Küstenmord: Spur ins Dunkel - Eva Jensen - E-Book

Küstenmord: Spur ins Dunkel E-Book

Eva Jensen

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Beschreibung

Sie ist verschwunden. Ohne ein Wort. Ohne eine Spur.

Vanessa Meier war immer zuverlässig. Doch eines Abends taucht sie nicht zu einer Verabredung mit ihrer besten Freundin Luisa auf. Kein Anruf, keine Nachricht. Luisa alarmiert die Polizei. Kommissarin Katja Greve und ihr Kollege Daniel Kowalski wittern, dass hier mehr dahintersteckt - in Vanessas Wohnung sprechen die vertrockneten Pflanzen und der überquellende Briefkasten eine unheilvolle Sprache. Während sie Nachbarn und Freunde befragen und sich durch ein Netz aus Hinweisen graben, kämpft Vanessa in einem dunklen Raum ums Überleben. Ein unheimlicher Fremder stellt ihr Fragen, die harmlos scheinen, aber immer näher an ihre Grenzen führen ...

Sehr norddeutsch und hochspannend - die neue Küstenkrimi-Reihe von Eva Jensen!

Die Kommissare Katja Greve und Daniel Kowalski ermitteln an der Schlei: Daniel ist korrekt, ruhig und methodisch, nicht ohne Humor, dafür aber mit Rosenkranz am Rückspiegel. Katja hingegen impulsiv, unkonventionell, energiegeladen. Doch zusammen sind sie ein richtig gutes Team. Und das ist auch nötig, denn an der idyllischen Ostküste Schleswig-Holsteins wirft das Verbrechen dunkle Schatten ...

Küstenmord - alle Titel in der richtigen Reihenfolge:

1. Das letzte Lied

2. Kein Wort zu viel

3. Einsames Begräbnis

4. Die unsichtbaren Toten

5. Spur ins Dunkel

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 384

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Zitat

Mittwoch, 21. August

1

Montag, 07. Oktober

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Dienstag, 08. Oktober

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Samstag, 12. Oktober

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Sonntag, 13. Oktober

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Montag, 14. Oktober

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Dienstag, 15. Oktober

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Mittwoch, 16. Oktober

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Donnerstag, 17. Oktober

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Sonntag, 10. November

1

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Sie ist verschwunden. Ohne ein Wort. Ohne eine Spur.

Vanessa Meier war immer zuverlässig. Doch eines Abends taucht sie nicht zu einer Verabredung mit ihrer besten Freundin Luisa auf. Kein Anruf, keine Nachricht. Luisa alarmiert die Polizei. Kommissarin Katja Greve und ihr Kollege Daniel Kowalski wittern, dass hier mehr dahintersteckt – in Vanessas Wohnung sprechen die vertrockneten Pflanzen und der überquellende Briefkasten eine unheilvolle Sprache. Während sie Nachbarn und Freunde befragen und sich durch ein Netz aus Hinweisen graben, kämpft Vanessa in einem dunklen Raum ums Überleben. Ein unheimlicher Fremder stellt ihr Fragen, die harmlos scheinen, aber immer näher an ihre Grenzen führen ...

Eva Jensen

Küstenmord

Spur ins Dunkel

Krimialroman

Das Böse triumphiert allein dadurch, dass gute Menschen nichts unternehmen.

(Edmund Burke zugeschrieben)

Mittwoch, 21. August

1

Sie erwachte in völliger Dunkelheit, die Glieder waren schwer, fast taub, der Kopf tat weh. Ein drückender, pochender Schmerz, als ob etwas von innen gegen die Schädeldecke hämmerte und drängte, hinauswollte wie durch eine verschlossene Tür.

Was ist passiert?

Dumpf erinnerte sie sich, zum Joggen gefahren zu sein. War sie beim Laufen unglücklich über eine Baumwurzel gestürzt und hatte sich verletzt? Oder war es ein geplatztes Blutgefäß im Kopf, wie bei dem Bruder ihrer Mutter? Der war auf der Straße umgefallen, ohne Vorwarnung, einfach so, und ein paar Tage später auf der Intensivstation an den Folgen der Hirnblutung gestorben. Vierzig war er da gewesen. Sie war zwar etliche Jahre jünger, doch vielleicht war ihr trotzdem das Gleiche passiert? Ein Blutgefäß war explodiert, sie hatte das Bewusstsein verloren, jemand hatte sie gefunden und ins Krankenhaus gebracht.

Wenn ich mich doch nur erinnern könnte!

Sie sah sich selbst die Tür ihres Wagens öffnen, kurz hatte sie ihre Schuhe im Blickfeld. Sie trug ihre Laufschuhe, also war sie auf dem Weg zum Joggen. Die Sonne schien, und es war weder zu warm noch zu kalt. Ideale Bedingungen. Sie freute sich auf die Bewegung. Sie hob den Kopf und dann die Hand, um jemandem zuzuwinken. Wem sie winkte, ob sie etwas sagte, ob sie tatsächlich in den Wagen stieg oder sich doch noch anders entschied, wusste sie nicht. Da war nichts. Keine Erinnerung. Nur Nebel. Oder Beton. Wie eine Wand.

War sie direkt an ihrem Auto und noch vor dem Joggen zusammengebrochen? Warum erinnerte sie sich bloß an nichts?

Dummerchen, das gehört doch zu einer Kopfverletzung dazu. Amnestie ... Nein, das hat etwas mit Gefängnis und dem Staat zu tun. Amnesie. Das ist das richtige Wort.

Amnesie ...

Es war ja wohl verständlich, dass man sich mit einer Gehirnerschütterung oder so nicht mehr an alles erinnerte, was kurz vorher passiert war. Doch wieso war es dann jetzt, genau in diesem Moment, so dunkel um sie herum? Warum konnte sie nichts sehen? Gar nichts? Nicht einmal Schemen oder den kleinsten Lichtschimmer? Sie war doch wach! Oder bildete sie es sich nur ein? Träumte sie? Oder ...

Du gehst von einer Kopfverletzung aus. Schon vergessen? Möglich, dass nicht nur dein Gedächtnis gelöscht ist, sondern dass du auch noch blind bist. Vielleicht drückt ein Blutgerinnsel auf den Sehnerv. Das ist gar nicht so selten, hast du mal irgendwo gelesen. Vielleicht hast du Glück, und das ist nur vorübergehend, vielleicht aber auch nicht.

Und warum war es so still? Wenn sie nach einer schweren Verletzung im Krankenhaus lag – und zweifellos gehörten Krankheiten und Unfälle rund um Schädel und Gehirn zu den Gründen, weshalb man in ein Krankenhaus eingeliefert wurde –, warum hörte sie dann nichts? Da waren weder das Piepen irgendwelcher Überwachungsmonitore noch die Geräusche von Schritten oder Stimmen auf einem Gang oder in ihrem Zimmer. Kein Klappern von Gerätschaften oder Geschirrwagen oder was sonst noch zu einem Krankenhaus gehörte.

Sie lauschte angestrengt, doch da war nichts. Gar nichts. Nur Dunkelheit und Stille. Für eine kurze, entsetzliche Zeit fürchtete sie, neben ihrem Augenlicht auch noch das Gehör verloren zu haben. Dann aber erkannte sie, dass sie hören konnte – ihre eigenen, viel zu schnellen Atemzüge, ihr leises Stöhnen und Keuchen, ihr Herz, das irgendwo zwischen Hals und Ohren den Beat für einen Heavy-Metal-Song schlug.

