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Ein nebliger Neujahrsmorgen in den Schleswiger Königswiesen: In einem Gebüsch unweit der Feuerwerks-Reste liegt ein Toter. Offenbar ein Obdachloser, brutal erschlagen. Katja Grewe und Daniel Kowalski von der Kripo Schleswig fragen sich: War es ein Streit im Obdachlosen-Milieu? Eine zufällige Tat von betrunkenen Jugendlichen oder rechtsradikalen Schlägern? Wer könnte ein Interesse am Tod eines Stadtstreichers gehabt haben?
Die Ermittlungen verlaufen schnell im Sande, niemand will etwas gesehen oder gehört haben. Doch da taucht ein weiterer toter Obdachloser auf. Eine Überdosis? Katja und Daniel haben Zweifel und nehmen die Ermittlungen wieder auf. Die Spur führt zu einem Verdächtigen, mit dem sie nie gerechnet hätten - und viel näher, als es ihnen lieb ist.
Sehr norddeutsch und hochspannend - die neue Küstenkrimi-Reihe von Eva Jensen!
Die Kommissare Katja Greve und Daniel Kowalski ermitteln an der Schlei: Daniel ist korrekt, ruhig und methodisch, nicht ohne Humor, dafür aber mit Rosenkranz am Rückspiegel. Katja hingegen impulsiv, unkonventionell, energiegeladen. Doch zusammen sind sie ein richtig gutes Team. Und das ist auch nötig, denn an der idyllischen Ostküste Schleswig-Holsteins wirft das Verbrechen dunkle Schatten ...
Küstenmord - alle Titel in der richtigen Reihenfolge:
1. Das letzte Lied
2. Kein Wort zu viel
3. Einsames Begräbnis
4. Die unsichtbaren Toten
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 372
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Zitat
Prolog
Teil 1
Sonntag, 1. Januar
1
2
3
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7
Montag, 2. Januar
1
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Teil 2
Dienstag, 17. Januar
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Mittwoch, 18. Januar
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Donnerstag, 19. Januar
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Freitag, 20. Januar
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Samstag, 21. Januar
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8
Montag, 23. Januar
1
2
Epilog
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Ein nebliger Neujahrsmorgen in den Schleswiger Königswiesen: In einem Gebüsch unweit der Feuerwerks-Reste liegt ein Toter. Offenbar ein Obdachloser, brutal erschlagen. Katja Grewe und Daniel Kowalski von der Kripo Schleswig fragen sich: War es ein Streit im Obdachlosen-Milieu? Eine zufällige Tat von betrunkenen Jugendlichen oder rechtsradikalen Schlägern? Wer sonst könnte ein Interesse am Tod eines Stadtstreichers gehabt haben?
Die Ermittlungen verlaufen schnell im Sande, niemand will etwas gesehen oder gehört haben. Doch da taucht ein weiterer toter Obdachloser auf. Eine Überdosis? Katja und Daniel haben Zweifel und nehmen die Ermittlungen wieder auf. Die Spur führt sie zu einem Verdächtigen, mit dem sie nie gerechnet hätten – und viel näher, als es ihnen lieb ist.
Eva Jensen
Küstenmord
Die unsichtbaren Toten
Krimialroman
Für T. W.Du hattest nie eine reelle Chance – wie so viele.
»Es ist keine Kunst, ein ehrlicher Mann zu sein, wenn man täglich Suppe, Gemüse und Fleisch zu essen hat.«
Georg Büchner
Sabine Lischke stand abseits der Tür der Bäckerei. Das Vordach schützte sie vor dem Wind. Ihre Zigarette ließ sich ohne Schwierigkeiten anzünden. Gelegentlich, wenn gerade keine Kunden im Laden waren und die Kolleginnen kurz ohne sie auskamen, gönnte sie sich diese Pause. Eine Zigarettenlänge, vier bis fünf Minuten, mehr nicht.
Sie arbeitete nur an drei Tagen in der Woche in der Bäckerei mit angeschlossenem Café in der Königsstraße – freitags, samstags und sonntags. Sabine war es wichtig, bei den anderen Frauen und dem Chef für einen guten Eindruck zu sorgen. Bisher schien ihr das gelungen zu sein. Die Kolleginnen waren nett zu ihr, unterhielten sich mit ihr über Fernsehsendungen und die Nachrichten, erzählten von ihren Familien, und der Chef hatte ihr zu Weihnachten sogar einen kleinen Bonus gezahlt.
Heute, einen Tag vor Silvester, war besonders viel Betrieb im Laden. Viele Kunden hatten bereits für das Neujahrswochenende eingekauft oder Bestellungen für den nächsten Tag aufgegeben, vor allem Baguettes, Partybrote und natürlich Berliner. Die kamen als Kühlware aus der Zentrale der lokalen Bäckereikette, und Sabines Kollegin Katrin ließ gerade die nächsten Bleche im Ofen auftauen: Berliner, gefüllt mit roter oder gelber Marmelade, mit Puderzucker oder Zuckerguss.
Berliner mit Himbeermarmelade und Zuckerguss. Die Sorte war Sabine am liebsten. Vielleicht würde sie sich am nächsten Tag einen zurücklegen lassen. Es war schließlich nur einmal im Jahr Silvester. Sie inhalierte tief und blies den Rauch hoch zur rot-weiß gestreiften Markise.
Ein Mann näherte sich mit langsamen, schlurfenden Schritten. Unter dem linken Arm trug er mehrere Feuerwerksraketen, eingeschweißt in bunt bedrucktes Plastik; in der rechten Hand hielt er eine Papiertüte. Sein dunkler Mantel war schäbig und schmutzig, das graue Haar so speckig wie der Hut, der Bart zottelig, gelb verfärbt und viel zu lang. Sabine erkannte ihn sofort. Das war Fritz, den die meisten auf der Straße »Herr Fritz« nannten, weil er seinen ehemals feinen dunklen Mantel trug, einen Hut und sogar einen Schlips, als ginge er immer noch jeden Tag ins Büro.
Dabei waren diese Zeiten längst vorbei. Jeder mit Augen im Kopf konnte das erkennen – an den durchgelaufenen Schuhen, an der schmutzigen Hose und der Krawatte, die mittlerweile aussah, als hätte Herr Fritz sie im Rinnstein gefunden. Sein Gesicht war schwammig von Jahrzehnten des Trinkens. Wie die ausschwärmende Brut winziger roter Spinnen verteilten sich Äderchen über seine Nase, die Wangen und das Kinn.
Sabine wusste, dass Ärzte diese sogenannten »Spidernävi« als Anzeichen für eine Lebererkrankung deuteten. Vielleicht wusste Herr Fritz das auch. Aber für ihn hatte es keine Relevanz. Herr Fritz war Alkoholiker, er war obdachlos. Auf der Straße, ohne Geld und feste Bleibe, war einem vieles, worum sich die anderen, die Menschen in ihren Wohnungen und Häusern, täglich sorgten und kümmerten, herzlich egal – das galt auch für die eigene Leber.
Was bei Fritz zuerst da gewesen war, der Suff oder die Wohnungslosigkeit, wusste niemand, vielleicht nicht einmal er selbst. Wie bei den meisten Berbern. Wie bei Henne und Ei.
