeneinander an der Wand. Wahrscheinlich langweilten sie sich.

Um mich abzulenken, surfte ich durchs Internet und checkte meine E-Mails. Das Fenster der Überwachungskamera hatte ich etwas verkleinert, behielt es aber stets im Blick. Ich wollte wissen, was sie taten. Und vor allem, wie lange sie es im Flur aushalten würden, bis sie aufgaben. Kurz erwog ich, nach draußen zu gehen, entschied mich aber dagegen. Ich wollte nicht, dass Janas Freundin mich sah.

Also wartete ich.

Nach einer gefühlten Ewigkeit übertrug der Lautsprecher eine weitere Unterhaltung.

"Er hat mich auf einen Kaffee eingeladen, aber ich habe abgesagt", sagte Jana.