Was war passiert? Wo war sie?

Denk nach! Denk nach! Denk nach!

Wenn man mit Kopfverletzungen im Krankenhaus lag, gab es Verbände um Kopf und Gliedmaßen, einen Schlauch in der Vene, Elektroden auf der Brust und an der Stirn, vielleicht sogar einen Schlauch im Hals, über den man beatmet wurde. So war es jedenfalls in den Serien, die sie sich gerne ansah, und so war es auch bei ihrem Onkel gewesen, den sie gemeinsam mit ihrer Mutter auf der Intensivstation besucht hatte.

Ob das auf sie zutraf, war leicht herauszufinden. Ihre Zunge konnte sie frei im Mund bewegen – sie fühlte ihre Zähne, ihren Gaumen, ihre Lippen. Ihr Mund war trocken, ihre Lippen spröde, und sie hatte Durst, doch das war normal so direkt nach dem Aufwachen. Kein Schlauch. Jetzt musste sie sich nur abtasten, ein Klacks sozusagen. Wenn da nicht die Angst vor der Wahrheit gewesen wäre.

Ihr Herzschlag legte noch mal an Geschwindigkeit zu, in ihren Ohren rauschte es.

Los, mach schon, trau dich. Hier zu liegen und zu grübeln bringt gar nichts!

Also nahm sie ihren Mut zusammen, hob ihre rechte Hand ... und machte eine seltsame Entdeckung. Sie kam nicht weit. Nicht etwa, weil sie zusätzlich zu ihrem übrigen Glück auch noch gelähmt war, sondern weil ihr Arm zurückgehalten wurde. Sehr deutlich spürte sie, dass etwas um ihr Handgelenk geschlungen war, und es war dieses Ding, das sie daran hinderte, den Arm anzuheben und ihren Kopf abzutasten. Es fühlte sich hart, kalt und metallisch an, es fühlte sich an wie ...

Eine Kette!, schoss es ihr durch den Kopf, und es klirrte metallisch beim sinnlosen Versuch, sich mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Ich bin angekettet!

Okay, manchmal war es notwendig, Patienten ans Bett zu fesseln. Auch das hatte sie schon im Fernsehen und bei dem Bettnachbarn ihres Onkels gesehen. Der alte Herr hatte sich immer wieder die Schläuche aus den Venen gezogen und versucht aufzustehen, obwohl er das nicht durfte.

Doch soweit sie sich erinnern konnte, hatten die Pfleger und Krankenschwestern Bandagen um seine Handgelenke geschlungen, abgepolstert mit Watte, um ein Durchscheuern zu verhindern. Einen Menschen anzuketten würde sich keine Klinik erlauben. Solche Methoden gehörten ins Mittelalter.

Wo also war sie? Und warum war sie hier gelandet?

Es konnte sich nur um einen dämlichen Scherz handeln. Irgendwer mit einem kranken Humor wollte sie so richtig auf den Arm nehmen und war dabei über das Ziel hinausgeschossen. Oder es war eines dieser blöden, abgefahrenen Spiele, wie ein Escape-Room oder so etwas Ähnliches. Auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, sich mit jemandem zu so etwas verabredet zu haben.

Vielleicht mit einer der Kolleginnen aus dem Büro? Oder mit Thomas? Sie kannte ihn noch nicht lange, erst ein paar Wochen. Sie waren sich beim Joggen mehrfach über den Weg gelaufen, irgendwann ins Gespräch gekommen und dann ein paarmal verabredet gewesen – Essen, Kino, als Nächstes wollten sie gemeinsam ein Open-Air-Konzert hier in der Nähe besuchen. Er war nett. Würde er sie einfach zu so einem Escape-Spiel mitnehmen? Sie konnte sich nämlich nicht vorstellen, dass sie jemals solch einem bekloppten Event zugestimmt hätte.

Jedenfalls war es an der Zeit, dass das hier aufhörte. Sie angekettet im Dunkeln liegen zu lassen war einfach nur krank. Und sie hatte überhaupt keine Lust weiterzuspielen. Definitiv.

Montag, 07. Oktober

1

Vanessa hatte sich noch nie verspätet. Im Gegenteil. Die Vanessa, die sie kannte, ihre beste Freundin seit der ersten Klasse, war grundsätzlich zu früh bei einer Verabredung – mindestens zehn Minuten.

Luisa Hainbusch zog die Schultern hoch und das Halstuch enger. Sie stand am Ende der Schleswiger Fußgängerzone. Vor einiger Zeit war hier das ehemalige Hertie-Gebäude abgerissen worden und einer Rasenfläche mit Bänken und Hochbeeten aus Europaletten gewichen. Gerade in diesem Moment hatte die Sonne eine Lücke in der dichten Wolkendecke gefunden und tauchte die Rasenfläche in ihr Licht, aber den Hang hinunter zog ein unfreundlicher herbstlicher Wind, der Luisa frösteln ließ.

Sie hatte Christ Church erst vor drei Tagen bei einunddreißig Grad und bestem karibischen Wetter verlassen und sehnte sich jetzt nach Winterjacke und Wollschal. Sie hatte sich zwar dem Kalender entsprechend angezogen – immerhin war heute der siebte Oktober –, dabei aber den Temperaturunterschied von beinahe zwanzig Grad zwischen Barbados und Schleswig-Holstein nicht bedacht. Umso unangenehmer, dass sie bereits seit einer halben Stunde auf ihre Freundin wartete.

Wo bleibt Vanessa nur?

Luisa wippte auf ihren Zehen und beobachtete die Menschen, die an ihr vorbeizogen. Ältere Paare, Frauen und Männer mit Einkaufstüten, ein paar Schulkinder, die mit Stäbchen gebratene Nudeln aus Pappboxen aßen, Hundebesitzer. Manche gingen schnell, vielleicht wartete irgendwo jemand auf sie, andere schlenderten gemächlich dahin, weil sie alle Zeit der Welt hatten. Ganz Schleswig schien auf den Beinen zu sein, mit Ausnahme von Vanessa. Von ihr war weit und breit nichts zu sehen.

Zum wiederholten Mal zog Luisa ihr Handy aus der Manteltasche und warf einen Blick auf das Display. Jetzt war es schon Viertel nach zwei, verabredet war sie mit ihrer Freundin um zwei. Sie schaute in ihrer Mailbox nach, aber da war nichts. Keine Textnachricht, kein verpasster Anruf, nichts.

Sie öffnete den WhatsApp-Chat erneut und las noch einmal die Nachricht, die sie Vanessa vor einigen Wochen aus Christ Church geschickt hatte. Vielleicht hatte sie sich beim Datum oder der Uhrzeit vertippt oder den Treffpunkt nicht richtig angegeben? Nein, natürlich nicht, denn da stand es. Am siebten Oktober, also heute. Um zwei Uhr, das war bereits vor einer Viertelstunde gewesen. An ihrem üblichen Treffpunkt. Und der war hier. Hier trafen sie sich immer, wenn sie zusammen ins Kino oder zum Essen gehen wollten oder sich zum Shoppen verabredet hatten, und das seit mindestens zehn Jahren.

Vanessa hatte auf die Nachricht vor sechs oder sieben Wochen prompt geantwortet. Sie freue sich schon darauf, sie endlich wiederzusehen, sie wolle sich extra einen halben Tag freinehmen. Und Luisa solle ihr in einer Tüte eine Portion karibischen Sonnenschein und Meeresrauschen mitbringen.