Herr Fritz schlurfte näher, und unwillkürlich trat Sabine ein paar Schritte zurück in den Schatten der Markise, drückte sich gegen die Scheiben der Bäckerei und versuchte, unsichtbar zu werden und mit dem Aufsteller zu verschmelzen, der fünf Berliner zum Preis von vier anpries. Sie wollte nicht, dass der Mann sie sah oder gar erkannte. Ihre Kolleginnen wussten noch nichts von ihrer Vergangenheit, und so sollte es auch bleiben.
Diese Frauen in ihren schmucken Reihenhäusern hatten keine Ahnung, wie lang und mühsam der Weg von den Pavillons, Parkbänken und Hauseingängen Schleswigs, von Suff und Selbstekel bis hierher gewesen war. Doch sie hatte es geschafft: Sie war trocken, hatte mittlerweile eine kleine Wohnung – ein Zimmer nur mit Kochnische und einem Bad, das man getrost als »Duschklo« bezeichnen konnte. Aber sie hatte einen Stuhl, einen Tisch, ein Bett, und jede Nacht war es dasselbe. Sie putzte regelmäßig das Bad und die Kochnische, wusch ihre Wäsche, im Kühlschrank lagerten etwas Joghurt und Tomaten, und auf dem Fensterbrett stand eine Topfpflanze, um die sie sich kümmerte. Sie hatte den Job in der Bäckerei an drei Tagen in der Woche, zahlte pünktlich ihre Miete und ihre Krankenversicherung.
Wenn sie sich in den kommenden sechs Monaten weiter bewährte, konnte sie im August eine Ausbildung zur Bäckereifachgehilfin beginnen. Hier im Betrieb. Das bedeutete mehr Verantwortung, mehr Geld, vielleicht sogar Aufstiegsmöglichkeiten in einer anderen Filiale. Es war ihre Chance für einen Neuanfang. Mit achtunddreißig.
So eine Chance bekam nicht jeder auf der Straße, und das wollte sie nicht noch auf den letzten Metern vergeigen. Deshalb kam sie pünktlich zur Arbeit und erledigte, ohne zu murren, was von ihr verlangt wurde: Sabine fegte Krümel zusammen, holte Stapel von Brötchentüten aus dem Keller, wusch Tomaten und Salatblätter für die belegten Brote und wischte die Tische in der Café-Ecke. An jedem Dienstag besuchte sie die Treffen der Frauengruppe der Anonymen Alkoholiker, ging zweimal in der Woche zur Therapie und achtete darauf, dass sie immer frisch geduscht und ihre Kleidung sauber war.
Sie hatte sogar wieder begonnen, sich zu schminken. Ganz dezent, nur ein bisschen getönte Tagescreme und Wimperntusche, für mehr reichte das Geld nicht. Doch es war ein weiterer Schritt. Sie wich ihrem Spiegelbild nicht mehr ganz so oft aus.
Einmal in der Woche half Sabine in der Suppenküche der Diakonie. Weniger, um den alten Kumpels den Weg von der Straße zu zeigen, nicht einmal, um sich selbst besser zu fühlen, indem sie vor den Wohnungslosen damit prahlte, dass sie es geschafft hatte. Sie tat es um ihrer selbst willen. Um nicht zu vergessen, woher sie kam und wohin sie niemals und unter keinen Umständen zurückwollte. Außerdem machte es sich gut in ihrem Lebenslauf und in ihrer Beurteilung. Herrn Fritz traf sie dort selten. Aber wenn er in die Suppenküche kam, war er immer freundlich, behandelte sie fast wie eine Dame.
Sabine sog lange an ihrer Zigarette.
Herr Fritz verlangsamte seine schlurfenden Schritte, blieb schließlich stehen, kaum drei Meter von ihr entfernt. Hatte er sie gesehen, vielleicht sogar erkannt? Sie runzelte die Stirn, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Was, wenn er sich nun umdrehte und zu ihr herüberkam? Sie ansprach? Was sollte sie dann tun? Weglaufen? Um Hilfe rufen? Leugnen? Das muss eine Verwechslung sein, ich kenne Sie nicht ...
Doch der Mann achtete gar nicht auf sie. Er rückte das Paket unter seinem Arm zurecht und schlurfte weiter, ganz versunken in sich selbst. Der Geruch von Alkohol, ungewaschener Kleidung und fettigen Haaren wehte zu ihr herüber. In der Tüte klimperten Flaschen. Drei waren es bestimmt, wahrscheinlich Korn, die Eigenmarke aus dem Discounter. Den tranken die alten Kumpels besonders gern, weil er keine fünf Euro kostete und trotzdem die Heizung ersetzte, die Freunde, die Familie, das Selbstwertgefühl, oft sogar die Mahlzeiten.
Auch sie hatte meistens diesen billigen Fusel getrunken. Das Geld für den besseren Schnaps hatte gefehlt. Außerdem zählten auf der Straße andere Werte als Geschmack und Qualität: Alkohol musste so schnell wie möglich das Hirn erreichen, damit die Kälte und das Zittern nachließen und damit man wenigstens für Stunden vergessen konnte, wo und wer man war und was einen hierhergeführt hatte. Die Zeit ... die Tage sind lang, wenn man auf der Straße lebt. Als hätten sie mindestens doppelt so viele Stunden.
Das leise Klirren der Flaschen in der Papiertüte setzte Sabine zu. Jetzt hatte sie Geld. Obwohl schon Monatsende, waren noch beinahe hundert Euro auf ihrem Konto. Die Winterjacke konnte noch warten, so kalt war es gar nicht. Sie müsste sich nicht einmal mehr mit dem billigen Fusel begnügen. Sie könnte sich Besseres kaufen – guten Wodka, Gin oder einen Weinbrand.
Sabine fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Ihre Hand zitterte leicht, als sie ihre halb gerauchte Zigarette in dem mit Sand gefüllten Eimer ausdrückte.
Die anderen Frauen bei den Treffen der Anonymen Alkoholiker hatten ihr erzählt, dass die Gier nach Alkohol immer wieder in einem hochkam, dass man auch nach Jahren der Abstinenz davor nicht sicher war, dass sie einen überfallen konnte wie irgendein Scheißkerl in der Nacht, der neben dem bisschen Geld, das man in den Schuhen versteckt hatte, noch mehr wollte, vielleicht sogar alles.
Dieses Verlangen nach Alkohol begleitete einen für den Rest des Lebens. Nach der Schärfe in der Kehle, der Wärme im Bauch, dem wohligen Nebel im Hirn, der alle Erinnerungen verdrängte, sodass man sogar zeitweise glaubte, die Vergangenheit sei nun endgültig gelöscht. Keine Schuldgefühle mehr, keine Scham, keine Anstrengung. Nach einigen Schlucken fühlte man sich gut, frei, leicht. Manchmal hatte man Ideen und Wünsche und Vorstellungen, man schmiedete Pläne. Man fühlte sich, als könnte einem alles gelingen, als wäre man praktisch unbesiegbar.
Doch das war nur Täuschung, ein billiger Fake. Denn das alte Leben war immer noch da, es steckte einem in den Knochen. Man konnte es nicht einfach abstreifen wie einen Handschuh nach dem Putzen. Die Vergangenheit blieb an einem kleben. Und wenn man aus dem Suff aufwachte, waren die tollen Pläne vergessen. Stattdessen war das alte Leben zurück und grinste voller Schadenfreude. Meistens hatte es noch ein paar zudringliche Kumpels mitgebracht: Kopfschmerzen, Übelkeit, Scham über die eigene Schwäche, Schmutz, Gestank, Ekel.