Hatte Vanessa es doch nicht rechtzeitig aus dem Büro geschafft? Sie arbeitete bei einem Steuerberater. Ihr Chef war ein seltsamer Kerl, der zwar ordentlich zahlte, dafür allerdings uneingeschränkten Einsatz von seinen Mitarbeitern forderte, was meistens spontane Überstunden bedeutete. Vor allem, wenn einer der guten, vermögenden Klienten sich kurzfristig im Büro meldete.

Es war schon öfter vorgekommen, dass Vanessa sich deshalb verspätet hatte. Allerdings hatte sie Luisa bisher immer Bescheid gegeben. Dafür gab es schließlich Handys. Oder war sie krank? Doch selbst dann hätte sie sich bei ihr gemeldet. Vanessa war der zuverlässigste Mensch, den sie kannte.

Und wenn sie so krank ist, dass sie nicht ans Handy gehen kann?, dachte Luisa und kaute auf ihrer Unterlippe. Vor ihren Augen entstand das Bild ihrer Freundin, wie sie reglos und vom Fieber geschüttelt im Bett lag, mit vor Schweiß auf der Stirn klebenden Haaren. Oder hatte sie ihre Verabredung einfach vergessen?

Wieder schaute Luisa auf das Handy, wieder waren fünf Minuten vergangen.

Das kann nicht sein, Vanessa vergisst keinen Termin. Und sie ist auch nicht unpünktlich. Das war sie noch nie!

Jetzt setzte auch noch Nieselregen ein, der Wind wehte ihr die Feuchtigkeit direkt in den Nacken. Luisa klappte ihren Kragen hoch und spannte den Regenschirm auf.

Einen Moment zögerte sie, dann traf sie eine Entscheidung. Sie schrieb Vanessa eine Nachricht und machte sich auf den Weg zur Wohnung ihrer Freundin.

Eine halbe Stunde später stand Luisa vor dem Mehrfamilienhaus und klingelte.

Wartete.

Nichts.

Zum Glück kam eine alte Dame mit einem Dackel heraus. Luisa ergriff die Gelegenheit, huschte ins Haus und lief die Treppen hoch in den zweiten Stock. Vor der Wohnung der Freundin lag ein Päckchen, der Größe und der Form nach zu urteilen, eine Büchersendung. Vanessa war eine Leseratte und bestellte sich oft Bücher auf Online-Plattformen.

Wieder klingelte Luisa, wartete, klopfte. »Vanessa?«

Ein Stockwerk über ihr öffnete sich eine Tür, doch niemand kam die Treppe herunter.

»Vanessa?« Luisa klopfte wieder, schlug schließlich mit der Faust gegen die Tür und legte das Ohr gegen das Holz. Dahinter war alles still. Kein Radio, kein Rascheln, kein Klappern. Nichts, nicht einmal das Stöhnen eines kranken Menschen. Nur das feine Klacken einer Tür, die so unauffällig wie möglich ins Schloss gedrückt wurde. Wahrscheinlich hatte der Lauscher oben genug gehört.

Vanessa war ganz offensichtlich nicht zu Hause.

Langsam stieg Luisa die Treppe hinunter. Was war los? War Vanessa im Urlaub? Hatte sie ihre Verabredung doch vergessen? Das konnte sie sich zwar nicht vorstellen, nicht bei ihrer Freundin, die ein wandelnder Terminkalender war, doch irgendwann war schließlich immer das erste Mal. Oder war sie etwa im Krankenhaus? Hatte sie einen Unfall gehabt?

Luisa zog wieder das Handy aus der Tasche und suchte in den Kontakten nach Vanessas Büronummer. Sie riefen einander eigentlich nicht bei der Arbeit an, das war eine Regel, deren Ausnahme echten Notfällen vorbehalten war. Doch wenn das jetzt kein Notfall war – wann dann?

Es klingelte zwei Mal, bevor sich jemand meldete.

»Steuerberatung Jännings, guten Tag, Sie sprechen mit Michaela Schulz. Was kann ich für Sie tun?«

»Guten Tag, mein Name ist Hainbusch. Ich möchte bitte Vanessa Meier sprechen.«

»Tut mir leid, Frau Hainbusch, Frau Meier arbeitet nicht mehr bei uns.«

»Oh.« Luisa wusste einen Moment nicht, was sie sagen sollte. »Seit wann denn?«

»Seit etwa drei Wochen.«

»Das ist ja ...« Luisa rieb sich die Stirn. »Das kam aber plötzlich, oder? Warum hat sie denn ...«

»Darüber darf ich Ihnen keine Auskunft geben. Bitte haben Sie dafür Verständnis.«

»Ja, natürlich. Ich wollte auch nur ... Können Sie mir denn sagen, wo Frau Meier jetzt arbeitet?«

»Nein. Tut mir leid, Frau Hainbusch.« Die Stimme der Frau wurde kühl. »Hat Frau Meier Sie in steuerlichen Angelegenheiten betreut? Kann ich Ihnen stattdessen weiterhelfen?«

»Nein, danke. Es ist privat. Vielen Dank. Und entschuldigen Sie bitte die Störung.«

Luisa legte auf und runzelte die Stirn. Vanessa war nicht im Büro, sie hatte sogar die Arbeitsstelle gekündigt. Ja, sie mochte Herrn Jännings, ihren Chef, nicht besonders und hatte immer wieder davon gesprochen, dass sie sich verändern wollte. Doch warum so plötzlich? Das sah ihr gar nicht ähnlich. Und warum hatte Vanessa ihr nichts davon erzählt? Wenn sie bereits einen neuen Job hatte, musste sie ihren Wechsel von langer Hand geplant haben. Wenn es aber eine spontane Kündigung gewesen war, wäre Vanessa jetzt vermutlich arbeitslos.

Aber zu Hause war sie offenbar auch nicht. Vielleicht war sie gerade bei einem Vorstellungsgespräch? Doch warum hatte sie sich dann nicht gemeldet, ihre Verabredung abgesagt oder verschoben? Was war da los? Wenn ihr irgendetwas dazwischengekommen wäre, hätte sie ihr Bescheid gesagt. Nie und nimmer hätte Vanessa sie einfach so in der Fußgängerzone stehen lassen. Niemals!

Es sei denn ...

Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten, weshalb Vanessa sie versetzen würde: Entweder lag sie schwer verletzt im Krankenhaus. Oder sie wollte nichts mehr mit ihrem bisherigen Leben zu tun haben – sie, Luisa, eingeschlossen.

Dieser Gedanke versetzte ihr einen Stich. Über ein Jahr lang, seit vergangenem September, war sie auf Barbados gewesen und hatte dort in einem Luxus-Resort als Fitnesstrainerin und Yogalehrerin gearbeitet. Für sie bedeutete dieser Job einen gelebten Traum mit Sonne satt, schneeweißen Stränden, kristallklarem Wasser, Palmen und einem Verdienst, der sich sehen lassen konnte – inklusive großzügigen Trinkgeldern, freier Kost und Unterkunft.

Vanessa hatte ihr irgendwann bei einem Online-Treffen erzählt, dass ein paar aus ihrer alten Clique über ihren Job Witze gerissen hatten, Scherze, die Luisa als verletzend empfunden hatte.

»Mach dir nichts draus, die sind alle nur neidisch«, hatte Vanessa gesagt, »die würden selbst gern dort arbeiten, wo andere ihren Luxus-Urlaub verbringen.« In diesem Moment, hier im Treppenhaus, fragte Luisa sich, ob Vanessa etwa auch zu diesen Neidern gehörte. Aber wieso ausgerechnet sie, ihre beste Freundin?