Dagegen gab es nur ein Mittel: weiter saufen, damit man alles um sich herum vergessen konnte, vor allem aber sich selbst. Und irgendwann stand man da in ungewaschenen Klamotten, kämpfte um eine Nacht auf einer Parkbank, eine halb gerauchte Kippe aus dem Rinnstein und einen Zehner, versteckt in löchrigen Strümpfen.
Dann wurde man so wie Herr Fritz.
Oder wie ich früher.
Sabine schaute Herrn Fritz nach. Wo wollte er hin mit seinen Einkäufen? Zu einer Silvesterparty hatte man ihn doch wohl kaum eingeladen. Dabei musste er für den Alkohol und das Feuerwerk unter dem Arm mindestens fünfzig Euro ausgegeben haben – Discounter hin oder her. Woher hatte er nur so viel Geld?
Fünfzig Euro. Das war eine Menge Kohle, auch für sie, die es mittlerweile geschafft hatte. Wenigstens beinahe, denn das Verlangen war da, und die Lösung schien so einfach zu sein: Flasche ansetzen und trinken. Selbst wenn man wusste, dass das alles nur ein gigantisches Täuschungsmanöver war. Menschen waren faul und folgten gern den ausgetretenen Wegen, die einfach und eben erschienen.
Sabines Hand wurde wieder ruhiger, je weiter sich Herr Fritz von ihr entfernte. Sie atmete tief durch und wusste schon jetzt, dass sie an diesem Abend vor dem Spiegel wieder im eigenen Gesicht nach Spidernävi suchen würde. Bisher hatte sie keine gefunden. Ihre Ärztin hatte ihr erklärt, welch ein tolles Organ die Leber doch war. Sie hatte die Fähigkeit, sich bis zu einem gewissen Grad wieder zu regenerieren. Auch wenn es in ihrem Fall etliche Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte dauern würde, hatte sie diese Chance, sofern sie sich vom Alkohol fernhielt. Aber man konnte nie wissen.
Sabine hatte nicht achtunddreißig Jahre auf dieser ach so fröhlichen, gerechten Welt verbracht, um noch viele Illusionen und Träume zu haben. Das Leben hatte sie zur Realistin zusammengestaucht. Vielleicht schaffte sie es nicht, trocken zu bleiben. Vielleicht holte er sie irgendwann wieder ein, der Suff. Dann würde sie zuerst den Job verlieren, als Nächstes die Wohnung. Schließlich wäre es wieder da, das Leben auf der Straße. Sobald sie die Kontrolle verlor, sich der Versuchung und dem Verlangen hingab – nur ein Schluck, nur ein einziger Schluck! –, würde sie das hässliche Monster Alkohol von seiner Kette lassen. Es würde ohne Erbarmen über sie herfallen und sie nie wieder freigeben. Die Rückfallquote war hoch, warum sollte sie eine Ausnahme sein, ausgerechnet sie? Es konnte jeden Tag geschehen.
Aber nicht heute, dachte Sabine. Nicht heute.
Lena Ohland und Florian Gabler schlenderten Arm in Arm in Richtung Park; Spencer lief bei Fuß. Es war nicht kalt, fast zehn Grad und damit eigentlich viel zu warm für den ersten Januar. Aber es war schmuddelig grau, diesig, und es sah aus, als könnte jeden Augenblick der Regen wieder einsetzen.
Die Straßen waren menschenleer. Wer nicht zur Arbeit oder wegen Kindern, die beschäftigt werden wollen, oder Haustieren früh aufstehen musste, der blieb in den eigenen vier Wänden, trank vielleicht einen schwarzen Kaffee, um den Kater der Silvesternacht loszuwerden, oder drehte sich im Bett noch einmal gemütlich auf die andere Seite.
Lena vermied es, die immer noch nach Schwarzpulver stinkende Morgenluft einzuatmen, und wich den Resten des nächtlichen Feuerwerks aus – Kartons von Feuerwerkskörpern, Holzstäben, Plastikkappen und leeren Sekt- und Bierflaschen. Dabei kam sie sich vor, als wäre sie eine der wenigen Überlebenden einer Apokalypse. Selbst die wenigen hiergebliebenen Vögel schien die sinnlose Böllerei der Silvesternacht die Freude am Singen gründlich verhagelt zu haben.
Es war so still, dass Lena Spencers Krallen auf dem Gehweg klicken hören konnte. Sie kuschelte sich enger an Florian. Auf der Straße vor ihrem Haus war ordentlich gefeiert worden – mit Sauferei und viel Geknalle. Für die syrische Familie im Parterre, die hautnah den Bürgerkrieg miterlebt hatte, bestimmt ein Albtraum. Wenigstens war es in ihrem Haus ziemlich still gewesen. Ihre übrigen Nachbarn hatten entweder kleine Kinder oder waren jenseits der siebzig. Keiner von ihnen hatte das Bedürfnis, Radau zu machen, nur weil zufällig ein neues Jahr begann.
Spencer hatte sich den ganzen Abend über ganz eng zwischen sie beide gedrängt, mit zitternden Flanken und kläglichem Winseln. Er war nicht dazu zu bewegen gewesen, das Haus für einen längeren Spaziergang zu verlassen, hatte sein kleines Geschäft nur schnell am Laternenpfahl direkt vor dem Hauseingang erledigt und war dann mit eingeklappten Ohren und eingezogenem Schwanz wieder die Treppe hochgerast. Fast vierundzwanzig Stunden in der Wohnung – für einen ausgewachsenen Border Collie grenzte das an Folter.
Deshalb nutzten sie jetzt die Morgenstunden, um Spencer wieder ordentlich laufen zu lassen. Die Königswiesen boten gerade eben genug Fläche dafür, auch wenn Lena wusste, dass selbst diese Wiesen für einen Border Collie zu klein waren. Natürlich gingen sie mindestens dreimal in der Woche zum Agility. Außerdem nahm Florian Spencer immer mit in die Schleswiger Werkstätten, wo er bei Ausflügen und beim Sport der Mitarbeiter half. Aber letztlich brauchte er mehr, am besten eine Herde Schafe zum Hüten und riesige Felder zum Rennen.
Das war ihr und Florians großer Traum: ein Resthof mit viel Land drumherum, sich von selbst gezogenem Gemüse zu ernähren, dazu ein paar Schafe, Ziegen, Hühner, vielleicht sogar Schweine oder Kühe – gerettete Tiere aus Mastbetrieben, denen sie ihr verdientes Gnadenbrot bieten würden. Regelmäßig würden sie Kindern und Erwachsenen mit erhöhtem Förderungsbedarf, aus schwierigen Verhältnissen oder nach Traumata die Möglichkeit bieten, auf ihrem Hof ein paar Tage zu verbringen.
Der Umgang mit Tieren und der Natur konnte vieles heilen, und sowohl Lena als auch Florian waren vom Fach. Schon seit drei Jahren suchten sie nach einem passenden und finanzierbaren Objekt, sparten jeden Cent und kamen der Verwirklichung ihres Traumes Monat für Monat näher. Wer weiß, vielleicht war es dieses Jahr endlich so weit? So gesehen hatte Neujahr doch seinen Sinn – es bot die Möglichkeit, voller Hoffnung nach vorne zu schauen und gespannt und neugierig darauf zu warten, was das Universum bereithielt.
Sie erreichten den Park, und Florian ließ Spencer von der Leine. Der Rüde raste sofort los, als wäre der Ausgleich des Bewegungsmangels der letzten Stunden wichtiger als das notwendige Geschäft, und bereits kurze Zeit später war er nicht mehr zu sehen. Arm in Arm schlenderten sie gelassen hinter ihm her. Spencer würde von selbst zu ihnen zurückkommen, außerdem hörte er aufs Wort. Er würde keinen Unsinn anstellen, keine Spaziergänger anspringen oder Mülleimer ausräubern, und Möwen und Kaninchen waren vor ihm sicher.
Sie folgten dem Weg zu den Wiesen. Lena war entsetzt, dass sogar hier im Park überall Feuerwerksreste herumlagen. Die armen Tiere! Hoffentlich kam keines von ihnen auf die Idee, die Papphülsen der Feuerwerkskörper hinunterzuschlingen; zumindest bei Möwen konnte man nie wissen.
Spencer kam zurück, blieb an einem der Laternenpfähle stehen und hob nun endlich sein Bein. Die Wiese lag vor ihnen. Florian zog gerade die Hundefrisbees aus dem Stoffbeutel, als Lena auf etwas im Gebüsch aufmerksam wurde. Sie drückte Florians Arm.
»Sag mal, Flo, da liegt doch einer?«
Er kniff die Augen zusammen. »Vielleicht hat jemand einen Altkleidersack entleert.«
»Nein.« Lena setzte sich in Bewegung, bahnte sich ihren Weg durch die winterlich kahlen Sträucher. Wenn man einen Sack mit alten Klamotten leerte, lag alles durcheinander auf einem Haufen. Hier aber war alles an seinem Platz – Schuhe, Hose, Mantel. So, als läge ein Mensch bäuchlings auf dem Boden, ein Mann. Aber warum sollte man das an einem Januarmorgen tun? Das Wetter lud nicht gerade zum Campen ein.
»Hallo? Geht es Ihnen gut?« Lena ging an die Seite des Mannes und berührte ihn vorsichtig an der Schulter. Der Park wurde gelegentlich von Obdachlosen frequentiert, das war gemeinhin bekannt. Ebenso, dass diese Menschen immer wieder vertrieben wurden – von Anwohnern, Jugendlichen oder auch von der Polizei. Aber vielleicht war der Mann gar kein Obdachloser, sondern nur von einer der vielen Partys übrig geblieben, hatte zu viel getrunken und schlief jetzt seinen Rausch aus. Doch natürlich konnte gerade das bei den zurzeit herrschenden Temperaturen lebensgefährlich sein. Als Krankenschwester wusste Lena das sehr gut.
»Hören Sie mich?« Dann sah sie das Haar am Hinterkopf des Mannes. Es schien feucht und klebrig zu sein, die Farbe wirkte dunkler als nur vom Regen durchnässt, und in den schütteren Strähnen hingen kleine weißlich graue Stückchen wie Scherben. Das war weder Glas noch Keramik, das erkannte sie sofort. »Florian!« Ihre Stimme klang lauter als beabsichtigt. »Der Mann ist verletzt!« Sie tastete am Hals nach seinem Puls.
Nichts.
»Ich rufe einen Krankenwagen.«
»Gleich. Hilf mir zuerst, ihn umzudrehen. Vielleicht können wir noch etwas für ihn tun.«
Florian kniete sich neben sie, gemeinsam betteten sie den Mann vorsichtig auf den Rücken. Sein Gesicht war schlammbedeckt. Lena wischte mit einem Papiertaschentuch Mund und Nase frei. Darunter kam eine seltsame, dunkelviolette Färbung zum Vorschein, bei dem ihr sofort ein Wort durch den Kopf schoss: »Totenflecke«. Auch die Haut war kalt. War er ... tot? Doch die kalten Finger ließen sich von ihr bewegen. Sie hob die Lider an, die sich halb wieder schlossen. Einen Pupillenreflex konnte sie nicht erkennen, dafür war das Licht zwischen den Sträuchern zu schummrig. Mit der Taschenlampe des Handys konnte sie das später überprüfen, zuerst musste Florian den Rettungswagen rufen.
Lena hatte kein gutes Gefühl. Aber vielleicht hatte der Mann nur ein unglücklich platziertes Feuermal? Und die Haut war deshalb so kalt, weil er bei zehn Grad wer weiß wie lange im Gebüsch gelegen hatte? Lena wollte das nicht entscheiden – nicht hier, nicht jetzt und schon gar nicht ohne EKG und Rücksprache mit einem Arzt.
Ohne zu zögern, leitete sie die Wiederbelebungsmaßnahmen ein. Sie legte eine Hand um das von Bartstoppeln bedeckte Kinn, registrierte dabei die zahlreichen Spidernävi an Nase und Wangen, überstreckte den Kopf des Mannes, öffnete seinen Mund und versuchte, die Anstrengung, die sie dabei aufwenden musste, nicht zu bewerten. Sie schaute nach, ob etwas die Mundhöhle und den Rachen versperrte, sah aber im schummrigen Licht kaum mehr als ein paar Zahnlücken.
Entschlossen presste sie dem Mann die Nase zu, blies Luft in den Mund und begann dann mit der Herzdruckmassage. Fünf Mal mit durchgestreckten Armen und Handballen auf den Brustkorb drücken, knapp links vom Brustbein, dann ein Atemzug Luft.
Inzwischen hörte sie Florian mit der Notrufleitzentrale sprechen. Dann schaltete er die Taschenlampe seines Handys an und kniete sich neben den Kopf des Mannes, leuchtete ihm in die Augen.
»Keine Pupillenreaktion«, sagte er. »Ich fürchte ...«
»Das kommt bei Kopfverletzungen vor«, zischte Lena. Sie wusste, dass Florian recht hatte. Aber sie wollte nicht, dass er recht hatte. Sie wollte eine Ausnahme ... oder sogar ein Wunder. »Übernimm die Atmung, Flo. Wenigstens so lange, bis der RTW hier ist.«
»Also gut.«
Ihre Knie sanken tief in den feuchten, matschigen Boden. Möwen schrien am nahen Schleiufer, und eine Ente quakte empört, als wollte sie sich über diesen frühen Lärm beschweren. Ein leichter Nieselregen setzte ein. Spencer kam mit wedelndem Schwanz und schnupperte an den Schuhen des Mannes. Lena wurde warm, Herzdruckmassage ist anstrengend. Sie hörte das Knacken einer brechenden Rippe unter ihrem Handballen, vielleicht waren es auch zwei. Das war nicht ungewöhnlich bei Wiederbelebungsmaßnahmen. Man musste es in Kauf nehmen, denn gebrochene Knochen waren das geringste Problem eines Patienten ohne Atmung und Puls.
Florian und sie wechselten die Position, zogen sich die Jacken aus; sie schwitzten. Florian legte ein Ohr auf die Brust des Mannes, prüfte seinen Puls, schüttelte den Kopf, warf ihr einen Blick zu und begann dann seinerseits mit der Herzdruckmassage. Wie lange waren sie schon dabei?
Es konnten zwei Minuten oder zwanzig sein. Lena wusste, dass im Kampf um ein Leben das Zeitgefühl aussetzte und eigenen Gesetzen folgte.
Er ist tot. Er ist schon längst tot, nun glaube es doch endlich!
Nein. Sie wollte es nicht glauben, und Florian machte mit. Ihr zuliebe.
Endlich hörten sie das Martinshorn. Der RTW fuhr auf dem schmalen Parkweg bis zu ihnen, gefolgt von einem kleineren Wagen. Sanitäter und Notarzt in leuchtend orangefarbenen Westen sprangen heraus.
»Vermutlich alkoholisierter Mann mit Kopfverletzung«, sagte Lena zwischen zwei Atemzügen. »Ohne Puls und Atmung. Die Gesichtsfarbe könnte auch von einem Feuermal herrühren.«
»Wie lange reanimieren Sie schon?« Der Notarzt war eine Frau. Lena kannte Frau Dr. Gehrke von der Notaufnahme des Helios Klinikums, in dem sie arbeitete.
»Zehn, vielleicht fünfzehn Minuten.« Florian stand auf und machte den Sanitätern Platz.
»Sie sind Krankenschwester, richtig?«, fragte die Ärztin.
»Ja. Pädiatrie.«
Dr. Gehrke riss Mantel und Hemd des Mannes auf, steckte sich das Stethoskop in die Ohren und hielt es an den Brustkorb und auf den Bauch des Mannes, schüttelte den Kopf. Ein Sanitäter nestelte an einem Koffer mit einem tragbaren EKG herum, nahm Elektroden heraus und klebte sie auf die entblößte Brust des Mannes, während die Notärztin ihn mit geübten Handgriffen intubierte.
»Hatten Sie eine Reaktion, als Sie kamen? Einen Puls? Reflexe? Irgendwas?«
Florian schüttelte den Kopf, Lena sagte nichts. Der Mann durfte nicht tot sein. Das ging nicht!
»Hier.« Einer der Sanitäter reichte der Ärztin einen Streifen Papier, den das EKG ausgespuckt hatte.
»Nichts, Nulllinie. Maßnahmen abbrechen.« Sie schaute Lena und Florian an, und in ihrem Gesicht lag ehrliches Bedauern. »Tut mir leid. Sie haben vergeblich gekämpft, der Mann ist tot.«
»Oh.« Lena hatte das Gefühl, als bewegte sich der schlammige Boden unter ihren Schuhen. Irgendwie rutschte er in Richtung Schlei ab. Sie verlor das Gleichgewicht und landete auf ihrem Hintern, noch bevor Florian sie auffangen konnte. »Was ...« Ihr Mund war trocken, ihre Kehle wie zugeschnürt.
»Er sieht aus, als hätte er einen Schlag auf den Kopf bekommen. Wir verständigen die Polizei. Das ist ein Fall für die Rechtsmedizin.« Frau Dr. Gehrke hängte sich ihr Stethoskop um den Hals, der Koffer mit dem tragbaren EKG schnappte zu. »Wie sieht es mit Ihrem Impfstatus aus? Hepatitis? Covid?«
»Alles in Ordnung.« Lena antwortete mechanisch, ohne genau zu wissen, warum die Notärztin danach fragte. Was hatte das jetzt für eine Relevanz? »Gerade im Oktober aufgefrischt.«
»Und was ist mit Ihnen?«
»Wie bei Lena. Ich arbeite in den Schleswiger Werkstätten. Unsere Standards sind vergleichbar mit denen in Krankenhäusern.«
»Sehr gut. Dennoch sollten sie sich zur Sicherheit testen lassen, am besten auch auf HIV. Sie beide. Man weiß bei Obdachlosen nie, welche Krankheiten die mit sich herumschleppen. Und immerhin haben Sie den Mann beatmet. Sprechen Sie am besten die Polizisten darauf an, ob Sie dafür nach Kiel ins Rechtsmedizinische Institut fahren sollen.«
»Machen wir.«
Lena nickte stumm, dann begannen ihre Tränen zu fließen.
Ein Leichenfund im Stadtpark Königswiesen am Neujahrsmorgen – bitterer konnte ein neues Jahr wohl kaum beginnen.
Katja Greve taten die beiden Spaziergänger leid, die, ohne Böses zu ahnen, beim Spazierengehen den Toten gefunden hatten. Sie saßen vor ihr auf der Parkbank, fest umschlungen, wirkten verstört, erschüttert, durcheinandergewirbelt und obendrein unglaublich jung.
Mit ihren fünfundzwanzig und sechsundzwanzig Jahren waren sie wahrlich keine Kinder mehr. Sie waren zwei mitten im Leben stehende Menschen, engagiert und offen, ein Paar, das zusammenwohnte. Er, Florian Gabler, war Sozialpädagoge und Betreuer in den Schleswiger Werkstätten. Sie, Lena Ohland, arbeitete als Kinderkrankenschwester im Helios Klinikum.
Beide hatten dezente Gesichtspiercings, ihre Kleidung war bunt, vermutlich fair produziert und plastikfrei und stammte aus keinem der üblichen Filialen für Massenkonfektion, sondern eher aus alternativen Läden und Märkten, vielleicht war sie sogar selbst genäht.
Katja stellte sich vor, dass die beiden vegan lebten, nur kauften, was sie unbedingt brauchten, und dabei auf Nachhaltigkeit achteten, Gemüse und Kräuter auf dem Balkon anbauten, regelmäßig meditierten und Yoga übten.
Der Hund zwischen ihren Knien – der Grund, weshalb sie heute früh um acht Uhr im Stadtpark an den Königswiesen unterwegs gewesen waren – war ein Traum: ein schwarz-weißer Border Collie mit einem Fell und einem Körper wie aus einer Werbung für Hundefutter und obendrein ausgezeichnet erzogen. Er schien Katjas Parson-Russell-Hündin Luzie ebenso interessant zu finden wie sie ihn. Dennoch saßen die beiden Hunde einander gegenüber und warteten geduldig darauf, dass die Menschen endlich auch ihnen Aufmerksamkeit widmeten und sie die Erlaubnis erhielten, einander zu begrüßen.
»Sie kamen also von der Töpferstraße und am Hotel Alter Kreisbahnhof vorbei zur Wiese?« Die beiden nickten. »Ist Ihnen auf dem Weg jemand entgegengekommen? Haben Sie etwas gehört? Stimmen oder Motorengeräusche, irgendetwas? Oder haben Sie etwas gesehen, vielleicht von Weitem?«
Lena Ohland schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht. Dann starrte sie wieder auf ihre Hände, die sie mit den Handflächen nach oben hielt, als fragte sie sich, ob sie zu ihr gehörten. Ihre Fingerkuppen waren schwarz eingefärbt.
»Nein. Da war nichts. Nur die Möwen. Und ...« Sie schluchzte auf und presste den Kopf gegen die Schulter ihres Freundes.