Luisa war im Erdgeschoss angekommen. Sie hatte schon die Klinke der Eingangstür in der Hand, um das Haus zu verlassen, als ihr Blick auf die Briefkästen fiel: neun silberfarbene Schachteln, die in einer ordentlichen Reihe an der Flurwand hingen. Aus einem von ihnen, dem Briefkasten ganz rechts am Ende der Kette, quoll die Post heraus. Jemand hatte sich der Flut erbarmt und einen Teil davon auf dem Briefkasten gestapelt, doch der Platz reichte offenbar nicht mehr aus. Etliche Briefe lagen auf dem Boden, mehr oder weniger ordentlich an die Wand gelehnt. Auf dem Briefkasten selbst klebte ein Aufkleber der Deutschen Post mit der Aufforderung, den Briefkasten zu leeren. Auf dem kleinen Schild unterhalb des Briefschlitzes stand V. Meier – Vanessas Name.

Luisa bückte sich und hob die Kuverts vom Boden auf. Sie waren an Vanessa adressiert. In Gedanken überschlug sie die Menge der Post, und dachte, dass es ihrer gewissenhaften, ordentlichen Freundin gar nicht ähnlich sah, länger als zwei Tage den Briefkasten nicht zu leeren.

Nachdenklich sammelte Luisa die herumliegenden Briefe ein, steckte sie in ihre Tasche und schrieb Vanessa, dass sie ihre Post mitgenommen hatte. Dann verließ sie das Haus und schaute die Fassade empor zu Vanessas Küchenfenster. Auf der Fensterbank zog die Freundin Küchenkräuter in Tontöpfen. Es waren die üppigsten Exemplare, die Luisa jemals außerhalb einer Gärtnerei gesehen hatte. Doch ebendiese Kräuter ließen jetzt die Köpfe hängen und sahen vertrocknet aus, als wären sie seit längerer Zeit nicht gegossen worden.

Vielleicht war ihre Freundin zu krank, um die Treppe hinunterzulaufen und die Post zu holen. Aber ihre Pflanzen nicht gießen? Nein, das sah Vanessa ganz und gar nicht ähnlich. Nicht einmal ein bisschen.

Schlagartig bekam Luisa Angst. Ihre Angst um die Freundin wurde so groß, dass sie beschloss, keine Minute länger zu warten.

Sie musste etwas unternehmen. Jetzt.

2

Wie lange war sie jetzt schon hier? Vanessa hatte keine Ahnung. Außer dem Bett, an das sie gefesselt war, einem Waschbecken und einer Toilette, an die sie wegen der Handschellen nicht gelangen konnte, war der Raum leer. Es gab keine Uhr, sie hatte kein Handy, kein Radio und auch keine Zeitung, und so fehlte ihr jedes Gefühl für die Zeit. Sie hatte nicht einmal Tageslicht, an dem sie sich hätte orientieren können.

Der Raum mit seinen grau gestrichenen, unverputzten Betonwänden war fensterlos und abgedichtet wie eine Konservendose. Hier drang nichts ein: kein Geräusch, kein Licht, keine Gerüche. Es gab nicht einmal einen winzigen Spalt unter der Tür, nur einen kleinen Lüftungsschacht in einer Ecke knapp unterhalb der Decke: ein schmales Rohr, verschlossen mit einem Drahtgitter, hinter dem sich von Zeit zu Zeit mit leisem Summen die Rotorblätter eines Ventilators drehten. Dahinter war alles schwarz und stumm.

Allerdings wusste sie, dass sie weder blind noch taub war, wenigstens das war ihr erspart geblieben. Sie hatte es recht schnell herausgefunden, als zum ersten Mal das Licht angegangen war. Es war nur eine nackte Glühbirne, die über der Tür an die Wand geschraubt war, doch für sie inzwischen mehr als nur ein Hoffnungsschimmer. Es war ein Zeichen, dass sie lebte und nicht vergessen wurde.

Beim ersten Mal hatte sie geblendet die Augen zugekniffen und gestöhnt vor Schmerzen, die das grelle Licht in ihren Augen verursacht hatte. Sie hatte ziemlich lange gebraucht, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte und sich umschauen konnte, und da war das Licht auch schon wieder erloschen. Doch seitdem schaltete sich das Licht immer wieder ein. Manchmal einfach so, dann brannte es eine Weile und ging wieder aus.

Meistens kündigte die brennende Glühbirne ihn an, diesen Kerl, der wahrscheinlich hinter dem Ganzen steckte und der sie in diesem Loch gefangen hielt. Er brachte ihr Essen und Wasser, setzte sich an die Bettkante, redete mit ihr, stellte ihr seltsame Fragen – nach ihrem Lieblingsduft, welche Blumen oder Farben sie mochte, womit sie sich in ihrer Freizeit beschäftigte, welche Musik sie gern hörte. Fragen, die eigentlich harmlos waren und nett, die ihr aber angesichts ihrer Lage eiskalte Schauer über den Rücken jagten.

Anfangs hatte sie ihn auch etwas gefragt, zum Beispiel, weshalb er sie gefangen hielt, wo sie war oder wann sie wieder gehen durfte, doch dann stand er sofort und ohne ein weiteres Wort auf, nahm ihr Essen und Wasser weg, ging raus. Und genau in dem Moment, in dem die Tür hinter ihm zufiel, erlosch die Glühbirne, und sie lag wieder allein in der Schwärze.

Sie konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, doch sie hatte das Gefühl, dass die Phasen der Dunkelheit deutlich länger dauerten, wenn sie ihm eine Frage gestellt oder etwas gesagt hatte, was ihm offensichtlich nicht gefiel. Sie hatte schon einige Male versucht, in der Dunkelheit die Sekunden zu zählen, sie in Minuten und Stunden umzurechnen. Doch sie konnte sich kaum konzentrieren und verzählte sich ständig. Die Zahlen begannen dann, wie trockene Blätter im Herbstwind durcheinanderzuwirbeln und in ihrem Kopf zu kreisen, bis ihr schwindelig wurde, und sie befürchtete, den Verstand zu verlieren. Oder ihr fielen die Augen zu und sie schlief einfach ein.

Sie wollte keine Zeit im Dunkeln verbringen, jede Minute Licht war kostbar. Also hatte sie aufgehört, ihm Fragen zu stellen.

Vanessa fühlte sich wie ein Versuchstier, an dem Verhaltensforscher Tests durchführten. Erste Phase: Erlernen von Belohnung und Bestrafung, Licht gegen Dunkelheit. Prinzip erfolgreich verstanden.

Ein einziges Mal bisher hatte sie sich nicht zurückhalten können und ihm ihre ganze Verzweiflung und Wut ins Gesicht geschrien: In ihrer beschissenen Lage sei es doch scheißegal, ob sie Hunde oder Katzen lieber mochte.

Danach hatte sie erfahren, was die rechte Tasche seines grauen Hausmeisterkittels ausbeulte. Es war ein Elektroschocker. Ein Teil so groß, dass man damit sicher Kühe, vielleicht sogar Elefanten vor sich her treiben konnte. Die Muskelkrämpfe und der jähe Schmerz im ganzen Körper hatten ihr das Bewusstsein geraubt.