»Da war wirklich nichts«, stimmte Florian Gabler zu. »Jedenfalls nichts, woran ich mich jetzt erinnere. Es war einfach nur still und friedlich. Nach dieser bekloppten, völlig sinnlosen Böllerei in der Nacht waren wir froh, dass wir Spencer laufen lassen konnten.« Der Hund hörte seinen Namen, hob den Kopf und wurde mit einem Kraulen hinter den Ohren belohnt. »Wir sind den Weg zum Pavillon gegangen, und dann ... dann lag er da.«
Wie auf Kommando schauten sie alle drei zu den Sträuchern, etwa zwanzig Meter vom Pavillon entfernt, wo der diensthabende Rechtsmediziner neben dem Toten kniete und die Kollegen der Spurensicherung im Gebüsch rund um die Fundstelle ihre Arbeit machten. Männer und Frauen in weißen Schutzanzügen bückten sich, sammelten Gegenstände auf und verstauten sie in durchsichtigen Tüten, maßen irgendwelche Distanzen und stellten kleine Schilder mit Nummern auf den Boden.
»Das Ganze kommt mir vor wie ein Film«, sagte Florian Gabler. »Vom Sofa aus mit einer Schüssel Knabberzeug auf dem Schoß mag das ja ganz spannend sein. Aber in Wirklichkeit? Wie können Sie nur jeden Tag diese Arbeit machen?«
Manchmal frage ich mich das auch, dachte Katja und wünschte sich ihren Kollegen Daniel Kowalski an die Seite. Er hätte bestimmt eine ehrliche und trotzdem tröstende Antwort gehabt. Wo blieb er nur? Die Kollegen hatten ihn zur gleichen Zeit wie sie angerufen. Er hätte schon längst vor Ort sein müssen.
»Haben Sie vor, in den nächsten Tagen und Wochen zu verreisen?«
Beide schüttelten den Kopf. »Wir haben erst im März Urlaub. Warum?«
»Es kann sein, dass wir weitere Fragen haben und deshalb wieder auf Sie zukommen. Aber wir haben ja Ihre Adresse und Telefonnummern. Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, ganz egal, wie unbedeutend es Ihnen vorkommt, melden Sie sich bitte bei uns.« Katja zog das silberfarbene Etui aus der Tasche der Jacke, in dem sie beim Joggen unter anderem ihre Ausweise aufbewahrte, und reichte den beiden jungen Leuten ihre Visitenkarte. »Sie dürfen mich gern anrufen, ohne Rücksicht auf die Uhrzeit. Kann ich noch irgendetwas für Sie tun? Brauchen Sie die Adresse eines Seelsorgers oder Psychologen?«
Wieder schüttelten beide den Kopf.
»Ich werde mich an meine psychologischen Kollegen bei den Werkstätten wenden«, sagte Florian Gabler. »Das geht schneller und unbürokratischer, als auf einen Termin in irgendeiner Praxis warten zu müssen. Die haben garantiert auch Zeit für Lena.«
»In Ordnung. Sonst melden Sie sich bitte, ja?«
»Machen wir.«
Katja nickte ihnen zu und ging mit Luzie zu der Fundstelle, die von rot-weißem Absperrband markiert wurde. Dort wartete sie auf ihren Einsatz und auf Daniel. Erneut setzte Nieselregen ein. Die weißen Overalls der Kollegen leuchteten vor dem graubraunen Hintergrund der winterlich kahlen Sträucher und machten diesen schmuddeligen, trostlosen Morgen um nichts besser.
Gabler hatte recht. Was sie vor sich sah, war eine Szene wie aus einem Film. Und zwar aus einem dieser bösen, bitteren Streifen, die nicht unbedingt durch die dargestellte Gewalt im Gedächtnis blieben, sondern weil sie keinen Platz für Hoffnung ließen. Nicht einmal einen Zentimeter.
Katja zog sich die Kapuze über den Kopf. Sie fröstelte.
»Guten Morgen.«
Sie brauchte eine Sekunde, um die kratzige Stimme in ihrem Rücken zu identifizieren. »Daniel! Ich habe dich schon vermisst. Was hat dich denn aufgehalten?«
»Frag mich, wenn ich wach bin.« Er rang sich ein müdes schiefes Lächeln ab und umarmte sie. »Gesegnetes neues Jahr – trotz Einsatz heute.« Dann nahm er sich die Zeit, Luzie zu begrüßen. Die Hündin wedelte begeistert mit dem Schwanz und ließ sich von ihm den Kopf kraulen. »Ihr zwei wart schon joggen?«, wollte er mit einem Blick auf Katjas Sportkleidung wissen.
»Der Anruf hat mich im Schlosspark erwischt. Luzie und ich sind gleich hergekommen.«
»Was ist mit den beiden da auf der Bank? Sind das unsere Verdächtigen?«
»Nein.« Katja schüttelte den Kopf. »Sie haben den Toten auf dem Bauch liegend im Gebüsch gefunden. Sie dachten, dass der Mann noch lebt, und haben versucht, ihn zu reanimieren. Die herbeigerufene Notärztin hat ihn dann für tot erklärt. Zur Abgrenzung hat die Spurensicherung die Fingerabdrücke und eine DNA-Probe von beiden genommen.«
»Verstehe.« Daniels Kiefergelenk knackte beim Gähnen. »Entschuldige bitte. Wir waren erst um halb sechs zu Hause. Ich habe das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, als der Anruf kam.« Er rieb sich das Gesicht. »Bringst du mich auf den Stand? Was habe ich verpasst?«
»Nicht viel, ich weiß bisher auch kaum etwas«, sagte Katja. »Es ist ein Mann; wie es aussieht, hat er eine Kopfverletzung. Florian Gabler und Lena Ohland waren mit ihrem Hund unterwegs zu den Königswiesen. Dabei haben sie ihn gefunden. Die beiden wissen, wie man eine Reanimation durchführt, aber genutzt hat es nichts. Wahrscheinlich war der Mann zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Gabler und Ohland haben die Körpertemperatur und die Verfärbung des Gesichts nicht als sichere Todeszeichen gedeutet. Die Notärztin hat dann kurz nach ihrem Eintreffen die Polizei verständigt.«
»Ist den beiden sonst noch etwas aufgefallen?«
»Nichts, woran sie sich jetzt erinnern. Sie sind völlig durch den Wind. Aber ich wette, dass sie sich melden, falls ihnen doch noch etwas einfällt.«
»Dann machen sie einen zuverlässigen Eindruck?«
»Unbedingt.«
»Sehr gut.« Daniel gähnte wieder.
Sie standen Schulter an Schulter auf der äußeren Seite des Absperrbandes und schauten dem Rechtsmediziner bei seiner Arbeit zu. Das Gesicht des Toten war schlammverkrustet und deshalb kaum zu erkennen, die Arme lagen seltsam nach hinten gedreht neben dem Körper. Der dunkle, am ehesten wohl blaue Mantel wirkte ramponiert und schmutzig, die Säume aufgescheuert und eingerissen. Die Nähte der dunkelbraunen Lederschuhe waren aufgeplatzt, die Absätze schief und bis über den Gummikeil hinaus abgelaufen, die Sohlen löchrig.
»Helfen Sie mir bitte, den Toten umzudrehen?« Der Rechtsmediziner sprach mit einem Kollegen der Spurensicherung. Gemeinsam legten sie den Mann auf den Bauch, und Katja war froh zu sehen, wie behutsam sie dabei vorgingen. Natürlich hätte der Tote es nicht gemerkt, wenn man an ihm herumgezerrt oder ihn gar geworfen hätte. Aber so blieb er wenigstens ein Mensch – selbst tot im Schlamm liegend.
Nach dem Umdrehen wurde deutlich sichtbar, weshalb die Reanimationsversuche von Lena Ohland und Florian Gabler vergeblich gewesen waren: Der Hinterkopf war formlos und eingedrückt, das Haar klebte blutverkrustet daran fest, und selbst Katja konnte erkennen, dass es sich bei manchen der helleren Partikel im Haar um Knochensplitter handeln musste.
Da hatte offenbar jemand kräftig zugeschlagen und den Mann an Ort und Stelle liegen gelassen wie die herausgefallene Prospektbeilage der Tageszeitung.
»Der Täter hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Leiche zu verstecken«, sagte Daniel und bewies einmal mehr, dass sie trotz vieler Unterschiede ähnlich dachten. »Als wären ihm der Mann und die Tat völlig egal.«
»Ja.« Katja hockte sich auf den Boden und streichelte Luzie den Kopf. Die Hündin schmiegte sich an ihr Bein, als wollte sie Katja trösten oder wärmen. Tiere hatten ein feines Gespür dafür, was ihr Mensch gerade brauchte. »Ein Obdachloser?«
»Denke ich auch. Wer weiß, vielleicht kennt ihn sogar einer der Kollegen.«
»Wenn er schon längere Zeit in Schleswig ist, bestimmt«, sagte Katja. »Allerdings hatten wir in den letzten Monaten regen Zulauf in der Region. Schlepper karren die Leute aus allen Himmelsrichtungen zu uns mit dem Versprechen von Arbeit und einem besseren Leben. Wenn es dann mit dem Job nicht klappt oder der beendet ist, bleiben sie sich oft selbst überlassen. Und wo sollen sie denn hin, wenn selbst reguläre Arbeitnehmer Schwierigkeiten haben, bezahlbaren Wohnraum zu finden? Die Obdachlosenunterkünfte sind hoffnungslos überfüllt.«
»Ich weiß nicht«, widersprach Daniel. »Dem Zustand der Kleidung nach zu urteilen, lebt er nicht erst seit Kurzem auf der Straße.«
»Wichtiger Punkt, wahrscheinlich hast du recht.« Katja erhob sich und schüttelte den Kopf. »Was für eine beschissene Art, das neue Jahr zu beginnen.«
»Ich glaube, ich kenne ihn.« Nils Brenner, einer der diensthabenden Kollegen der Schutzpolizei, nahm seine Dienstmütze ab und fuhr sich durch das Haar. »Ich denke, es ist der Fritz. Der Nachname fällt mir gerade nicht ein.«
Katja runzelte verwundert die Stirn.
»Wie kannst du ihn erkennen? Sein Gesicht ist unter dem Schlamm kaum zu sehen.«
»Es ist nicht sein Gesicht, sondern der Mantel. Außerdem hat die Spurensicherung einen Hut gefunden. Das muss der Fritz sein.«
»Ein Stammgast in der Polizeiinspektion?«, erkundigte sich Daniel.
»Etwa einmal im Monat kassieren wir ihn irgendwo in der Innenstadt ein. Meistens wegen Pöbeleien auf der Straße oder Rangeleien mit anderen Obdachlosen, manchmal sind es auch kleinere Diebstähle – eine Flasche Korn im Supermarkt oder so. Wenn er mehr getrunken hat als nur so viel, um den notwendigen Spiegel zu halten, ist er reizbar, aggressiv und kann sogar handgreiflich werden. Aber im Grunde ist er ein harmloser Kerl.« Er räusperte sich. »Er war harmlos, sollte ich wohl eher sagen.«
»Wer war dieser Fritz? Wo kam er her? Hatte er Familie?«
»Keine Ahnung. Er war einer von den Berbern hier in Schleswig, mit denen wir immer wieder zu tun haben, seit vielen Jahren schon. Mehr weiß ich auch nicht. Euer Rudi kannte ihn wohl etwas besser.«
»Rudi?« Katja hob eine Augenbraue. »Du meinst Rudi Steinhaus?«
»Ja. Wir haben ihn immer dazugerufen, wenn der Fritz mal wieder bei uns auf der Wache war. Rudi hat mit ihm geredet, und der Fritz hat sich dann meistens ganz schnell wieder beruhigt und eine Nacht in einer unserer Zellen verbracht. Am nächsten Morgen ist er dann weitergezogen.«
»Wenn es also tatsächlich dieser Fritz ist, werden wir seine Fingerabdrücke im System finden?«
»Auf jeden Fall.«
»Danke für den Hinweis, Nils«, sagte Katja.
Der Rechtsmediziner packte seine Gerätschaften wieder in den Koffer, erhob sich und kam auf sie zu.
»Moin, wir kennen uns noch nicht.« Er warf seine Latexhandschuhe in einen Müllbeutel und streckte ihnen seine Hand entgegen. »Christian Salisu, mein erster Tag in der Rechtsmedizin in Kiel. Eigentlich komme ich aus Hamburg, aber ich vertrete Laura Rohloff, solange sie in Washington hospitiert.«
»Freut mich.« Daniel schüttelte ihm die Hand und stellte sie beide vor.
»Und wer ist das?« Der Rechtsmediziner beugte sich zu Luzie hinab und hielt ihr seine Hand hin.
»Das ist Luzie«, erwiderte Katja und gab der Hündin ein Zeichen, dass sie die Begrüßung erwidern durfte. »Mitarbeiterin in der Ausbildung.«
»Sehr erfreut, Luzie.« Dr. Salisu ging in die Hocke und ließ sich die Hand lecken.