Als sie danach aufgewacht war, hatte sie wieder im Dunkeln gelegen, und es hatte dort unangenehm gezogen, wo es in ihrer Vorstellung Nerven gab: in den Armen und Beinen, im Nacken, den Fußsohlen und Handflächen. Es war ein Ziehen, als hätte sie sich an einer harten Kante den Musikantenknochen angeschlagen. Allerdings war dieser Schmerz hier wesentlich heftiger und hielt deutlich länger an. Nur langsam wich er dem typischen Kribbeln und Stechen, als wären ihr die Glieder eingeschlafen. Außerdem taten ihre Muskeln weh, als hätte sie untrainiert an einem Marathonlauf teilgenommen.

Dieses Gefühl, diese Schmerzen, vergaß sie nicht. Und so biss sie sich lieber auf die Zunge oder bohrte ihre Fingernägel tief in die Handflächen, statt ihn noch einmal anzuschreien. Auch diese Lektion hatte sie gelernt.

Die dritte Lektion war, dass sie sich Belohnungen verdienen konnte. Freundlich sein, lächeln, das Essen loben, leise und bedächtig antworten, so tun, als freute sie sich, wenn er kam. Dann gab er ihr etwas mehr zu essen oder zu trinken, kettete eine ihrer Hände nicht wieder an das Bettgestell. Vor allem aber – das Licht brannte länger.

Wenn ihr irgendwann in ihrem alten Leben jemand gesagt hätte, dass sie Handstand und Männchen machen würde, damit eine nackte Glühbirne über einer steingrauen Stahltür angeschaltet blieb, hätte sie gelacht. Aber so war es.

Es war schrecklich, allein in der Stille und Dunkelheit liegen zu müssen, nichts zu hören als die eigenen Atemzüge, das Rascheln von Laken und Decke, wenn sie sich bewegte, das träge Drehen der Rotorblätter der Lüftung. Sie konnte nichts anderes tun, als dazuliegen. Es war egal, ob sie vor sich hin starrte oder die Augen schloss – das Ergebnis blieb das Gleiche. Schwärze. Nichts. Nicht einmal der kleinste Lichtschein. Wie eingegraben. Als hätte man sie irgendwo tief unter der Erde in einen Kasten gesteckt. Einen Sarg. Und dort vergessen.

Wenn sie daran dachte, wurde ihr Atem regelmäßig schneller, ihr Herz raste, und sie begann zu schwitzen. Es war ein Gefühl, als drückten schwere Gewichte auf ihre Brust, und sie bekam kaum noch Luft. Und das, obwohl sie wusste, dass es den Lüftungsschacht gab, obwohl sie das Summen der Lüftung hören konnte.

Logisch betrachtet gab es keinen Grund, sich vor dem Ersticken zu fürchten, da hatte sie ganz andere Probleme. Aber erzähl das mal jemandem, der allein im Dunkeln in einem fensterlosen Raum von einem Irren im grauen Hausmeisterkittel gefangen gehalten wird.

Sein Gesicht hatte sie bisher noch nicht gesehen. Er trug stets eine Maske – eine Art Strumpf mit Löchern für Augen, Nase und Mund. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Maske als gutes oder schlechtes Zeichen werten sollte. Natürlich irritierte es sie, nicht zu wissen, wie er aussah, mit wem sie es zu tun hatte, seine Mimik nicht zu sehen. Sie konnte nicht erkennen, ob er lächelte, sich ärgerte, überrascht oder traurig war.

Andererseits konnte die Maske auch bedeuten, dass sie wieder freigelassen werden sollte und er lediglich verhindern wollte, dass sie sein Gesicht beschreiben und wiedererkennen würde. Oder kannte sie ihn vielleicht sogar? War er einer der Männer, denen sie in ihrem täglichen Leben begegnete – der Briefzusteller, der Kioskbesitzer, der Mechaniker in der Autowerkstatt? Bisher kam er ihr nicht bekannt vor. Vor allem konzentrierte sie sich auf seine Stimme und seine Hände. Aber da klingelte nichts bei ihr.

Seine Stimme klang stets freundlich und normal. Wie die Stimme eines netten Mannes an der Kasse hinter einem, der höflich fragt, ob man ihn vielleicht vorlassen könne. Ein freundlicher Typ mit den großen, schwieligen Händen eines Handwerkers, der einem die Wasserkiste in den zweiten Stock tragen oder die Radmuttern beim Reifenwechsel festziehen würde. Doch ebendiese rauen, schwieligen Hände reichten ihr die Bettpfanne und legten sich auf ihre Schultern, wenn er die Ketten an ihren Handgelenken aufschloss und sich am Waschbecken hinter sie stellte, damit sie sich wusch.

Und dann waren da noch seine grauen Augen. Kalt und ohne jede Empathie. Selbst wenn er sie bestrafte oder ihr beim Waschen zusah, konnte sie nichts in diesen Augen erkennen. Kein Mitleid, keine Freude. Nichts. Nicht einmal Zorn. Und vielleicht war das am gruseligsten überhaupt. Denn sie war sich sicher, wenn er etwas Besseres zu tun haben würde, ihm irgendwann langweilig war oder er keine Lust mehr hatte, ihr Essen zu bringen und sich um sie zu kümmern, würde er einfach wegbleiben, nicht mehr kommen. Und das, ohne auch nur einen Gedanken an sie zu verschwenden.

Die Konsequenz war ganz simpel:

Dann würde sie sterben.

3

Der Feierabend rückte in greifbare Nähe. Kein Diebstahl, keine Schlägerei, kein Drogendelikt wurde gemeldet, schwebende Ermittlungen waren abgeschlossen, die Berichte lagen fertig geschrieben und in doppelter Ausführung in den Ablagekörben. Das Verbrechen in Schleswig machte Pause.

Und weil dieser Tag im Kriminalkommissariat der Polizeiinspektion Schleswig ungewöhnlich ruhig gewesen war, hatte ihre Chefin Ayumi Ichigawa-Herbst dem ganzen Team Kuchen spendiert. Sven war gerade vom Bäcker zurückgekommen. Frischer Kaffee war aufgesetzt, Teller und Kuchenstücke waren verteilt. Alle kauten in unterschiedlichen Stadien der Zufriedenheit.

»Wie geht es eigentlich deiner Babcia, Daniel?«, fragte Rudi Steinhaus mit vollem Mund.

»Gut, danke der Nachfrage.«

Daniel schmunzelte. Ihm gegenüber saß seine Kollegin Katja Greve. Sie schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen.

»Gib's zu, Rudi«, sagte sie laut, »du willst doch nur wissen, wann Daniels Oma wieder für uns backen kann.«

»Entschuldigung.« Rudi zuckte mit den Schultern. »Aber seit ich zum ersten Mal den Kuchen von Daniels Babcia Elka probiert habe, bin ich verwöhnt. Es gibt keinen besseren hier in Schleswig. Da kommt selbst der beste Konditor nicht mit.«

»Das Kompliment gebe ich gern weiter«, erwiderte Daniel. »Sie wird sich freuen.« Im Stillen stimmte er seinem Kollegen zu. Der Kuchen auf seinem Teller war zu süß und so trocken, dass er unter der Gabel zerbröselte. Babcia Elka hingegen konnte backen wie keine zweite. Selbst mit über achtzig Jahren versorgte die zarte, zerbrechliche alte Dame noch Daniels große Familie bei jeder Feier mit Kuchen und Torten, die aussahen wie vom Konditormeister persönlich gebacken, allerdings viel besser schmeckten. Und solch ein Ergebnis wie diesen Butterkuchen hätte seine Oma als »misslungen« bezeichnet und niemandem serviert.

»Hast du nicht bald Geburtstag, Daniel?«, fragte Rudi.

»In drei Monaten, im Januar.«

»Was ist mit deinem Hochzeitstag?«

»Der war im Juli, wie du dich vielleicht erinnerst.«

»Januar ... So lange noch ...« Rudi seufzte, als lastete das Gewicht der Welt auf seinen Schultern, dann hustete er, und Daniel musste lachen.

Zeitgleich klopfte es an der Glastür ihres Großraumbüros. Eine Polizistin kam herein, eine junge, schlanke Frau mit flachsblondem Zopf und fast kindlichem Gesicht. Daniel hatte sie unten bei den Kollegen der Schutzpolizei gesehen und sich gefragt, ob die Kollegen im Erdgeschoss endlich den lange erbetenen Zuwachs bekommen hatten.

»Guten Tag«, sagte sie in die Runde. Ihre Stimme klang angenehm, ihr Lächeln wirkte ein bisschen schüchtern. »Ich habe hier etwas, von dem ich glaube, dass es sich jemand von Ihnen anschauen sollte.«

»Natürlich, das machen wir doch gern.« Daniel stand auf, ging auf die junge Polizistin zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Daniel Kowalski.«

»Theresa Carstensen.« Ihr Händedruck war fest und warm und fühlte sich nach Erleichterung an. »Ich bin Polizeianwärterin und leiste seit einer Woche ein Praktikum unten in der Wache ab. Ich habe erst im April die Ausbildung begonnen. Wenn ich also etwas falsch mache, sagen Sie es mir bitte. Die internen Abläufe kenne ich noch nicht so gut. Mein Ausbilder, Andreas Hansen, hat aber gesagt, dass ich mich gern an Sie wenden darf.«

»Dann herzlich willkommen.« Daniel lächelte. »Natürlich können Sie uns jederzeit fragen. Womit können wir Ihnen denn heute helfen?«

»Eben war eine junge Frau bei uns und hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben.« Theresa Carstensen zog aus einer mitgebrachten Mappe ein ausgefülltes Formular heraus und reichte es Daniel. »Vielleicht können Sie einen Blick darauf werfen?«

»Kommen Sie.« Daniel bugsierte die junge Frau zu seinem Schreibtisch, zog einen weiteren Stuhl heran und bot ihr den Platz an. Dann schaute er sich das Formular an. »Luisa Hainbusch hat die Vermisstenanzeige aufgegeben?« Theresa nickte. »Und es geht um eine Vanessa Meier?«

»Genau.«

»Sind die Frauen Schwestern?«

»Nein. Frau Hainbusch und Frau Meier sind langjährige Freundinnen.«

»Hm.« Daniel überflog das Formular und runzelte die Stirn. »Wenn ich das richtig sehe, ist Frau Meier sechsundzwanzig und wohnt allein. Frau Hainbusch war längere Zeit verreist und hat ihre Freundin bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland nicht angetroffen. Frau Meier ist nicht betreuungsbedürftig?« Theresa schüttelte den Kopf. »Leidet sie an schweren körperlichen oder psychischen Erkrankungen?«

»Nein, jedenfalls nicht, soweit wir bisher wissen.«

»Gehört sie einer Risikogruppe an – also hatte sie in der Vergangenheit einen gewalttätigen Partner? Hat sie vor Gericht gegen jemanden ausgesagt, war selbst in ein Verbrechen verwickelt oder Ähnliches?«

Wieder verneinte Theresa.

»Dann weiß ich nicht, was wir für Sie tun können, Frau Carstensen. Wir leben in einem freien Land. Jedem erwachsenen Menschen ist es erlaubt zu gehen, wohin er oder sie will.« Er klappte die Mappe zu, lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und schaute Theresa Carstensen an. Die junge Frau wirkte auf eine beinahe rührende Art besorgt. »Es sei denn, in diesem Formular fehlen ein paar Details, die Ihren Verdacht erregt haben.«

Theresa nickte. »Ehrlich gesagt, kann ich nicht wirklich den Finger drauflegen, doch ... Irgendetwas an der Sache ist komisch; sie hinterlässt ein seltsames Gefühl bei mir.« Sie wurde rot. »Ich weiß, wie albern das klingen muss. Aber Andreas sagte, ich solle mal nach oben gehen und eine zweite Meinung einholen.«

»Dann schießen Sie mal los.«

»Frau Hainbusch hat ein Jahr lang als Fitnesstrainerin in einem Resort auf Barbados gearbeitet und ist erst vor zwei Tagen wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Vor ein paar Wochen hatte sie sich mit ihrer Freundin Vanessa verabredet, für heute um zwei Uhr in der Fußgängerzone. Doch Vanessa ist nicht gekommen.«

Theresa verschränkte die Hände ineinander und sprach weiter. »Frau Hainbusch hat mir erklärt, dass ihre Freundin der Verabredung über WhatsApp zugestimmt hatte. Sie ist normalerweise sehr zuverlässig, sie verschlampt weder Termine, noch ist sie unpünktlich. Außerdem meinte sie, wenn ihre Freundin sich – warum auch immer – nicht mit ihr hätte treffen wollen oder ihr etwas dazwischengekommen wäre, hätte sie sich gemeldet.«

»Das hat sie aber nicht«, stellte Daniel fest. Theresa nickte.

»Frau Hainbusch hat gewartet, Nachrichten geschickt, versucht, bei Vanessa anzurufen, ohne Erfolg. Weil sie dachte, Vanessa könnte krank sein, ist sie zu ihrer Wohnung gegangen. Nichts, außer einem überquellenden Briefkasten und vertrockneten Pflanzen auf der Fensterbank. Frau Hainbusch hat sogar bei dem Steuerberater angerufen, bei dem ihre Freundin als Bürokraft angestellt ist.«

»Lassen Sie mich raten – dort war sie auch nicht?«

»Nicht nur das. Seit drei Wochen arbeitet sie da nicht mehr.«

»Okay.« Daniel nickte. »Ich verstehe jetzt, was Sie beunruhigt.«

»Wirklich?«

»Überrascht Sie das?«

»Nun, die Kollegen unten ...« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe den Eindruck, sie finden, dass ich als Anfängerin übertreibe und wahrscheinlich zu viele Krimis gelesen habe.«

»Das wird sich herausstellen, wenn wir der Sache nachgegangen sind. Frau Hainbusch ist jetzt zu Hause?«

»Ja. Sie wollte abwarten, ob Vanessa sich doch noch bei ihr meldet. Sie hat frei und noch mit dem Jetlag zu tun.«

»Gut. Wir fahren hin und reden mit ihr. Und wenn nötig, schauen wir uns bei Vanessa Meier um.«

»Sie wollen in ihre Wohnung?«

»Nein, so weit ist es noch nicht«, antwortete Daniel. »Da müsste entweder Gefahr in Verzug sein, oder wir brauchen einen richterlichen Beschluss. Den bekommen wir aber nicht ohne Weiteres beim jetzigen Wissensstand. Wir werden uns also zuerst im Wohnhaus umschauen und uns mit den Nachbarn unterhalten. Mehr machen wir noch nicht.«

»Okay. Darf ich morgen nachfragen, ob Sie etwas herausgefunden haben?«

Daniel lächelte. »Selbstverständlich.«

»Danke.« Theresa Carstensen reichte ihm die Hand. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen zusätzliche Arbeit mache. Aber es ist ein gutes Gefühl, ernst genommen zu werden.«

Sie verließ das Büro, und ihre Schritte schienen schneller und leichter zu sein als vorher.