»Da haben Sie aber keinen guten Start erwischt«, sagte Daniel. »Gleich am ersten Tag eine Leiche im Park.«
Dr. Salisu zuckte mit den Schultern und kraulte Luzie den Kopf. »Wenn wir danach gehen, wären wir alle wohl besser Gärtner geworden.«
»Auch wieder wahr«, gab Daniel zu. »Können Sie uns schon ein bisschen über den Toten erzählen?«
»Etwa so viel.« Der Rechtsmediziner zeigte, was er meinte – zwischen Daumen und Zeigefinger war kaum der Spalt sichtbar. »Was ich Ihnen jetzt sage, sind nur flüchtige erste Eindrücke. Das müssen wir alles noch genau untersuchen, wenn der Mann auf dem Tisch liegt. Vorsichtig geschätzt trat der Tod vor drei bis acht Stunden ein. Die Totenflecken sind noch nicht vollständig ausgeprägt, die Totenstarre ist an Augenlidern und Kaumuskulatur bereits vorhanden, an den kleinen Gelenken noch nicht, da beginnt sie gerade erst. Sie könnte aber auch durch den Reanimationsversuch gebrochen worden sein.«
»Haben Sie schon eine Idee zur Todesursache?«
»Das Hinterhaupt ist großflächig verformt, so wie es bei oberflächlicher Betrachtung aussieht, durch stumpfe Gewalteinwirkung. Der Auffindesituation nach zu urteilen, fehlten beim Sturz jegliche Abwehrreaktionen. Um es salopp zu formulieren: Der Mann ist gefallen wie ein Baum. Ob die Schädelverletzung unmittelbar zum Tod geführt hat oder er nur bewusstlos war und schließlich im Schlamm erstickt ist, werden wir bei der Obduktion herausfinden.«
»Meinen Sie, es war ein Schlag auf den Kopf? Oder ist es auch möglich, dass er gestürzt und dabei mit dem Hinterkopf irgendwo aufgeschlagen ist?«, fragte Daniel. »Einfach nur Ihre Einschätzung, aus dem Bauch heraus.«
Dr. Salisu legte die Stirn in Falten. »Theoretisch wäre ein Sturz durchaus denkbar. Er könnte hingefallen sein, sich wieder aufgerappelt haben und später erst das Bewusstsein verloren haben. Doch wenn Sie fragen, was ich glaube, dann sage ich Ihnen, dass da jemand kräftig zugeschlagen hat. Aber diese Information nur unter äußerstem Vorbehalt. Wie es wirklich war, können wir erst nach der Obduktion sagen.«
»Wenn es denn ein Schlag war: Haben Sie eine Vorstellung von der Tatwaffe?«
»Vielleicht war es ein Knüppel oder etwas Vergleichbares. Ich meine, die Spurensicherung hat hier irgendwo ein Stück Holz mit Blutspuren daran gefunden. Aber ich würde lieber die Obduktion und die Röntgenbilder abwarten, bevor ich mich festlege. Der erste Eindruck kann ziemlich täuschen. Sie sind dann auf einer falschen Fährte, und ich bin dafür verantwortlich.«
»Verständlich«, erwiderte Katja. »Wann können wir mit den ersten Ergebnissen rechnen?«
»Im Laufe des Nachmittags, spätestens aber heute Abend, sofern nichts dazwischenkommt. Durch die Feiertage und Schulferien sind wir in Notbesetzung.«
»Klar. Danke.«
»Gerne. Ich melde mich, sobald wir mehr haben.« Christian Salisu verabschiedete sich und winkte zwei Männern in dunklen Mänteln zu, die mit einem Zinksarg bereitstanden. »Ich bin hier fertig, Sie können ihn nach Kiel bringen.« Dann eilte er davon.
Sie schauten zu, wie die beiden Bestatter den Toten in einen Leichensack und dann in den Sarg legten. Der Deckel wurde geschlossen, die Schlösser schnappten zu.
»Fertig«, sagte einer der beiden und verabschiedete sich.
Katja fröstelte.
»Fertig. Das wäre ich auch gern«, murrte einer der Kollegen der Spurensicherung unwirsch. »Die Herrschaften von der Rechtsmedizin müssen sich ja nur um die Leiche kümmern. Wir hingegen ...«
»Sind viele Spuren zu sichern?«
Der Mann richtete sich auf und starrte Daniel in einer Mischung aus Empörung und Verachtung an. »Machen Sie Witze? Das ist ein Park, vor wenigen Stunden war Jahreswechsel. Hier sind auch an ruhigen Tagen viele Leute mit ihren Gören und Kötern unterwegs. Heute Nacht haben die alle hier gefeiert.« Er bückte sich wieder und steckte einen Kronkorken in einen Plastikbeutel. »Hätte ich auch gern getan. Gefeiert. Aber nein, ich habe natürlich Dienst.«
Katja und Daniel tauschten einen Blick.
»Können Sie uns schon irgendwas sagen?«, fragte Daniel, höflich und freundlich wie immer. »Eine klitzekleine Erkenntnis, Herr ...?« Er bekam keine Antwort. »Ein Detail, an dem Sie uns bereits teilhaben lassen können?«
»Sehen Sie sich um. Hier sind jede Menge Kronkorken, Zigarettenkippen, Papiertaschentücher und Scheißhaufen. Meinen Sie das?«
»Nicht ganz«, sagte Daniel.
»Nun gut, dann eben mehr. Da war ein toter Penner. Irgendwer hat den Kerl erschlagen und ...« Der Mann schwieg, die zornige Falte zwischen seinen Augen vertiefte sich, und er bückte sich wieder.
»Und was?«
»Nichts. Lassen Sie mich meine Arbeit machen, sonst sammele ich hier morgen noch Kippen ein.«
»Wolfgang. Alles okay?«
»Klar. War niemals besser.«
Martin Pohlmann, der Leiter des Teams der Spurensicherung, kam zu ihnen. Katja mochte ihn sehr, und sie kannte keinen Kollegen, der es nicht bedauerte, dass Pohlmann im April in den Ruhestand gehen würde. Doch selten hatte sie sich so gefreut, ihn zu sehen, wie an diesem Morgen.
»Was ist dem denn über die Leber gelaufen?«, platzte Katja heraus. »Oder hat der noch einen Kater von der Silvesterfeier?«
»Wolfgang Förster?« Pohlmann verzog das Gesicht. »Nein, der ist meistens so. Vor allem, wenn er draußen arbeiten muss, und an Wochenenden oder nachts ist es besonders schlimm. Er ist bestimmt keiner von denen, die ich im Ruhestand vermissen werde. Aber es gibt Kollegen, die ihn mögen.«
»Tatsächlich?« Daniel hob eine Augenbraue. »Kann ich mir nur schwer vorstellen.«
»Hast du schon Informationen für uns, Martin?«, fragte Katja. »Irgendetwas, mit dem wir arbeiten können?«
»Tut mir leid, viel ist es noch nicht, dafür ist die Zahl der möglichen Spuren zu groß. So wie es aussieht, haben heute Nacht mindestens zehn Personen direkt am Fundort gefeiert. Doch möglicherweise haben wir die Tatwaffe sicherstellen können. An einem Zaunpfahl haben wir Blut und Haare nachgewiesen. Ob Blutgruppe und DNA mit denen des Toten übereinstimmen, werden wir natürlich noch klären müssen.«
»Was ist mit der Identität des Toten? Hatte er einen Ausweis bei sich?«
»Nein, nichts. Kein Portemonnaie, keinen Ausweis. Die Taschen waren bis auf ein Zehn-Cent-Stück leer.«
»Schade.«
»Wäre schön gewesen, nicht wahr?« Martin Pohlmann lächelte und schüttelte bedauernd den Kopf.
»Der Kollege Nils Brenner meinte, es könnte sich um einen Fritz Sowieso handeln, einen polizeibekannten Obdachlosen.«
»Dann bringen die Fingerabdrücke vielleicht einen Treffer. Tut mir leid, dass ich euch nicht mehr sagen kann!«
»Danke, Martin.« Daniel reichte ihm die Hand. »Und trotz allem, ein gutes neues Jahr!«
Martin Pohlmann setzte seine Maske wieder auf und ging zu den anderen.
Katja drehte sich um die eigne Achse. Von hier aus sah man die Wohnhäuser, die direkt an den Park grenzten – moderne Kästen aus Glas und Beton, die erst vor wenigen Jahren errichtet worden waren. Mehrfamilienhäuser, deren Balkone und Terrassen zum Teil direkt zum Park zeigten. Ideale Beobachtungsposten für alles, was im Grünbereich geschah. Also waren auch alle Bewohner potenzielle Zeugen.
»Vielleicht hat von den Anwohnern jemand etwas gehört oder gesehen.« Sie seufzte. »Am besten, wir bringen die Befragungen gleich hinter uns, bevor die Erinnerung verfälscht wird oder die Leute sich absprechen.«