Auf der anderen Seite des Schreibtisches räusperte sich Katja. »Du willst dieser Vermisstenanzeige nachgehen?«, fragte sie.

»Ja.«

»Sehr gut.«

»Du bist dabei?«

»Klar. Ich finde den Mut, als Anfängerin gegen den Rat der älteren Kollegen auf das eigene Bauchgefühl zu hören, großartig. Wenn wir sie jetzt nicht ernst nehmen, wird diese junge Polizistin nie wieder auf ihr Gefühl achten. Und Kollegen, die ausschließlich uninspirierten Dienst nach Vorschrift machen, gibt es wahrlich genug. Außerdem ist es erst fünf nach vier. Wir könnten jetzt noch eine geschlagene Stunde hier herumsitzen, klönen und Kaffee trinken oder etwas Sinnvolles tun. Darf ich mal sehen?«

Daniel reichte ihr die Mappe.

Sie nahm das Formular heraus und las die wenigen dort notierten Daten. »Luisa Hainbusch wohnt gleich hier die Straße runter. Da können wir zu Fuß hingehen. Luzie wird sich über die Bewegung freuen.«

»Dann gebe ich mal Ayumi Bescheid.« Daniel stand auf und ging zum Büro der Chefin. Die Tür war nur angelehnt, trotzdem klopfte er an.

»Was gibt es?« Sie besprühte ihre Orchideen aus einem kupfernen Pflanzensprüher und schaute ihn mit einem beinahe hoffnungsvollen Blick an. Eigentlich sollten sie alle froh und dankbar sein, dass es in Schleswig gerade keine Verbrecher zu jagen gab. Trotzdem ... Langeweile mochte keiner von ihnen, das galt auch für die Chefin.

»Es geht um eine Vermisstenanzeige. Eine Kollegin von unten hat uns gebeten, einen Blick darauf zu werfen, und Katja und ich wollen jetzt noch mal mit der Anzeigenstellerin reden.«

»Warum machen die unten das nicht selbst?«

Daniel zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich denken sie, dass nichts an der Sache dran ist. Die junge Kollegin ist Polizeianwärterin. Allerdings hat sie ein seltsames Gefühl und ...«

»Du willst nett sein. Natürlich.« Ayumi seufzte, schüttelte den Kopf und besprühte die nächste Orchidee mit einem feinen Nebel aus Wasser. »Von mir aus, zieht los. Ist ja nicht so, dass wir gerade in Arbeit ertrinken. Aber ...« Sie wandte sich wieder Daniel zu. »Ihr schreibt keine Überstunden auf, klar?«

»In Ordnung.«

Daniel kehrte zu Katja zurück und hob den Daumen. »Keine Einwände aus der Chefetage.«

»Super.« Katja zog ihre Lederjacke von der Lehne und leinte Luzie an, die auf ihrer Decke unter dem Schreibtisch saß, die Ohren aufmerksam aufgestellt, als hätte sie jedes Wort verstanden. »Dann los. Wir freuen uns schon auf den Spaziergang.«

4

Keine zehn Minuten später standen Katja und Daniel vor dem Mehrfamilienhaus, in dem Luisa Hainbusch wohnte. Der gelbe Klinker und die schlanken, schmiedeeisernen Verzierungen vor den Fenstern ließen das Baujahr in den Fünfzigerjahren vermuten. Es war eine gepflegte Wohnanlage, in den Beeten wuchsen sorgfältig gestutzte Rosen und Buchsbäume, im Treppenhaus waren die Fenster geputzt. Das Klingelschild war blank poliert, die Namen der Bewohner in Messing geprägt. Handbeschriebene Klebestreifen gab es nicht. Ein ungewohnter Anblick.

Katja überflog das Klingelschild und drückte bei Hainbusch auf den Knopf. Kurz darauf ertönte ein Schnarren aus dem Lautsprecher.

»Vanessa?«

»Nein, Frau Hainbusch.« Katja beugte sich zu dem Lautsprecher vor. »Katja Greve und Daniel Kowalski von der Kripo Schleswig. Wir kommen wegen Ihrer Vermisstenanzeige.«

»Oh.« Selbst durch den Lautsprecher klang es enttäuscht und ängstlich zugleich. Es gab eine Pause.

»Oder hat sich Ihre Anzeige mittlerweile erledigt?«

»Leider nicht. Ich öffne. Erster Stock, Mitte.«

Mit einem Summen sprang das Türschloss auf.

»Mist.« Katja stemmte sich mit der Schulter gegen die Haustür. »Jetzt habe ich vergessen, Luzie zu erwähnen.«

»Das regeln wir schon.«

Das Treppenhaus roch nach Reinigungsmitteln und war so sauber, als wäre die Kolonne eben erst mit Putzen fertig geworden. Es lag sogar eine Fußmatte mit Feudel vor der ersten Stufe, und ein Schirmständer stand neben der Haustür. So etwas hatte Katja noch nirgendwo in einem Mehrparteienhaus gesehen.

Im ersten Stock war die mittlere Wohnungstür geöffnet, und eine junge, sonnengebräunte blonde Frau schaute ihnen aufmerksam entgegen.

»Guten Tag«, sagte Daniel. »Kowalski, Kripo Schleswig. Entschuldigen Sie bitte, dass wir eben vergessen haben, unsere vierbeinige Mitarbeiterin zu erwähnen. Das ist Luzie. Dürfen wir trotzdem reinkommen?«

Die junge Frau streifte die Hündin mit einem verwirrten Blick, dann schaute sie Daniel und Katja an.

»Selbstverständlich. Aber ...« Sie klemmte sich eine Strähne hinter das Ohr. »Darf ich bitte zuerst Ihre Dienstausweise sehen?«

»Natürlich.«

Katja und Daniel zeigten nacheinander ihre Ausweise vor.

Luisa Hainbusch begutachtete beide aufmerksam, schließlich nickte sie und trat zur Seite. »Bitte, kommen Sie herein. Und sorry für mein Misstrauen, aber ...«

»Oh, kein Problem. Man kann gar nicht vorsichtig genug sein«, erwiderte Daniel.

Die junge Frau beugte sich hinunter und hielt Luzie die Hand hin. Die Hündin schaute zu Katja hoch und wartete auf die Erlaubnis. Erst nach dem entsprechenden Zeichen trippelte sie zu Luisa Hainbusch und schnupperte an ihrer Hand.

Und da gibt es immer noch Leute, die behaupten, man könne Parson Russell Terrier nicht erziehen, dachte Katja.

Die junge Frau streichelte Luzie, und zum ersten Mal huschte ein Lächeln über ihr angespanntes Gesicht.

»Kommen Sie doch bitte.« Sie führte sie in das aufgeräumte, gemütlich eingerichtete Wohnzimmer.

Naturtöne überwogen hier, es gab ein cremefarbenes Sofa, einen Couchtisch aus hellem Holz und ein paar niedrige, runde Sitzgelegenheiten aus Schilf oder Bananenblättern, dazu viel freien Raum bis zur Decke. Durch die geöffnete Tür konnten sie das Schlafzimmer sehen. Auf dem niedrigen Bett – dem Aussehen nach ein Futon – lag aufgeklappt ein noch nicht vollständig ausgepackter Schalenkoffer.

»Setzen Sie sich doch.« Sie deutete auf das Sofa. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Wasser? Tee? Kaffee habe ich leider nicht.«

»Gerne ein Glas Wasser«, antwortete Katja.

»Für mich bitte auch.«

Frau Hainbusch verschwand in der kleinen Küche. Sie hörten das Rauschen des Wasserhahns, und kurz darauf kam sie mit einem Tablett und drei Gläsern zurück. Sie stellte das Tablett auf dem Couchtisch ab und reichte Katja und Daniel die Gläser, setzte sich auf einen der niedrigen Hocker und begann wieder, Luzie zu streicheln. Die Hündin ließ es sich gefallen.

»Haben Sie in der Zwischenzeit etwas von Vanessa Meier gehört, Frau Hainbusch?«, fragte Daniel.

»Nein. Warum?«

»Wieso sind Sie dann eben davon ausgegangen, dass Vanessa Sie aufsuchen könnte?«

»Ich hatte einfach gehofft, dass sie es ist.« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich wieder Luzie zu. »Du bist aber eine Hübsche!«

»Danke in Luzies Namen«, sagte Katja. »Sie ist aber nicht nur hübsch, sondern auch klug. Tatsächlich ist sie ein ausgebildeter Personenspürhund.«

»Oh.« Unter ihrer Sonnenbräune wurde Luisa Hainbusch bleich. »Meinen Sie denn ... Glauben Sie, dass es notwendig ist? Wollen Sie nach Vanessa mit Hunden suchen?«

»So weit sind wir noch lange nicht«, beschwichtigte Daniel. »Wir haben Luzie nur auf den kleinen Spaziergang mitgenommen.«

»Wir möchten mit Ihnen reden«, sagte Katja. »Sie haben zwar schon vorhin mit der Kollegin Carstensen gesprochen, aber wir würden alles gern noch einmal in Ihren eigenen Worten hören und Ihnen ein paar Fragen stellen. Außerdem ist Ihnen vielleicht in der Zwischenzeit noch etwas eingefallen. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.«

»Dann glauben Sie also nicht, dass ich mich nur anstelle und ohne Grund die Pferde scheu mache?«

»Sie sind beunruhigt, Frau Hainbusch«, sagte Daniel. »Und unsere Kollegin ist es auch. Wenn zwei Menschen bei einer Sache kein gutes Gefühl haben, ist es wert, genauer hinzusehen. Finden wir.«

Frau Hainbusch runzelte die Stirn und verschränkte die Hände ineinander. »Gut. Fangen Sie an.«

»Sie sind gerade erst aus dem Ausland zurückgekommen?«, fragte Katja.

»Ja, am Samstag bin ich in Frankfurt gelandet. Ich war ein Jahr auf Barbados.« Sie lächelte verlegen. »Ich habe da aber keine Ferien gemacht, sondern gearbeitet.«

»Nicht schlecht«, erwiderte Daniel. »Als was haben Sie denn dort gearbeitet?«

»Ich habe in einem Resort Kurse gegeben und Urlauber im hoteleigenen Fitnessstudio betreut. Nach meiner Ausbildung zur Yogalehrerin habe ich Fitness and Health Management studiert. Letztes Jahr im August habe ich meinen Bachelor gemacht und wusste danach nicht so recht, was ich mit mir anfangen soll. Dann kam dieses Job-Angebot, und ich dachte, bis ich mir klar geworden bin, was ich mit dem Abschluss machen will, kann ich die Zeit sinnvoll überbrücken.«

»Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen«, sagte Katja. »Jedenfalls nicht vor uns. Auch wenn ich zugeben muss, dass man schon ein bisschen neidisch werden kann. Barbados! Ganz spontan fallen mir einige Orte ein, an denen ich mir das Arbeiten schrecklicher vorstelle als ausgerechnet in der Karibik. Ich brauche nur einen Blick aus dem Fenster zu werfen.«

»Da haben Sie natürlich recht.«

»Wissen Sie denn inzwischen, wie es mit Ihnen weitergeht?«, erkundigte sich Daniel.

»Ich werde erst einmal arbeiten und Geld sparen, um weiterzustudieren und meinen Master zu machen, vielleicht will ich sogar promovieren. Die Erforschung der Auswirkung von Yoga auf Körper und Geist interessiert mich.«

»Seit wann kennen Sie denn Vanessa Meier?«

»Seit der ersten Klasse. Wir haben vom ersten Schultag an nebeneinandergesessen, uns schnell angefreundet und waren gemeinsam auf dem Gymnasium.«

»Welche Schule?«

»Lornsenschule«, antwortete sie.

»Dann sind sie also seit Langem miteinander befreundet«, stellte Daniel fest.

»Ja. Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass Vanessa meine älteste und beste Freundin ist.«

»Hatten Sie auch Kontakt miteinander, während Sie auf Barbados waren?«

»Natürlich. Wir haben gechattet, manchmal auch telefoniert. Das ist natürlich wegen des Zeitunterschieds und unserer Arbeitszeiten nicht immer einfach gewesen, aber es hat funktioniert, vor allem am Wochenende. In den letzten Wochen hatte ich allerdings viel damit zu tun, meine Nachfolger einzuarbeiten. Da war die Zeit knapp.«

»Wann hatten Sie denn zuletzt Kontakt zu Ihrer Freundin?«

»Moment, da muss ich mal in unserem Chatverlauf nachsehen.« Sie nahm ihr Handy vom Tisch und wischte mit dem Daumen über das Display. »Am siebzehnten August haben wir uns für heute verabredet. Vanessa hat zwei Tage später ein Herzchen geschickt und geschrieben, dass es klappt, sie konnte sich den halben Tag freinehmen. Danach ...« Sie scrollte weiter, runzelte die Stirn. Schließlich hob sie den Kopf. »Ich sehe gerade, dass Vanessa danach meine Nachrichten gar nicht gesehen hat. Die beiden Häkchen sind grau.«

»Darf ich mal sehen?«, fragte Katja und nahm das Handy entgegen. »Haben Sie denn üblicherweise regelmäßigen Kontakt?«

Luisa Hainbusch zuckte mit den Schultern. »Was heißt schon ›regelmäßig‹? Also auf keinen Fall wie meine Oma und ihre Freundin, die sich jeden Morgen ein Smiley schicken nach dem Motto ›Ich lebe noch. Und du?‹ Falls es das ist, was Sie mit ›regelmäßig‹ meinen. Manchmal texten wir täglich, dann auch wieder drei oder vier Wochen gar nicht, je nachdem, was bei einer von uns gerade anliegt. Ganz normal eben. Wir kletten ja nicht aneinander oder sind voneinander abhängig. Wenn eine von uns sich über etwas freut oder etwas auf der Seele hat, meldet sie sich, und die andere ist da. So läuft das bei uns.«

Katja scrollte im Chatverlauf weiter nach oben. Tatsächlich waren vom einundzwanzigsten August an die Häkchen grau, was darauf schließen ließ, dass Vanessa Meier sich die Nachrichten nicht angesehen hatte. Was Katja viel beunruhigender fand, war die Tatsache, dass eine knappe Woche später nur noch ein Haken hinter den Nachrichten sichtbar war. Also war Vanessa Meiers Handy spätestens seit dem sechsundzwanzigsten August ausgeschaltet. Seit sechs Wochen.

Sie zeigte Daniel den Chatverlauf. Er runzelte die Stirn, nickte.

»Was hatte Ihre Freundin denn in letzter Zeit auf dem Herzen?«

Luisa holte tief Luft, und unwillkürlich hatte Katja die Stimme der Yogalehrerin aus einem Internetvideo im Ohr: